Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Waldhaus

Reizend war's draußen im Waldhaus. Ein Frühling, wie Marlise sich nicht erinnerte, je einen erlebt zu haben.

Aber da sie das noch von jedem Frühling in ihrem jungen Leben behauptete, seit sie überhaupt Sinn für derlei hatte, so wollte das nicht viel besagen.

Aber der Frühling war dieses Jahr wirklich besonders schön. Alles blühte und duftete, leuchtete und grünte zumal, was überhaupt blühen und duften, leuchten und grünen konnte.

Frühjahrsblumen, Baum und Strauch blühten in jeglicher Farbe und Gestalt. Der armseligste kleine Strauch, der ernst gewaltigste Baum, keiner war zu gering, keiner zu erhaben, als daß der Frühling nicht die schmückende Hand an ihn gelegt hätte. Und neben dem kleinen Veilchen hob sich stolz die Tulpe, die Narzisse. Vergißmeinnicht schlug die blauen Augen auf, Stiefmütterchen hob das freundliche Gesicht, Anemonen und Schlüsselblumen lockten in Wald und Wiese.

Es war ein gewaltiges Freuen in der Natur.

Und über allem lachte die Sonne, lachte und strahlte voll Stolz ob ihrem Werk.

Mit ganz besonderem Wohlgefallen schien sie auf das Waldhaus niederzustrahlen.

Das war nun freilich nicht ihr Werk, aber sie tat stets mit besonderer Lust das ihre, es zu vergolden und ins rechte Licht zu setzen.

Es war auch ein ganz besonders lauschiger, lieblicher Wald- und Weltwinkel. Eine Behausung wie geschaffen, Jugend, Glück und Lust zu umhegen.

Am Waldsaum gelagert, vom alten Park umgeben, lugten die weißen Mauern mit dem lichtgrünen Balkenwerk gar freundlich vor. Lustig bewimpelte Türmchen mit grün-goldig blitzendem Dach, niedliche Erker, zierliche Giebel – das Ganze licht und freundlich. Ein Aufenthalt wie dafür gemacht, die Sonnentage des Jahrs in der Sonnenzeit des Lebens da zu verbringen.

Dazu den Sonnenschein des Glücks – fast allzuviel Sonne für ein einziges kleines Menschenleben.

So schien das junge Menschenkind aber keineswegs zu denken, das da am hellen Morgen auf der weiten Rasenfläche herumwirbelte.

Das nahm unbefangen froh alles als ein ihm von Natur zukommendes Recht hin. Wer hätte mit ihm drum hadern mögen?

»Rollo, Rollo, faß!«

Wie vom Bogen geschnellt, wie beschwingt flog die leichte Elfengestalt dahin, rechts, links, kreuz und quer. Die blauen Bänder am weißen losen Gewand flatterten, wehten im Winde um die Wette mit dem flatternden dicken Zopf.

»Hierher, Rollo! Rollo, so fang mich doch!«

Schwerfällig, aber unermüdlich setzte Rollo hinterher. Zuweilen bläffte er heiser auf. Man konnte es als Aufforderung für mehr oder aber als Mahnung zur Vernunft nehmen.

Marlise nahm's als ersteres, und wirbelte immer weiter.

Eben drehte sie sich wie ein Kreisel um die eigene Achse. Wagrecht hielt sie dazu die Arme ausgestreckt. Was flattern konnte an ihr, flatterte. Bänder, Röcke, Zopf.

Der schlang sich ihr mit hörbarem Klatsch einmal, zweimal um den Hals.

»Juhu!«

Sie wirbelte nach der entgegengesetzten Seite. Der Zopf löste sich, um sich dann alsbald wieder, nun von der anderen Richtung her, festzuschlingen.

Das war ein neuentdecktes Spiel. Das mußte ausgekostet werden.

»Irrwisch!«

Lachend kam der Onkel um ein Boskett herumgeschlendert.

»Du bekommst ja die Drehkrankheit!«

Marlise ließ sich nicht irremachen.

»Ich lerne fliegen, Onkelchen, paß mal auf.«

Mit drei Sätzen stand der Schalk neben ihm und begann den kreisenden Wirbel aufs neue.

Klatsch! flog der Zopf dem Onkel ins Gesicht, daß der ganz verdutzt zurückprallte.

»Du, hör mal, Irrwisch, deinen Kopfschmuck in Ehren, wenn er auch ein bissel absonderlich ist! Aber im Gesicht hab' ich ihn doch nicht gern!«

Marlise lachte wie ein Kobold.

»Na, denn nicht!«

Und schon drehte sie sich zehn Schritte abseits, wo sie freien Spielraum hatte.

Dem Onkel wurde ganz schwindlig nur vom Zusehen.

Er wandte den Kopf. Da sah er Frau Helene auf der Veranda stehen.

Schnell den Liebling warnen!

»Irrwi–«

Zu spät.

»Marie-Luise!« klang's vom Hause her.

Als ob irgend eine Feder in ihr plötzlich versage, so stand Marlise.

Komisch verblüfft, kläglich betreten schaute sie den Onkel an.

»Da setzt's was!«

Er verbiß sich das Lachen.

Sie zupfte eifrig an sich herum.

»Alles in Ordnung!«

Sie warf dem Onkel mit neckischem Auflachen eine Kußhand zu.

»Ich fliege zu Mammi!«

Fort war sie.

Auf der Veranda stand Frau Helene.

»Schon so ausgelassen am frühen Morgen, Marie-Luise,« begann sie vorwurfsvoll.

Die Marlis hing zerknirscht den Kopf.

»Ja, Mammi –« stotterte sie.

Da sagte eine Stimme: »Ich möchte mein Frühstück haben, Helene.« Der Onkel war schnell gefolgt.

Sein Ton klang sehr gereizt.

Schweigend wandte Frau Helene sich der Klingel zu.

Da warf sich ihr Marlise ungestüm an die Brust.

»Aber du sollst mich schelten, Mammi. Ich weiß, daß ich's verdiene. Und ich will auch gewiß ganz vernünftig sein. Wir wollen nie wieder tollen, der Rollo und ich, was, Rollo?«

Dabei hatte Marlise die Mutter losgelassen und war auf Rollo zugeflogen, der eben schweifwedelnd die Terrassenstufen heraufkam.

Im Nu hatte Marlise ihn an den Vorderpfoten hochgehoben und drehte sich mit ihm im Kreise.

Der Onkel räusperte sich. »Vielversprechender Anfang!«

Da ließ Marlise Rollo fahren, als habe sie sich verbrannt. Komisch zerknirscht drohte sie dem Onkel mit der geballten Faust und faltete dann, stumm flehend, die Hände gegen die Mutter.

Danach saß eine sehr wohlerzogene junge Dame am Frühstücktisch. Flink und niedlich anzusehen bereitete sie den Tee und bediente sodann Mutter und Onkel auf anmutige Weise.

Die Vöglein jubilierten draußen auf den Bäumen, und Frau Sonne blinzelte durchs Rankengewirr und hatte ihre Freude an dem jungen gesetzten Menschenkind, wie sie es vorher an dem leichtfüßigen Quecksilber auf dem Rasen draußen gehabt hatte.

Wohlgefällig strich sie über den jungen Scheitel und ließ jedes einzelne silberblonde Ringellöckchen blitzend aufleuchten.

Frau Sonne hatte einen guten Geschmack.

