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Ein Schritt vom Freuen zum Weinen

Herr Fritz Erich Albers hatte soeben höchst eigenhändig die letzte Kerze an der Fichtenpyramide entzündet.

Einen Augenblick schaute er in den Strahlenschein. Wie oft war der nun schon zur selben Zeit an derselben Stelle hier erglommen?

Zuerst hatten kleine Jungenaugen mit den Kerzen um die Wette geleuchtet. Dann hatten schwärmerische Jünglingsblicke, ernste Männeraugen draufgeschaut. Und nun – Herr Fritz Erich Albers besann sich. Mechanisch griff seine Hand nach einer großen silbernen Glocke, die seit Generationen dem jeweiligen Nachwuchs des Hauses Fritz Erich Albers »Christkindleins« Nahen verkündet hatte.

Ihr Ton beschwor desgleichen eine Fülle von Bildern in der Seele des Mannes herauf. Aber dann – ja dann war Fritz Erich Albers wieder in der Gegenwart, in der Wirklichkeit.

Die hohe schwere Tür fuhr krachend zurück und herein flog und wirbelte es wie eine Riesenschneeflocke auf ihn zu.

»Onkelchen, Onkelchen! Gesegnete, schöne, frohe Weihnacht!«

Und es umfing ihn nicht kühl wie eine Schneeflocke, sondern linde und warm wie Frühlingswehen. Weiche Arme legten sich um seinen Hals, ein rosiges Gesicht schmiegte sich gegen das seine.

Eben wollte er zufassen: »Glückliche Weihnacht, mein Irrwisch!«

Da war der Irrwisch schon unter der hohen Fichte, drehte sich in deren Strahlenschein und schlug in die Hände wie ein fröhliches Kind.

»Weihnacht! Weihnacht! Die hundertste nun, seit ich denken kann. Und immer wird's schöner und immer wird's herrlicher auf der Welt. Mammi, Mammi, kann denn das Leben noch schöner werden?«

Frau Helene schaute in ihres Kindes Strahlenaugen, schaute in den Weihnachts- und Jugendstrahlenglanz darinnen. »Der Herr erhalte uns, was wir haben, Kind,« sagte sie leise. »Noch schöner? Sollten wir unbescheiden sein? Fritz, Fritz, wie soll ich dir danken, daß du meines Kindes Jugend so erhellst?«

Bild: Richard Gutschmidt

Onkelchen! Onkelchen! Gesegnete, schöne, frohe Weihnacht!

Sie reichte dem Bruder beide Hände zu. Der zögerte einen Augenblick, sie zu fassen. Er war leicht erblaßt und in seinen Augen lag etwas Unbestimmbares, etwas wie Schreck, wie Grauen.

Aber ehe Frau Helene es bemerken konnte, hielt er ihre beiden Hände und zog die Schwester fast ungestüm an sich.

»Danken, Helene? Sprich nie von Dank. Wer weiß –«

Er verstummte jäh.

Da jubelte eine helle lachende Stimme: »Und das soll wieder alles ich haben? Ja, Onkelchen, du mußt deinem Irrwisch unbedingt eine eigene Behausung bauen, wenn du ihn so überschütten und verwöhnen willst.«

»Werd' ich wohl müssen,« schmunzelte der Onkel, »aber noch lange nicht, Irrwisch, merk' dir's, noch lange nicht.«

Fragende Kinderaugen sahen ihn groß an. Und dann zog eine lichte Röte über das junge Gesicht.

»So meinst du's, Onkelchen? Ja, wer denkt denn nur an so etwas? Ich nicht, ich sicher nicht.«

»Umso besser!«

Herr Fritz Erich Albers brummte es nur so vor sich hin.

»Aber nun sag mal, Irrwisch, ob der alte Onkel als Christkindlein zu brauchen ist?«

Marlise stand vor ihrem Gabentisch. Was frohe junge Augen erfreuen, was einen verwöhnten Geschmack befriedigen konnte, lag dort geschichtet.

Frau Helene war mindestens die Hälfte der Gaben noch fremd. Sie bemühte sich stets, des Bruders Großmut Einhalt zu tun.

