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Mit Mut pack's an

Mammi, Mammi, und denk dir bloß, zwanzig Mark hat er mir gegeben dafür und sechs weitere hat er bestellt. Das Glück, Mammi, das Glück!«

Die Marlis war's, die das rief, strahlend, glückselig, wie sie nur je zuvor geprahlt hatte, und glückselig, wie nur die Marlis dreinschauen konnte.

Da stand sie in ihrem schlichten schwarzen Trauerkleid und unter dem einfachen Hut vor ringelten sich die Silberlöckchen um ein blühendes, rosiges Gesicht, aus dem die dunklen Augen genau so kinderfroh wie einst aufleuchteten. Nur um den Mund lag ein Zug, den die Marlis von einst nicht gehabt hatte. Der schien den lachenden Augen zu sagen: lacht nur, lacht, ich aber weiß, daß das Leben ernst ist. Ihn hatte des Onkels Tod und was dann kam, dahin gezeichnet.

Kein Antlitz entzieht sich dem Griffel, womit das Schicksal die Erlebnisse in leserlicher Schrift dort aufschreibt.

Ja, da stand die Marlis in ihrer ganzen schlanken Aufgeschossenheit, noch schlanker durch das schwarze Kleid. Und sie war bepackt bis an die Zähne mit Packen und Päckchen aller Art. An jedem Finger schien etwas zu baumeln und dazu faßten die Arme noch, was sie irgend fassen konnten.

»Ein wanderndes Magazin, was, Mammi?«

Lachend wirbelte die Marlis im Kreise. Die Röcke flogen, die Päckchen baumelten, der Hut rutschte schief und der silberne Haarknoten löste sich und hing halb im Rücken.

»Marie-Luise!« mahnte die Mutter. Und gleich danach in klagendem, vorwurfsvollem Ton: »Mußtest du eigentlich dich so bepacken?«

»Ja, Mammi, was liegt daran? Der Mann wollte ja die Sachen schicken, aber ich dachte: du nimmst sie gleich mit. Da kann ich doch am Nachmittag sofort mit der Arbeit anfangen. Drei Tage brauche ich für ein Schlüsselschränkchen etwa, sechse machen achtzehn Tage – huhu, Mammi, denk doch, in achtzehn Tagen kann ich hundertundzwanzig Mark verdienen. Mammi, Mammi, ich bin so selig.«

Sic ließ alle die Päckchen fallen, wo sie eben stand und warf sich selbst vor der Mutter in die Kniee. Sie umschlang die Mutter und sah ihr mit den frohen, strahlenden Augen ins Gesicht.

Frau Helene strich drüber hin.

»Kind, Kind, und deine Gesundheit?«

»Ich bin stark wie ein Berserker, Mammi; schau mich doch nur an.« Sie schnellte auf und die junge Gestalt straffte sich im Bewußtsein ihrer Kraft.

Frau Helene lächelte. Sie ließ den Blick über ihr zartes, schlankes Kind gleiten.

»Einen Berserker habe ich mir denn doch ein bißchen anders gedacht, Marie-Luise.«

»Macht nichts, Mammi,« lachte die, »innerlich zählt's eben auch mit. Mammi, Mammi, ich bin so glücklich. Drei neue Tiefbrandideen – Motive sagt der Mann – habe ich wieder. Cyklamen, Rosen, Narzissen! Sollst mal sehen, es wird hübsch. Verena meint's auch. Ich zeigte ihr die Entwürfe.«

»Und der Malkurs, Marie-Luise?«

Bild: Richard Gutschmidt

Ein wanderndes Magazin, was, Mammi?

»Ja, Mammi, jetzt vor Weihnachten muß der ein wenig warten. Da ist die Arbeit für das Geschäft das Dringendste. Denk doch, Mammi, das viele, viele Geld!«

Frau Helene sagte nichts. Plötzlich liefen ihr die hellen Tränen übers Gesicht. Sie haschte nach ihrem Kind und zog es an sich.

»Gott segne dich, Kind, daß du die Arbeit nicht scheust.«

»Die Arbeit, Mammi? Die ist doch der größte Segen. Ich habe nie begriffen, daß Gott Adam und Eva die Arbeit wie einen Fluch auferlegte. Denk mal, wenn ich meine Arbeit nicht hätte! Und müßte immer denken, Mammi, an – an –« Onkelchen hatte sie sagen wollen. Das tat ihr aber noch immer sehr weh. So sagte sie »früher«.

»Denkst du so viel daran, Marie-Luise?«

»An Onkelchen, Mammi?« Jetzt sagte sie's doch. »Wie sollte ich nicht? Immerzu, immerzu!«

»Ich meine an das, wie's früher gewesen ist, Marie-Luise!«

»Ach, so meinst du's, Mammi? Daß alles so anders und schöner war? Wohl, Mammi, daran denke ich viel. Aber nur, weil Onkelchens Liebe es so schön und reich machte. Die misse ich, so oft ich atme. Das andere kaum. Und Mammi« – Marlise hielt einen Augenblick ein und schluckte ein paarmal, es hinderte sie etwas am klaren Reden – »eben weil Onkelchens Liebe mir das alles gab – vielleicht zuviel gab – sollte ich ihn da betrüben, wenn er auf uns herunterschaut? Sollte er denken müssen: meine Liebe hat sie unglücklich gemacht? Ich verwöhnte sie und nun vermißt sie all das, womit ich sie überschüttete. Sollte ich ihm seine große Liebe so lohnen? Und, Mammi, ich habe den Sonnenschein hingenommen, als ob der mir so ganz natürlich gebühre. Sollte ich mich nun beklagen, wenn ich mal wie andere auch ein bissel im Schatten stehen soll? Und im Schatten ist's gar nicht, Mammi. Ich habe ja dich und habe meine Arbeit. Und der Professor sagt, Mammi, wenn ich so weiter mache, würde ich Braves leisten können. Mammi, Mammi, und dann verdiene ich haufenweise Geld und ich baue uns ein ganz kleines Häuschen draußen bei unserem lieben Waldhaus. Und da hausen wir, Mammi, bis wir alt und grau sind und – huhu, Mammi, das wird fein!«

Sie fiel über die Mutter her, küßte sie stürmisch und eilte zur Tür ins Nebenzimmer. Dort wandte sie sich noch einmal, warf eine Kußhand zurück und verschwand.

Drinnen trällerte und hantierte sie noch ein Weilchen herum und dann war alles still. –

Frau Helene wischte sich die Augen. Dies Kind! Wer hätte solche stete, reine Flamme in dem flackernden, unruhigen Irrwisch vermutet? Was sie für Flatterhaftigkeit und Leichtsinn gehalten hatte, das war jener göttliche, leichte Sinn gewesen, den der Herr in seiner Güte denen mitgibt, die er besonders liebt oder – denen er ein besonderes Päckchen aufbürden will.

Bruder Fritz hatte es richtig erkannt. Der hatte den Goldkern entdeckt, der in des Kindes Gemüt verborgen war. Und sie – die Mutter – hatte sich abgehärmt, abgequält. Statt alle die schönen Jahre zu genießen, hatte sie dem Bruder so vieles verbittert, dem guten – guten, treuen Bruder. –

Die Flickarbeit, die Frau Helene im Schoß hielt, fiel zu Boden, sie merkte es nicht. Sie hatte den Kopf gegen die Stuhllehne zurückgelegt und träumte.

Marlise war damals fest bei ihrem Entschluß geblieben.

Als Doktor Lossen und Herr Braun, wie verabredet, nach drei Tagen gekommen waren, hatte die Marlis leise und fest gesagt: »Ich kann nicht anders, Herr Doktor, und wenn ich betteln gehen müßte. Mammi freilich –«

Ein furchtbar gequälter Ausdruck hatte dabei in den ernsten Kinderaugen gelegen.

»Für die gnädige Frau ist eine Rente von einer Lebensversicherung vorgesehen,« hatte da Doktor Lossen gesagt. »Ich wollte davon einstweilen nichts erwähnen, um den Entschluß des gnädigen Fräuleins nicht zu beeinflussen. Da der sichtlich feststeht –«

Statt weiterem hatte Doktor Lossen bloß die Achseln gezuckt.

Die Marlis hatte die Arme um die Mutter gelegt.

»Da sind wir ja aus aller Not, Mammi!« Fast hatte es wie Jauchzen geklungen.

»Mein gnädiges Fräulein, die Rente ist klein. Knapp dreitausend Mark. Sie war offenbar nur als Zubuße gemeint.« Ernstes Mahnen lag in Doktor Lossens Ton.

»Einerlei,« hatte die Marlis erwidert. »Vor Not schützt das doch wohl und ich werde arbeiten.«

Triumph hatte in der hellen klaren Stimme gelegen.

Fast mitleidig hatten die Herren auf das junge, weltunerfahrene Kind geschaut. Aber die Marlis hatte so tapfer ausgesehen, so mutig, so sicher, Mitleid hatte gar nicht vonnöten geschienen.

Und doch hatte Herrn Brauns Stimme gezittert, als er nun sagte: »Der Herr wird Ihren Entschluß tausendfach lohnen, Kind, trauen Sie einem alten Manne. Und – und – wenn wir wirklich nun, Dank Ihrer Hilfe, die alte Firma langsam auflösen können, so glaube ich fest, daß doch zum Schluß noch etwas übrig bleiben wird. Die Liegenschaften hier am Platze, sowie in der Stadt, repräsentieren doch auch einen großen Wert.«

Da war die Marlis zusammengezuckt.

»Das Waldhaus? Unser Waldhaus verkaufen?« Gleich danach hatte sie matt gelächelt. »Verzeihen Sie – doch natürlich. Es traf mich nur so im Augenblick!«

Und dann war sie, obwohl sehr blaß, doch wieder ganz ruhig gewesen. Sie war tapfer, die Marlis!

Und alles war so ausgeführt worden. Die alte Firma Fritz Erich Albers, die seit Generationen gestanden und geblüht hatte, erlosch.

Sie löste ihre Verpflichtungen langsam und peinlich ehrenhaft, dem alten Sinn, der alten Tradition des Hauses entsprechend. Günstige Konjunkturen, die just eintraten, halfen. Es fand sich äußerst schnelle und vorteilhafte Gelegenheit, die Liegenschaften zu verkaufen.

Auf den Namen des letzten Chefs des alten guten Hauses brauchte kein leisester Schatten zu fallen. Die Firma Fritz Erich Albers erlosch ehrenhaft, tadellos, wie sie Zeit ihres Blühens gestanden hatte.

Das Kindesopfer, das die Marlis dem Andenken des Onkels gebracht hatte, war nicht umsonst gewesen.

Und was Herr Braun vorausgesagt hatte, das traf ein. Nach Abwicklung aller Verbindlichkeiten, nach Ordnung aller Posten blieb für die Erben noch eine kleine Summe.

Eine sehr bescheidene Summe war's. Aber zu Frau Helenens Rente hinzugefügt, gewährleistete sie dennoch einen Schutz gegen wirkliche Not.