Das fand auch der Onkel und konnte keinen Blick von dem Glorienschein wenden, der das junge Haupt dort umgab.

»Kommst du heut nachmittag mit dem Auto, Irrwisch, und holst den alten Onkel?«

Marlise stand der Atem still.

Ihr Herzenswunsch sollte sich erfüllen? Wirklich erfüllen?

»Allein?«

Sie tastete nach dem Sinn der Aufforderung.

Bis jetzt hatte sie immer nur unter Aufsicht fahren dürfen. Ihr glühender Ehrgeiz, ihr heißestes Sehnen galt einer selbständigen Fahrt.

»Allein?« fragte sie wieder.

Der Onkel zögerte offenbar mit der Antwort.

Da hielt sie ihn umfaßt.

»Bitte, bitte, bitte, Onkelchen.«

»Fritz, du wirst doch nicht?«

So tönte es gleichzeitig.

Was die Bitte allein nicht fertig gebracht hatte, tat die Mahnung.

Sie weckte den Widerspruch.

»Weshalb sollte sie nicht?«

»Du selbst sagtest, wie gefährlich es sei.«

Frau Helene sprach sehr ernst.

»Bah, der Irrwisch!«

»Mammi, du sollst sehen, ich kann's!«

»Weshalb sollte sie's nicht können?«

»Fritz!«

»Helene?«

»Mammi, bitte, bitte!«

Die Stimme schmolz in den flehendsten Tönen.

»Und kurz und gut, sie mag's probieren!«

»Onkelchen!«

Ein Jubellaut.

Marlise klatschte in die Hände.

Frau Helene war lautlos verschwunden.

Was hätte sie sagen sollen?

Ihre Autorität in die Wagschale werfen? Und die des Bruders dadurch schmälern? Des Bruders, der ihrem vaterlosen Kinde mehr als Vaterliebe erwies. Sie konnte es nicht, so schwieg sie lieber. – –

Der Onkel war fortgefahren. Marlise hatte drauf bestanden, ihn zu Rad eine Strecke zu begleiten.

Die Mutter wußte davon nichts und suchte nach ihr.

Es war so schwer, das Kind an irgendwelche Pflichten zu bringen.

Frau Helene seufzte tief auf. Wie sollte das werden?

Wie konnte sie das ändern?

Das übermütige Wesen des Kindes war ja nur Resultat der Erziehung oder vielmehr der verziehenden Nachsicht des Onkels. Und diesem Bruder, dem sie alles dankte, ernstlich ablehnend entgegenzutreten? Sie konnte es nicht.

Und doch! Allein auf die Schule des Lebens bauen? Es erschien ihr gar so grausam. Das war, als ob man ein geliebtes Kind ins Wasser stieße: da schwimm! Nein, man mußte ihm wenigstens zuvor zeigen, wie es Arme und Beine zu gebrauchen habe.

Sie nahm sich fest vor, bei nächster Gelegenheit ernstlich mit dem Bruder zu reden.

Wo aber das Kind nur wieder steckte?

»Marie-Luise! Marie-Luise!«

»Mammi, hier, Mammi!« klang's hell als Antwort vom Hofe her. Die Mutter trat um die Hausecke.

Da flog's auf dem Rad daher, Rollo hinterdrein.

»Wo warst du nun wieder?«

»Den Onkel begleiten.«

»Und deine Pflanzen? Die Tauben?«

»Gleich, Mammi, sofort! Ich fliege.«

Das Rad lag am Boden, Marlise war schon im Haus verschwunden.

Seufzend wollte Frau Helene sie eben zurückrufen, da kam auch schon Friedrich und brachte das Rad beiseite.

Er schmunzelte, als er Frau Helenens bekümmerte Miene sah. Er war schon lange im Haus und kannte sich darin und in seinen Bewohnern gut aus.

»Jugend hat keine Tugend, gnädige Frau. Unser Fräuleinchen weiß, daß wir alle gern was für sie tun.«

»Wohl, Friedrich, aber –«

Das weitere verklang im Hausflur. Oder hatte Frau Helene überhaupt nichts weiter gesagt?

Gleich danach stand Frau Helene im Wohnzimmer neben Marlise.

Die starrte ratlos auf eine wundervolle Palme, die ihre Wedel trostlos hängen ließ.

»Da sieh, Mammi. Was ist denn da wohl los?«

»Du hast sie einfach vertrocknen lassen.«

»Wirklich? O weh! Armes Ding. Was nun?«

»Fortwerfen. Es war mein Lieblingsstück, Marie-Luise.«

Marlise wandte ihr ganz erschreckt das Köpfchen zu.

»Mammi, wirklich?«

Die Mutter nickte.

»Ich kaufe dir eine neue, Mammi, eine viel schönere.«

Beweglich sah sie der Mutter ins Gesicht.

»Paß auf, Mammi, eine viel schönere.«

»Mit dem Wiederkaufen ist nicht immer alles gut gemacht, Marie-Luise. Du wirst zu deinem Schaden das noch erfahren, mehr als dir lieb ist, fürchte ich.«

Das kam früher, als beide dachten.

Friedrich trat ein und meldete seiner Herrin: »Die Tauben, gnäd'ge Frau –«

»Was ist damit?«

»Sind tot.«

»Tot?«

Frau Helene und Marlise riefen's beide zugleich.

Friedrich nickte.

»Der Schlag muß offen geblieben sein. Und da ist der Fuchs heute nacht –«

Weiter kam er nicht.

Mit einem Weheschrei rannte Marlise davon.

Die Obhut der Tauben war ihr anvertraut – eine ihrer wenigen Pflichten.

Die Mutter und Friedrich fanden sie danach in Tränen vor den toten Lieblingen.

Diesmal redete sie nicht von Wiederkaufen.

Frau Helene ließ die Lehre wirken. Sie verschärfte sie weder, noch schwächte sie sie durch Trostworte ab. – –

Marlise war in ihrem Zimmer.

Ein kleines Feenreich in weiß, gold und rosa.

Weißlackierte, goldgeränderte Möbel. Rosa Bezüge, Gardinen und Wandbekleidung. Rosa Teppiche, weiße Felle. Der ganze lichte Wohnraum war durchaus in diesen Farben gehalten. Das Märchenreich einer verwöhnten Märchenprinzeß.

So sagten die Freundinnen. Marlise empfand es unbewußt wohlig. Sie wäre mit einer einfacheren Umgebung, wie die der anderen, auch zufrieden gewesen.

»Ich sehe eben daraus, wie lieb der Onkel mich hat, und das freut mich, seht ihr,« sagte sie auf derartige Bemerkungen der Freundinnen.

Sie hatte sich das rotgeweinte Gesicht gekühlt. Der selbstverschuldete Verlust der Tauben war ihr doch sehr nahe gegangen.

Nun stand sie und starrte in die Sonnenpracht draußen.

Die Tür ging auf.

»Was wirst du nun tun, Marie-Luise?« Die Mutter fragte es.

»Tauben mag ich keine mehr, Mammi. Die armen Tiere sind meinethalben gestorben.«

Da waren die Tränen schon wieder.

»Ich rede nicht von Tauben, Marie-Luise. Ich denke, du ziehst dir allein deine Lehre daraus. Ich meine, womit du dich jetzt beschäftigen willst.«

Marlise sah zweifelhaft drein.