»Fritz, Fritz,« mahnte sie auch heute, »wie kannst du das Kind so verwöhnen!«

»Laß mir die Freude, Helene, solange ich sie haben kann.«

Wieder klang etwas sonderbar in der Stimme an.

Aber wieder, ehe Frau Helene sich besinnen konnte, sagte der Bruder mit seiner alten frohen Heiterkeit: »Die Hauptsache hat der Irrwisch natürlich übersehen. Schau doch mal dort den Zettel an.«

Marlise griff danach, las, wurde feuerrot, drehte sich erst um die eigene Achse und danach samt dem Onkel im Wirbeltanz.

Dann ließ sie den Onkel fahren und stürzte auf die Mutter los.

»Mammi, Mammi! Aber so sieh doch, aber so lies doch. Solch ein Onkelchen, nein, solch ein Onkel!«

Frau Helene las und sah den Bruder an.

»Auch das noch, Fritz, Ich fürchte –«

»Laß, Helene, laß mich gewähren, bitte. Das Kind braucht einen Ersatz für das viele Stillehalten im Malkurs. Darum soll sie den Ball haben.«

»Im Malkurs? Wo denkst du hin? Seit Wochen war sie nicht dort. Und ihr hattet mir beide so fest gelobt –«

Frau Helene brach ab. Der Kampf war hoffnungslos.

Marlise hatte schon die Arme um ihren Hals geschlungen.

»Laß, Mammi. Sollst sehen, nach Weihnachten bin ich furchtbar fleißig. Wenn nur erst der Ball – Onkelchen, wann halten wir ihn? Und ein Kostümball wird's, nicht? Und Resi darf kommen? Und –«

»Marie-Luise,« mahnte die Mutter.

»Weiter gar nichts, Mammi,« sagte Marlise.

»Wirklich?« fragte Frau Helene trocken.

Die Marlis lachte hell auf.

»Wirklich, Mammi! Aber Onkelchen gibt's ja so gerne und – und – ich freue mich so riesig. Die Idee ist einfach himmlisch. Ein Kostümball! Der Zettel ist Gold wert, Onkelchen.«

»Das fürchte ich, Irrwisch.«

Marlise sah ihn ungewiß an.

»Reut es dich, ja? Ich – ich will gerne verzichten. Ich – gewiß, ich bin auch so vergnügt, Onkelchen.«

Der Kampf in dem lebensprühenden Gesichtchen, das nicht sofort den Ausdruck des Verzichts finden konnte, war fast komisch anzusehen.

Herr Fritz Erich Albers legte den Arm um die Nichte.

»Laß gut sein, Irrwisch. Das Haus Fritz Erich Albers ist seinen Verpflichtungen bis jetzt noch immer nachgekommen und wird es, so Gott will, auch ferner so halten. Ich –«

Er brach jäh ab.

Eben kam die Dienerschaft, von Frau Helene verständigt, herein und die Gabenausteilung an diese machte jede weitere Unterhaltung unmöglich.

Gleich nach Weihnachten hatte der tollste Gesellschaftstrubel eingesetzt. Marlise steckte mitten drin. Nichts schien ohne sie vorgenommen werden zu können. Sie war allüberall der begehrteste Gast.

Wie viel davon dem Onkel und seiner Stellung, wie viel Marlisens eigener Persönlichkeit zuzuschreiben war, das untersuchte sie nicht, das machte ihr kein Herzweh und kein Kopfzerbrechen. Sie schwamm einfach in Wonne. Daß das Leben so schön sein könne, hatte sie nie geahnt und sie hatte doch vorher auch nicht über Trübsal klagen können.

In diesem Strudel und Wirbel war natürlich an ernste Arbeit, an einen Besuch der Malstunden nicht zu denken.

Das sah auch Frau Helene ein. Sie hatte den Professor schriftlich verständigt und um eine Unterbrechung des Unterrichts für ihre Tochter gebeten.

Im Februar nach der Faschingszeit, wenn die Hochflut der Geselligkeit dann ebbte, sollte Marlise wieder mit Ernst an die Arbeit gehen. Das hatte die Marlis, das hatte der Onkel feierlich gelobt.