So hatten Frau Helene und ihr Kind denn allen Reichtum und allen Glanz, allen Luxus und allen Überfluß dahinten gelassen. Mutig und getrost, freudig fast, was die Marlis anlangte, waren sie in das neue Leben eingetreten.

Nur das Notwendigste und Einfachste hatten sie mitgenommen, die neue kleine Wohnung einzurichten.

Drei Zimmer hatten sie gefunden, draußen in der Vorstadt, mitten im Grün und im Vogelsang drin. Ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eins, das die Marlis mit Stolz »mein Atelier« nannte. In der kleinen Küche hantierte eine kleine Magd, ein halbes Kind noch, das der Marlis viel Stoff zum Lachen gab, Frau Helene aber viel Arger bereitete.

»Unser Vogelbauer« taufte die Marlis das neue Heim. Und sie trällerte und zwitscherte drin herum, als ob das Vogelbauer mindestens ein Dutzend der kleinen gefiederten Gäste beherberge.

Wer die Marlis nur so oberflächlich beobachtete, der hätte schwer an ihre anhaltend tiefe, herzinnige Trauer um den Onkel glauben können.

»Die Jugend will eben ihr Recht,« hätte manch einer gesagt und die Achseln gezuckt.

Die Marlis aber bewies ihr trauerndes, inniges Gedenken eben dadurch, daß sie sich mit rührendem Mut erst zwang, froh zu sein und dann froh war. Keiner sollte sagen können, der Onkel habe sie zu sehr verwöhnt und ihr dadurch ihr Leben verdorben.

So gab sie sich erst um des geliebten Toten willen Mühe und dann brach ihre Sonnennatur durch.

Die Marlis war wirklich ein Charakter, der sich nicht verwöhnen ließ. Freudig und froh nahm sie hin, was eben kam. Wie sie im Glanz und Wohlleben gelacht hatte, so lachte sie jetzt in der Beschränkung und der Arbeit.

Ja, da lachte sie erst recht!

»Ich muß Geld verdienen, Verena,« hatte sie gesagt, als alle die Wandlungen nach des Onkels Tod kamen. »Was soll ich tun? Kunstreiterin werden? Steine klopfen? Ich fürchte, zu anderem reicht's nicht!«

»Torheiten,« hatte Verena geantwortet. »Zeichnen!«

»Zeichnen? Denkst du, irgend einer gibt mir was dafür?«

»Jetzt sicher nicht. Später – viel vielleicht.«

»Aber ich muß jetzt schon Geld verdienen, Verena. Das Leben kostet Geld.«

Wie die neue Weisheit der Marlis so sonderbar rührend zu Gesicht gestanden hatte.

Verena hatte ihr über die Kinderaugen gestrichen, die fast sorgenvoll und dabei doch wieder schelmisch dreinschauten.

»Ich lehre dich brennen, Marlis, Tiefbrand, das ist eben sehr in Mode. Zeichnungen dazu entwerfen kannst du. Ich bringe dich zu dem Mann, für den ich früher arbeitete. Ich wette, du hast Glück!«

»Und der Malkurs?« hatte Frau Helene eingeworfen. »Der ist um der Zukunft willen so von Wichtigkeit.«

»Muß nebenher gehen, Mammi!«

»Und die Gesundheit, Marie-Luise?«

»Man kann so viel, wenn man muß, gnädige Frau,« hatte Verena leise gesagt.

Da hatte Frau Helene geseufzt, die Marlis hatte sie geküßt und Frau Helene hatte geschwiegen.

Marlise hatte also Brennen gelernt. Sie hatte mit ihren Arbeiten Glück gehabt. So viel Glück, – so viel Aufträge, daß sie jetzt vor Weihnachten den Malkurs gar nicht besuchen konnte, um alle zu erledigen.

Da hatte es in dem Vogelbauer erst recht gezwitschert und gesungen vom Morgen bis zum Abend.

In den ersten Wochen nach dem Trauerfall, nach der großen Wandlung, nach der Übersiedlung hier heraus ans Ende der Stadt waren viele Freunde gekommen aus der alten Glanzzeit. Viel Teilnahme hatte sich den beiden armen Verlassenen von allen Seiten gezeigt. Man hatte von Marlisens großmütigem Verzicht gehört, hatte bewundert, kritisiert, je nachdem.

Allmählich waren der Besuche weniger und weniger geworden. Wie man auch nur so ans Ende der Welt ziehen konnte! Die gute Wreden hätte das bedenken müssen. Sie wußte ja selbst von früher, wie wenig Zeit einem blieb bei den tausenderlei geselligen Verpflichtungen, die das Leben nun leider so mit sich brachte. Man konnte wirklich so selten, wie man mochte. Und bald mochte man auch nicht mehr, das heißt, anderes tauchte auf und verwischte früheres. Es lebt sich so schnell in der großen Stadt. Man geht über Abgetanes so leicht zur Tagesordnung über.

Frau Helene, die das Leben kannte, hatte das kommen sehen. Es grämte sie nur um des Kindes willen.

Als aber die Marlis es sichtlich gar nicht bemerkte, nichts vermißte, als die Freundinnen seltener kamen, es höchstens angenehm empfand, da es ihr mehr Zeit zu ihrer Arbeit ließ, und emsig wie ein Bienchen schaffte, froh wie eine Lerche trällerte, immer klare, helle Augen hatte – da hütete sich Frau Helene wohl, daran zu rühren.

Wozu den hellen Kindersinn trüben?

Nur Verena und Helene kamen nach wie vor. Das heißt, besser gesagt, waren treue Hausfreunde geworden, seit das Schicksal Frau Helene und Marlise in die kleine, helle Vorstadtwohnung verschlagen hatte.

Auch jetzt bimmelte die Vorflurglocke mit dünnem, blechernem Ton. Frau Helene fuhr aus ihrem Sinnen auf und raffte die entfallene Flickarbeit an sich.

Die Marlis streckte ihr lachendes Gesicht aus dem Nebenzimmer hervor.

»Wer's wohl ist, Mammi? Hoffentlich Verena oder Helene oder beide. Sollst mal sehen, wie sie mein neues Rosenmuster finden werden. Wundervoll, Mammi, sag' ich dir! Es muß ihnen gefallen!«

»An übergroßer Bescheidenheit, –« fing die Mutter an und wollte sagen: leidest du nicht. Aber da bimmelte die Flurglocke wieder. Diesmal noch schriller und dünner.

»Wo unsere Zofe nur steckt!« rief lachend die Marlis. »Ja so, sie ist ja schellentaub. Da werde ich wohl Pförtner sein müssen.«

So eilte die Marlis hinaus, ehe Frau Helene was sagen konnte, und öffnete die Vortür.

Dann hörte man ihre jubelnde Stimme: »Dacht' ich's doch! Helene, Verena, herrlich, daß ihr da seid!« Erst gab's eine große Begrüßung, dann sagte Helene Ehlert frisch: »Wir bringen dir eine Nachricht, die dich freuen wird, Marlis« – sie waren sich in den trüben Tagen nahe getreten, die beiden – »eine sehr gute Nachricht und Aussicht. Heute morgen sagte Professor Lauten – er läßt dich übrigens sehr grüßen – wenn Fräulein Wreden wiederkommt, dann können wir gleich mit Ölmalen anfangen. Ihr Zeichnen ist so brav, daß ich's verantworten kann. Was sagst du nun?«

Die Marlis war aufgesprungen und starrte mit freuderotem Gesicht aus weit offenen Augen die Sprecherin an.

»Wirklich, Helene, wahrhaftig?«

Die nickte bloß.

Da kam aus der Marlis Mund ein Ruf, den man eher einem Indianerkrieger zugetraut hätte. Sie wirbelte um den Tisch, daß den anderen Hören und Sehen verging. Und dann lag sie plötzlich vor Frau Helenens Stuhl auf den Knieen und barg das glühende Gesicht in ihren Schoß.

Die Schultern zuckten, es war, als ob sie weine.

Und richtig hob sich gleich danach ein tränennasses Gesichtchen der Mutter zu und hastige, zitternde Hände wischten drüber hin.

»Ich – ich – mir ist ganz kurios, Mammi. Da laufen wahrhaftig Tränen« – komisch bestürzt sah sie aus die nassen Hände – »und ich – ich freue mich doch so.«

»Es gibt auch Freudentränen, Kind,« sagte Frau Helene leise.

»Muß wohl sein, Mammi. Komisch, was?«

Die Marlis war schon wieder aufgeschnellt und sah ganz verschämt aus.

»Ich – ich – Verena, wie lange hast du gemalt, ehe du dein erstes Bild verkauft hast?«

»Drei Jahre, Marlis!«

Stockend, zögernd kam's heraus. Verena wußte, daß es einen Dämpfer für diese große Freude bedeutete.

»Drei – Jah-re!« sagte denn auch die Marlis und ein Schatten lief ihr übers Gesicht. Gleich danach lachte sie und sagte: »Was sind drei Jahre, wenn man dann ein ganzes schönes, reiches Leben vor sich hat?«

»Bravo, Prinzeß!« rief Helene enthusiastisch, langte nach der Marlis Hand und schüttelte die, als ob sie einen Pumpenschwengel vor sich habe. »Da ist Mark drin, gnädige Frau.«

Sie nickte zu Frau Helene hin. Die hatte den Kopf gesenkt und seufzte vor sich hin. Von wem das Kind dies »Mark« hatte? Von ihr nicht, von dem unbekümmerten, leichtlebigen Vater auch nicht – von dem hatte sie nur den weißblonden Schopf, Gott sei Dank! Nein, in dem Kinde floß das Blut der Voreltern aus dem Hause Fritz Erich Albers, mehr, weit mehr als in ihr, Frau Helene, die doch noch viel direkter davon abstammte. Das Kind war Fleisch von deren Fleisch, hatte deren Mark in den Knochen, hatte denselben unerschrockenen, tapferen Mut in der Brust, der es in Freud und Leid, im Sonnenschein und in der Finsternis mit dem Leben aufnimmt. Als linde, sanfte Lüfte es umkost hatten, da hatte es sich wohlig von ihnen treiben lassen, nun schreckte es vor den Stürmen nicht zurück. Was hatte das Kind so gefestet? Ererbtes Blut allein tut's nicht. Erziehung, Verhältnisse können trotzdem zum Guten oder Schlimmen wirken. Was also war außerdem in dem Kinde tätig gewesen, daß es sich so ungeahnt bewährte?

Frau Helene sann und grübelte.

Das war's gewesen! Der reiche Hort an Liebe war's gewesen, den der treue Bruder in des Kindes junges Gemüt versenkt hatte. Der lag da geborgen und aus ihm schöpfte die Marlis all ihre Kraft. »Dem Onkel zuliebe,« das war die Triebfeder, auf der ihr ganzes Sein und Wesen beruhte.

Und sie, Frau Helene, hatte diese reiche, übergroße Liebe gefürchtet, so ganz andere Wirkungen vorausgesehen. Wie war sie blind, wie kleinmütig gewesen!