Wäre es ihrer frohen Natur gegeben gewesen, etwas zu hassen, das Wort »beschäftigen« hätte obenan gestanden.

»Beschäftigen?« sagte sie, und etwas wie Abscheu kam dabei zum Ausdruck.

»Ja. Erwachsene Menschen pflegen sich gewöhnlich mit etwas zu beschäftigen.«

»Könnte ich nicht Rad–«

Mutters Miene schnitt den Satz ab.

»Oder les–«

Dasselbe.

»Oder spazieren gehen? Rollo sollte Bewegung haben, Mammi.«

»Ich denke, du übst Klavier.«

Dies statt aller Antwort.

Seufzend wandte sich Marlise einem der hohen Fenster zu, wo ein reizendes, weißgoldenes Pianino stand.

»Die Sonne scheint so schön, Mammi.«

»Wundervoll. Nimm die Beethoven-Sonate, Marie-Luise. Daran gibt's noch viel zu üben.«

Und Marlise übte – seufzte – und übte.

Da war eine Passage. Mit hartnäckiger Ausdauer griff der vierte Finger immer wieder f statt fis. Es war rein zum Verzweifeln.

Marlise tippte ihn mit Gewalt auf fis, einmal, zweimal, zehnmal – er wollte nicht begreifen.

Marlise trat ins Pedal.

Fis!

Marlise gab den Noten einen Knuff.

Fis!

Marlise rückte auf dem Drehstuhl hin und her, daß der quietschte.

Nochmals die Passage.

Nochmals das gräßliche Fis.

War dieser vierte Finger denn rein verhext?

Marlise griff wahllos in die Tasten. Die Töne gellten, schrillten und stöhnten.

Dissonanz um Dissonanz. Marlise konnte sich nicht genug tun.

»So widerwärtig hartnäckige Dinger, 's ist das reine Unrecht, sich so zu quälen bei dem Wetter. Da sitz' ein anderer still. Ich muß mich erst mal ausrennen!«

Wie hingeweht stand sie auf dem Rasenplatz draußen.

An der Mutter, die auf der Veranda saß, war es wie eine Vision vorübergeglitten. Sie kam erst zum Bewußtsein, daß dieses weiße Schemen wirklich Marlise gewesen sei, als Rollo kläffend hinterherstob.

Zum Überfluß erhob sie sich und trat vor Marlisens Zimmer, dessen Tür ebenfalls nach der Veranda ging.

Leer!

Dort stand das eben noch so anklagend gellende Instrument jäh verstummt.

Hatte Frau Helene zuvor bei den sonderbar geräuschvollen Kunstproduktionen der Tochter seufzend den Kopf geschüttelt, so seufzte sie jetzt erst recht.

Von der Ausreißerin und ihrem treuen Begleiter war nicht mehr die Spur zu entdecken.

»Dies Kind, nein, dies Kind!«

Wirklicher Schmerz lag in der Stimme.

Müde, wie gebrochen saß Frau Helene in ihrem Sessel.

Da stob es unten aus der Tiefe des Parks auch schon wieder mit Jauchzen und Bellen hervor.

Ehe Frau Helene wußte, wie ihr geschah, fühlte sie sich ziemlich gewaltsam umschlungen.

»Sollst sehen, Mammi, nun geht's wunderbar!«

Und gleich danach setzte drin im Zimmer die Passage ein. Tadellos, perlend, ohne jegliches Stocken an der zweifelhaften Stelle. Einmal, dreimal – unermüdlich.

»Juhu! Da hätten wir's!« jauchzte eine klingende Stimme.

Und über Frau Helenens Sorgengesicht zog ein leises Lächeln.

Ohne Unterbrechung kamen nun die Töne. Man hörte, der Spielerin war es jetzt ernst geworden mit ihrem Tun.

Von bedeutender Begabung zeugte das Spiel keineswegs, wohl aber von ganz nettem Können.

Marlisens Talente lagen in anderer Richtung. Sie leistete recht Anerkennenswertes mit Stift und Pinsel.

Drinnen war eine zweite Beethoven-Sonate der ersten gefolgt. Salonstücke aller Art kamen an die Reihe.

Eben verklang ein Chopinsches Notturno.

Ein Seufzer kam hinterher, so eindringlich, so tief, als hätten die Töne entsetzlich Leidvolles in den tiefsten Seelentiefen der Spielerin aufgewühlt.

Da mußte die lauschende Mutter draußen hell auflachen.

»Laß, Tochter, genug sein des grausamen Spiels!« rief sie frei nach Schiller.

Da hing es auch schon an ihrem Halse.

»Taucher, Mammi, und habe Dank, endlich! Ich dachte schon, du ließest mich bis zum Abend zappeln. Uff, mir ist heiß! Was nun?« Marlise schien plötzlich ganz Tatendrang.

Die Mutter lächelte. Das Eisen schmieden, solange es heiß ist, dachte sie.

»Malen!« sagte sie leichthin.

Sichtliche Enttäuschung zeigte sich in dem hellen, jungen Gesicht.

Da lächelte die Mutter erst recht, aber heimlich. Sie kannte ihr Kind. Marlise hatte darauf spekuliert, sich eben durch ihren sichtlichen Eifer von allen weiteren Verpflichtungen zu lösen. Sie hatte auf die leicht gerührte, schwache Mutter gerechnet.

Diesmal hatte sie sich verrechnet.

Aber sie zeigte es nicht weiter.

»Na, denn los!«

Damit verschwand sie in ihrem Zimmer.

Die Mutter hörte sie die Staffelei zurechtschieben und dann war lautlose Stille.

Frau Helene wurde abgerufen.

Die Sonne stieg. Sie band sich in diesen Tagen nicht an den Kalender. Sie meinte es schon recht sommerlich gut.

Mittagschwüle begann über dem Waldhaus zu lasten.

»Irrwisch! Irrwisch!« tönte da des Onkels Stimme plötzlich durchs Haus.

Er hatte dabei die Hand auch schon auf der Türklinke und stand in seinem Zimmer.

Erstaunt blieb er auf der Schwelle stehen. Was ging hier vor?

Inmitten des Zimmers stand Marlise und starrte ihn an, wie das Kaninchen etwa die Boa konstriktor. Der Pinsel, den sie offenbar gehalten hatte, war ihrer Hand entglitten.

Als er sie so versteinert und verdutzt dastehen sah, mußte er lachen.

Wie Marlise den Onkel lachen hörte, flog sie ihm an den Hals.

»Onkelchen, was tust du denn hier? Es sollte doch eine Überraschung sein!«

Ihr Blick wandte sich einem Apollo zu, der dort in einer Ecke auf seinem Postament stand. Ein kühn geschwungener Schnurrbart zierte sein edelschönes Gesicht.

»Daß dich –«

Verdutzt trat der Onkel näher.

Marlise kicherte.

»Stattlich, was?«

»Und meine Psyche auch! Na, hör mal, Irrwisch –«

Kläglich stand der Onkel vor einer anmutig schlanken Psyche, die mit dem Apollo in Betreff des Schnurrbarts dasselbe Schicksal teilte.

Marlise kicherte noch mehr.

»Die, ja die, Onkelchen, die mußte zur Gesellschaft 'ran.«

Diesmal gab sich der Onkel nicht so leicht.

»Wenn du mir die Statuen verdorben hast, Irrwisch, wenn du's nicht wegkriegst, dann –«

Marlise wartete das drohende »dann« gar nicht ab.