»Und wahrhaftig, ich freu' mich drauf, Mammi,« so hatte die Marlis gesagt. »Nur jetzt laß mich erst noch ein bißchen in Freiheit mein Leben genießen.«

Was der Schelm für eine Miene dazu machte. Die Mutter mußte lachen und dann seufzte sie.

»Was hast du eigentlich bis jetzt anderes getan, als das Leben genossen, Marie-Luise?«

Die legte den Finger an die Lippen und sann nach. Dann blitzte sie Frau Helene aus den Schelmenaugen an.

»Es dir schwer gemacht, Mammi, fürcht' ich!«

In den Schelmenaugen glänzte was Feuchtes, das gleich danach an Frau Helenens Wange hing, gegen die ein blühendes Gesicht sich anschmiegte.

Fest preßte die Mutter ihre Wange an die ihres Kindes. Sie flüsterte etwas, das nicht zu verstehen war. Aber es klang so weich, die Marlis nahm's unbedingt für eine Liebkosung.

»Mammi,« jauchzte sie, »Mammi, wenn erst Resi da war und der Ball vorbei ist, dann – ja, dann sollst du sehen, wie die Marlis an die Arbeit geht.«

»Du solltest einmal nach Verena sehen, Marie-Luise. Ich finde es nicht richtig, daß du deine Gefährtinnen aus der Malstunde jetzt ganz vernachlässigst. Du hast lange nichts von dort gehört?«

Marlise sann nach.

»Als ich zuletzt dort war, war Verena unwohl. Ich wollte anderen Tags zu ihr, aber du weißt selbst, Mammi, wie wenig Zeit mir bleibt.«

»Ob sie wieder wohl ist?«

Die Marlis war plötzlich ganz kleinlaut.

»Helene Ehlert sah ich neulich auf der Straße. Sie winkte mir bloß von weitem zu und bog um eine Ecke, grade als wolle sie mir ausweichen. Mit Gustel Fehlheim sprach ich. Richtig ja, und die sagte, Verena sei lange nicht im Atelier gewesen. Gleich geh' ich hin, Mammi, gleich. Daß ich das auch so aufschieben konnte! Ich hole nur Mantel und Hut. Ja so, aber der Kaffee bei Gerta Dillen! Ich kann dort nicht fehlen, Mammi, Gerta nähme es riesig übel. Halb vier schon! Bis ich mich angezogen habe, bleibt keine Minute Zeit. Aber morgen mit dem frühesten gehe ich sicherlich, Mammi, kannst dich drauf verlassen.«

Der Mutter noch eine Kußhand zuwerfend, trällernd, tänzelte sie davon.

Frau Helene seufzte nur und sah ihrem Kinde nach.

Das Morgen, das Marlise zu Verena führen sollte, kam anderen Tags nicht. Auch den Tag drauf nicht und danach nicht und dann noch lange nicht. Immer gab es etwas, das hinderte, etwas Wichtiges, etwas Unaufschiebbares.

Und dann kam der Tag, der Resi bringen sollte, der Tag vor dem Ball. – –

Auf dem Bahnsteig der langen Halle trippelte Marlise ungeduldig hin und her. Sie reckte den Kopf, die ganze Gestalt, um besser nach der Richtung ausschauen zu können, woher der Zug kam.

Nichts, noch immer nichts.

Mit knapper Schwenkung wandte sich Marlise. Die Röcke wippten, alle die Ringellöckchen desgleichen. Und Marlise tänzelte nach der anderen Seite.

Irgend ein Ton, irgend eine Gedankenverbindung mußte ein komisches Bild irgend welcher Art in Marlise heraufbeschworen haben. Sie schmunzelte erst vor sich hin und dann lachte sie laut hinaus. Hell, klingend, unbekümmert um ihre Umgebung. Sie warf den Muff ein kleines Endchen in die Luft und fing ihn wieder auf. Und jetzt, ja wirklich, da sprach sie laut vor sich hin: »Da war's, auf diesem Fleck! Und urkomisch sah er aus. Ha, ha, ha!«

Wieder flog der Muff in die Luft und jetzt drehte sich Marlise auf dem Absatz um die eigene Achse, ehe sie ihn fing.

