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Bild: Richard Gutschmidt

Ein blühendes junges Menschenkind kam unversehens dahergeweht

Der Frühling naht mit Brausen!

In den Lüften war ein entsetzlicher Aufruhr. Wie toll fuhr der Sturm daher. Er beugte die Baumwipfel, zauste die Sträucher, die Halme, die Blümlein, die sich erst kurz zuvor ans Licht gewagt hatten.

Aber er faßte nicht rauh und grob zu mit eiserner Faust, nein, eher täppisch, neckend. Und sein Atem hatte etwas Schmeichelndes, Lindes, Kosendes, etwas Aufmunterndes, Lockendes. Nicht als Zerstörer, als Würger trat er auf, nein, als Förderer eher, als Wecker, als Mahner: der Lenz kommt, der Lenz ist da! Sputet euch, werft die Hüllen ab, sprengt die Knospen! Flink, kommt, ich helfe euch, ich rüttle, ich zause euch. Hervor ans Licht, ins Leben, in die Sonne!

So mahnte er gutmütig mit dem herben und doch linden Atem, mit der kräftigen, täppischen, neckenden Faust – der Frühlingssturm. Und Frau Sonne lachte vom Himmel nieder über den eifrigen, plumpen Gesellen und hatte ihre Freude an dem wirbelnden Leben, das er vor sich her trieb.

Da gab's kein Rasten und Rosten. Wo der mit seiner derben Kraft eingriff, Bewegung, Leben überall.

Was nicht niet- und nagelfest war, was nicht Wurzeln hatte oder sonst unlösbar an der Scholle haftete, das geriet in hastenden Umlauf.

So der Hut des jungen Mannes, der dort in all dem Frühlingsaufruhr den Grasrain entlang schritt, und sich jetzt sehr verdutzt und hastig und lachend nach dem Ausreißer bückte. Ehe er ihn aber haschen konnte, wehte der Frühlingssturm noch etwas daher.

»Der Frühling naht mit Brausen,« klang plötzlich oben vom steilen, ziemlich hohen Rain her eine hell klingende Stimme – eine Mädchenstimme. Und mit: »He, holla, faß, Rollo, faß!« flog es den Rain hinunter.

Was Weißes war's, und so leicht schien's niederzuschweben, als ob es eines der flatternden losen weißen Blütenblätter sei, die der Frühlingssturm unbarmherzig vor sich her trieb, nur war es, was dahergeflogen kam, unendlich vergrößert.

Aber der Rain war sehr steil. Und weil, was da so stürmisch dran herunter hastete, eben doch kein Blütenblatt, sondern ein blühendes junges Menschenkind war, so kam es trotz aller Behendigkeit und Anmut dennoch ins Straucheln.

»Ich falle! Herrje, Rollo, faß! Faß doch zu!« so rief es mit Kichern und Lachen doch mit verhaltener Angst. Und noch einmal: »Ich falle wahrhaftig! Da, da lieg' ich schon!«

Und was der Frühlingssturm da Weißes heruntergeweht hatte, lag wirklich. Aber nicht im Gras, auch nicht auf der Nase, sondern in den Armen dessen, der vorhin seinen davongeflogenen Hut hatte haschen wollen.

Er mußte sehr fest zugreifen, der junge Mann, um sich mit dem, was ihm da von ungefähr in die Arme getrieben worden war, aufrecht zu halten. Es war doch ein ganz kräftiger Zusammenprall gewesen. Außerdem sprang ihn ein großer Hund in kurzen Zwischenräumen laut bellend an. Der schien die junge Herrin gefährdet zu glauben.

Der Retter hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu wahren.

Als er sich wieder ganz sicher auf den Füßen fühlte, gab er frei, was er gepackt hielt und besah sich erst jetzt seine Beute.

Aus rosig blühendem, hellem Gesicht lachten ihn ein paar lichtbraune Schelmenaugen an.

Aber nur einen Augenblick.

Dann fuhr ihm ein dicker Büschel sehr weißblonder, flatternder Haare übers Gesicht, daß er die Augen schließen und erst einmal recht kräftig niesen mußte.

Der Frühlingssturm hatte sich diesen etwas plumpen Scherz mit den gelösten Zöpfen des jungen Menschenkindes erlaubt, das da, wie vom Himmel niedergeschneit, den Rain heruntergeflogen war.

Das lachte denn nun hell und lustig und doch ein bißchen verlegen.

»Verzeihen Sie, aber ich kann wirklich nichts dafür. Der dumme Wind ist an allem schuld.«

Statt aller Antwort nieste der junge Mann noch einmal laut und kräftig. Es mußte die Nachwirkung sein.

»Wohl bekomm´s!« sagte die helle junge Stimme ganz ernst.

»Danke sehr,« gab der Niesende ebenso zurück.

Und dann lachten beide hell auf.

Das junge Mädchen war inzwischen bemüht, die wehenden Haarsträhnen zu bändigen. Beide Hände preßte es an die Schläfen, um wenigstens Gesicht und Augen frei zu haben. Zu beiden Seiten aber flatterten die losen Haare wild und lustig im Winde und züngelten nach dem hin, dem sie zuvor schon ins Gesicht gefahren waren. Der Scherz mußte ihnen gefallen haben.

Unwillkürlich trat der also Bedrohte einen Schritt zurück.

Die Eigentümerin der Haarsträhnen lachte wieder.

»Keine Bange! Ich will sie schon kriegen.«

Dabei drehte sie sich blitzschnell dem Wind entgegen, aber nur mit dem unerwünschten Erfolg, daß ihr die Haarsträhnen nun selbst von rechts und links übers Gesicht flogen.

Sie schien rettungslos in dem weißblonden Silbergewirr verstrickt.

»Aber so stehen Sie doch nicht so steif da! So helfen Sie mir doch ein bißchen,« klang ihre Stimme nun fast ungeduldig.

Wie sollte er das machen?

Ratlos sah er sich um.

»Zu was haben Sie denn den langen Mantel? Treten Sie doch ein bißchen vor den Wind und breiten den Kragen aus. Ich bin gleich fertig.«

Mechanisch gehorchte er. Das kleine Fräulein war praktisch, er mußte es sich gestehen. Viel praktischer als er, sie wußte gleich Rat.

So stand er denn mit weit ausgebreitetem Mantelkragen. Ein Glück, daß er den Mantel überhaupt mitgenommen hatte. Jetzt war er doch noch zu etwas mehr gut, als ihn den ganzen Weg über nur ob der unnötigen Last zu ärgern! Er erfüllte doch jetzt einen, wenn auch sehr ungeahnten Zweck.

Geduldig hielt er also den Kragen ausgebreitet, und da er von sehr ansehnlicher Höhe und Breite war, so bot er dementsprechend ziemlich ergiebigen Schutz.

Der Sturm blähte ihn auf, er zerrte und zauste dran. Aber der Arm, der ihn hielt, hatte starke Muskeln, den bog so leicht kein Sturm.

Die silberglänzenden Haarsträhnen waren inzwischen mit fliegender Hast zusammengerafft und gebändigt worden. Im Umsehen war der Knoten gedreht. Wie aber den befestigen?

»Herrje, meine Nadeln!«

Die Stimme klang verdutzt. Aber nur einen Augenblick.

»Na, denn nicht!«

Der Knoten fiel. Die Hände flogen nur so. Wie durch Zauber war ein Riesenzopf geschlungen. Und jetzt, Taschentuch vor! Drum geknotet, fertig! Weshalb soll ein Taschentuch zur Not nicht auch mal als Zopfband dienen?

»Fertig! Danke. Nun können Sie den Kragen wieder fallen lassen.«

Wieder gehorchte er mechanisch.

Und nun konnte er zum ersten Male ungehindert seine Gefährtin ansehen. Was er sah, gefiel ihm.

Die musterte ihn auch ihrerseits ganz eingehend. Wie sie mit dem Resultat zufrieden war, zeigte sie nicht.

»Wo haben Sie eigentlich Ihren Hut?« fragte sie plötzlich neugierig.

Ja, wo war sein Hut.

Jetzt erst gedachte er wieder des Ausreißers.