Mitten in der Mutter Sinnen und Grübeln hinein sagte die Marlis mit komisch klagendem Ton: »Sie lachen mich aus, Mammi, weil ich nicht weiß, was das Pfund Zucker kostet. Ich sagte zehn Pfennige, Mammi. Ist's mehr?«

Da mußte Frau Helene lachen.

»Und das will Hausmütterchen spielen!«

»I wo,« gab die Marlis zurück, »das will Bilder malen!«

»Eines tun und das andere nicht lassen, Marie-Luise!«

» Bong!«. Die Marlis blies die Backen auf. In diesem Augenblick war nichts weiter mit ihr anzufangen.

Verena und Helene verabschiedeten sich bald danach. Die Marlis kehrte an ihre Arbeit zurück.

Sie hatte noch viel zu tun bis sieben Uhr Abends. Da mußte Feierstunde sein. Hierin hatte Frau Helene ein Machtwort gesprochen. Da wurde dann ein gutes Buch gelesen. Und die Marlis erstaunte, wie viel gute und schöne Bücher es in der Welt gab. –

»Sieh, Mammi, früher bin ich ja nie zum lesen gekommen. Schön war's ja auch, Mammi,« ein unwillkürlicher Seufzer kam, »so bunt und so lustig. Aber jetzt ist's auch schön, anders, ruhig und friedlich. Wenn nur – wenn nur Onkelchen bei uns sein könnte.«

Helle Tränen standen ihr dabei in den Augen und wurden hastig weggewischt. – –

Die Schlüsselschränkchen und noch eine Anzahl anderer kleinerer Arbeiten waren fertig. Heute wollte die Marlis sie abliefern.

Sie belud sich mit den Päcken und ging trällernd davon.

»Leb wohl, Mammi, als Krösus komm' ich wieder.«

Frau Helene nickte lächelnd. Sie hörte die Flurtür zufallen und lauschte, bis kein Ton mehr von den flinken jungen Füßen auf der Treppe draußen zu hören war.

Zwei Stunden und mehr mochten vergangen sein. Wenn Frau Helene so allein mit ihrer Arbeit saß, hatte sie stets so viel zu denken, daß sie niemals auf die Zeit achtete. Jetzt hob sie lauschend den Kopf. Konnte das das Kind sein, dessen Schritt man draußen hörte? Das Wohnzimmer stieß ans Treppenhaus, so daß man schon fast hören konnte, wenn einer unten zum Haus hereintrat. Langsam stieg's herauf, zum ersten, zum zweiten, zum dritten Stock! Richtig, es war das Kind. Jetzt wurde der Schlüssel in die Flurtür geschoben und die geöffnet.

Irgend etwas mußte nicht in Ordnung sein, sonst hätte die Marlis sicher schon von der Tür her gejubelt.

Da streckte sie den Kopf herein. Richtig – das sonnige Gesichtchen war verdunkelt.

Frau Helene erschrak. Eben wollte sie fragen, da sagte die Marlis: »Ich nehme bloß Mantel und Hut ab. Gleich bin ich fertig, Mammi.«

»Schön, Marie-Luise.«

Frau Helene zwang sich zur Ruhe. Sie wollte das Kind zuerst reden lassen.

Die Marlis kam gleich danach herein und setzte sich auf ihren Stuhl der Mutter gegenüber.

»Nun?« fragte die.

Ein tiefer Seufzer.

»Ja, Mammi, sieh. Der Mann hat mir nun doch nicht so viel gegeben. An jedem Schränkchen hat er mir drei Mark abgezogen. Er sagte, im halben Dutzend müsse er sich billiger stellen und – und –«

»Ist das so schlimm, Marie-Luise?«

»Ich – ich hatte mich so gefreut, Mammi, und –«

»Enttäuschungen kommen vor im Leben, Marie-Luise.«

»Wohl, Mammi. Aber er – er war auch gar nicht so höflich, ließ mich so lange warten und –«

»Ja, Kind, dergleichen –«

»Ich weiß, Mammi, und ich mache mir ja schließlich auch nichts draus. Aber – aber, ich habe noch was erlebt.«

»Was, Kind?«

»Denk dir, Mammi, wie ich da um die Ecke der Prinzenstraße biege, die schon erleuchtet war und so recht ins volle Licht trete, da – da kommen Leutnant Erckner und neben ihm Ilse von Tissen daher. Sie haben mich gesehen, Mammi, ich hab's ganz deutlich gemerkt. Die Ilse wurde feuerrot, sagte schnell ein paar Worte und dann traten beide rasch an den nächsten hellerleuchteten Laden und kehrten mir den Rücken zu. Sie haben mich vermeiden wollen. Weshalb, Mammi?«

Fragend, groß ruhten die Kinderaugen auf der Mutter Gesicht.

Die war leicht zusammengezuckt. Also nun sollte diese Welterkenntnis dem Kind doch nicht erspart bleiben!

»Vielleicht dachten sie, es könne dir unangenehm sein, Marie-Luise.« Die Marlis sah erst erstaunt auf.

»Mir?« Und dann lachte sie hell hinaus. Jeder Schatten war gewichen aus Miene und Stimme. »Wegen der paar Päckchen, Mammi, ja? Wie töricht! Wie töricht überhaupt von mir, so drüber zu grübeln. Vielleicht haben sie mich gar nicht gesehen, vielleicht waren sie wirklich so albern, wie du meinst, Mammi. Jedenfalls ist's nicht der Mühe wert und das andere war so nett, Mammi. Denk dir, Gerta Dillen kam mit ihrem Vater daher. Sie waren so lieb. Der Professor bestand darauf, daß er mir tragen helfen dürfe und auch Gerta belud sich. Sie begleiteten mich bis zum Geschäft. Nächstens wollen sie kommen. So liebe Menschen, Mammi!«

Die Marlis war wieder ganz Sonnenschein und Frau Helene nickte ihr freundlich zu.

»Ich freue mich, sie wieder zu sehen, Kind.«

»Es geht nichts über gute Freunde, Mammi, was?«

Sie strahlte. Kein unhöflicher Geschäftsmann, der von dem wohlverdienten Arbeitslohn abknipste, kein Leutnant Erckner samt Begleiterin schien mehr zu existieren.

»Halt, das beste hätt' ich noch fast vergessen, Mammi. Ein Brief von Resi, Mammi, und solch ein dicker Brief!«

Jubelnd hielt die Marlis den hoch, jubelnd riß sie ihn auf, überflog ihn in Hast. Und jubelnd lag sie gleich darauf der Mutter am Halse!

»Mammi, Mammi, denk doch, Resi ist Braut! Und mit wem, Mammi, rate, mit wem? Mit unserem Kutschenmann von damals, der uns oben vom Rawyl aus dem Schnee holte. Erinnerst du dich noch, Mammi?«

Ob sich Frau Helene erinnerte! Stunden, so in Zittern und Bangen verbracht, vergessen sich nicht leicht.

»Was schreibt Resi, Kind? Laß mich hören, was sie selbst sagt, Marie-Luise.«

Und sie lasen gemeinsam Resis Brief. Der war, trotz der beträchtlichen Länge, im Grunde doch nur Variation über das eine Thema: den Herrn Assessor Elard Linden. Sie nahmen innigsten Anteil daran, ja Marlis hatte dann eine Nacht voll sonniger Träume. Resis Jubelbrief hatte sie in die Lenk zurückversetzt, in die geliebten, fernen Schweizerberge. Onkel war wieder da und sie beide kletterten über Felsen und Firnen und jubelten in die helle, lichte Gotteswelt hinein, die sich da ihnen zu Füßen breitete. Und der Onkel war so froh und die Marlis fühlte sich so selig, so leicht, als ob ihr Schwingen wüchsen. Und dann – dann freilich kam das Erwachen im trüben grauen Wintermorgen und die Marlis mußte sich erst innerlich einen Ruck geben, daß sie sich wieder zurechtfand in der Welt.


Das Weihnachtsfest war ganz nahe. Das erste Weihnachtsfest, das Frau Helene und ihr Kind in so ganz veränderten Verhältnissen feiern sollten.

Die Marlis war ungeheuer geheimnisvoll. Von früh bis spät war sie tätig, mit Wonne und Freude tätig. Wohl dachte sie dessen, was gewesen war, allaugenblicklich, aber nur insofern warf es einen Schatten, als sie des Onkels Liebe in Schmerzen mißte. Glanz und Prunk und Reichtum, die sie in solchen Zeiten umgeben und mit Gaben überschüttet hatten, die mißte sie nicht.

In ihrem »Atelier« trug die Marlis all ihr Schätze zusammen. Da hinein durfte Mammi keinen Blick tun. Frau Helene war sehr still in diesen Tagen. Sie war überhaupt recht willen und tatenlos geworden unter diesen letzten Schicksalsschlägen. Sie saß und ließ ihr frisches, tatkräftiges Kind für sich denken und sorgen. Es war dies auch viel auf körperliche Ursachen zurückzuführen. Sie war stets zart gewesen und hatte gekränkelt seit den Tagen ihrer stürmischen Ehe, seit sie sich und ihr Kind aus dem Schiffbruch ihres ganzen Glücks in bergenden Hafen elterlichen Hauses rettet hatte. Nun war sie zusamt dem Kinde wieder in die brandende See geschleudert. Wo hätte ihr jetzt noch Widerstandskraft und Energie herkommen sollen?

Bild: Richard Gutschmidt

Willst du den Weihnachtsmann sehen, Mammi?

Aber die Marlis sorgte und schaffte für zwei und war sich dessen gar nicht bewußt, daß hier Mutter und Kind eigentlich die Rollen gewechselt hatten.

Jetzt eben streckte sie den Kopf zur Tür herein.

»Willst du mal sehr artig sein, Mammi, dann darfst du den Weihnachtsmann sehen. Ja?«

Frau Helene lächelte matt.

Da warf die Marlis die Tür zurück und kam vollständig zum Vorschein.

Schneeflöckchen hingen in dem schwarzen Fellmützchen, in den schwarzen Wolllöckchen des Mantels, Schneeflöckchen lagen über den Zweigen des kleinen Baumes, den die Marlis umfaßt hielt. Durch das grüne Geäst lachte und leuchtete ihr Schelmengesicht.

»Wie gefall' ich dir, Mammi?«

»Du wirst dich erkälten, Marie-Luise. Du bist ja voller Schnee.«

»Gehört dazu, Mammi. Kannst du dir den Weihnachtsmann ohne Schnee denken?«

»Aber – Kind, nicht so toll!«

Die Marlis hatte sich energisch geschüttelt. Die Schneeflöckchen stiebten durch das Zimmer, in Frau Helenens Gesicht. Die wischte sich ab und wollte zanken. Aber die Marlis sah ihr mit dem strahlenden Schelmengesicht tief in die Augen.

»So 'n bissel Schnee, Mammi, und um die Weihnachtszeit! Sieh mal, ist's nicht ein liebes Bäumchen? Gerade wie's für uns kleine Leute paßt, Mammi, was?«

Frau Helene seufzte. Sie hatte es nicht gewollt, es entschlüpfte ihr gegen ihren Willen.