Das heißt, bloß die halbe Schwenkung glückte. Mitten drin legte sich ihr eine Hand mit festem Griff auf die Schulter.

»Irrwisch, bist du denn ganz toll?«

Sie tat gar nicht überrascht; fing erst den Muff mit hochgerecktem Arm und kühnem Griff.

»Nein, Onkelchen, aber urkomisch war's wirklich. Wie er so dastand mit dem Schreikind und das quietschte und – Wo ist er eigentlich hingeraten?«

»Phantasierst du, Irrwisch? Von wem redest du, bitte?«

Beinahe und ums Haar hätte Herr Fritz Erich Albers jetzt die Nichte mißbilligend angeschaut, wenn er das überhaupt fertig gebracht hätte. Es hatten sich auch schon Zuschauer um die kleine Gruppe gesammelt.

Die Marlis kümmerte das nicht. Aus hellen Augen lachte sie den Onkel an.

»Doch von dem Doktor natürlich, Onkelchen. Wie hieß er doch gleich? Doktor Max Ebert!«

Der Schelm klappte die Hacken zusammen und neigte sich nach Herrenart. Dabei drückte sie ihre Stimme auf den Baßton herab, und wenig fehlte, sie hätte den kleinen Filz vom Kopf gerissen. Man sah, sie ahmte etwas nach, das ihr im Gedächtnis eben aufstieg.

Wie unterdrücktes Lachen kam's von den Umstehenden.

Da zog der Onkel mit festem Griff des Irrwischs Arm durch den seinen.

»Siehst du denn nicht, daß du auffällst? Eine junge Dame darf das nie, Kind. Versprich mir, Irrwisch –«

Die Stimme, die zuerst recht verweisend geklungen hatte, war zuletzt wieder ganz zärtlich geworden.

Was aber der Irrwisch Herrn Fritz Erich Albers versprechen sollte, blieb ungesagt, denn – dort flog der Irrwisch hin.

Halte einer irgend ein junges Menschenkind, geschweige denn einen Irrwisch fest, wenn eben der Zug in die Halle dampft, der die beste Freundin bringt, die man monatelang nicht gesehen hat.

Am hintersten Ende der langen schwarzen Schlange bog sich ein Köpfchen zu einem offenen Fenster heraus, flatterte ein kleines weißes Tuch.

An dem ganzen langen Zuge hin hastete, wirbelte, flog ein Menschenkind, das gleichfalls ein Tüchlein wehen ließ.

Herr Fritz Erich Albers eilte hinter der Nichte drein, bis er vor den zwei lachenden und weinenden jungen Menschenkindern stand, die sich da umhalst hielten und sich drehten und wieder so stürmisch umfaßten, als wollten sie sich überhaupt nie wieder los lassen.

»Resi!«

»Marlis!«

»Bist du's wahrhaftig, Resi?«

»Wahr und wahrhaftig, Marlis!«

»Marlis!«

»Resi!«

Das war für eine Weile der ganze Redeaustausch der beiden. Aber er sagte mehr, als es die längsten, wohlgesetztesten Reden hätten tun können.

Der Onkel stand daneben und schmunzelte.

Seinethalben konnte das noch lange so weitergehen. Die zwei waren so niedlich, sie waren so jung in ihrer Freude.

Resi kam zuerst zu sich.

»Ach, da steht ja auch dein Onkel, Marlis. Wie freundlich, Herr Kommerzienrat. Verzeihen Sie nur, daß ich Sie jetzt erst sehe, aber die Marlis – Marlis, meine Marlis!«

Wieder hing Resi der Marlis am Halse. Herr Fritz Erich Albers mußte viel Geduld haben. Aber er hatte sie, hatte sie gerne.

Endlich waren die zwei vorläufig fertig mit Begrüßen und Küssen und Lachen und Weinen.

»Und nun los, Onkelchen, heim!«

»Zu Befehl, Irrwisch! Franz, hierher!«

Der Diener belud sich mit Resis Sachen. Wenig war's nicht. Sehr junge Damen führen mit Vorliebe sehr viel Gepäck bei sich. Das sieht so wichtig, so erwachsen aus.

Auch Resi machte hiervon keine Ausnahme.