»Weg!« sagte er lakonisch, noch ganz benommen.

»Der Wind darüber wehet, so ist er nicht mehr da,« versetzte sie übermütig lachend, um sich gleich danach einen leichten Klapps auf den Mund zu geben.

»Je Marlis, das war nicht schön!« sagte sie mißbilligend und krauste das Näschen.

Er hatte kaum hingehört. Er war mit Augen und Gedanken auf der Suche nach dem Flüchtling.

Sie ließ die hellen Braunaugen gleichfalls in die Runde gehen, doch der Hut schien unrettbar verloren, verschwunden.

»Hoiho, ich hab' ihn, dort ist er!« rief sie plötzlich.

Wie im Wirbelwind stob sie davon. Er hinterher.

Der Sturm, als dritter im Bunde, blies mit erneuter Kraft aus voller Lunge in derselben Richtung.

Sie führte an. Die weißen Röcke flogen, der weißblonde Zopf desgleichen.

Der Hund, der bis dahin geduldig und verwundert allein zugesehen hatte, sprang sie bald von rechts, bald von links an.

»Laß, Rollo, laß! Du wirfst mich ja um,« wehrte sie, minderte darum aber ihre Eile nicht im geringsten.

Er, dem der Hut gehörte, nach dem sie auf der Jagd war, konnte ihr kaum folgen.

»Der reine Wirbelwind,« brummte er zwischen den Zähnen.

»Da ist er, da ist er!« klang's schon jubelnd von vorn. »Na, und eben noch zur Zeit. Hätte ums Haar das Schwimmen gelernt.«

Im Weidengestrüpp des Bächleins, das in geringer Entfernung des Rains hinplätscherte, lag er eingeklemmt. Das heißt, er hing noch eben so darin fest, daß er sich in der nächsten Minute hätte lösen können und den lockenden Wellen folgen, die ihn, wer weiß, dem Weltmeer zugetragen hätten, wenn er nicht sonstwo ein trauriges Ende genommen.

Die ihn entdeckt hatte mit den hellen Braunaugen, löste ihn nun aus dem Gestrüpp.

Sie wandte sich und reichte ihn mit anmutig-schelmischem Knicks seinem Besitzer.

»Hier, mein Herr. Eine Hand wäscht die andere. Wiedervergeltung ist keine Sünde, heißt's ja wohl irgendwo.«

Rollo, der Hund, knurrte leise, als der Besitzer des Hutes die Hand nach seinem Eigentum ausstreckte.

»Still, Rollo, es geht alles mit rechten Dingen zu. Der Hut ist wirklich sein, nicht mein. Schau mal, wie der mir stünde!«

Sie stülpte sich einen Augenblick den Hut auf die blitzenden Ringellöckchen, die den ganzen Scheitel überkräuselten.

Mit drollig herausfordernder Miene sah sie den Hund an.

Der hatte den Kopf auf die Seite gelegt, wedelte und blinzelte zu der jungen Herrin auf. Sein Urteil behielt er für sich.

Und nun kam der Hut endlich wieder in die Hände des rechtmäßigen Eigentümers.

Der besah ihn eine kurze Weile ganz tiefsinnig und dann, als ob mit dem Wiederbesitz des Hutes ganz urplötzlich auch die im Frühlingssturm abhanden gekommenen Salonmanieren wieder auf ihn übergegangen seien, klappte er die Hacken zusammen, richtete sich erst stramm zu seiner ganzen Höhe auf, neigte sich dann tief und: »Mein Name ist Ebert, Doktor Max Ebert,« sagte er sehr förmlich.

Sie blickte etwas ungewiß zu ihm auf. Dieser plötzliche Übergang in den formvollen Gesellschaftston, mitten im brausenden, tosenden Frühlingssturm, kam ihr zu komisch vor. Man sah, sie unterdrückte nur mit Mühe ein Kichern. Er hielt die Augen erwartungsvoll auf sie geheftet, unerschütterlichen Ernst in der Miene.

Da mußte sie wirklich lachen, sie konnte nicht anders.

»Ja so. Sie wollen nun wohl auch meinen Namen wissen?«

»Wenn ich bitten dürfte.«

Er blieb gleich ernst.

»Ja, sehen Sie, das ist nicht so einfach. Ich habe nämlich drei Namen. Mein Onkel nennt mich Irrwisch –« sie kicherte, und ein Schmunzeln flog über sein Gesicht – »die Freundinnen Marlis und Mammi –«

»Marie-Luise!« klang eine weiche Frauenstimme aus einiger Entfernung von der Höhe des Rains.

»Sie hören!«

Kichernd hatte sie nach oben gewiesen.

»Dort wohne ich nämlich!«

Er folgte mit den Augen dem weisenden Finger und starrte verdutzt ins Nichts, in die Wolken.

»Ganz so hoch doch nicht,« lachte sie wie ein Kobold, »übrigens nochmals vielen Dank, Herr Doktor, für die Hilfe nach allen Seiten. Zu Gegendiensten stets gerne bereit.«

Sie knickste schelmisch.

»Ich muß schnell fort, Mammi wird sonst ungeduldig. Flink, Rollo, flink! Ich komme, Mammi, ich komme!«

Dies als Antwort auf den noch lauter klingenden Ruf derselben Frauenstimme von zuvor: »Marie-Luise! Marie-Luise!«

Und ehe Doktor Ebert wußte, wie ihm geschah, ehe er seinen Diener oder irgend einen Abschiedsgruß anbringen konnte, war der Frühlingsspuk den Rain hinaufgestoben, flüchtig wie er gekommen, und war auf der Höhe verschwunden.

Rollo, der zottige, weißgelbe Bernhardiner, in weiten Sätzen hinterher.

Kopfschüttelnd und etwas, das sehr ähnlich wie »Irrwisch« klang, zwischen den Zähnen murmelnd, klomm Doktor Ebert bedeutend schwerfälliger nun seinerseits den Rain hinauf.

Der Sturm war noch immer in täppischer Necklaune.

Er stülpte ihm den Kragen des Mantels über den Kopf, und als Doktor Ebert sich eben mühsam befreit hatte, mußte er mit beiden Händen den Hut festhalten, daß der Sturm den nicht wieder davontrieb.

Droben auf dem Rain brauste und sauste es aber noch toller.

Doktor Ebert hatte Mühe, in all dem Aufruhr und Zerren und Zausen die Augen offen und Sinn für seine Umgebung zu behalten; der Sturm traf ihn jetzt mit voller Wucht gerade mitten ins Gesicht.

Doktor Ebert blinzelte mühsam unter dem fest eingedrückten Hutrand vor.

Eben verschwand dort, in einer Entfernung von hundert Schritten ungefähr, etwas Weißes hinter dem Gittertor inmitten eines hohen Hags, der sich gerade leicht begrünen wollte.

Das Weiße flog auf eine hohe, schlanke Frauengestalt zu, flog der um den Hals, drehte sie einmal in kreisendem Wirbel, dem alsbald offenbar energisch halt gemacht wurde.

»Schon wieder so toll, Marie-Luise,« hörte man eine ernste Stimme tadelnd sagen.

»Ach, Mammi,« klang eine junge helle dagegen.

Und dann waren die beiden Gestalten, samt Rollo, der mit hängendem Kopf hinterher trollte, außer Seh- und Hörweite. Doktor Ebert drückte sich mit festem Schlag noch einmal den Hut tief in die Stirn. Dann blickte er forschend um sich.

Über dem Hag dort wurden uralte, mächtige Baumkronen vom Sturme gezaust, gebogen, gepeitscht, gerüttelt, ohne Ansehen ihrer Würde. Was fragte der täppische Geselle, der Sturm danach, ob er junge, schwanke Reiser, ob er altehrwürdige Baumriesen vor sich hatte. Seine kecke Faust fuhr zausend zu, wohin sie eben traf.

Die alten Riesen murrten und ihr Protest brauste dröhnend wie Orgelton durch die Luft.

Doktor Ebert sah und hörte das alles. Die mächtigen Bäume mußten wohl in einem Park stehen und der Hag umschloß den nach hinten gegen die Felder zu.