Da setzte die Marlis ihr Bäumchen hin und umfaßte die Mutter.

»Weil das Bäumchen klein ist, Mammi? Sollst mal sehen, wie hell es strahlen wird. Wenn nur – wenn wir nur alle beisammen hätten bleiben dürfen, hättest mal die Lust sehen sollen, Mammi! So freilich –«

Flink wischte die Marlis etwas aus dem Augenwinkel.

»Wart bloß, Mammi, bis ich mein Bild verkaufe. Dann zünd' ich dir 'nen Baum an, so hoch wie der Sebaldusturm. Sollst mal sehen.«

Die Marlis lachte hell auf und verschwand samt Bäumlein und allerhand Päcken in ihrer Höhle.

Und nun war der heilige Abend da. Verena und Helene Ehlert sollten kommen. Frau Helene hatte sie darum gebeten. Das Kind sollte unter ihrem Trübsinn nicht leiden müssen. Die beiden würden helfen, wenigstens etwas wie Weihnachtsstimmung herzustellen.

Vorhin war die Marlis mit einem großen grünen Kranz zur Mutter gekommen. Sie war schon in Hut und Mantel gewesen und ihr junges frohes Gesicht hatte seltsam feierlich dreingeschaut.

»Ich gehe zu ihm, Mammi. So ganz allein dürfen wir ihn heute nicht lassen.«

Wie gerne die Mutter ihr Kind begleitet hätte. Eine Erkältung verbot es ihr. Wagen wollte sie nichts. Sie wollte sich schonen für ihr Kind.

»Geh mit Gott, Marie-Luise, und bring ihm meine innigsten Grüße.«

Ernst hatte die Marlis der Mutter zugenickt und war leise gegangen.

Und nun saß Frau Helene in der Dämmerung der niedersinkenden Weihenacht und wartete auf ihr Kind.

Draußen tönte die Flurglocke.

War das die Marlis schon?

Nein, eine Männerstimme.

Frau Helene lauschte, sie verstand aber nichts.

Und jetzt stolperte wieder etwas die Treppe hinunter. Der Mann ging.

Minchen streckte das Gesicht zur Tür herein, noch neugieriger als gewöhnlich.

»Do sin Blumme. Ich weiß nit, der Mann hat was vom Freilein gesacht. Vielleicht –« Minchen kicherte verschämt. Gott weiß, was für Vorstellungen ihr Gehirn kreuzten. »No, do steckt jo e Briefche. Do wird's drinstehe.«

Mit komisch großartiger Armbewegung reichte sie Frau Helene die Blumen hin. Ein Körbchen Maiblumen und zartes Frauenhaar, von lichtrosa Bändern durchschlungen.

Sie wies nach dem Briefchen hin und stand offenbar und wartete, daß Frau Helene lesen sollte. Das ganze Gesicht mit den runden blanken Augen, nein, die ganze Gestalt ein lebendes Fragezeichen.

Frau Helene mußte lächeln.

»Sie können gehen, die Lampe holen.«

Als die Lampe zur Stelle war, wiederholte sich dasselbe. Das Minchen konnte sich sichtlich nicht entschließen, ohne vorherige Auskunft über die geheimnisvollen Blumen abzuziehen.

»Ich brauche sonst nichts,« sagte Frau Helene bedeutsam.

Minchen wich nicht von der Stelle.

»Sie können gehen.«

Das war unzweideutig. Aber es dauerte doch noch ein ganzes Weilchen, ehe Minchen in seiner ungestillten Neugier sich zum Abzug entschließen konnte. Und dann öffnete sie noch einmal die Tür und das Gesicht erschien nochmals.

»Wünschen Sie noch etwas?«

»Ich – nein – awer –«

Und dann klappte die Tür endgültig zu.

Leise lächelnd griff nun Frau Helene nach dem Briefchen, das des armen Minchens Neugier so erregt hatte.

Eine Karte von Doktor Lossen lag darin.

 

»Den beiden Damen meinen ergebensten Gruß. Das gnädige Fräulein bitte ich, die paar Blumen als Zeichen meiner unbegrenzten Hochachtung anzunehmen. Ein gesegnetes Fest!

Richard Lossen.«

 

»Freundlich!« sagte Frau Helene und seufzte. So brauchte das Kind den gewohnten frischen Blumenschmuck doch nicht ganz zu entbehren.

Da schellte es wieder.

Erstaunt lauschte Frau Helene. Marie-Luise konnte kaum schon zurück sein. Verena und Helene waren erst auf sieben Uhr gebeten.

Da war ja wirklich nochmals eine Männerstimme. Und diesmal entfernte sich der Kommende nicht alsbald wieder.

Man hörte, daß jemand sich draußen seiner Überkleider entledigte.

Und dann kündete das Minchen mit der schrillen Kinderstimme elegant den Besuch an.

»Do is jemand!«

Die Tür öffnete sich und erst erschien das Minchen im Zimmer. Es konnte sich offenbar von dem Türflügel nicht trennen. Es blinzelte und winkte nach jemand hin, der auf der Schwelle stand, und sagte nochmals: »Do is jemand.«

»Schon gut,« sagte Frau Helene etwas verlegen, etwas ungeduldig und erhob sich.

»Bitte, bleiben Sie, gnädige Frau.«

Der Eintretende war mit wenigen Schritten bei Frau Helene, die er sanft in ihren Sitz zurückdrückte.

Es war der alte langjährige Buchhalter des Hauses Fritz Erich Albers. Frau Helene erkannte ihn sofort. Er hielt einen Strauß duftender Rosen.

»Herr Braun, wie freundlich von Ihnen.«

Der alte weißhaarige Mann beugte sich tief über die ihm gebotene Hand und führte sie an die Lippen.

Von der Tür her kam's wie ein unterdrücktes Kichern. Dort stand das Minchen mit den runden, neugierigen Augen noch aufgepflanzt. Die Begrüßung erregte offenbar seine Heiterkeit. Ein ernster Blick Frau Helenens scheuchte sie.

»Es trieb mich heute hierher, gnädige Frau,« sagte unterdessen der alte Mann, »ich mußte sehen, wie – aber wo ist denn das gnädige Fräulein?«

»Marie-Luise ist zum Grab des Onkels gegangen.«

»Ich hätte es mir denken können,« sagte der alte Mann vor sich hin. »Ich darf sie doch erwarten, gnädige Frau? Heute ist die alte Zeit so lebendig geworden und da – da – Welcher Segen das Kind war für das alte Haus, gnädige Frau! Wer das gedacht hätte, als sie noch in kurzen Kleidchen dort über die Treppen huschte. Ich sehe sie noch vor mir, wenn sie Morgens das liebe Gesichtchen unten bei uns hereinstreckte: Duten Morgen, ihr alle! Ein Sonnenstrahl war's, gnädige Frau, ein Sonnenstrahl! Und wie der Herr das Kind liebte! Jetzt hat sie seinen Namen vor dem Mund der Leute behütet. Keiner kann einen Stein aufheben gegen die Firma Fritz Erich Albers. Mir altem Manne bewegt's das Herz in der Brust. Gott wird es ihr lohnen, tausendfach lohnen, des bin ich gewiß.«

Fast begeistert sprach der alte Mann. Frau Helene weinte leise vor sich hin.

Beide hatten überhört, daß mittlerweile die Flurtür ging.

»Da bin ich wieder, Mammi. So friedlich war's draußen. Onkelchen – aber da ist ja Herr Braun. Wie lieb von Ihnen!«

Marlise stand da, im jungen Gesicht den feierlich ernsten Abglanz, den sie von der stillen Stätte draußen mit heimgenommen.

Der alte Mann hielt ihre beiden Hände gefaßt und preßte und schüttelte sie.

»Ich mußte Sie heute sehen, Kind. Ich mußte Ihnen noch einmal sagen –« dem alten Mann brach die Stimme, doch faßte er sich schnell. »Die paar Rosen wollte ich Ihnen bringen, Kind, und – und – wie leben Sie? Bereuen Sie nicht?«

Die Marlis sah ihn mit den ernsten Kinderaugen an.

»Keine Minute meines Lebens, Herr Braun.«

»Ich – ich quäle mich oft, weil ich damals so ohne Besinnen bestätigte, daß eine bare Summe uns retten könne. Hätte ich das nicht getan, wer weiß – Kind, und Sie bereuen wirklich nicht?«

Da leuchtete es in Marlis Augen auf.

»Nicht im geringsten! Mammi ist zufrieden und ich – ich liebe meine Arbeit. Den Reichtum vermisse ich gar nicht. Wenn Onkelchen auf mich niederschaut – er muß zufrieden mit mir sein.«

»Das muß er! Das muß er! Und, glauben Sie einem alten Manne, Kind, das Bewußtsein treulichst erfüllter Liebespflicht, das Sie in der Brust haben müssen, ist Millionen wert. Reichtum, Glanz, Pracht sind nichts dagegen.«

»Das fühle ich,« sagte die Marlis einfach. Und dann mit plötzlichem Übergang, wie ihn nur die Marlis hatte und so frisch und so hell wie stets sagte sie: »Und die schönen Rosen soll ich wirklich haben? Sieh doch, Mammi, wie wundervoll! Bleiben Sie zum Abend bei uns, Herr Braun? Ich habe ein reizendes Bäumchen und zwei liebe Freundinnen kommen. Wollen Sie, ja?«

Der alte Mann strich mit ungeschickter Hand über das junge Gesicht, das ihn so lieb und freundlich anschaute.

»Wie gerne möchte ich, Kind. Aber die Tochter und die Enkelchen warten auf den alten einsamen Großvater. Ich muß gehen, Kind. Gott segne Sie!«

Nun küßte er ihre Hände wirklich, die er hielt, eine nach der anderen, fast feierlich.

Die Marlis ließ es geschehen, aber sie war feuerrot geworden und die Kinderaugen schauten ganz erstaunt und ungewiß drein.

Auch von Frau Helene verabschiedete sich nun der alte Mann, und dann war er gegangen.

Die Marlis aber stand inmitten des Zimmers, hatte das Gesicht in die Rosen vergraben und war sehr still.

»Mammi,« sagte sie plötzlich, »weshalb die Menschen nur so viel Aufhebens machen, wenn einer tut, was selbstverständlich ist?«

»Weil die meisten das Selbstverständliche eben nicht selbstverständlich finden, Marie-Luise.«

Eine Pause und dann fast ängstlich: »Aber doch viele, Mammi, viele?«

»Viele – vielleicht, Marie-Luise.« Es kam sehr zögernd.

Da lag die Marlis vor der Mutter auf den Knieen und umfaßte sie.

»Siehst du, Mammi, siehst du. Und nun wollen wir nie mehr davon reden!« – – –

Verena und Helene Ehlert waren da. Sie saßen mit Frau Helene im dunklen Zimmer am Fenster. Draußen am Weihnachtshimmel funkelten und blitzten die Sterne.

»Auch dort Feststimmung,« sagte Verena leise und wies nach oben.

Sie schauten und sannen.