Sie drehte sich mit dem Onkel im Kreise, daß ihm von dem schnellen Wirbel Hören und Sehen verging.

»Nichts leichter als das, Onkelchen, ich hole meinen Terpentin und –«

Sie war schon an der Tür.

Da kam ihr ein Gedanke.

»Aber hör mal, Onkel, wo kommst du eigentlich her? Du solltest doch erst zum Abend da sein und ich sollte dich im Auto holen. Wie –«

»Ja, sieh mal, Irrwisch, das ist mir doch leid geworden. Mir – mir war doch bange. Ich – die Sache ist gefährlich.«

Er sah sie ganz ängstlich an.

Ein Wölkchen zog über ihr helles Gesicht, aber gleich strahlte es wieder.

»O du hasenherziges Onkelchen! Na, dann ein andermal.«

Er atmete förmlich auf. Es war ihm doch bange gewesen, wie sie die Sache aufnehmen werde. Er war ihr ordentlich dankbar und vergaß darüber fast die Schnurrbartgeschichte.

Erst ein Blick in die Runde brachte ihn wieder drauf.

»Und nun fix, Irrwisch, den Terpentin. Wenn Mutter –«

Zu spät die Mahnung.

Unter der Tür stand Frau Helene.

Bei halber Wendung hatte Marlise sie entdeckt.

Wie der Wind wollte sie an ihr vorüber. Da fiel ihr der Pinsel ein, der dort am Boden lag und zum Verräter werden konnte.

»Du hier, Fritz?« sagte Frau Helene unterdessen. »Ich dachte, du wolltest erst zum Abend kommen.«

»Ja, sieh mal, Helene, der Irrwisch, das Auto –«

Er war sonderbar erregt und unsicher. Dazu machte er Marlise allerlei unverständliche Zeichen.

Und Marlise? Was hatte das Kind?

Es raffte eben was vom Teppich auf und schob sich so sonderbar verstohlen der Tür zu.

»Marie-Luise!«

»Mammi?«

»Marie-Luise, sieh mich an! Was hast du nun wieder für Tollheiten vor? Was hast du in Onkels Zimmer zu tun? Ich denke, du malst?«

»Tat ich auch, Mammi.«

Etwas wie unterdrücktes Kichern.

Der Onkel machte sich am Apollo und der Psyche zu schaffen, die plötzlich, wer weiß wie, dem Beschauer den Rücken kehrten.

Marlise war es inzwischen gelungen, an der Mutter vorbei zu kommen. Eben wollte sie zur Tür huschen, da packte die Mutter rasch zu und hielt sie am Arm.

»Was gibt's? Marie-Luise, irgend etwas hast du wieder angestellt!«

»Wo werd' ich, Mammi,« sagte die Marlis etwas verlegen lachend, und wie die Mutter den Griff lockerte, war sie verschwunden.

Der Onkel lachte ein kräftiges Echo hinterher. Er wollte so allem Kommenden die Spitze abbrechen.

Frau Helene war in einen Polstersessel gesunken.

Da fiel ihr Auge auf den Apollo und die Psyche von hinten. Ahnungsvoll erhob sie sich und wendete beide, ehe der Bruder es hindern konnte.

Dann jammerte sie.

»Tollheiten und kein Ende! Und du lachst immer nur, Fritz. Was soll das werden?«

»Ach was, Helene, mach keinen Elefanten aus solcher Mücke.«

»Dir ist's eben bequemer, alles leicht zu nehmen, Fritz. Wo soll da der Ernst bei dem Kind herkommen?«

»Der kommt von selbst! Viel Liebe hat keinem geschadet. Das ist meine Idee von Erziehung. Der Ernst, Helene, der kommt dann von selbst.«

»Eben drum. Und ich sage dir, Fritz, ich bestehe darauf, im Herbst muß Marie-Luise in einen Malkurs. Zu Hause gewöhne ich sie nicht an Pflichten. So muß sie die auswärts kennen lernen. Das ist meine Pflicht als Mutter, und davon bringt mich diesmal nichts ab, nichts. Ich –«

»Meinethalben, sag' ich was dagegen? So ein Getue von dir!« – Der Zorn machte ihn unwirsch.

Da steckte Marlise ihr schalkhaftes Gesicht zur Tür herein.

Sie zwinkerte nach den Statuen hin.

Richtig, die Schandtat war entdeckt.

Da legte sie die Arme von hinten um der Mutter Hals.

»Nicht böse sein, Mammi. Sollst mal sehen, wie bald ich die Herrschaften rein gemacht habe. Schau mich mal an.«

Dem warmen Schelmenfunkeln in ihres Kindes Augen konnte die Mutter doch nicht widerstehen. Sie zog mit beiden Händen das junge frohe Gesicht zu sich nieder.

»Wirst du nie ernst werden, Marie-Luise.«

»Doch, Mammi, wenn ich mal alt und grau bin. Noch weißer als jetzt.«

Lachend schwenkte sie ihr Zopfende.

Plötzlich hielt sie die Mutter fest umschlungen und sah ihr tief in die Augen.

»Den Mut nicht verlieren, Mammi. Ich bin ja dein Kind!«

In den braunen Augen schimmerte etwas feucht.

Der Onkel räusperte sich nachdrücklich.

Hastig, fast wie verstohlen, zog Frau Helene ihr Kind an sich, um es gleich danach fortzuschieben.

»Wie die Mamsell duftet! Die wandelnde Terpentinflasche! Und nun flink den Schandfleck getilgt bei den Herrschaften.«

Fünf Minuten danach war alles wieder in schönster Ordnung und Harmonie. – – – –

»Du könntest für mich ins Dorf gehen, Marie-Luise. Der Onkel hat mir Geld für die alte Frau Müller gegeben. Ihr Mann trinkt, weißt du. Sie stecken gräßlich in Not. Lieschen Meyer soll wieder viel schlimmer sein. Dort bringst du Wein und Eier hin. Dem kleinen Gretchen hab' ich ein neues Kleid versprochen! Ich ginge mit, aber mein Kopf schmerzt so sehr, und ich denke, ich kann mich auf dich verlassen.«

»Allemal, Mammi. Hierher, Rollo. Gsch, gsch!«

Marlise setzte hinter Rollo her.

»Marie-Luise!«

Es klang streng.

Wie angewurzelt stand die Angerufene.

»Mammi?«

»Hast du gehört, was ich sagte?«

»Natürlich. Der alte Müller kriegt Geld. Die kranke Liese ein Kleid und das Gretchen Wein und Eier. Und – Rollo, Rollo, willst du wohl hören!«

»Ich werde also selbst gehen.«

»Aber, Mammi! Ich bin doch kein Kind. Sollst mal sehen, ich besorge alles herrlich.«

»Und hast gar nicht gehört, was ich sagte.«

»Doch, bloß en bissel kauderwelsch, scheint mir. Der Rollo –«

Frau Helene machte eine ungeduldige Bewegung.

Marlise gab dem vierbeinigen Freund, der sich täppisch, zutunlich an sie drängte, einen Stoß. Dann schlang sie die Arme um die Mutter.

»Und nun sag mir nochmal alles, Mammi. Sollst sehen, ich besorg's wundervoll.«

Geduldig wiederholte Frau Helene ihre Weisungen.

Eine Stunde danach war Marlise auf ihrer barmherzigen Samariterfahrt.