Und nun ging's dem Ausgang zu. Dort wartete der Wagen. Ungeduldig scharrten die Pferde.

Eiligst stieg man ein. Der Schlag flog zu und nun ging's durch die altbekannten Straßen. Resi konnte sich nicht satt sehen.

»Alles noch ganz wie's war. Und ich bin doch schon über vier Monate fort. Vier volle Monate! Denke doch, Marlis!«

»Ja, eine Ewigkeit, Resi,« nickte die.

Herr Fritz Erich Albers lachte fast wehmütig vor sich hin.

»Wer auch noch in den Jahren wäre, wo eine Ewigkeit nach Monaten ausgerechnet wird!«

Der Wagen hielt vor dem alten Bankhause. Wie stets zeigten sich schmunzelnde, freundlich wohlwollende oder erwartungsvolle Gesichter an den Fenstern der unteren Geschäftsräume, je nach Alter und Art des dazu gehörigen Besitzers. Ob das Personal auch wechselte – und es wechselte nur selten bei der Firma Fritz Erich Albers – das Interesse für die junge Herrin des Hauses blieb dasselbe bei alt und jung.

Wie immer grüßte Marlise freundlich verbindlich nach den Fenstern hin. Aber dann warf sie jubelnd eine Kußhand nach oben.

Dort war hinter einem der Fenster ein blasses Frauengesicht erschienen – Frau Helene.

Lächelnd winkte sie Resi zu.

»Mammi, Mammi,« jubelte Marlise, »da ist sie! Da ist sie!«

Und sie faßte Resi und zog sie hinter sich zur Freitreppe, zur alten schweren Haustür. Sie stürmten so ungestüm die Treppen hinauf, die beiden, daß die, welche die Zeiten im Hause erlebt hatten, unwillkürlich derb trabender Backfischstiefelchen und fliegender Zöpfe gedenken mußten und vor sich hin schmunzelten wie damals.

Droben hielt Frau Helene Resi umfaßt.

»Herzlichst willkommen, Kind. Und nun laß mich dein liebes Gesicht einmal genau besehen. Ganz die Alte, Resi?«

Warum in das junge Gesicht so lichte Glut stieg? Frau Helene wunderte sich, aber sie sann darüber nicht weiter nach, als sich Resi nun an sie schmiegte.

»Ganz die Alte in Liebe und Treue, wirklich, wirklich. Und die Eltern grüßen und die Kinder alle. Und – ja – einen Gruß habe ich auch noch zu bestellen von – von Herrn Assessor Linden. Unserem Kutschenmann damals, weißt du noch, Marlis?«

Die sah die Freundin ganz verwundert an.

»Ist dir so heiß, Resi? Du glühst ja nur so. Von dem? Ach ja, ich erinnere mich. Aber erzähle vom Rese-Mütterchen, vom Papa Präsidenten, von Else und Gustel und von meinen Märchenkindern, bitte, bitte!«

»Die sind zur Zeit märchenhaft ungezogen,« sagte Resi.

Und dann erzählte sie, daß alle allmählich die neue Heimat lieb gewönnen, ohne die alte zu vergessen.

Man saß gemütlich beim Tee und plauderte.

Resi ließ sich nun berichten. Sie fragte nach allem und jedem. Man sah, sie bewahrte das Alte in einem treuen, guten Herzen.

»Und dein Malkurs, Marlis?« fragte sie zuletzt.

Über Frau Helenens Gesicht glitt es wie ein trüber Schatten, in dem Marlisens dagegen flammte jähe Glut auf.

»Der schläft einstweilen,« sagte sie mit flehendem Schelmenblick nach der Mutter hin.

Die seufzte bloß und schwieg. Resi fragte nicht weiter. Sie merkte, es war ein Thema, das besser unberührt blieb.