Von einem Wohnhaus war nichts zu sehen.

Doch! Eben fuhr der Sturm wieder einmal daher und blies aus vollen Lungen.

Er bahnte sich eine Gasse durch die höchsten Wipfel.

Da sah Doktor Ebert etwas golden aufleuchten.

Eine Wetterfahne auf einem steilen Turmdach offenbar. Dort mußte also das Haus, die Villa, das Schloß oder was es war, stehen. Und sein weißer, flüchtiger Frühlingsspuk von zuvor war wohl das kleine Schloßfräulein.

Der junge Doktor schmunzelte in der Erinnerung.

»Irrwisch! Ha, ha, ha, ha! Famos, bezeichnend!«

Doktor Ebert war erst seit dreiviertel Jahren etwa in der benachbarten Stadt an einer chirurgischen Klinik tätig. Er war sehr gewissenhaft, sehr eifrig in seinem Beruf. Er war nur selten herausgekommen und infolgedessen sehr wenig bekannt in der Umgebung der Stadt.

Heute gerade hatte es ihm der brausende Frühlingssturm angetan gehabt und ihn herausgelockt aus dem Druck von Giebeln und Dächern, aus der Straßen quetschender Enge. Er wollte sich einmal so recht durchwehen und durchzausen, wollte sich die Seele reinblasen lassen vom Staub des Alltags.

Und da hatte ihm der Sturm den niedlichen Frühlingsspuk über den Weg getrieben.

Wieder sah er aufmerksam um sich.

Ein Mann kam des Wegs daher. Ein Handwerker, ein Schlosser, denn er trug einen Kasten mit Geräte aller Art auf der Schulter, war also wohl auf einem Geschäftsgang.

Er wollte nach dem Gittertor einbiegen. Da sah er den Herrn und grüßte höflich.

»Können Sie mir sagen, wem die Besitzung dort gehört?« fragte Doktor Ebert, trat herzu und lüftete den Hut.

»Dem Herrn Kommerzienrat Albers aus Dornstadt.«

Der Mann winkte mit dem Kopfe nach der Richtung der Stadt.

»Ah, der reiche Bankier,« fuhr es Doktor Ebert durch den Sinn. Er hatte den Namen schon nennen hören.

»Hat der Herr Familie?«

»Nän.« Der Mann schüttelte den Kopf. Er war offenbar keiner von den Redseligen.

»Aber er lebt doch nicht allein hier?«

Es klang fast ungeduldig, als Doktor Ebert das fragte.

Der Mann sah ihn von der Seite an und kniff ein Auge zu.

»Sei Schwester wohnt bei em un des Freileinche.«

»Seine Tochter?«

»Nän. Ihr. Sie is e Wittib.«

»Also seine Nichte?«

Der Ton war wieder ein sehr ungeduldiger.

Diesmal nickte der Mann nur. Weshalb hätte er Worte verschwenden sollen?

Er lüftete, da der Herr schwieg, seine Mütze und schickte sich an, nach dem Gittertor zu gehen, da fiel ihm noch etwas ein.

Er wendete den Kopf, kniff die Augen zu, schmunzelte und winkte über die Schulter nach dem Hag hin.

»E sche Breckelche! Erbt emal alles!«

Mit diesem dunkeln Ausspruch schritt er nun endgültig dem Tor zu, stellte seinen Kasten ab und arbeitete am Schloß herum. Er hatte nur noch Augen dafür.

Doktor Ebert war noch einen Augenblick sinnend stehen geblieben.

Also ein Goldfischchen war sein weißer, elfenhaft anmutiger Frühlingsspuk? Eigentlich schade drum! Es raubte ihm etwas von dem duftig poetischen Hauch.

Doktor Ebert nahm den Hut ab, strich sich die verwehten Haare aus der Stirn, drückte den Hut fester, zog den Mantel um sich, mit dem der Sturm aufs neue sein Wesen treiben wollte, und schritt, leise vor sich hin pfeifend, auf dem Rain entlang der unweit sichtbar werdenden Station zu.

Und da fuhr auch schon der Zug um die Kurve. Doktor Ebert mußte lange Beine machen, wollte er ihn noch erreichen. – – –

Doktor Eberts poetischer Frühlingsspuk aber hatte inzwischen als durchaus wirklich irdisches Menschenkind – sehr irdisch wirkliche Schelte abgekriegt.

»Marie-Luise,« hatte die Mutter vorwurfsvoll und sehr ernst gefragt, »wirst du denn nie gesetzt und ruhig werden? Siebzehn Jahre bist du nun alt und immer dieselbe Tollheit, immer dieselbe Windbeutelei.«

»Eben darum, Mammi,« hatte Marie-Luise – andere nannten sie Marlise oder kurz Marlis, nur die Mutter gebrauchte den vollen gewichtigen Namen – »eben darum, Mammi,« hatte sie gerufen und war der Mutter um den Hals gefallen. »Denk doch, siebzehn Jahre!«

Etwas wie ein Lächeln war über der Mutter Gesicht gehuscht, ein weiches Lächeln, ein Lächeln, das Erinnerungen barg.

Sie strich sinnend über den jungen, weißblonden Scheitel. Da gewahrte sie erst den Zustand der Frisur.

»Wie sieht dein Haar nun wieder aus, Kind?«

»Ja, Mammi, so hat er mich eben zerzaust.«

»Wer?«

»Der Sturm natürlich. Und, Mammi, du hättest sehen sollen, wie ihm die Haarsträhne übers Gesicht fuhren und wie er niesen mußte – ha, ha – es war urdrollig. Zweimal nieste er! So, Mammi – hazi! – hazi!«

Marlise bemühte sich, ein Niesen in dröhnendem Baß nachzuahmen und lachte dann schallend auf.

»Von wem redest du denn, Kind?«

Befremdet, beinahe ängstlich fragte es die Mutter.

»Von dem Doktor, Mammi. Ja so, du weißt ja das noch gar nicht. Der Rollo und ich« – Marlise faßte dazu den Hund bei den Vorderpfoten und drehte sich erst einmal geschwind mit ihm im Kreise.

Das schöne Tier ließ es geduldig geschehen, wedelte nur, legte den Kopf auf die Seite und sah die junge Herrin mit den treuen, klugen Augen an.

Die faßte ihn in einem Zärtlichkeitsausbruch um den Hals so fest, daß er nach Atem schnappte.

»Marie-Luise!« mahnte die Mutter streng.

»Ja so!«

Marlise gab dem Hund einen kleinen Knuff.

»Also, Mammi, der Rollo und ich, wir sausen den Grasrain hinunter, und der Sturm fegt wie toll hinter uns her. Ich krieg's mit dem Fallen, eben stürz' ich, da packt mich einer und hält mich fest, und das war der Doktor.«

»Der Doktor?«

»Doktor Max Ebert!«

Marlise ahmte den tiefen, feierlichen Ton nach, den der Doktor bei der Vorstellung gebraucht hatte. Dann lachte sie wieder hell und klingend.

»Dann, Mammi, dann kam's. Das mit den Haaren und mit dem Niesen.«

»Marie-Luise, du bist doch jetzt eine erwachsene junge Dame. Willst du dich denn dein Leben lang wie ein tolles Kind benehmen?«

»Behüte, Mammi, ich war gräßlich vernünftig. ›Wohl bekomm's‹, hab' ich bloß sehr ernst gesagt, und er ›danke‹ gerade so ernst. Er war urkomisch, Mammi!«

»Und dein Haar?«

»Ja, Mammi, da war ich nun furchtbar klug und praktisch. Er hat seinen Mantel zum Schutz vorhalten müssen und dahinter hab' ich mir schleunigst den Zopf gemacht. Und sieh mal da, wie sich der Mensch zu helfen weiß!«

Stolz wies sie das als Zopfband gebrauchte Taschentuch.

Die Mutter schüttelte nur stumm den Kopf.