Wem, der über die ersten Kinder- und Jugendjahre hinaus ist, taucht zu solcher Zeit nicht Vergangenes auf? Wer sieht nicht liebe Gestalten aus fernen Tagen, hört nicht verklungene Stimmen, verhallten Jubel oder verhalltes Seufzen?

Die drei hier am Fenster taten's. Aber dann rief der feine silberne Ton eines Glöckchens sie zur Wirklichkeit zurück. Und zugleich öffnete sich die Tür und aus der Marlis geheimnisvoller Höhle strömte eine Lichtflut über sie hin.

Die Marlis aber stand unter der Tür: »Kommt, kommt sehen, was Christkindlein brachte.«

Sie flog auf Frau Helene zu und zog sie über die Schwelle.

»Rasch, Mammi!«

»Kind!«

»Marlis!«

»Aber, das ist ja reizend!«

Der ganze kleine Raum war mit Tannengrün verkleidet. Auf schlankem Säulensockel stand der kleine Baum und strahlte seinen frohen Glanz über alles hin. Aus dem Grün der Wände leuchteten Beerenbüschel oder Gehänge kleiner vergoldeter Tannenzapfen vor. Dazwischen waren selbstgeklebte bunte Lampions in Form von allerhand strahlenden Wunderblüten angebracht. Das Ganze sah festlich poetisch aus.

Der weißgedeckte Gabentisch war gleichfalls mit Tannengrün und Efeuranken geziert.

Dahin zog Marlise die Mutter.

»Das ist für dich, Mammi, Herzensmammi!«

Sie wies auf einen kostbaren Pelz, Frau Helenens eigenen Pelz aus den Glanztagen. Er war mit allem Schmuck, jedem wertvollen Toilettestück, das den beiden gehörte, bei der großen Wandlung, die in ihr Leben kam, veräußert worden, um die Hilfssumme, die den alten Namen reiten sollte, zu mehren. Marlise hatte bei dem Pelz sehr dagegen gesprochen. Mammi war für die rauhe Zeit zu sehr an diese schützende Hülle gewöhnt. Frau Helene aber hatte es sich nicht nehmen lassen. Auch sie wollte tun, was in ihren Kräften stand. Die Marlis hatte sich mit dem Mann, der den Pelz erhandelte, ins Einvernehmen gesetzt. Er hatte ihr diesen zum eigenen Einkaufspreis überlassen. Es war der erste Pelzhändler am Ort. Lange kannte er die Alber'schen Damen und hatte von der Marlis Verzicht gehört.

»Ich hätt' mich wahrlich versündigt, wenn ich des nit for des arm jung Ding hätt' dun kenne. Unsereiner hat auch kei Herz von Stei'. Lumpe laß ich mich nit. Du hättst des Gesichtche sehe solle, Settche,« sagte er zu seiner Frau.

Die Marlis hatte noch vereinbart, daß sie nach und nach abzahlen dürfe. Auch hierauf war der Mann eingegangen.

Jetzt stand sie glückstrahlend und schaute von der Mutter auf den Pelz und von dem zur Mutter.

Frau Helene fand noch keine Worte. Sie streichelte an dem alten lieben Freund und Tröster aus rauhen Tagen herum und dann wieder strich sie ihrem Kind übers glühende Gesicht. Dazu liefen ihr die hellen Tränen aus den Augen.

»Marie-Luise, Kind, wie –?«

Die Marlis berichtete sprudelnd, strahlend.

»Und nun mögen Frost und Kälte einrücken, Mammi, wir fürchten sie nicht, was?« so schloß sie.

Frau Helene hatte sie längst an sich gezogen und bedeckte das leuchtende Gesicht mit Küssen.

Sie sagte nicht viel.

»Unsere Gäste, Mammi,« flüsterte die Marlis und schlüpfte aus den Mutterarmen. »Verena, Helene, hier!«

Die fanden praktische Kleinigkeiten, wie sie ihnen zu ihrem Beruf dienten.

»Kinder, Luxussachen können wir uns nicht leisten, so bin ich beim Nötigsten geblieben,« sagte lachend die Marlis.

Lustig stimmten die Freundinnen zu und dankten warm.

Die Marlis war mit dem, was die anderen für sie ersonnen hatten, überglücklich. Man sah, mit keinem Gedanken dachte sie daran, Vergleiche zwischen einst und jetzt zu ziehen.

»Mammi, aber so was! Der Farbenkasten ist ja viel zu kostbar für mich,« jubelte sie und sah die Mutter fast erschreckt an.

»Helene schenkt ihn dir, Kind.«

»Helene, aber –« Der Marlis Gesicht überzog plötzlich flammende Röte. War's Freude – war's sich aufbäumender Stolz? Auch nehmen will gelernt sein. Wer hatte doch mal gesagt: wie du geben würdest, nimm! Das Wort fiel der Marlis zur rechten Zeit ein. Mit offenem, freiem Blick sah sie Helene ins Gesicht.

»Der Kasten macht mich glücklich, Helene, und ich danke dir von ganzem Herzen.«

Es war, als ob Helene Ehlert aufatme. Stürmisch umfaßte sie die Marlis.

»Ich danke dir, Prinzeß, meine Prinzeß!« Mehr sagte sie nicht.

Frau Helene nestelte an ihres Kindes Hals herum. An goldner Kette hing was Blitzendes, Leuchtendes. Fragend, erstaunt sah die Marlis auf.

»Das sollst du tragen, Marie-Luise, und es nie von dir lassen. Es sei dein Talisman fürs Leben. Er selbst und seine große Liebe waren's bis vor kurzem, laß es von jetzt ab sein Bild und sein Gedenken sein.«

Stumm, ahnungsvoll öffnete die Marlis die brillantblitzende Kapsel – Frau Helene hatte sie zu diesem Zweck zurückbehalten, als sie alles hergab. Des Onkels Antlitz schaute ihr entgegen. Es war, als ob seine treuen Augen sie grüßten.

Aufschluchzend küßte die Marlis der Mutter Gabe.

»Nie will ich's von mir lassen, Mammi, nie!«

Und sie barg's in ihrem Kleide. Die Ihren haben es ihr dann später am Ende eines langen, reichen Lebens noch mit in den Sarg gegeben.

»Jetzt das Minchen, Mammi!« Gedanken für andere hatte die Marlis, auch wenn eigenes Leid, eigene Freude sie gefangen hielten.

Man rief, und die kleine Küchenfee erschien, die Augen noch runder und weiter aufgerissen als sonst. In jeder Hand hielt sie ein Paar derbe, grobwollene, graue Pulswärmer.

»Da, des will ich Ihne schenke. Die hab' ich selwer gestrickt.«

Mit beglückender Miene bot sie das eine Paar Frau Helene, das andere Marlise hin.

Beide griffen erstaunt zu und dankten sehr.

»Schön, gelle?« fragte das strahlende Minchen.

Und dann konnte sie sich kaum fassen vor Glück über das ihr Zugedachte.

Ihre Freudenausbrüche waren so ergiebig und so ursprünglich, daß es Mühe hielt, sie zu dämmen.

»Ach du lieber Himmel nein, sich emol an, des is all for mich? Die Luwis' hot doch recht« – die Luwis' aus dem zweiten Stock war Minchens Orakel und Ideal – »die Luwis' secht, was nowele Leit warn, die bleiwes, auch wann se nix mehr hawe.«

Gut meinte es das Minchen, aber Takt hatte das Minchen wenig.

»Wie wär's, Kinder, wenn wir unseren Teetisch hier hereintrügen?« Die Marlis lenkte ab.

»Des kenne mer,« sagte das Minchen gönnerhaft, ehe jemand sonst den Mund auftat.

Da lachte die Marlis laut und lustig.

»Nun, wenn's Ihren Beifall hat, Minchen, dann packen Sie mal an.«

Das Minchen grinste und wandte sich im Diensteifer so rasch, daß sie der Länge nach hinschlug.

»Ums Himmels willen,« rief die Marlis und sprang herzu. »Haben Sie sich weh getan?«

»Des bißche Hinschlage dut doch nix,« meinte das Minchen geringschätzig und raffte sich mit Grazie auf, »ich hab' bloß emal de Bodem messe wolle, hahaha!«

Dann saßen die vier gemütlich am Teetisch im Schein der Weihnachtskerzen.

Man tat Frau Helenens und Minchens Kochkunst alle Ehre an. Laute Fröhlichkeit konnte nicht aufkommen, dazu lagen Trauer und Leid noch nicht fern genug. Aber frohe Worte wurden dennoch getauscht.

Frau Helene war sehr still, aber wenn die Marlis mit hellem Ton die Stimme hob und so frohe, zuversichtliche, tapfere Worte sagte, da glomm ein Leuchten in dem stillen Gesicht der Mutter auf.

Die drei, vor denen das Leben noch lag, redeten davon, wie sie's mit Fleiß und eigener Kraft gestalten wollten. Sie sprachen von ihrer Kunst.

»Jetzt geb' ich mich aber dran,« sagte die Marlis und reckte sich auf, »sollt mal sehen, daß ich was leiste.«

»Bravo, Prinzeß, so muß man reden!«

»Und sich dann auch nicht unterkriegen lassen, wenn mal ein Stein kommt, über den man stolpert,« mahnte Verena leise.

»Bange machen gilt nicht,« entgegnete die Marlis.

»Steine gibt's, Prinzeß.«

»Harte, Marlis!«

»Ich bücke mich und räume sie weg, einen um den anderen.«

Unbeugsamer Wille lag in dem jungen weichen Gesicht.

»Bravo, Prinzeß,« wiederholte Helene Ehlert.

»Glück zu!« sagte Verena einfach.

Frau Helene schwieg, bloß ihre Augen redeten.

Und dann verabschiedeten sich die zwei mit warmem Dank.

Sie fühlten, daß Frau Helene und Marlise noch ein stilles Stündchen brauchten, wo Vergangenes Einkehr halten konnte.

Die Marlis hatte die lieben Gäste bis zur Flurtür gebracht. Jetzt saß sie still zu der Mutter Füßen.

»Vorm Jahr fand ich den Zettel mit dem Versprechen zu jenem unseligen Ball, Mammi,« sagte die Marlis aus tiefem Träumen heraus.

»Unselig, Marie-Luise?«

»Wie mag Onkelchen damals schon gelitten haben, Mammi.«

»Wohl, Marie-Luise.«

»Wegen meiner, Mammi. Weil er seinem Irrwisch nichts versagen wollte.« Tief schmerzlich klang's. Und dann sehr leise: »Solch ein Irrwisch war ich, Mammi, ohne tieferes Gefühl, sonst hätte ich's ja merken müssen.«

»Sein Irrwisch, Marie-Luise.«

»Wohl, Mammi, aber –« lange Pause. »Mammi, mit dem Ball fing's an.«

»Was, Kind?«

»Daß alles anders wurde. Daß der Ernst kam und sagte: ich bin auch da, du Irrwisch. Weißt du noch, wie Helene mich zu Verena rief? Ach, Mammi, da fing's an.«

»Da fing's an, Marie-Luise.«

»Dann kam das andere, Mammi, das Schreckliche.«

»Das Schreckliche, Marie-Luise.«

Lange Pause.