Als die beiden dann allein in Marlisens Zimmer waren, erklärte die: »Weißt du, Resi, ich bin ja selbst gräßlich ärgerlich über mich, daß ich das Malen und alles, was damit zusammenhängt, so vernachlässigt habe. Acht Wochen sind's nun fast, daß ich nicht mehr dort war und auch nichts oder so gut wie nichts von dort gehört habe. Verena gegenüber habe ich ein böses Gewissen. Onkel wollte ihre Skizzen sehen. Sie – sie braucht vielleicht Hilfe, ist in Not – krank – ich darf gar nicht dran denken, Resi. Seit Tagen schon drückt's mich, vorher war es mir im Trubel kaum in den Sinn gekommen. Und grade jetzt kann ich nicht weg. Es gab so tausenderlei, und nun der Ball morgen. Resi, der wird einfach himmlisch, sage ich dir. Zeig mir doch deinen Anzug, willst du? Denk dir, daß ich gar nicht weiß,, was ich anziehe.«

Resi riß die Augen vor Verwunderung weit auf.

»Unsinn, Marlis. Du wüßtest das in der Tat nicht?«

»Faktum, Resi!«

»Wieso?«

»Onkel will mich überraschen.«

»Na, dann kannst du ja beruhigt sein.«

»Bin ich auch.«

Die Marlis war schon wieder mitten in dem drin, was eben ihren ganzen Sinn beschäftigte. Vergessen war Verena und die Sorge um sie, vergessen, daß es neben Lust und Sonnenschein auch Elend, Not und Schatten auf der Welt geben könnte – gibt.

Sie standen vor Resis Anzug, den die ausgepackt und auf dem Bett ausgebreitet hatte.

Es war die Tracht einer Tirolerin. Sicher würde sie der zierlichen, bräunlichen Resi gut stehen.

Marlise stülpte ihr den spitzen Filzhut über.

»Ein echtes Defregger-Bildchen, Resi. Blitzsauber! Dreh dich, Dirndl, dreh dich!«

Sie wirbelten im Zimmer herum, bis Resi Hören und Sehen verging und sie um Gnade bat.

Lachend gab ihr die Marlis einen kleinen Puff und wirbelte allein weiter.

Atemlos lag Resi auf einem Sessel und sah dem tollen Kreisen zu.

»Wie du das nur aushältst, Marlis,« sagte sie, ehrlich erstaunt.

»Wofür wäre einer ein Irrwisch,« sagte lachend die dagegen.

Da pochte es an die Tür.

Franz schob schmunzelnd sein Gesicht herein.

»Der Herr Kommerzienrat lassen die jungen Damen auf sein Zimmer bitten. Es gebe dort was zu sehen.«

Ehe er sich zurückziehen konnte, hatte die Marlis ihn schon am Rockknopf gefaßt.

»Was ist's, Franz? Verraten Sie uns nur ein ganz klein bißchen was. Franz – Fränzchen!«

Der Alte schmunzelte stärker. Den Schmeichelton kannte er noch von den Schultagen der kleinen Herrin her. Und der Franz hatte dem Ton schon damals nicht widerstehen können, als noch der dicke Weißzopf dem Schulmädel über den Rücken hing.

»Nun, Franz – Fränzchen!«

»Fräuleinchen werden ja sehen.«

»Ich platze aber vor Neugierde, Franz.«

Der Alte zwinkerte mit den Augen, verdrehte die, legte die Hand aufs Herz und hob dann beide Hände als Schalltrichter zum Mund.

»Nix!« flüsterte er.

Die Marlis schmollte.

»Nichts, Franz! Wir sollen wohl angeführt werden, was?«

Der Alte trat ganz bestürzt und beleidigt zurück.

»Beileib, wo werden wir, Fräuleinchen. Ich und mein Herr Kommerzienrat, wir –«

Aber die Marlis hörte nicht mehr. Sie flog schon die Treppe hinunter.

»Rasch, Resi. Laß uns sehen, was an der Sache ist. Wenn wirklich ein Ulk dahinter steckt – Onkelchen!!!«

Marlise hatte die Tür zu des Onkels Zimmer aufgerissen und was sie da sah, entlockte ihr den Ausruf, in dem sich Staunen, Freude, Bewunderung, fast Bestürzung einten.

Der elektrische Kronleuchter in des Onkels Zimmer flammte strahlend. Drunter stand etwas, das jedes jungen Mädchens Herz entzücken mußte.