»Und dann?«

»Dann? Ja dann, Mammi, dann hab' ich ihm seinen Hut gesucht. Der hing am Bach in den Weiden und wollte eben absegeln. Ich hab' mich also schön revanchiert, siehst du. Und dann – dann hast du gerufen, und Rollo und ich sind wie der Wind davon. Ein gutes Kind gehorcht geschwind! Ja, Rollo?«

Wieder hatte sie Rollo bei den Vorderpfoten und tanzte mit ihm im Kreise herum.

Dabei waren sie inzwischen durch den wundervollen alten Baumgang hin, der den Park durchquerte, dem Hause näher gekommen.

»Marie-Luise –« begann eben die Mutter, und der tadelnd mahnend ernste Klang, womit der Name ausgesprochen wurde, ließ das Kommende mehr als ahnen. Marlise hing bereits gefaßt und ergeben das Köpfchen.

»Irrwisch!« klang's da vom Hause her, »Irrwisch, zu mir!« An der ganzen Rückseite des Hauses hin, nach dem Park zu, zog sich eine breite mit Kletterpflanzen bedeckte Veranda.

Rosen, Glyzinen, Klematis, Begonien, Geißblatt und Waldrebe rankten dort in krausem Gewirr. So mangelte es zu keiner Zeit an Blühendem.

Drunter stand ein Herr, ein stattlicher Herr, in den Fünfzigern etwa, mit dunklem Vollbart.

Er war's, der gerufen hatte. Und jetzt rief er noch einmal: »Irrwisch! Zu mir, Irrwisch!«

Marlisens Köpfchen hob sich, Marlisens Augen strahlten.

»Onkelchen! Tag, Onkelchen!«

Sie flog dahin, wie vom Bogen geschnellt.

Auf halbem Wege wandte sie sich plötzlich, so plötzlich, daß Rollo noch ein paar Meter weiter vorschoß, ehe er sich ebenfalls wenden konnte.

Wie sie davongestoben, war sie bei der Mutter zurück. Ungestüm fiel sie der um den Hals.

»Herzensmammi, nicht schelten, nicht böse sein! Sieh, ich will mir ja Mühe geben und furchtbar gesetzt werden. Gewiß, glaub's nur, gewiß, ich will. Nur jetzt – nur heute, Mammi – hör mal die Vögel und den Sturm, Mammi! Und die Sonne, die Blumen, der Frühling – Mammi, Mammi, 's ist wie im Paradies! Und jetzt muß ich zum Onkel!«

Noch einen ungestümen Kuß, noch ein Umhalsen, daß die Mutter fast aufgeschrieen hätte, und fort war sie.

Aber bis zum Onkel kam sie doch nicht.

Plötzlich fesselte etwas ihre Aufmerksamkeit.

Wie ein Hase schlug sie einen Haken nach rechts.

Dem Rollo kam die Wendung abermals sehr unerwartet. Ganz verdutzt blieb er stehen, schaute erst einmal nach dem Herrn, wedelte, schüttelte den Kopf, als wolle er sagen: begreifst du nun, was der Irrwisch wieder vorhat? und trabte dann geduldig hinter der jungen Herrin her. Man sah ihm das ergebene: ja, das ist nun nicht anders, ordentlich von außen an.

Rollo war ein alter Herr, der's auch lieber bequem gehabt hätte. Aber in seiner ehrlichen Hundebrust wohnte eine heiße Liebe zur jungen Herrin, wohnte strenges Pflichtbewußtsein. Und für seine vornehmste Pflicht hielt Rollo, der Herrin zu folgen auf Schritt und Tritt. Sie war ja noch gar zu jung und geneigt zum Tollen. Wie leicht konnte sie zu Schaden kommen. Da mußte er, Rollo, doch auf dem Posten sein!

Sie war inzwischen auf den Grenzhag zugeflogen, dort, wo ihn das verhüllende Boskett freigab, und weite Rasenflächen nach dem Haus zu einsetzten.

An einer Stelle des Hags sah man etwas Kleines, Dunkles, Kugelrundes sich bewegen und sehr eifrig hantieren.

Beim Laut der nahenden Schritte sah es auf, schien einen Augenblick wie versteinert und machte dann Anstalten, sich schleunigst außer Sehweite zu bringen.

Es mußte dort ein Loch im Hag sein. Das Kleine, Dicke, Kugelrunde kroch plötzlich auf allen vieren am Boden dahin.

Wie ein Stoßvogel flog Marlise drauf zu.

»Halt, dich will ich!«

Sie lag am Boden, flach. Sie fuhr mit der Hand durch die Lücke im Hag, rutschte halben Leibs nach und da – da hatte sie, was sie haben wollte.

Sie schob sich rückwärts, sie zog und zerrte! Das, was sie gepackt hielt, leistete offenbar verzweifelten Widerstand.

Keine Rettung. Marlise hielt fest.

Und da kam er jetzt zum Vorschein, der kleine Ausreißer.

Sie stellte ihn auf die Füße.

Er zeterte und bohrte die Fäustchen in die Augen. Ganze Schmutzbächlein liefen unter den erdigen Händchen weg über das fragwürdig saubere Gesichtchen.

Sie packte die Fäustchen und zog sie mit Gewalt von den Augen.

»Laß erst mal sehen, wer du bist! Der Peter! Ei sieh mal an, Peterchen, schämst du dich nicht? Was hast du hier gewollt?«

»Bl-Bl-Bl-Blimcher roppe.«

Peterchen schluchzte so, daß er stotterte.

»Meine Veilchen? Ei der Tausend! Und wo sind sie?«

»Fo-fo-fo-fotgeschmisse!«

»Bengel! Pflückst meine Veilchen und wirfst sie dann auch noch fort? Wart, ich will dich lehren. Gleich hebst du sie wieder auf und gibst sie bei der Frau Müller ab, vorn im Haus. Hörst du? Vorwärts marsch!«

Peterchen wankte nicht.

»Sie h-h-h-haut mich.«

»Wer?«

»Die Mi-Mi-Millern!«

Da mußte Marlise lachen.

»Na, dann hast du's redlich verdient. Allons marsch!«

Sie wies nach dem Loch in der Hecke.

»Da durch! Veilchen aufgehoben. Und laß dich nicht wieder hier blicken, sonst setzt's was!«

Peterchen schluchzte noch einmal laut auf, dann warf er sich flink aufs Bäuchlein und rutschte durch die Hecke.

Ehe er ganz verschwunden war, versetzte ihm Marlise noch einen Klapps.

Erneutes jammervolles Zetern! Dann klatschte sie in die Hände, drehte sich lautlos im Kreise, um dem kleinen Missetäter jenseits des Hags nichts von ihren wahren Gefühlen zu verraten, und flog der Veranda zu.

Rollo, der sehr andächtig und ernst der ganzen Exekution beigewohnt hatte, hinterher.

Atemlos langte sie an.

Die Mutter stand längst neben dem Onkel.

Beide hatten Marlisens Tun aufmerksam beobachtet – mit sehr verschiedenen Gefühlen.

Der Onkel lachte aus vollem Halse.

»Glatte Arbeit gemacht, Irrwisch, was? Lob' ich mir! Eins, zwei, drei – fertig!«

»Er hat meine Veilchen stibitzt, Onkelchen, meine lieben, kleinen Hagveilchen. War der Bengel drollig! Die Mi-Mi- Millern h-h-h-haut mich!«

Sie ahmte das zeternde, schluchzende, stotternde Peterchen so getreu nach, bohrte dabei in den Augen und schnüffelte dazu, daß der Onkel nicht aus dem Lachen kam.

Marlise half getreulich.

»Kannst doch Veilchen genug haben, Irrwisch,« sagte der Onkel dann gutmütig. »Im Treibhaus –«

»Nichts gegen meine Hagveilchen, Onkelchen.«

»Wie siehst du aus! Bitte, betrachte einmal dein Kleid,« rügte die Mutter.

Das Kleid sah allerdings böse aus, Grasflecken und Erdspuren der ganzen Vorderseite entlang.

Marlise sah an sich hinunter.

»O weh, da ist ja 'ne ganze Landkarte drauf! Hier Wiesengrund, hier die urbare Scholle –«

»Hier der Hag!«

Der Onkel hielt den Rock gefaßt, der einen klaffenden Riß zeigte.