Hoch zu Rad sauste sie hin, Rollo immer hinterher. Eine Tasche war aufgeschnallt, die die Vorräte barg.

Gleich beim ersten Häuschen hielt sie an.

Da wohnte Frau Müller mit ihrem Mann.

Himmel, was hatte doch Mammi für die bestimmt?

Das Geld, richtig.

Marlise wollte eben abspringen, da sauste Rollo plötzlich wie toll geworden hinter einer Katze her. Wenn er die packte – adieu, Kätzchen!

Dann gab's wieder Unannehmlichkeiten. Marlise mußte schnell zum Rechten sehen.

Sie fuhr langsam, sie griff in die Tasche, sie winkte den dienernden, grinsenden Mann heran, der vor der Tür des kleinen Hauses saß.

Weshalb sollte er seiner Frau nicht bestellen können, was Marlise ihm auftrug?

»He, Müller, da! Das schickt Onkel Ihrer Frau. Daß Sie's ihr aber schön abliefern, hören Sie. Ich muß mal flink dem Rollo nach. Der ist auf der Katzenjagd und stellt mir sonst Unsinn an. Adieu, Müller, und, Müller, grüßen Sie Ihre Frau. Ich komme vielleicht nachher noch einmal.«

Fort war sie.

Sie sah nicht, daß der Mann hinter ihr her grinste, daß er wankte, und daß er eilig das Erhaltene in der Tasche barg.

Statt zur kranken Frau begab er sich schleunig ins Wirtshaus. Dort war das Geld besser angebracht, dachte er.

Marlise aber sauste hinter Rollo her.

Sie kam eben zur rechten Zeit.

Rollo stand mit den Vorderpfoten an einem halbhohen Torpfosten. Drauf saß die verfolgte Katze.

Rollo bellte aufgeregt. Sie zischte und spie. Im nächsten Augenblick mußte die Katastrophe erfolgen.

Faßte Rollo die Katze, so biß er ihr das Genick durch. Weit wahrscheinlicher aber war, daß die Katze ihm mit den Krallen einen Hieb in die Augen versetzte.

Nur also schleunigst Hilfe!

Im Umsehen war Marlise vom Rad. Was lag daran, daß dieses umfiel? Sie wollte es schon wieder aufheben. Sie hielt Rollo am Schwanz gepackt und zerrte ihn rückwärts. Die Katze huschte am Pfosten nieder und verschwand hinter dem Scheunentor.

Noch ein gewaltiges Aufbäumen Rollos, ein fester Griff seiner Herrin, und Ruhe kehrte ein nach dem Sturm.

Rollo duckte sich, kroch heran und wedelte demütig.

»Schäm dich, Rollo, wirst du denn nie ernst und gesetzt werden?«

Rollo hing tief beschämt Ohren und Schwanz.

Da lachte Marlise hell auf.

War's nicht genau so, wie wenn Mammi ihr den Text las?

»Laß gut sein, Rollo, die Ausgelassenheit hast du wohl von mir. Wir müssen uns beide bessern, ja, Rollo?«

Rollo bellte einmal kurz auf. Er war vollständig derselben Meinung.

Ein stattlicher Haufe Publikum, Dorfkinder aller Größen, hatte sich um die beiden gesammelt.

Sie hatten das Rad aufgehoben und machten sich dran zu schaffen.

»Ich glab als, des is kabut,« sagte ein größerer Junge, »do bammelt was ganz kurios dran erum.«

»Un guck emol do, was aus der Dasch' erausdreppelt!«

»Des is Eierbrih. Do kenne mer en Pannekuche backe.«

»Un jetz kimmt's ganz rot.«

»Des is Wein, wirklich. Weis emol her, Settche. Hm, der riecht!«

»Un schmeckt!«

»Herschte uf zu lecke.« – »Alleh, loß mich emol her!« – »Ich bin der erscht!« – »Ne ich, ne ich!« – »Ich hab's dererscht gesehe!« so tönte es in lautem Durcheinander von der aufgeregten Schar, und im Umsehen war die schönste Balgerei im Gang.

Sie drängten sich ums Rad, rissen sich förmlich drum.

Da fuhr Marlise dazwischen.

»Wollt ihr wohl! Her mein Rad!«

Die Kinder drängten zurück und machten Marlise Platz.

Nun stand sie vor der Bescherung und war sprachlos ob des Anblicks, der sich ihr bot.

Da lag das Rad, die Lenkstange geknickt und nach einer Seite aufwärts gebogen.

Aus der Tasche quoll und sickerte es gelb und rot hervor. Eine breite Pfütze hatte sich bereits gebildet.

»Die Eier! Der Wein!«

Marlise kippte die Stimme fast um vor Entsetzen.

Sie riß in fliegender Hast die Tasche auf.

Nun quoll es ungehindert hervor.

Zu dem gelb und roten Naß noch Eierschalen und Glasscherben.

Und dazwischen!

Mit spitzen Fingern hob Marlise etwas hoch, das wie ein vollständig durchtränkter Lumpen aussah. Kläglich besah sie es.

»O weh, das neue Kleid. Gretchens Kleid!«

Mitleidig umdrängten sie die Mädchen, grinsend, belustigt, fast schadenfroh die Jungen.

Da wurde plötzlich ein kleines Stimmchen laut.

»Mei Kleidche? Des, wo mer Ihne Ihre Mamma versproche hot? Hu, hu, hu, hu, des sieht sche aus. Mei Kleidche, mei nei Kleidche!«

Jammergeschrei!

Marlise stand ganz verdutzt.

»Sei still, Gretchen, du bekommst ein neues.«

Einen Augenblick nur stockte das Jammern. Dann fiel Gretchens Blick auf das von Wein und Ei getränkte Jammerbild in Marlisens Hand und mit erneuter Kraft setzte das Klagen ein

»Mei Kleidche! Mei schen nei Kleidche!«

Was war dem gegenüber zu tun?

Achselzuckend wandte sich Marlise dem nächsten Häuschen zu, wo Lieschen Meyer, die kränkliche kleine Schneiderin, wohnte.

Da sah man ihr blasses, geduldiges Gesicht hinter den Scheiben. Und jetzt pochte sie mit dem Finger an diese und winkte Marlise.

Die lehnte ihr Rad gegen die Mauer und verschwand hinter der Tür, immer Gretchens verdorbenes Gewand in Händen.

»Lieschen, ach du lieber Himmel, ich wollte Ihnen Eier und Wein bringen. Draußen liegt die ganze Bescherung. Es tut mir zu leid, ich –«

Lieschen lächelte.

»Fräuleinchen müssen sich drum gar keine Sorge machen. Eier hab' ich noch und Wein auch vom letzten Mal. Die gnädige Frau sorgt so für mich. Aber was haben wir denn da?«

»Mei nei Kleidche!«

Gretchen hatte den Kopf zur Tür hereingestreckt und wollte eben aufs neue losjammern.

Da hob Lieschen den Finger.

»Wann du nit still bist, krichste nie nix mehr!«

Das wirkte. Lieschen wußte den Ton zu treffen.

Gretchen schluckte noch ein paarmal und war dann ganz still.

Aufmerksam lauschte sie den Verhandlungen. Das Kleidchen sollte in den Waschzuber gesteckt werden, und Lieschen versprach, es zu plätten.

»Awer awer nei is es dann nit mehr,« warf Gretchen weinerlich ein.