Wie eine Feengestalt schien es, jedenfalls ein Feengewand. – Über einen Ständer geworfen, der die menschliche Gestalt nachahmte, umbauschte zartweißes, duftiges Gewoge ein Gewand von schimmernder, lichtgrüner Seide. Das Ganze war von einem Gewinde von Algen und Seerosen überrankt. Wassertropfen schienen drüber hinzurieseln, aufzuleuchten – zum größten Teil echte Steine.

Daneben lag der Kopfputz offenbar. Ein Kranz von Seerosen, von dem langes Schilf und Algen niederhingen. Auch hier funkelten und blitzten kostbare Tautropfen.

Marlise hielt den Atem an. Ungewiß starrte sie auf die zartduftige Pracht und dann auf den Onkel. Ein helles Freudenrot war ihr in die Wangen gestiegen.

»Für mich?« flüsterte sie mit großen, weit aufgerissenen Augen. Der Onkel nickte.

»Für meinen Irrwisch als solchen wollte mir keiner der Herren Künstler ein Kostüm zu Dank entwerfen. Da haben sie mir zur Wassernixe geraten als von verwandtem Stamm.«

»Aha, daher die ›Nix‹ vom Franz, Resi. Ha, ha, ha! Aber Onkelchen, Onkelchen, ist denn das nicht viel zu schön für mich dummes Ding?«

Sie schaute wirklich mit ganz ängstlichen Augen nach der Pracht hin.

»Was wäre zu schön für meinen Irrwisch,« wollte Herr Fritz Erich Albers eben zärtlich sagen, da klang hinter seinem Rücken ein fast vorwurfsvolles: »Aber Fritz!«

Frau Helene war unbemerkt eingetreten und sah erstaunt, beinahe mißbilligend auf das duftig poetische Gebilde dort im Schein der elektrischen Flammen.

»Wie darfst du das Kind so verwöhnen, Fritz! Ich erlaube nicht, daß sie das trägt. Sie soll sich vor den anderen nicht auszeichnen.«

»Helene!«

»Mammi!«

Fast gleichzeitig kam's. Herausfordernd, drohend von der einen, flehend von der anderen Seite.

»Nein, Fritz, ich erlaube das nicht. Die echten Steine! Bedenke doch, Fritz, das junge Kind. Es paßt sich nicht, Fritz, glaube mir. Und – ich erlaube es nicht – wirklich nicht.«

Frau Helenes Ton war so bestimmt diesmal. An einen Widerspruch war gar nicht zu denken. Das sah auch Herr Fritz Erich Albers ein.

Er schwieg einen Augenblick, überlegte.

»Und wenn ich die Steine fortnehmen lasse?«

Frau Helene zögerte.

»Dann vielleicht, Fritz, obgleich – der Anzug ist immer noch viel zu kostbar.«

»Helene!«

»Mammi!«

»Ja, ich kann euch nicht helfen, so empfinde ich's eben. Ich erkenne wahrhaftig deine Güte und Liebe an, Fritz. Ich sehe auch, wie wundervoll das Ganze ist, aber –«

»Mammi, Mammi!«

»Nun ja, laß die Steine fortnehmen, Fritz, laß sie durch anspruchslose Flitter ersetzen.«

»Schade, Mammi. Doch schließlich, was liegt daran. Herzensonkelchen, sei nicht böse. Ich bin sicher ohne die Steine ebenso vergnügt. Und das Wassernixchen wird ebenso niedlich aussehen, glaubst du nicht?«

Herr Fritz Erich Albers zürnte sehr. Seine Stirn war in drohende Falten gelegt. Dem Schelmenblick, der Marlisens Frage begleitete, ihrem zärtlich liebkosenden Anschmiegen konnte er nicht widerstehen.

»Niedlich? Sicher, Irrwisch, aber – na, mag es sein. Vielleicht hat die Mutter recht. Die Steine werden abgenommen, über sie sind dennoch dein. Heb sie dir auf. Wer weiß –«

Die Marlis ahnte gar nicht, ein wie großes Geschenk das bedeutete. Unbekümmert, heiter nickte sie dem Onkel zu.

»Dank, Onkelchen, schön Dank! Wenn ich einmal eine ganz würdige Matrone bin, dann erlaubt vielleicht Mammi – was gibt's, Mammi?«

Frau Helene war zu dem Bruder herangetreten.