Marlise drehte sich im Kreisel, daß der Rock ihm aus der Hand fuhr. Dabei legte sie den Finger an die Lippen und warf dem Onkel einen bittenden Blick zu.

Der Blick, der die Mutter traf, war recht scheu.

Die sah sie aus so ernsten, traurigen Augen an, daß Marlise alsbald ganz weich war.

»Was liegt an dem Kleid, Mammi!« Sie schlang den Arm um die Mutter und schmiegte ihr Köpfchen an deren Schulter. »Wir stecken's in den Waschzuber. So'n dummes Kleid ist's doch nicht wert, daß du dich drum grämst.«

»Das Kleid ist's nicht, Kind, und das weißt du auch.«

Die Mutter war sehr ernst.

»Ich bin's, Mammi, ich bin an allem schuld. Aber sieh mal, ich will ganz gewiß und wahrhaftig vernünftig werden. Das Peterchen mußte ich doch hinausjagen, nicht, Mammi? Du magst doch auch die kleinen Veilchen so gerne. Und gleich hol' ich dir ein ganzes Bündel und – nun lach doch mal, Mammi, lach mal!«

Den flehenden Braunaugen konnte die Mutter nicht widerstehen.

Sie lachte nicht, aber sie strich ihrem Kind über das junge Gesicht.

»Und nun geh, Marie-Luise, zieh dir ein anderes Kleid an.«

»Wie wär's mit 'nem Ritt, Irrwisch?«

Der Onkel hatte bis jetzt still daneben gestanden, aber man sah, daß er bei der Schwester ernst mahnendem Wesen ihrem Kind gegenüber nur mühsam an sich hielt.

Marlise umtanzte den Onkel. Lachend wehrte der, in Anbetracht des fragwürdigen Gewandes der Nichte, eine Annäherung ab.

So warf sie ihm nur eine Kußhand zu und war durch eine hohe Glastür, die ins Haus führte, verschwunden.

Rollo konnte sich noch eben hinter ihr her schieben.

Die Mutter sah ihr bekümmert nach, schüttelte den Kopf, seufzte, sagte aber nichts.

Sie ließ sich müde in einen Sessel sinken.

Der Bruder stand vor ihr und sah sie herausfordernd, mißbilligend an.

»Ich begreife nicht, was du an dem Kinde immer zu tadeln hast. Mir ist sie eben recht. Ich möchte kein Titelchen anders haben.«

Sie hielt ohne Antwort nur immer stumm den Kopf gesenkt.

»Sprich, Helene!« drängte er ungeduldig.

Sie hob den müden Blick.

»Was soll ich sagen, Fritz? Glaubst du, daß das Kind nur so durchs Leben wird hinstürmen und tollen können? Für jeden gibt's Mauern, gegen die er anrennt, Steine, über die er stolpert. Wär's da nicht barmherziger, beizeiten zu warnen, zu –«

»Du weißt, daß ich mein Bestes tun werde, ihr jeden Stein aus dem Wege zu räumen, Helene.«

»Du hast das Kind lieb, als ob's dein eigenes wäre, Fritz, ich weiß, und ich danke dir's von Herzen. Was wären wir beide ohne dich? Aber –«

»Kein Aber, Helene. Ich habe das Kind lieb wie mein eigenes, und sie soll's empfinden, auch wenn ich einmal nicht mehr bin. Aber laß sie, wie sie ist, so eben ist sie meine Freude. Mach mir keine zimperliche junge Dame aus meinem Irrwisch, hörst du, ich könnte es nicht ertragen. Es wäre das blanke Unrecht, ihr den frohen Übermut zu nehmen. Der Ernst des Lebens kommt doch und –«

»Eben darum, Fritz. Sollte uns das Kind nicht zu lieb sein, als daß wir dem Schicksal allein die Zucht überlassen?«

»Wieso?« Es klang sehr gereizt.

»Ich meine, so ein junges Menschenkind muß beizeiten lernen, daß das Leben nicht bloß Scherz und Lust und Spiel ist. Wir sollten ihm den Ernst zeigen, es wappnen dagegen, ehe es ihn vielleicht bitter schwer zu fühlen bekommt. Umso schwerer, als es ihm ahnungslos entgegentritt. Ich –«

»Ach was, papperlapapp.« Er wurde fast unhöflich in seinem Eifer. »Ich bin fürs Quicke, Frische! Der Irrwisch –«

»Hurra, Onkelchen, da bin ich schon! Wo steckst du eigentlich? Melde mich gehorsamst zur Stelle!«

Sie parierte den Schimmel, auf dem sie um die Ecke des Hauses gesaust kam. Er stand wie eine Mauer vor der Veranda. Schelmisch grüßend hob sie die Gerte.

Bild: Richard Gutschmidt

Schelmisch grüßend hob Marlise die Gerte.

»Ah,«schmunzelte der Onkel. Daß er schmunzelte, war ihm nicht zu verdenken. Was er sah, konnte einen Isegrimm schmunzeln machen.

Marlise im knappen Tuchkleid – auf dem feingliedrigen schneeweißen Pferd, bot ein niedliches Bild. Ein weißer, breitrandiger Filzhut saß ihr auf dem dicken, weißblonden Haarknoten. Aus dem rosigen Gesicht leuchteten und blitzten die dunkel bewimperten, goldbraunen Augen unter den feingezeichneten dunkeln Brauen vor. –

Roß und Reiterin schienen in eins verwachsen. Nun sie stille saß – sitzen mußte – pirouettierte und kurbettierte das Tier ganz im Sinne der jungen Herrin. Es blähte die Nüstern, es warf den schlanken Hals zurück – alles an ihm Leben und Bewegung.

»Flink, Onkelchen, flink! Dein Fuchs da vorn ist noch ungeduldiger als wir drei, der Rollo, die Beauty und ich. James hat schreckliche Mühe, ihn zu halten. Los, Beauty!«

Beauty sauste um den weiten Rasenplatz, der der Veranda vorgelagert war, einmal, zweimal, dreimal. Der Kies stob nur so unter den flüchtigen Hufen.

So oft Roß und Reiterin vorüberflogen, senkte Marlise die Gerte grüßend gegen die Mutter, die an der Brüstung stand. Der Onkel war verschwunden. Beim dritten Male parierte Marlise das Pferd so plötzlich, daß es sich bäumte.

Die Mutter stieß einen Angstruf aus.

Aber schon fühlte sie sich umschlungen, fühlte ein glühendes Gesicht gegen das ihre gepreßt.

Marlise hatte Beauty dicht zur Veranda gedrängt, hatte sich im Bügel gehoben und die Mutter umfaßt.

»Leb wohl, Mammi! Wohlauf zum fröhlichen Jagen!« jauchzte sie.

Ein leichter Schlag mit der Gerte, ein letztes Winken, eine Kußhand – und Marlise war auf der Beauty um die Ecke des Hauses verschwunden, Rollo schwerfällig trabend mit kurzem Gebläff hinterher.

Wie der Wirbelwind waren sie gekommen, wie der Wirbelwind gegangen.

Ganz betäubt sank die Mutter in ihren Sessel zurück.

Noch eine Weile hörte sie der Tochter junge Stimme vor dem Hause, hörte das Traben von Pferdehufen.

Dann war alles still.

Sie mußten endgültig fortgeritten sein.

Frau Helene Wreden sann und träumte vor sich hin.

Sie war eine überschlanke, zarte, vornehme Erscheinung. Müde, nervös, vorzeitig gealtert sah sie aus. Ein Leidenszug lag um die Lippen. Das Leben hatte ihn dahin gezeichnet.

Sie wußte, weshalb sie bei ihrem Kind frühe den allzu tollen Übermut zügeln, es den Ernst des Lebens kennen lehren wollte. Sie selber hatte diese Kenntnis schwer zahlen müssen.

Behütet und bewacht war sie herangewachsen wie Marlise, frisch und froh war sie gewesen wie diese. Ihr war das Leben ebenso aus lauter Lust und Sonnenschein zusammengesetzt erschienen. Wo hätte da Ernst, wo Schatten herkommen sollen? Der Ernst, der Schatten, von dem die Alten bisweilen fabelten. Die waren eben alt. Im Alter sah man alles gerne grau in grau.