Dann fragte Frau Helene sehr leise: »Und was dann kam, durch deinen eigenen Willen kam, Kind?«

»Leidest du drunter, Mammi?«

»Keine Minute, Marie-Luise.«

»Dann ist alles gut. Wenn wir ihn noch haben dürften, ich wünschte mir nichts anderes.«

»Gott segne dich, Kind!«

Lange schwiegen beide. Das Zimmer war fast dunkel. Die Lampe mußte am Erlöschen sein. Dafür funkelten die Sterne umso heller durchs Fenster.

Große ernste Kinderaugen sahen träumend hinauf. Dann klang es sehr leise, wie verschämt, durchs dunkelnde Zimmer: »Mammi, glaubst du, daß er mit seinem Irrwisch zufrieden ist?« – Der Mutter Antwort haben außer ihrem Kinde bloß die Sterne oben gehört.

Und die ziehen still und ewig stumm ihre himmlische Bahn.


Den Winter hatte der Frühling vertrieben. Der hatte dem Sommer weichen müssen. Dem Sommer war der Herbst gefolgt.

Erst hatte er leise und lind, wie duldsam, in das Sommertreiben hinein gelächelt: Blüht nur weiter, ihr Blümlein, grünt nur zu, ihr Bäume, fürchtet euch nicht. Dann hatte er sich plötzlich auf sein Recht, auf das, was seines Amtes war, besonnen. Mit Frosthauch hatte er Blümlein, Baum und Strauch angeweht. Die hatten sich im Schreck verfärbt. Und dann war er mit gewaltiger Lunge und rauher Faust dazwischen gefahren, leichtfertigen Sommerland zu scheuchen. Die zarten Blümlein erlagen zuerst, Baum und Strauch wehrten sich um ihr welkes Sommerkleid, erfolglos. Der Herbststurm schnob, zauste und rüttelte, kahl standen Baum und Strauch, verweht war ihr Laub in alle Winde. Am Boden hin stiebten und flogen die Blättlein. Der rauhe Geselle gönnte ihnen auch dort nicht Rast. Er störte sie auf, wirbelte sie in die Lüfte und fegte sie vor sich her mit seinem eisernen Besen. Weg mit dem leichtfertigen Gesindel, glatte Bahn für den Wintersmann!

Heute wieder hatte der Herbststurm den ganzen Tag in den Lüften gebraust. Und je weiter der Tag vorrückte, desto schlimmer tobte er. Da die Nacht sank, schnob und fegte er durch die langen geraden Straßen, über die freien Plätze der Stadt. Wer nicht hinaus mußte, der hielt sich am besten in den eigenen vier Wänden.

In dem hell erleuchteten, gut durchwärmten Lokal der altdeutschen Weinstube merkte man kaum etwas von all dem Wettergraus. Nur zuweilen rüttelte der Sturm an den schmiedeeisernen Gittern vor den langgestreckten, niederen, rundbogigen Fenstern, als zürne er, daß man seiner da drinnen so gar nicht achte. Das hatte aber bloß den Erfolg, daß einer oder der andere der Gäste den Kopf hob, sich behaglich ringsum sah, sich freute, daß er wohlig geborgen saß, und der Kellnerin winkte: »Käthi, noch ein Schöpplein vom Roten.«

Im kleinen Erker saßen zwei, die unterhielten sich sehr eifrig und achteten gar nicht aus irgend etwas ringsum.

Zwei junge Männer waren es, Schulfreunde und Studiengenossen. Der eine war Jurist, der andere Mediziner. Beide wohlbestallt in Amt und Würden, der eine aus dem Bureau des Vaters, der andere als Besitzer einer noch sehr jungen, aber vielversprechenden Praxis. Ein halbes Jahr war er nun wieder hier am Ort, wo er zwei Jahre zuvor schon einmal gewesen war. Die beiden dazwischen liegenden Jahre hatte er in einer Klinik der Großstadt verbracht.

Doctor med. Max Ebert war der eine, Doctor jur. Richard Lossen jun. der andere.

Jetzt eben war eine Pause in ihrem Gespräch eingetreten.

Da rüttelte der Sturm mit erneuter Wucht an den Gittern der Fenster.

»Wildes Wetter,« sagte Doktor Lossen.

»Echter Herbststurm,« bestätigte Doktor Ebert.

Und dann schwiegen beide und lauschten auf das Tosen vor den Fenstern. Doktor Ebert hatte den Kopf in die Hand gestützt. Jetzt hob er ihn.

»Der Sturm draußen mahnt mich an etwas, damals war's freilich im Frühlingssturm.« Es klang, als ob er nicht zum Freund, sondern mit sich selber rede. Dann richtete er sich lebhaft auf. »Sag, Richard, wie war das doch damals mit dem Tod des Kommerzienrats Albers? Wie steht es um seine Hinterlassenen?«

»Kanntest du sie?«

»Ein wenig.«

»Ja sieh, gemunkelt wurde ja allerhand, als er starb. Es sollte schlimm um die Firma stehen, hieß es. Sie ist dann ihren Verpflichtungen peinlich ehrenhaft nachgekommen, aber – übrig ist nichts geblieben. Schwester und Nichte des Verstorbenen haben sich in den jähen Wechsel ihrer Verhältnisse finden müssen und – gefunden. Bewundernswert, sagt mein Vater. Er war nämlich Testamentsvollstrecker und ist noch Vormund von Fräulein Wreden.«

»Sie soll zu Gunsten der Firma auf ihr Erbe verzichtet haben?«

Doktor Lossen sah den Freund erstaunt an.

»Wer sagte dir das?«

»Mein Freund, Assessor Elard Linden. Er ist mit der kleinen Köller verlobt und –«

»Ah, da bläst der Wind her? Na, dann ist Diskretion nicht weiter Ehrensache. Vater hält nämlich streng darauf. Die kleine Köller und Marlise Wreden sind ja wohl Busenfreundinnen? Dann nutzt also kein Ableugnen. Ja, sie hat's getan, hat verzichtet. Großartig, sagt Vater. Er wird förmlich begeistert, wenn er drauf zu sprechen kommt.«

»Und nun?«

»Nun? Ja, sie leben eben draußen in der Vorstadt irgendwo im dritten Stock in einer billigen, engen Wohnung. Die Mutter soll viel kränkeln. Die Tochter geht in das Lautensche Atelier und malt. Sie soll Talent haben.«

Lange Pause.

»Armes Ding!« sagte dann Doktor Max Ebert und starrte vor sich hin. »War so frisch und so froh!«

»Vater sagt, es sei großartig, wie sie sich drein findet. Glaub's selber. Hab' sie neulich mal nach langer Zeit gesehen, 'n bissel schlanker sah sie freilich aus, mochte aber von der Trauer kommen, die sie noch trägt, 'n bissel – na, 'n bissel gereifter auch wohl, aber die Augen blitzten noch grad so hell und die krauseligen kleinen Silberlöckchen wippten noch genau so lustig ums Gesicht herum wie früher.«

»Schändlich, so ein Wechsel,« sagte Doktor Ebert sinnend vor sich hin. »Könnte einen Mann umwerfen. Und nun gar so ein zartes, junges Ding.«

»Das zarte Geschlecht ist oft das starke, Max.«

Der andere hörte offenbar gar nicht auf ihn. Plötzlich sprang er auf und griff nach seinem Hut und Mantel.

»Nanu?« sagte der Freund phlegmatisch und riß die Augen auf.

»Muß hinaus in die frische Luft, muß mich mal en bissel durchblasen lassen. Servus!«

»Prost, altes Haus!«

Doktor Richard Lossen sah kopfschüttelnd hinter dem Freund her, der schon an der Tür war. Dann griff er nach. der Zeitung.

Doktor Max Ebert aber stürmte die Straße dahin mit dem Sturm um die Wette. Er merkte gar nicht, daß der ihn zerrte und zauste und ihm den flatternden Wettermantel um die Schultern peitschte. Nur als der Wind Miene machte, sich auch am Hut zu vergreifen, da drückte der Besitzer ihn kräftiger auf den Kopf und rannte mit langen Schritten weiter.

Da war die Straße zu Ende. Über den freien Platz, der verhältnismäßig spärlich erleuchtet war, fegte der Sturm mit verdoppelter Wucht.

Doktor Max Ebert blieb an der Ecke stehen, zog den Mantel erst noch einmal fester um sich und versicherte sich mit einem Griff, daß der Hut fest saß. Dann tauchte er entschlossen in den Graus.

Hui, das blies! Da mußte man sich ja mit aller Kraft dagegen anstemmen. Wenn da einer nicht sehr fest auf den Füßen stand, dann –

Was war das dort am Laternenpfosten?

Wie eine Riesenfledermaus war's eben dagegen geflattert und hing nun da fest. Konnte offenbar nicht weiter. Na ja, er hatte es ja noch eben gedacht, wer nicht sehr fest stand, der –

Mit zwei Riesenschritten war Doktor Ebert zur Stelle.

Richtig, da stand eine schmale, schlanke, schwarze Gestalt dicht an den Pfosten geschmiegt, hatte die Arme darumgeschlungen und das Gesicht dagegen gelegt. Um den Kopf war ein Spitzentüchlein gelegt und drunterher quoll es silberleuchtend vor und flatterte in einzelnen Strähnen im Winde.

O, die Haare sollte er doch kennen! Die hatte er schon einmal gesehen und nie vergessen. War das nicht –?

Da hob sich ihm ein Gesichtchen zu, das er auch früher schon einmal gesehen und nie vergessen hatte. Nur zarter war's geworden, reifer, durchgeistigter. Marlise Wredens Gesichtchen war es und sie war's selber, die Marlis.

Auch sie erkannte ihn. Und es war fast, als ob der alte Schelm aus den Augen hervorleuchten, in den Mundwinkeln aufzucken wolle: »Herr Doktor Max Ebert,« sagte sie und auch die Stimme klang neckisch.

Aber gleich danach wurden die Augen trübe, die Mundwinkel senkten sich und die Stimme zitterte bedenklich, als sie sagte:

»Mammi ist plötzlich sehr krank geworden. Ich muß rasch zu einem Arzt. Ich – der Sturm –«

Hilflos, geängstet schauten die Augen um sich.

»Da kann ich ja sofort von Nutzen sein, mein gnädigstes Fräulein.« Er neigte sich tief, aber er mußte mit einer Hand den Hut und mit der anderen die wild flatternden Mantelzipfel festhalten und bändigen.

»Wieso?« fragte die Marlis erstaunt.

» Doctor medicinae Max Ebert,« sagte er bedeutsam und neigte sich wieder.

»Aber natürlich,« rief die Marlis und hätte fast die Hände zusammengeschlagen. »Aber dann ist ja alles gut. Kommen Sie rasch, bitte!« Sie wollte voraneilen, kam aber nur bis zum nächsten Laternenpfosten oder Baumstamm, wo sie sich rasch wieder anklammern mußte.