Dem war nichts zu entgegnen. Marlise versprach ein funkelnagelneues außerdem.

Da war Gretchen getröstet.

Marlise unterhielt sich noch ein bißchen mit Lieschen und nahm dann Abschied.

»Ich muß heim, Lieschen. Mir ist nicht wohl, ehe ich meine Schelte habe. Gerade wie der Rollo! Der hängt auch Kopf und Schwanz, bis er seine Prügel hat, und freut sich danach unbändig. Puh, 's wird heiß hergehen, Lieschen. Mammi macht dann immer so traurige Augen, und die kann ich nicht sehen. Adieu, Lieschen, bald komm' ich wieder!«

Lieschen nickte lächelnd.

»Ist mir allemal eine Freude, Fräuleinchen. Wenn ich Ihr frohes Gesicht sehe, vergesse ich alles Elend.«

Marlise strich über die Hand, die sie gefaßt hielt.

»Es kommen auch wieder bessere Tage, Lieschen!«

»Wie Gott will, Fräuleinchen.«

Still ging Marlise hinaus.

Im goldenen Sonnenschein draußen aber vergaß sich der Schatten gar zu schnell, der sie eben gestreift hatte. Sie schob das traurig aussehende Rad vor sich her, die Dorfgasse entlang.

Dort kam schon das letzte Häuschen in Sicht. Ob sie nicht doch noch bei Frau Müller einkehrte? Die lag auf ihrem Bett, hustete und war sehr elend.

Bild: Richard Gutschmidt

Marlise schob das Rad vor sich her, die Dorfgasse entlang.

»Tag, Müllern. Hat Ihnen Ihr Mann das Geld gebracht?«

»Geld?«

»Ja, was ich ihm vorhin gegeben habe. Onkel hat es für Sie bestimmt.«

»Ach, du meine Güte.

Des schene Geld. Wo wird mer der Geld gewe, wo er emal in de Finger hot. Der sitzt alleweil schon im Wirtshaus un vertrinkt's!«

Das Weib greinte immerzu vor sich hin.

Marlise stand schreckensstarr.

Neues Pech! War denn alles verhext heute?

Sie griff in die Tasche. Sie hatte ihren Geldbeutel vergessen und konnte dem armen Weib nicht einmal Ersatz geben.

Mit trüben Augen hatte die Frau ihr Tun verfolgt und sagte darauf: »Ums Geld is mer's ja nit, gewiß nit, wann's unsereins auch brauche kennt. Awer der Mann. Der geht noch ganz zu schanne mit dem Drinke!«

So jammerte die Frau, daß es einen erbarmen konnte.

Marlise huschte nach kurzen Worten schuldbewußt davon.

Auch das noch! dachte sie.

Sie hing den Kopf, schob das flügellahme Rad vor sich her, und Rollo trottete ebenfalls mit hängendem Schwanz hinterdrein.

Es war eine traurige Heimkehr nach solch fröhlichem Auszug.

Kopfhängerei aber dauerte nie lange bei Marlise.

Konnte man die Lerche da oben so schmettern und trillern lassen, ohne den Kopf zu heben?

Unmöglich.

Marlisens Köpfchen hob sich.

Und als sich die lachende Sonne erst in den Braunaugen fing, da mußten die mitlachen. Und dann lachte und strahlte das ganze junge Gesicht.

Marlise erhob den Kopf, alle Muskeln federten in der elastischen Gestalt. Die Füße tänzelten, alles an ihr war wieder Leben und Bewegung.

»Das alberne Rad, Rollo. Wie herrlich könnten wir jetzt dahinfliegen, wenn das nicht wäre. Sieh doch nur dort am Bach die Blumen, Rollo! Und hör mal den Finken!«

Rollo hob den Kopf, wedelte mit dem Schwanz und ließ den Kopf dann wieder hängen. Es war, als ob er die Achseln gezuckt habe: ja, was hilft's!

Marlise aber seufzte.

Das »alberne Rad« erhielt einen kleinen ärgerlichen Knuff.

»Gewe Se mir das Rad, Freileinche. Ich schieb's Ihne heim. Wo wohne Se dann?«

Marlise wandte überrascht den Kopf.

Ein nicht sehr Vertrauen erweckender Mensch in der Kleidung eines wandernden Handwerksburschen stand hinter ihr und grinste sie an.

Marlise wies nach dem Waldhaus, dessen grüngoldenes Turmdach in der Entfernung zwischen den Bäumen aufleuchtete.

»Dort wohne ich. Es wäre sehr nett von Ihnen, lieber Mann, wenn Sie mein Rad mitnehmen könnten. Warten Sie, ich –« Sie suchte nach etwas in der Tasche.

»Ja so, ich habe ja meinen Beutel vergessen. Nun, der Friedrich gibt Ihnen was. Sagen Sie, ich wär' noch ein bißchen in den Wald gegangen. Juhu, Rollo, allons fang!«

Sie flog dahin.

Rollo stand offenbar mit geteilten Gefühlen zwischen dem Mann, der eilig und grinsend das Rad vor sich her schob, und der Herrin, die davonsauste.

Dann entschied er sich für diese und setzte in weiten plumpen Sprüngen hinter ihr drein.

Im Wald war's köstlich. Was es da alles zu sehen und zu bejubeln gab.

Die goldenen Sonnenlichter in dem frühlingsfrischen Laub. Moostuffs am Boden, bunte Käfer drin. Blumen daneben. Hier ein Erdbeerstöckchen, das schon Früchte ansetzte. Da huschte ein Eidechschen. Dort gaukelte ein Falter. Vöglein in den Baumkronen. Am Stamm der Buche ein Eichkätzchen. Hier eine Spinne, die ihr Netz wob. Dort im Sonnenstrahl tanzende Fliegen.

Mit glänzenden Augen bestaunte Marlise all die Wunder der Natur. Dann flog sie mit ausgebreiteten Armen den grünbewachsenen, grünüberwölbten Waldweg hin.

Sie wollte aufjauchzen, aber da ward ihr ganz feierlich zu Sinn wie in einer Kirche.

Und dann warf sie sich ins schwellende Moos, faltete die Hände unter dem Kopf, starrte hinauf in die grüne Laubpracht und zwischendurch ins weite Himmelsblau.

Jetzt puffte Rollo sie auffordernd mit der Nase.

Da war die Andacht gestört.

Marlise sprang auf.

»O, wie sind wir faul! Blumen pflücken, Rollo!«

Und nun belud sie sich mit jungfrischem Buchengrün, mit Anemonen und Schlüsselblumen.

Wie die Waldfee war sie anzusehen, als sie danach auf Feldwegen dem Waldhaus zueilte.

»Köstlich war's, Rollo, was?«

Sie eilte dahin, Rollo hinterher.

Als Waldfee stürmte sie auf die Veranda zur Mutter.

»Herrlich war's, Mammi, herrlich!«

»Und was haben meine Armen gesagt?«

Da fielen alle ihre Sünden mit Zentnerlast über Marlise her.