Aber der Ernst war gekommen, bitter, bitterschwerer Ernst. Und die Schatten hatten ihren Weg so dicht umhüllt, daß sie sich eigentlich nie wieder so recht ins Licht, in die Sonne herausgefunden hatte. Noch heute nicht.

Sie stammte aus dem reichen Bankhause Fritz Erich Albers, das nun seit mehreren Generationen einen guten Ruf und viel Ansehen in Dornstadt genoß und durch Generationen zum Guten das Beste gehäuft hatte.

Die Firma Fritz Erich Albers hatte einen guten zuverlässigen Klang. Sie hatte Glück. Jedes Unternehmen schlug ein, jede Emission stand fest, wie gemauert. Und die Rechtlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Mannesehre des jeweiligen Inhabers hielt dem Glück die Wage. Sie wankte nicht.

Fritz und Helene waren die einzigen Kinder ihrer Eltern gewesen.

Soweit glänzende äußere Verhältnisse das Glück sichern können, schien es gesichert.

Doch das Glück bindet sich daran nicht. Geld und Reichtum bedingen's nicht folgerichtig. Es greift tiefer. Von innen blüht's auf in der Menschenbrust und fragt nicht danach, ob sie Seide schmückt, ob Lumpen sie decken.

Ein Glückskind wurde Helene genannt, wurde verhätschelt, verwöhnt und verzogen.

Das Glückskind heiratete früh, heiratete nach Herzensneigung, heiratete eigentlich gegen Wunsch und Willen der Eltern. Das heißt, sie wußte sich ihr »Glück« zu erstehen, zu erschmeicheln – zu ertrotzen.

Sie konnten ihm ja eigentlich nichts vorwerfen, dem flotten, schneidigen Dragonerleutnant Knut Wreden, als eben vielleicht sein flottes Auftreten, seine Schneidigkeit.

Die Töchter der Firma Fritz Erich Albers hatten eben bis jetzt immer wieder solid fundierte Kaufherren oder Beamte geheiratet. Ein Offizier als Schwiegersohn war den Traditionen des Hauses so gänzlich entgegen.

Vielleicht stammte eben daher der Widerstand der Eltern. Sie machten sich's selbst nicht so recht klar. Aber sie hatten ihr Kind sehr lieb und gaben nach.

Helene Albers wurde die Frau des weißblonden, flotten, schneidigen Dragoners, die glückselige, strahlende Frau.

Nach zehn Jahren brachte sie von ihrem »Glück« nur ihr kleines, weißblondes Mädchen, eine müde, gebrochene Seele und einen kranken Körper mit ins Vaterhaus zurück.

Knut Wreden war bei einem Ritte gestürzt, und daß sein Tod nicht das schlimmste Unglück war, das er über sie gebracht hatte, daran krankte die gebrochene Frau zumeist.

Mittellos kehrte sie ins Vaterhaus zurück, das inzwischen des Bruders Haus geworden war.

Beide Eltern waren tot, aber dem Sohne hatten sie die Tochter und ihr Kind als heiligstes Vermächtnis ans Herz gelegt.

Fritz Erich Albers, der Sohn, jetzt Inhaber der Firma, war unverheiratet geblieben.

Nun gaben die Sorge um die Schwester und deren Kind seinem Leben Inhalt.

Frau Helene hätte an der Zärtlichkeit und Fürsorge des Bruders, in dem lieben, alten, wohlbehüteten Vaterhause nun wieder genesen können.

Der Schicksalssturm aber, der über sie hingebraust war, hatte ihre Spannkraft gebrochen. Sie konnte sich nicht wieder aufraffen. Der Leidenszug, den das Leben in ihr Antlitz gezeichnet hatte, wollte sich nicht mehr verwischen lassen. Er war eben nicht nur ins Antlitz, er war ins Herz gezeichnet.

Ihr kleines, weißblondes Mädchen aber, das Ebenbild des Vaters, entfaltete sich dafür umso frischer, sonniger.

Der Onkel verzog und verwöhnte die Kleine, sie war sein Augapfel. Er glaubte, durch umso größere Nachsicht ihr den kindlichen Frohmut, um nicht zu sagen Übermut, wahren zu müssen, als der Mutter Trübsinn ihn zu ersticken drohte.

Wenn sie nach den Sternen des Himmels verlangt hätte, seine Schuld wär's nicht gewesen, daß er sie ihr nicht in die Kinderhände hätte legen können.

Einstweilen aber legte er ihr hinein, nein, häufte er darin, was Kinderlust zu erwecken, ein Kinderherz zu erfreuen vermag. Wonach die kleinen Hände griffen, das fiel ihnen zu, fast noch ehe sie sich hoben.

Die Mutter wehrte umsonst dem Übermaß.

»Laß mich, Helene, du weißt, die Kleine ist meine einzige Freude!«

Damit schnitt der Bruder jeden Einwand ab.

Frau Helene wagte nicht weiter darauf zu bestehen. Hatte sie ein Recht, dem Bruder, dem sie und ihr Kind alles dankten, zu wehren, dies Kind auch in seinem Sinn zu erziehen? Bemerkte sie einmal schüchtern: »Fritz, du weißt doch, das Kind und ich sind mittellos. Ist's klug, sie da so ungehindert ins Volle greifen zu lassen? Wird sie nicht später –«

»Dies Später laß getrost meine Sorge sein, Helene. Fritz Erich Albers wird seine Nichte einmal so stellen können, daß –. Sie ist meine Erbin, Helene!« Für ihn war jeder Einwurf damit entkräftet.

Und Frau Helene?

Hätte sie wieder und wieder mit dem kommen sollen, was das Leben sie gelehrt, unter tausend Schmerzen sie gelehrt hatte? Daß der heiteren Tage wenige, der trüben aber viele sind. Daß das Leben nicht Lachen und Freuen ist, sondern Ernst und Weinen. Daß Glück nicht am Besitz haftet, und daß Besitz ein flüchtig Gut ist.

Zur großen Beruhigung ihrer Zweifel trug bei, daß sie merkte, des Kindes Charakter war von der glücklichen Anlage, der keine Verwöhnung eigentlich schadete.

Im Gegenteil. Je mehr Sonnenschein das Kind umstrahlte, desto mehr Sonnenschein gab's zurück.

Marie-Luise entfaltete sich in all dem Licht und der Wärme zu einem sonnig heiteren, übermütig frohen, quecksilbernen Geschöpfchen, das Licht und Wärme verbreitete, wohin die goldbraunen Augen sahen.

Sie füllte das alte Haus mit Lust und Leben.

Wo das Silberstimmchen zwitscherte, kam keine Schwermut auf. Die kleinen flinken Trippelfüßchen, die treppauf, treppab flogen, trugen den Frohsinn in jeden Winkel des Hauses. Den Sonnenaugen hielt die finsterste Miene nicht stand.

Bald war sie hier, bald da.

»Irrwisch« hatte der Onkel sie getauft. Die quecksilberne Lebendigkeit rechtfertigte den Namen. Ein Herzchen aber hatte der kleine Irrwisch so fest und so treu und so warm – darin war nichts von Irrwischnatur zu verspüren.

Dieses Herz umfaßte den frohen, immer heiteren, stets gewährenden Onkel, wie die ernste, oftmals versagende Mutter mit gleicher warmer Liebe.

Ja, Marlise hatte einen glücklichen Charakter, dem die unvernünftigste Verwöhnung nicht schadete.

Das fand Frau Helene bald heraus, und das beruhigte sie in etwas.

Die Kleine nahm's als ihr gutes Recht, daß keine Tür ihr verschlossen blieb, so wenig wie irgend ein Herz.

Wo die Finger anpochten, ward eilig aufgetan.

Die alten, ernsten Geschäftsgewölbe im Unterstock des Hauses Fritz Erich Albers hatten solches noch nie erlebt.

Da trippelten allmorgendlich kleine, flinke Füße die alte, breite Treppe des Hausflurs herunter – sie ertappten sich alle darüber, daß sie darauf lauschten, vom jüngsten Lehrling an bis zum ältesten Buchhalter.