Bild: Richard Gutschmidt

Doktor Ebert war mit wenigen Schritten zur Stelle.

»Der abscheuliche Sturm,« sagte Marlis schmollend. »Fahren Sie immer so im Sturme daher, Herr Doktor?«

Er lachte frisch hinaus.

»Ich könnte die Frage mit demselben Recht zurückgeben, mein gnädigstes Fräulein.«

Sie kicherte ein bißchen.

»Freilich, damals – der Rollo –«

»Wo ist Rollo, mein gnädigstes Fräulein?«

»Tot!« Weh und leise klang's. Und dann noch weher, noch leiser: »Wissen Sie denn, daß –« Sie brach ab, sie konnte nicht reden.

Er nickte still. »Ich weiß alles – alles, mein gnädigstes Fräulein.«

Er sah sie so eigen an, daß ihr ganz warm wurde trotz des rauhen Sturmes.

»Wir müssen zu Mammi, flink,« drängte sie. »Wenn man nur rascher vorwärts käme!«

»So erlauben Sie, daß ich auch hierbei meine Hilfe anbiete.«

Er wartete nicht lange auf Antwort. Eilig zog er ihren Arm durch den seinen.

So schnell sie konnten, eilten sie vorwärts. Sehr schnell war es nicht. Sie hatten gegen den Sturm anzukämpfen. An Reden war deshalb auch nicht zu denken. Man hätte sich in die Ohren schreien müssen, hätte man sich verständigen wollen.

So hing jeder den eigenen Gedanken nach.

Er überlegte bei sich, wie die reichste Phantasie, die genialste Feder dem nicht gleichkommt, was das Leben dichtet.

Und sie – sie dachte erst ähnliches, nur ein bißchen anders gefaßt. Und dann – dann dachte sie an daheim und daran, wie sie Mammi wohl finden würden. Es war so schrecklich gewesen vorhin – wie lange war das nun wohl her? Lagen Stunden, Monden, Jahre dazwischen? Der Marlis war plötzlich jede Zeitrechnung abhanden gekommen. Sie ging dahin wie im Traum.

Ja, es war schrecklich gewesen. Eben hatten Mammi und sie zu Bette gehen wollen. Sie, die Marlis, hatte trotz Mammis Mahnen noch eine Arbeit für das Geschäft fertig gebrannt. Da hatte sie ein ganz eigener Laut aufgeschreckt. Er kam von Mammi. Und wie sie aufsah, lag Mammi in der Sofaecke und sah ganz weiß aus. Sie öffnete bloß einmal die Augen und sagte so leise, daß sie, die Marlis, es kaum verstand: »Laß einen Arzt holen, Kind.«

Sie, die Marlis, hatte sich furchtbar erschreckt, sich aber zur Ruhe gezwungen.

Eilig hatte sie das Minchen geweckt, es sich anziehen und zum Arzt laufen heißen.

Dann hatte sie Mammi bequem zurechtlegen helfen und ihr die Stirn mit Eau de Cologne gebadet.

Viel sagte Mammi nicht, aber sie schien etwas erleichtert.

Das Minchen kam und kam nicht.

Die Marlis lief nachsehen.

Das Minchen lag und schnarchte. Es war sofort wieder sanft entschlummert.

Da rüttelte es die Marlis wach und befahl ihm, nach der Kranken zu sehen. Sie selbst stürzte fort, den Arzt zu holen. Dann hatte der Sturm ihr den Doktor Max Ebert zugeweht. Oder sie ihm?

Soweit war die Marlis in ihrem Sinnen, da hob sie den Kopf und ein leuchtender Blick traf den an ihrer Seite Schreitenden. Der mochte es merken. Er senkte das Gesicht nach seiner Begleiterin, die ihm trotz ihrer schlanken Höhe just bis zur Schulter ging.

»Ein Glück, daß ich Sie traf, Herr Doktor,« sagte sie wie aus dem tiefinnersten Herzen heraus. »Bis zu unserem alten Medizinalrat ist es furchtbar weit. Wer weiß, ob ich je dahin gelangt wäre bei dem Sturm.«

»Ein großes Glück,« bestätigte er einfach, zog ihren Arm fester an sich und ließ sich auf keine weitere Unterhaltung ein.

Und wieder gingen sie stumm dahin. Dann waren sie an Ort und Stelle angelangt.

»Hier wohnen wir, Herr Doktor. Aber drei Treppen hoch müssen Sie steigen.«

»Tue ich gern,« sagte er einfach.

Frau Helene hatte sich mit Minchens eifrigster, aber ungeschickter Hilfe zu Bett gelegt.

Dort fand sie die Marlis, die Doktor Ebert voraneilte.

»Da ist er, Mammi. Denk dir, ich hab' ihn wieder im Sturm gefunden. Wie ist dir, Mammi?«

»Etwas besser, Kind. Von wem redest du, Marie-Luise?«

»Von Doktor Ebert, Mammi, denk doch! Bis zum Medizinalrat ist's so weit. Und der Sturm war gräßlich. Und da – ja, da war er plötzlich wieder da. Und er ist doch auch ein Arzt, Mammi, und er kann gewiß was, er sieht grad so aus!«

Beinahe hätte Frau Helene gelächelt. Solche Logik! Aber sie war zu elend dazu. Der im Nebenzimmer stand und alles mit anhörte, der lächelte wirklich, aber es lag ein eigenes Leuchten in seinen Augen.

»Bitte ihn herein, Marie-Luise, und dann warte selbst im Nebenzimmer,« sagte jetzt die schwache Stimme der Kranken.

Die Marlis wollte protestieren. Da stand Doktor Ebert schon unter der Tür. Und ob er sie, die Marlis, nun geschoben hatte, oder ob sie von selbst gegangen war, sie wußte es nicht zu sagen; aber sie stand draußen im Wohnzimmer und er zog die Tür des Schlafzimmers hinter sich zu.

Und dann hörte die Marlis bloß Stimmengemurmel, Mammis klagende, seine zuredende, tröstende Stimme. Der Marlis wurde, wie sie sie hörte, selbst ganz leicht dabei. Er mußte ein guter Arzt sein, da seine Nähe allein die Marlis schon so ruhig machte.

Eine Weile war's still drin und dann machte er die Tür wieder auf. Da sah freilich sein Gesicht tief ernst aus.

Der Marlis versagte plötzlich der Atem. Sie stand neben ihm und hielt seinen Arm umklammert, blaß im Gesicht.

»Ist sie – ist sie sehr krank?«

Er nickte leise, langsam: »Sehr krank!«

Die Marlis fuhr zusammen.

»Wird sie – wird sie –« sterben wollte sie sagen, konnte es aber nicht.

Da schüttelte er ernst den Kopf.

»Das Schlimmste muß man nie voraussetzen, mein gnädigstes Fräulein, das lähmt. Ich weiß, daß – wie tapfer Sie sind. Seien Sie's auch jetzt. Mit Gottes Hilfe wird es uns ja wohl gelingen, die Kranke gesund zu machen.«

»Glauben Sie das wirklich – wirklich?«

Die ernsten großen Kinderaugen durchbohrten ihn fast.

»Wirklich und wahrhaftig, mein gnädigstes Fräulein.«

Da atmete sie hörbar auf und die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück.

»Dann will ich tapfer sein, tapfer und alles tragen.«

Es klang wie ein Schwur.

Und sie war tapfer, die Marlis, blieb tapfer alle die schweren Wochen hindurch, die nun folgten.

Denn es kamen schwere Wochen, bitter bange Tage, an denen die Arzte zwei-, dreimal erschienen, mit ernsten Mienen am Lager der Kranken standen und für Marlisens bang forschende Blicke nur leise bedauerndes, zweifelndes Achselzucken hatten.

Der alte Medizinalrat, der anderen Tags auf Doktor Eberts besonderen Wunsch gerufen wurde, bestätigte alle Anordnungen des jüngeren Kollegen.

Er erbat sich dessen Vertretung und Beistand für die ganze Dauer der Krankheit, da er, der alte Herr, doch so viel beschäftigt sei.

Und dann setzte die Krankheit mit voller Wucht ein und niemand hatte Gedanken für irgend was sonst.

Tage kamen, Nächte, wo die Ärzte für das ringende Leben dort auf dem Schmerzenslager fürchteten. Die Marlis wußte es, ihren bang forschenden Augen konnte nichts verhehlt bleiben.

Aber sie hielt sich tapfer, wie tapfer, die Marlis. Sie ließ den Mut, die gläubige Zuversicht nicht sinken. Der liebe Gott war so gut. Mitten in der Nacht, im tosenden Sturm hatte er ihr den Retter zugeführt. Wer weiß, ob sie sich bis zum Hause des alten Medizinalrats hätte durchkämpfen können. Und wie geschickt dieser ihr vom Zufall zugeführte Retter war, das sagte ja der alte Medizinalrat, so oft er kam. Und wie gewissenhaft er war, und wie teilnahmsvoll, das empfand sie, die Marlis, selber.

Zu allen Tages- und Nachtzeiten stand er da, immer hilfsbereit, immer voll Trost. Wie hätte sie diese schreckliche Zeit überdauern sollen, wenn nicht sein warmer Zuspruch, seine aufmunternden Blicke, sein teilnehmender Händedruck gewesen wären.

Der alte Medizinalrat war ja auch gut und freundlich und teilnahmsvoll mit ihr, gewiß. Aber so wie sein jüngerer Kollege verstand er's doch nicht. Das war eben der Unterschied der Jahre, meinte die Marlis. Das Alter konnte naturgemäß nicht mehr so warm empfinden wie die Jugend.

Und da er ihr selbst diesen Retter und Trost geschickt hatte, der gute Gott, so meinte die Marlis, könne er nicht zulassen wollen, daß ihr trotzdem so Schweres, Grausiges widerfahre.

Worin dies Schwere, Grausige bestand, dem gab die Marlis nicht Namen und nicht Ausdruck, selbst in den innersten Gedanken nicht. Aber sie forschte mit bangen, angstvollen Augen wieder und wieder in dem blassen, stillen Gesicht dort auf den Kissen des Lagers.

Tag und Nacht saß sie da auf ihrem Posten. In den ersten schwersten Tagen war sie keinen Augenblick von da gewichen. Der alte Medizinalrat und sein junger Kollege hatten sie ruhig gewähren lassen. Sie wußten, junge Kraft kann viel leisten und man verzehrt sich weit mehr, wenn man ferngehalten wird von dem Ort, wo im Augenblick Herz und Sinn einzig Ruhe finden können.

Als dann die Krankheit ebbte und Gott in seiner Güte die Gefahr wirklich zurücktreten ließ, wie die Marlis in ihrer jungen Zuversicht erhofft hatte, da war mit einem Male eine Schwester erschienen.

Der Herr Medizinalrat habe sie als Ablösung für das Fräulein in der Pflege der Kranken gesandt, erklärte sie.

Die Marlis war sehr erschrocken, sehr gekränkt.