Aller Sonnenschein war erloschen im grauen Elend der Wirklichkeit. –

»Fritz,« sagte Frau Helene am Abend zum Bruder, mit dem sie noch zusammensaß – Marlise hatte sich, müde von dem ereignisreichen Tag, frühe zurückgezogen – »Fritz, stimmst du mir nun angesichts alles dessen bei, daß es endlich Zeit wäre, dem Kinde etwas Ernst beizubringen? Nach alle den Torheiten am Morgen diese Expedition zu meinen Armen! Und nicht genug damit, gibt Marie-Luise auch noch dem ersten wildfremden Menschen ihr Rad mit, der es natürlich nicht abliefert. Was sagst du nun, Fritz?«

Erwartungsvoll sah Frau Helene auf den Bruder.

Der räusperte sich und – schmunzelte. Ja, wahrhaftig, er schmunzelte.

»Ein pechöser Tag! Armer Irrwisch!«

»Weiter hast du nichts zu sagen?«

»Das Kind war so geknickt, Helene.«

Frau Helene zuckte ungeduldig die Achseln.

Im selben Augenblick traf ein silberheller Ton ihr Ohr.

»O wie wunderschön ist die Frühlingszeit!« sang eine jubelnde Mädchenstimme.

Marlise mußte oben am Fenster ihres Schlafzimmers stehen.

Sie ließ die Stimme über die Baumkronen des nächtlich-dunklen Parks hinklingen und hatte offenbar ihre Freude an den tönenden Echos, die sie weckte.

Von allen Ecken und Enden, über alle Baumkronen hin schien es wiederzutönen: »O wie wunderschön ist die Frühlingszeit!«

Immer wieder und wieder mischten sich Stimme und Echo, beide schienen sich zu überbieten.

Frau Helene hob den Kopf.

»Dies als Antwort für dich, Fritz! Wahrlich, das Kind ist sehr geknickt.«

Er hörte gar nicht, was die Schwester sagte.

Er lauschte nur dem Klingen in den Lüften.

»O wie wunderschön ist die Frühlingszeit!« flüsterte er wie traumverloren vor sich hin.

Dann sah er die Schwester an.

»Mir scheint es eher eine Antwort für dich, Helene. Sollten wir dem Kind diese wunderschöne Frühlingszeit trüben?«

Sie sagte nichts mehr. Aber sie nahm sich fest vor, ihren Plan mit dem Malkurs für Marlise im Herbst auszuführen.

Das Kind mußte Tätigkeit, Pflichten, den Ernst kennen lernen. Und dann – keiner trug schwer an dem, was er lernte, mit Ernst lernte. Wer konnte wissen, zu was das Malen, wozu Marlise so schönes Talent hatte, ihr noch einmal nutzen würde.


Frau Helene hatte in der Stadt zu tun. Toilettesorgen.

Marlise hatte sich von der Begleitung losgebeten und sich für den Tag Resi zur Gesellschaft eingeladen.

Die Mutter hatte dies mit Freuden gebilligt. Resi war vernünftig. Bei ihr war Marlise gut aufgehoben.

Resi war jauchzend empfangen worden. Der Tag hätte doppelt so lang sein können, wenn alles ausgeführt werden sollte, was Marlise plante.

Resi hatte erst jedes Eckchen im Park bewundern müssen. Im Haus gab's allerlei Neues zu zeigen.

Dann saßen die beiden lachend und scherzend auf der Veranda bis zum Mittagessen.

Marlise hatte lauter Leckerbissen bestellt, die sonderbarste Speisenfolge. Fleischspeisen kaum, dafür Süßigkeiten aller Art.

Friedrich trug schmunzelnd Creme, Kompott, Pudding und Torte in bunter Reihe auf.

Resi fand an der Sache nichts auszusetzen und sprach wacker zu.

»Du, dein Onkel muß aber gern Süßes essen,« sagte sie bloß einmal und versah sich zum zweiten Male reichlich mit Creme. »Väterchen macht sich leider nicht viel draus.«

»Der Onkel?« Marlise prustete los. »Der, i wo! Aber ich!«

»Hast du das alles bestellt?«

Marlise nickte bloß mit sehr gefülltem Munde.

»Aber darfst du denn das?«

Resi ließ vor Schreck einen Löffel mit Creme fallen.

»Iß du nur ruhig zu, herzliebes Gewissen. Mammi hat alles genehmigt.«

Das ließ sich Resi nicht nochmals sagen.

Am Nachmittag gab's dann einen Waldgang.

Dabei war Resi doch eine mitfühlendere Begleiterin als Rollo. Marlise empfand's wonnig.

»Du verstehst doch noch mehr als der Rollo, Resi!« Marlise sagte es anerkennend.

»Danke!« erwiderte Resi trocken.

Marlise sah auf.

»Brauchst gar nicht beleidigt zu sein. Der Rollo hat übermenschlichen Verstand. Bloß von meinem Wald versteht er nicht viel. Sieh doch das Moos da, Resi.«

Sie streckten sich ins Moos, die beiden jungen Menschenkinder, sie bewarfen sich mit Laub und rauften ein wenig. Und dann starrten sie ins Himmelsblau über den Baumkronen und stellten tiefsinnige Betrachtungen an über die Weite und Unendlichkeit der Schöpfung.

Die Zeit verflog.

Räderrollen in der Ferne.

»Horch!« Marlise hob den Finger. »Da geht der Wagen hin, der Mammi und Onkel holt. Nun mußt du bleiben bis zum letzten Zug. Ätsch!«

Resi war furchtbar erschrocken.

»Ich muß heim, Marlis, ich hab's fest versprochen, zum Abendbrot da zu sein. Mutti will danach mit Väterchen ausgehen! Daß der Friedrich mich auch nicht rief!«

»Du, ich bin schuld dran. Ich verbot es ihm. Ich wollte dich halten. Was liegt dran. Wir telegraphieren, Resi!«

»Kann ich nicht. Ich habe mein Wort gegeben. Lieber lauf' ich zu Fuß. Heim muß ich! Marlis, bitte, bitte, halt mich nicht auf. Ich käme nie wieder!«

Marlise war ganz verdutzt über diesen Ausbruch.

»Ja, aber was tun? Ein Zug geht nicht. Ich – willst du reiten? Beauty ist lammfromm. Ich nehme mein Rad und – ja so, das ist ja futsch.«

»Ich kann doch gar nicht reiten,« schob Resi kläglich dazwischen.

Sie war dem Weinen nahe.

»Du mußt eben bleiben, Resi!«

Übermütig drehte Marlise die Freundin im Kreise.

Da brach Resi in bittere Tränen aus.

»Ich kann nicht, ich muß heim!«

»Albernes Getue,« wollte eben Marlise loszanken, da besann sie sich darauf, daß Resi ihr Gast sei. Außerdem konnte sie niemand weinen sehen.

»Na, wenn es denn sein muß, dann gehst du eben,« meinte sie. »Da muß halt das Auto ran. Onkelchen und Mammi müssen das einsehen.« Die letzte Bemerkung war nur gemurmelt.

Resi horchte auf, atmete auf.

»Ach, bitte, Marlis, liebste Marlis, bitte!« –

Sie standen vor dem Auto, das Friedrich auf Marlisens Geheiß hervorgezogen und zur Fahrt bereit gemacht hatte.

Er hatte eine zweifelhafte Miene gezeigt.

»Werden der Herr Kommerzienrat nicht schel–«

Da hatte Marlise mit dem Fuß aufgestampft: »Ich will es!«

Und Friedrich war still gewesen.

Resi, in ihrer Hast fortzukommen, hatte die kleine Szene nicht weiter beachtet.