Und wenn dann ungeduldige kleine Fäuste gegen die Tür trommelten, und ein Silberstimmchen dazu laut wurde: herein! – dann sprangen alle von ihren Sitzen. Es war ein förmlicher Wettstreit, wer öffnen dürfe.

Dann flog ein kleines, weißes Elfchen in den ernsten, hohen Raum, in dem sonst kaum gelacht, aber viel gerechnet, viel gesonnen wurde.

Wie Sonnenglanz lag's plötzlich auf allen Gesichtern.

»Duten Morgen, duten Morgen,« rief das Silberstimmchen weiter, »mis mussen Ontel duten Morgen sagen. Tommen dleich wieder. Vorwärts, Rollo!«

Schon damals folgte ein Rollo, der Vater des jetzigen, ebenso zottig, ebenso weiß und gelb gefleckt, ebenso täppisch, ebenso treu der kleinen Herrin.

Und dann flog die weiße, kleine Elfengestalt in den Raum nebenan, das Privatzimmer des Chefs, und von drinnen kamen Laute, wie die ernsten Räume sie auch nie zuvor gehört hatten.

»Kleiner Irrwisch,« rief eine tiefe Stimme, die nur wenig gemein hatte mit der, die sonst Zahlen verlas und Befehle erteilte, »kleiner Irrwisch, da bist du ja!«

»Mis da sein,« jauchzte das feine Stimmchen, »mis Tuß deben und Rollo Händsen.«

»Na, dann tu, was du nicht lassen kannst.«

Er hob die kleine Gestalt hoch. Zwei kleine Hände zausten ihm den Bart, klatschten ihm die Wangen, der Kinderkuß schallte.

Ein Schmunzeln flog über die Gesichter der Lauschenden draußen.

»Bitte, Tarussell!« klang das feine Stimmchen wieder.

Gehorsamst drehte der gebietende Chef, die Kleine im Arm, sich auf seinem Drehstuhl.

Einmal, zweimal, dreimal, bis ihm ganz schwindlig war. Der Stuhl quietschte, die Kleine jauchzte. Erneutes Schmunzeln und unterdrücktes Kichern draußen.

»Mis Mammi dehen, du jetzt mussen fleißig sein,« sagte die feine Stimme nun wohlwollend mahnend. »Rollo, Händsen deben!«

Rollo hob die schwere Pfote.

»Du Tag Rollo sagen,« mahnte das Sümmchen.

»Tag, alter Rollo,« sagte gehorsam der Onkel.

»Du morgen wiedertommen, Irrwis sagen!«

»Komm morgen ja wieder, kleiner Irrwisch, hörst du!« sagte lachend der Onkel.

»Mis willen!«

Das feine Stimmchen klang ganz feierlich.

»Rollo, tomm!«

Und nun erschien die Kleine in ihrem weißen Kleidchen mit dem lichten, fast silberblonden Gelock, das lang hinter ihr her flatterte, wieder im vorderen Raum.

Sie hielt beide Händchen ausgestreckt.

»Duten Morgen, duten Morgen!«

Sie drängten alle herzu, die Händchen zu fassen, vom Prokuristen bis zum Lehrling und Laufburschen.

Jeder bekam einen »Duten Morgen!«, ein strahlendes Lächeln.

Dann huschte die Kleine nach der Tür; alle eilten, sie ihr zu öffnen.

Durch den letzten Spalt streckte sie noch einmal das rosige Gesichtchen.

»Morgen wieder tommen!«

Dann fiel die Tür zu. Es war, als ob sie einen Sonnenstrahl aussperre.

Der dunkle, hohe Raum erschien noch einmal so ernst und so finster.

Damals war Marlise vier oder fünf Jahre alt gewesen.

Als sie dann zur Schule kam, hörten diese allmorgendlichen Besuche auf.

Nun aber hätte man um die Zeit, wenn draußen im Flur die kleinen Trippelsüße die Treppe herunter kamen, ein Kinderstimmchen lustig plapperte, beobachten können, wie merkwürdig übereinstimmend die Herren alle plötzlich an den Fenstern zu tun hatten.

Es hätte kein ängstlicher Blick nach der Tür des gestrengen Chefs zu fliegen brauchen.

Der stand selber am Fenster und wartete voll lächelnder Ungeduld dessen, was kommen sollte.

Auf der breiten Freitreppe draußen wurde eine Kindergestalt sichtbar.

Die fliegenden Silberhaare waren sittig von einem Band zusammengehalten. Ein Gummiband unter dem Kinn fesselte den Hut, so daß er würdig gerade saß.

Ein aufgeschnalltes Ränzchen zierte den Rücken des Schulmädchens.

Marlise hatte darauf bestanden, es selber zu tragen, obgleich Franz, der Diener, sie täglich zur Schule und wieder zurück geleitete.

Jetzt kam der Abschied von Rollo, der würdevoll oben auf den Stufen saß. Marlise umfaßte den zottigen Gesellen und grub das Gesicht in sein Fell.

»Sei nur nicht traurig, Rollo,« hörte man sie sagen. »Ich komme sehr bald wieder und dann zeige ich dir, wie man das R macht. Bald kann ich Rollo schreiben, und dann schreibe ich dir einen Brief.«

Rollo mußte irgendwie seine Zustimmung dazu gegeben haben.

Klein-Marlise packte und quetschte ihn noch einmal zärtlich.

»Drum also, Rollo, nicht traurig sein.«

Ein Ruf kam aus dem Oberstock. Dort mußte auch jemand am Fenster stehen.

»Ich geh' schon, Mammi, ich gehe! Leb wohl, Mammi!«

Und die Kleine warf Kußhändchen nach oben.

Dann trippelte sie die Stufen herunter.

Sie waren immer noch ein wenig groß für die kleinen Füße, die breiten, granitenen Steinquadern, die zur Firma Fritz Erich Albers emporführten. Seit Generationen zur schweren eisenbeschlagenen Tür des Hauses führend, konnten sie noch Generationen als Aufstieg dienen. Unerschütterlich, festgefügt wie das Haus selber.

Also, Klein-Marlise trippelte die Stufen herunter.

Ihr Blick flog jetzt an den Fenstern des Unterstocks entlang.

Was sie da sah, war kein neuer Anblick für sie.

Kopf an Kopf standen ihre Freunde an den Fenstern, und von jedem Gesicht flog ihr ein lächelnder Gruß zu.

Sie lächelte wieder, sie winkte mit der kleinen Hand, so niedlich, so anmutig, wie eine kleine Königin, die Huldigungen entgegennimmt, gegen die sie aber noch nicht abgestumpft ist.

Klein-Marlise strahlte.

Und dann kam des Onkels Fenster.

Da machte Klein-Marlise erst einmal einen Luftsprung, dann warf sie mit beiden Händchen dem Onkel Küsse zu.

»Onkelchen, Onkelchen, ich komme bald wieder!«

Mit feinem Instinkt erkannte Klein-Marlise, daß Rollo und der Onkel sie am ungeduldigsten herbeisehnten.

Dann schob sie ihr Händchen in die Faust von Franz und trippelte sittig den Weg zur Schule. Im alten Hause schien's gar öde und still.

Am Mittag beim Heimweg freilich war das Bild ein wesentlich anderes.

Wieder Lauscher auf allen Posten.

Sie zögerten jetzt stets merkwürdig lange mit dem Heimgehen, die Angestellten der Firma Fritz Erich Albers.

Wenn die Zeit kam, daß man Klein-Marlise erwarten konnte, wurde erst Rollo auf seinem Posten oben an der Freitreppe ungeduldig.

Er hob den Kopf, er stellte die Ohren.

Und wenn er dann aufsprang und wedelnd mit lautem Gebell die Stufen hinabsetzte und nach der Straßenecke sauste, dann war die Zeit gekommen.

Nun wandten sich alle Köpfe dorthin.

Um die Ecke bog in fliegender Eile die Kindergestalt, Franz konnte nicht Schritt halten.