»Habe ich etwas versehen, verfehlt, daß Sie mich so absetzen?« rief sie in ihrer alten stürmischen Weise den beiden Herren entgegen, die gerade, der alte zugleich mit dem jungen, kamen, sich von der Wirkung ihrer Maßregel zu überzeugen.

Der alte Herr zog die Brauen hoch.

»Kind, wie können Sie bloß so unvernünftig sein, hm? Waren doch die ganze Zeit über ein Muster an Vernunft. Seine Kräfte zu Rat halten, nur am richtigen Ort verausgaben, darin liegt die wahre Kraft, hm. Haben redlich das Ihre getan. Jetzt sammeln Sie frische Kraft, um es weiter tun zu können, hm!«

»Ich bin riesenstark. Ich kann Mammi nicht anderen überlassen. Bitte, bitte, muß das sein? Wenn es bloß meinethalben –«

»Frauenlogik, hm,« unterbrach sie der alte Herr polternd. »Ihrethalben oder ihrethalben, groß oder klein geschrieben, das geht hier Hand in Hand, hm. Gesetz der Rückwirkung, verstanden? Hm!«

Der alte Herr war schon an der Marlis vorbei und ins Krankenzimmer getrabt.

Betreten sah ihm die nach, verständnislos. Sie strich sich über die Stirn. Du lieber Himmel, war sie ganz dumm geworden? Zum ersten Male fühlte sie nun doch eine Ermüdung.

Da faßte jemand ihre Hand und drückte sie, Doktor Ebert!

»Der Herr Medizinalrat meint, Sie müßten sich Ihrer Frau Mutter zulieb frisch erhalten. Sie haben bis jetzt so Bewundernswertes geleistet, sorgen Sie, daß Sie es weiter tun können. Deshalb haben wir die Schwester nicht bloß Ihrethalben, sondern auch um Ihrer Frau Mutter willen geschickt.«

Die Marlis war ganz ruhig geworden. Sie sah ihn mit ernsten, stillen Augen an.

»Ich – ich verstehe, und ich bin wirklich ein bißchen müde, glaube ich.«

Sie strich sich wieder mit der Hand über die Stirn.

Er haschte die Hand und zog sie ganz gerührt an die Lippen.

»Das glaube ich Ihnen. Was Sie taten, macht Ihnen so leicht keine nach. Aber nun ruhen Sie.«

»Und Mammi?«

»Die ist in sicherer Hut.«

»Dann will ich mich wirklich ein wenig hinlegen. Ich glaube nun selbst, daß ich's brauchen kann.«

Wie der Schatten eines Lächelns huschte es über ihr müdes Gesichtchen. Sie nickte dem jungen Arzt zu und glitt aus dem Zimmer.

Lange sah er ihr nach.

Vor seinem geistigen Auge stieg die Marlise, wie er sie kennen lernte, in ihrer ganzen quecksilbernen Lebendigkeit, in ihrem lustsprühenden Übermut wieder auf.

»Und das steckte in dem Irrwisch?«

Hatte er es bloß gedacht – es laut gesagt? Erschreckt fuhr er zusammen. Derb schlug ihm eine Hand auf die Schulter.

»In Träumen, junger Freund, und allein? Taugt nichts – hm!«

Was nichts taugte, das Träumen oder das Alleinsein, setzte der alte Herr nicht näher auseinander. Er sah auch anscheinend nicht, daß eine jähe Glut über des anderen Gesicht hinlohte.

»Unsere Kranke da drin möchte Sie sehen. Bin recht zufrieden – hm – recht zufrieden. Jetzt muß die Kleine erst ihre Ruhe haben – hm – dann kann die Sache recht werden. Hm, was?«

»Ganz meine Meinung, Herr Medizinalrat.«

»Na dann, Gott befohlen, hm. Trösten mal noch ein bissel da drinnen rum, Herr Kollega, hm, Kranke so'n bissel jämmerlich heute. Übrigens gutes Zeichen, hm, gutes Zeichen. Gott befohlen, auf Wiedersehen!«

Damit war der alte Herr zur Tür hinaus.

Doktor Ebert ging zu der Kranken. Die streckte ihm die abgezehrte Hand hin.

»Wo ist Marie-Luise?«

»Das gnädige Fräulein hat sich ein wenig hingelegt, um zu ruhen. Wir haben ja nun Schwester Ida.«

»Gott sei Dank!« Die Kranke atmete auf. »Es war zu viel für das Kind. Ich bin glücklich, daß die Schwester da ist. Wie soll ich Ihnen und unserem alten Medizinalrat all diese Fürsorge danken?«

»Dadurch, gnädige Frau, daß Sie sich sehr rasch wieder erholen.«

Er sagte es frisch und schnell und drückte die Hand, die er noch hielt.

Sie lächelte müde.

»Wie Gott will. Dem Kinde zulieb freilich –«

Sie hielt ein und seufzte.

»Mut, gnädigste Frau, nur Mut, wir sind auf dem besten Wege.«

»Wie Gott will,« sagte Frau Helene noch einmal und schloß müde die Augen.

Doktor Ebert sprach noch leise mit der Schwester und entfernte sich dann geräuschlos.

Von da an teilte sich die Marlis mit der Schwester in der Mutter Pflege.

Denn man war noch längst nicht über alle Schwierigkeiten weg. Rückfälle kamen und schlimmere Tage. Weihnachten kam und ging, das alte Jahr rollte ab, das neue zog herauf, noch immer lag Frau Helene auf ihrem Leidensbett.

Stille, ganz stille war das Fest verlaufen. Just da war die arme Kranke wieder weniger wohl. Helene und Verena, die treulich fast alltäglich gekommen waren und der Marlis im Haushalt und nach außen halfen, wo sie konnten, hatten ein klein winziges Bäumlein angezündet und es vor die Marlis hingestellt.

Die hatte erst das Gesicht abwenden wollen, hatte aber dann doch lange sinnend in die strahlenden Flämmchen geschaut. Und dabei war in ihre Augen ein immer lichterer Ausdruck gekommen.

»Ich habe doch so viel, wofür ich dankbar und froh sein muß,« hatte sie vor sich hingeflüstert. »Ich habe Mammi ja behalten dürfen – und –«

Die Marlis war still gewesen, und nur in den Augen war's immer heller geworden.

»Bravo, Prinzeß!« hatte Helene Ehlert herzlich gesagt und den Arm um die Marlis gelegt und Verena hatte sie still geküßt.

Da hatte es draußen geklingelt und ein ganzer Blütensegen war abgegeben worden. Lauter Topfpflanzen: Flieder, Primeln, Tulpen, Maiglöckchen, Anemonen.

»Friedliche gesegnetste Weihnacht!« hatte auf der begleitenden Karte gestanden. Sonst nichts. Kein Name, keine Andeutung.

Aber die Marlis schien dennoch Bescheid zu wissen. Sie leuchtete und glühte plötzlich.

Verena und Helene aber fragten nicht. Sie sahen sich nur leise verstohlen an und nickten sich verständnisinnig zu.

Das war der Marlis Weihnachtsfeier gewesen. Still und bescheiden wie sie war, diese Feier, die Marlis war glücklich.

Und dann kam wirklich die entschiedene Wendung zum Besseren in Mammis Krankheit.

Langsam, sehr langsam und allmählich erholte sich die Kranke, aber sie erholte sich.

Bald brauchte die Schwester nicht mehr zu kommen, bald stellten auch die beiden Arzte ihre regelmäßigen Besuche ein.

»Der alte Medizinalrat ist also entlassen, Gnädigste, hm, was? Ist ihm 'ne wahre Herzensfreude. Verstehen mich doch recht, was? Meine, der Arzt kann gehen, der Freund bleibt, hm, ja? Denken doch auch so, junger Mann, hm, was?«

Dabei versetzte der alte Herr dem jungen Kollegen einen derben Rippenstoß und sah ihm dazu so recht hämisch grinsend in die Augen. Der hatte Mühe, seine Verlegenheit zu bergen, die Fassung zu bewahren.

»Wenn gnädigste Frau gestatten, möchte ich allerdings – es wäre mir ein Bedürfnis, wenn – wenn –«

Er saß rettungslos fest.

»Ha, ha, ha,« prustete der alte Herr los, sagte aber gleich danach entschuldigend: »Ist mir da was eingefallen, nämlich – hm – ein guter Witz – ha, ha, ha, ha!«

Den guten Witz, den er so belachte, schien er aber nicht zum besten geben zu wollen, obgleich sie alle sichtlich darauf warteten.

Doktor Ebert hatte mittlerweile sein Gleichgewicht wiedergefunden.

»Wenn die Damen also gestatten, werde ich mich zuweilen nach dem Befinden erkundigen,« sagte er etwas förmlich.

»Tun Sie das, Herr Doktor. Es wird uns, Marie-Luise und mir, stets eine große Freude sein, Sie zu sehen. Was, Kind?«

Die Marlis nickte bloß. Es war ihr wunderbarerweise, als ob sie ihrer Stimme nicht ganz mächtig sei. So wollte sie lieber nichts sagen. Aber die Augen leuchteten.

Da stand der Medizinalrat vor ihr.

»Und kriegt der alte – hm – Brummbär auch ein freundliches Gesicht, wenn er kommt, als – hm – als Freund ha ha, ha, ha?«

Da hatte die Marlis plötzlich wieder die Herrschaft über ihre Stimme gefunden, ja sie lachte so recht hell und frisch, wie eben nur die Marlis lachen konnte.

»Welche Frage, Herr Medizinalrat? Und ob! Wir beide, Mammi und ich –« '

»Na, prost, kleines Fräulein, hm – dann nichts für ungut,« hatte der Medizinalrat sie rücksichtslos unterbrochen. »So'n alter Praktikus und Menschenflicker hat nämlich wenig Zeit für Allotria, hm. Immer im Joch, immer auf der Wanderschaft.« Er tippte dem Kollegen auf die Achsel.

»Bleiben wohl noch, Kollega? Hm, was?«

»Doch nicht, Herr Medizinalrat. Auch meine geringe Praxis will abgetrottet sein,« sagte der lachend.

» A la bonne heure! Glück zu!« knurrte der andere.

Und dann waren die beiden Herren fortgegangen.

Seitdem war der Medizinalrat ab und zu, Doktor Ebert aber recht häufig erschienen.

Bald erstaunte selbst Frau Helene, wenn einmal drei, vier Tage vergingen, ohne daß er sich hatte blicken lassen. Von der Marlis gar nicht zu reden.

»Man gewöhnt sich eben rasch an das Gute,« sagte ihm Frau Helene einmal liebenswürdig, nachdem sie ihm freundliche Vorwürfe über sein Ausbleiben gemacht hatte. Er war vielleicht vier Tage nicht dagewesen.

»Meine gnädigste Frau, Sie machen mich glücklich,« sagte er leise und beugte sich über die gebotene Hand.

»Ja, und verwöhnt sich dann,« kicherte die Marlis.

Ihr sagte er nichts von glücklich machen oder dergleichen. Sie bekam bloß einen Blick. Aber sonderbar, die Marlis kam sich doch nicht zurückgesetzt vor. Nein, wirklich, ganz im Gegenteil!

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