Und nun sausten sie dahin in dem niedlichen, weißlackierten Gefährt. Lustig flatterten die Zacken an dem blauweißen Sonnendach zu Häupten.

Es war eine lustige Fahrt.

Wie die Windsbraut flogen sie dahin. Vorüber an Feldern, Wiesen, Bäumen.

Stolz lenkte Marlise, siegessicher blitzten die Augen.

Was nur der Onkel gedacht hatte, ihr das selbständige Fahren nicht erlauben zu wollen.

Wo sollte da Gefahr herkommen?

Vor ihr die breite, schnurgerade Chaussee. Nichts drauf, so weit man sehen konnte. Darüber flog sich's nur so hin.

Und in der Stadt?

Je nun, einmal wohnte Resi weit draußen, ganz zu Anfang. Und dann fuhr man eben einfach langsamer. Das sollte ja doch seltsam zugehen, wenn sie, Marlise, das nicht fertig brachte. Sie –

»Ein Wagen, paß auf, Marlis!«

Resi rief's.

Marlise schreckte aus ihrem Sinnen auf.

Richtig, dort hinten an der Biegung wurde etwas sichtbar.

»Sitz du nur ruhig. Pah, Kleinigkeit!« machte Marlise wegwerfend.

Aber der Wagen brauste heran.

Ganz wohl war's Marlise bei der Sache nicht.

Wie wich man doch aus? Rechts? Links?

Sie probierte beides. Infolgedessen fuhren sie Zickzack.

Resi schrie auf.

»Marlis, paß auf!«

»Sei nicht albern!«

Marlise war noch immer großartig.

Sie fuhr wieder gradaus.

Man mußte doch erst sehen, wie der Wagen auswich.

Der Wagen kam näher.

»O weh, unserer!«

Marlise rief's.

Auch im Wagen hatte man sie erkannt.

Mittlerweile war man schon sehr nahe.

Der Kutscher riß die Pferde zurück, daß sie sich bäumten.

Der Onkel stand aufrecht im Wagen.

»Irrwisch!« hatte der gerufen.

»Marie-Luise!« die Mutter zu gleicher Zeit.

Und das klang so entsetzt, daß Marlise den Kopf verlor.

»Rechts ausweichen!« schrie der Onkel.

Der Kutscher riß die Pferde nach rechts.

Die gehorchten und warfen sich zur Seite, daß der Wagen einen Ruck bekam, der den Onkel umwarf.

Aber der Ruck war die Rettung.

Haarscharf an den Rädern her sauste das Auto vorüber.

Vorüber?

Nein, das Hinterrad fing sich doch noch, es erhielt einen Stoß.

Zur Seite flog das Auto, gegen den Kilometerstein.

Dort kam's zum Stillstand, neigte sich, fiel, und die beiden Insassen schossen kopfüber ins Kleefeld.

Marlis rappelte sich alsbald wieder auf.

»O weh, Marlis, hast du denn noch alle Knochen beisammen?«

Komisch entsetzt tastete sie an sich herum.

»Alles in Ordnung! Heil und ganz,« wollte sie eben nach dem Wagen hin berichten, da fiel ihr Blick auf Resi.

Die lag noch da, machte auch nicht Anstalt, sich zu erheben.

»Hast dir doch nicht weh getan, Resi?«

Marlise kniete neben ihr, Entsetzen im Gesicht.

»Mein Arm! Ich glaube, mein Arm ist verletzt.«

Resi war ganz blaß. Da stand auch der Onkel schon neben beiden.

»Onkelchen – Resi –«

Die hellen Tränen kugelten über Marlisens Gesicht. Sie war jetzt blasser als Resi.

»Marie-Luise!« rief's wiederholt vom Wagen her.

Marlise stand neben der Mutter.

»Mammi, o Mammi, Resi hat sich am Arm weh getan. Ich bin schuld daran, ich.« Sie schluchzte herzbrechend.

»So schlimm ist's ja gar nicht,« klang's vom Kleefeld her. »Sieh doch nur, Marlis, ich stehe ja schon und –«

Da war Resi sehr blaß geworden, hatte gewankt, war zurückgesunken und wäre gefallen, wenn der Onkel und die Mutter, die rasch herzueilte, sie nicht gehalten hätten.

»Sie stirbt,« jammerte Marlise, »sie stirbt!«

»Sei nicht albern, Irrwisch. Halt lieber die Pferde, daß Johann mir helfen kann, Resi in den Wagen zu heben. Sie ist ohnmächtig, und muß rasch Hilfe haben. Ich denke, wir bringen sie sofort zur Stadt. Da ist ein Arzt am schnellsten zu erreichen. Flugs, Johann, angepackt! so. Jetzt die Pferde angespornt und zugefahren, was sie laufen können. Helene, du gehst mit dem Kind heim, und ihr schickt Leute, die das Auto holen. Platz da, Irrwisch, fort! Das war mir eine Probefahrt! Bist hoffentlich jetzt kuriert. Dank dem Himmel, daß es so abgelaufen ist. Ihr hättet beide tot sein können!«

Er schüttelte sich bei dem Gedanken. Dann schob er die schluchzende Nichte vom Wagentritt, wo sie stand und die ohnmächtige Freundin liebkoste. Der Wagenschlag flog zu. Die Pferde zogen an. Fort donnerte der Wagen.

Marlise trat zur Mutter. Die war noch sehr blaß von dem Erlebten.

»Mammi,« sagte Marlise demütig, »Mammi, schilt mich, strafe mich. Ich bin so todunglücklich.«

»Du hast deine Strafe, Kind. Wenn andere durch unsere Schuld für unseren Leichtsinn und Ungehorsam büßen, gibt's eine schwerere Strafe? Dank du dem Himmel, daß er die Freundin vor Schlimmerem behütete. Deine Lehre wirst du dir ja wohl draus ziehen. Laß uns gehen, Marie-Luise. Ich fühle mich sehr ruhebedürftig.«

Schlimme Tage folgten für Resi. Fast schlimmere für Marlise, die im Bewußtsein ihrer Schuld alle Schmerzen, die die Freundin erduldete, doppelt mitfühlte. Sie tat das Undenklichste, Resi die Pein zu erleichtern. Der Arm war glücklicherweise nur verrenkt, nicht gebrochen. Nach vierzehn Tagen konnte ihn Resi schon wieder einigermaßen gebrauchen. Marlise atmete auf. Ihr ganzes Tun war ein stetes Abbitten an alle, die ihr nahestanden.

Weder die Ihren noch Resis Angehörige hatten das, was sie in der Freundin Leidenszeit empfand, durch Mahnungen und Hinweise verschärft. Marlise war ohnedies gar so geknickt.

Übereinstimmend ließen sie die Lehre allein wirken, und Marlise schien sie sich zu Herzen zu nehmen. Sie war wunderbar ernst und gesetzt in diesen Tagen.

Der Onkel begann schon um seinen Irrwisch zu bangen.

Da, mit der Besserung, kam auch Marlise wieder ins alte Geleise von außen und von innen.

Zu allen Ecken und Enden schaute der alte Schalk vor.

Frau Helene seufzte und schüttelte den Kopf. Der Onkel aber schmunzelte und rieb sich die Hände. Er hätte seinen Irrwisch nicht missen mögen, nicht für die tugendhafteste und gesetzteste Dame der Welt. Er war also sehr, sehr zufrieden, der Onkel.

.


 << zurück weiter >>