Das Haarband war verloren, die Haare entfesselt, der Hut hing im Nacken, das Ränzchen schleifte Klein-Marlise an der Hand nebenher. Sie war offenbar in zu großer Hast gewesen, wieder heim zu kommen, als daß sie es fein säuberlich hätte aufschnallen können.

Das Gesichtchen glühte, die Augen strahlten.

»Rollo, Rollo!«

Der warf die Kleine fast um mit seinen täppischen Sätzen. Nun lag das Ränzchen am Boden – Franz konnte es aufraffen – beide Ärmchen umschlangen Rollos Hals.

»Rollo, Rollo! Da bin ich wieder!«

Mit Rollo um die Wette flog jetzt Klein-Marlise der Treppe zu.

Dort oben stand plötzlich wie hingezaubert der Onkel.

Klein-Marlise war in seinen Armen, sie wußte nicht wie.

»Irrwisch, kleiner Irrwisch, da bist du ja wieder!«

Klein-Marlise lachte, zauste den Onkel und strampelte sich frei.

Und dann ging's die Treppe hinauf.

Das alte Haus war mit einem Male wieder voller Leben.

Am Nachmittag streckte Marlise dann wohl ab und zu mal wieder das Köpfchen in der Schreibstube unten bei ihren Freunden herein.

»Soll ich mal zeigen, wie man V schreibt, ja? Ich bin schon beim V. Und Fräulein hat mich heut gelobt und – Hört mal.

Der Frühling naht mit Brausen

was ich schon lesen kann: D–e–r – T–i–s–ch – i–s–t – r–u–n–d – d–e–r – O–f–e–n – i–s–t«. Klein-Marlise betonte jeden einzelnen Buchstaben. – »Und rechnen kann ich auch, paßt mal auf: Zwei und zwei ist drei – nein, wartet mal: Zwei und zwei ist – ist vier, richtig, seht ihr, da hab' ich's. Fräulein sagt –«

Was Fräulein sagte, konnte das kleine Plappermäulchen nicht fertig erzählen.

»Irrwisch, die Herren haben zu tun. Sie können dich nicht brauchen,« mahnte der Onkel von seinem Zimmer aus.

»Gleich, Onkelchen, gleich. Darf ich nicht noch das Lied singen, das wir heute gelernt haben?«

Bild: Richard Gutschmidt

Klein-Marlise hatte das Röckchen gefaßt und drehte sich zierlich im Kreise.

Ohne eine Antwort abzuwarten, klang die kleine Silberstimme durch den Raum:

»Kuckuck, Kuckuck ruft's aus dem Wald.
    Lasset uns singen,
    Tanzen und springen,
Frühling, Frühling wird es nun bald!«

Klein-Marlise hatte dazu das Röckchen mit spitzen Fingerchen gefaßt und drehte sich zierlich im Kreise.

»Frühling, Frühling wird es nun bald!« klang die kleine, klare Vogelstimme noch einmal.

Klein-Marlise machte einen schelmischen Knicks und war verschwunden.

»Bravo, bravo!« schallte es ihr nach.

Und unter der Tür seines Zimmers stand der Onkel. Ein Leuchten lag auf seinem Gesicht. Er hatte am lautesten Bravo gerufen.

»Der Irrwisch bringt uns aus Rand und Band, meine Herren,« schmunzelte er. »Es wird Zeit, daß ich dem Unwesen steure.«

Sie schmunzelten alle, sie wußten, wie das gemeint war.

Dem Unwesen steuerte die Zeit, nicht der Onkel.

Klein-Marlise wuchs heran, wurde zur Marlise schlichtweg.

Das seidige Silbergelock war längst in einen dicken Zopf gebändigt. Die Gestalt streckte sich.

Marlise war zum richtigen Schulmädel geworden.

Im Verhältnis wie ihre Kenntnisse sich mehrten, war sie weniger mitteilsam damit.

Nur selten noch streckte sie Kopf und Zopf unten zum Bureau herein. Es sei denn, daß sie ein dringendes Bedürfnis nach seltenen Marken oder Schreibfedern spürte.

Dafür schallte es in Haus und Hof nun wieder von frohen Kinderstimmen.

Marlise hatte viele Freundinnen. Und das alte Haus mit seinen Giebelspeichern, seinen weiten, hallenden Treppen und Gängen war ein beliebter Tummelplatz.

Marlise wußte stets die tollsten Spiele anzugeben. Marlis, wie sie genannt wurde, war Anführerin bei allen.

»Räuber und Gendarm« war zu der Zeit das beliebteste Spiel.

Und wenn die Hetzjagd nach dem Räuber sich von dem allerobersten Speicher über die hallenden Gänge und Treppen bis hinunter in den Hof an den Schreibzimmern vorüber fortsetzte, da trat wohl der Onkel einmal mahnend hervor: »Irrwisch, nicht zu toll, ihr stört mir die Herren!«

Dann verzog sich die Jagd irgendwohin und tobte nur von ferne.

Aber es mußte schon schlimm, sehr schlimm kommen, ehe der Onkel eingriff.

Gewöhnlich saß er vor seinem Pult und harrte nur darauf, bis er irgendwoher die frohen Stimmen schallen hörte.

Dann zog ein Schmunzeln über sein Gesicht.

»Da ist der Irrwisch!«

Und die Arbeit schien noch einmal so flink zu fördern.

Wenn Frau Helene diesem Unwesen steuern wollte, dann wehrte er.

»Laß das Kind, Helene. Jugend muß austoben. Uns unten stört's wenig, wir sind daran gewöhnt.«

Auch diesem »Unwesen« steuerte die Zeit ganz von selbst.

Wieder streckte sich das Schulmädel, und der fliegende Weißzopf wurde um den Kopf geschlungen.

Der Backfisch sah zu allen Enden vor.

Die Einsegnung kam. Die feierliche Zeit dämpfte mit ihrem Ernst von selbst den allzulauten Übermut.

Heilige Vorsätze im jungen Herzen stand Marlise am Altar.

Mutter und Onkel sahen heißen Dankes voll auf die schlanke Gestalt des Kindes, das sie nun bis zu diesem Lebensabschnitt gebracht hatten.

Das war vor zwei Jahren gewesen. Marlise war eben fünfzehn.

Der Onkel konnte sich nicht entschließen, seinen Irrwisch im Übergangsstadium vom Backfisch zum heranreifenden Menschenkinde fremden Händen anzuvertrauen.

»Seh' nicht ein, weshalb wir uns selber das Leben arm machen sollen, und wenn's nur für ein Jahr wäre. Der Irrwisch bleibt daheim, braucht mir keiner dran herumzustümpern.«

Frau Helene hatte geschwiegen.

Hatte sie ein Recht, dem Bruder, der ihrem Kinde den Vater mehr als ersetzte, seine Freude zu nehmen?

Sie schwieg, aber sie gelobte es sich selber heilig, wenn es an der Zeit sei, zu des Kindes Bestem auch dem Ernst zu seinem Recht zu verhelfen.


Einstweilen ließ sie dem Kinde noch volle Freiheit und dämpfte nur den allzu quecksilbernen Übermut.

Einstweilen tanzte Marlise noch durchs Leben. – –

Die Tür wurde recht nachdrücklich geöffnet. Frau Helenens Träume zerstoben.

Da war Marlise, leuchtend, strahlend. Der Hut saß schief, die Haare waren zerzaust. Fast mahnte sie an das Schulmädel von einst.

Sie klatschte in die Hände und drehte sich im Kreise. Dann lag sie der Mutter am Halse.

»Ich hab' gewonnen, Mammi, ich hab' gewonnen. Um fünf Pferdelängen bin ich ihm mindestens voraus. O, es war wonnig, wonnig! Beauty hatte Flügel heute. Und der Sturm dazu! Mammi, wie ist das Leben schön! Da kommt der Onkel, hörst du? Ich muß ihm entgegengehen!«

Wie sie gekommen, war sie davongestoben.

Man hörte ihr helles Lachen, ihre klingende Stimme von außen. Des Onkels gutmütig polternden Baß dazwischen.

Frau Helene aber war aus ihrem Sinnen und Träumen wieder zur Wirklichkeit zurückgekehrt. Die fordert immer ihr Recht!

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