»Du überschüttest das Kind mit Güte, Fritz. Mir wird fast angst dabei. Kann das dauern? Wird nicht das Leben dafür Marie-Luise in die Schule nehmen? Denn der Ernst bleibt keinem erspart, Fritz, keinem.«

Er stand einen Augenblick mit gesenktem Kopf, wortlos, ganz gegen seine Gewohnheit.

Dann hob er den Blick fast unsicher zu der Schwester.

»Laß gut sein, Helene. Noch bin ich da. Noch kann ich mich zwischen das Kind und das Schicksal stellen. Noch –«

Er brach jäh ab oder vielmehr die Marlis fuhr mit ihrer klingenden frohen Stimme dazwischen.

»Sind die niedlichen, blitzenden Dingerchen denn wirklich so viel wert, Mammi? Ihr könnt sie gern fortnehmen. Wißt ihr, wenn der Tau draußen in unserem Waldhaus auf den Rosen liegt und im Grase blitzt, das gefällt mir denn doch noch besser. Was, Resi?« Sie umfaßte die Freundin und versuchte, sich mit ihr im Wirbel zu drehen.

Resi hatte bis jetzt stumm, mit großen Augen auf die Pracht gestarrt. Etwas wie ein Seufzer kam von ihren Lippen. Der hieß: Wer doch auch in solche Märchenpracht hineinschlüpfen dürfte!

Aber dann tauchte der Mutter liebes und des Vaters gutes Gesicht vor ihr auf.

Beide hatten ihr Töchterchen sehr niedlich gefunden, als sie vor ein paar Tagen ihren Tiroler Anzug probte, um zu sehen, ob alles in Richtigkeit sei. Auch die Geschwister hatten sich anerkennend geäußert – sehr anerkennend sogar in Anbetracht der Umstände, denn Geschwister sind nicht immer höflich. Und noch jemand, der gerade zu Besuch kam, hatte der Anzug gefallen. Das war deutlich zu sehen gewesen. Zwei dunkle Augen hatten unverkennbar aufgeleuchtet und eine tiefe Stimme hatte gesagt: »Gnädiges Fräulein hätten nicht besser wählen können.«

»Meinen Sie, Herr Assessor?« hatte sie, Resi, drauf sehr erfreut, aber ein bissel verlegen gefragt.

Und Herr Assessor Linden hatte seinen Ausspruch nochmals kräftigst beteuert.

Daran dachte jetzt Resi und hatte sich flink darüber getröstet, daß ihr Anzug weit weniger kostbar und märchenhaft duftig poetisch war.

Und die Erinnerung weckte zugleich einen neuen Gedanken.

»Du solltest Anprobe halten, Marlis, wer weiß, ob alles auch richtig paßt. Und morgen –«

»Resi hat recht, Marie-Luise. Geh, zieh dich an. Morgen wäre es vielleicht zu spät, wenn noch etwas zu ändern sein sollte. Schicke Rosa hierher. Sie mag den Anzug holen und dir helfen.«

»Und ihr bleibt hier als kritisches Publikum, bis ich als Nixe wieder erscheine. Herrlich!«

Die Marlis wirbelte erst noch einmal durchs Zimmer, flog dem Onkel, der Mutter stürmisch um den Hals, zauste Resi und stob zur Tür hinaus.

Die drei Zurückbleibenden saßen, nachdem Rosa das Gewand geholt hatte, stumm beisammen. Jeder hing den eigenen Gedanken nach.

Nur einmal fragte Frau Helene leise: »Zürnst du, Fritz?«

»Wie sollte ich?« kam es ebenso leise zurück. »Vielleicht hast du recht, Helene, vielleicht –«

Dann tiefe Stille im Zimmer. Tiefes Sinnen, so tief, daß keiner die Trippelfüße hörte, die die Treppe draußen herunterhasteten. Keiner hörte auch, daß die Tür sich öffnete, daß leichte Schritte über den Teppich glitten.

Sie fuhren aus ihrem Sinnen erst auf, als eine helle Stimme lachte und rief: »Ihr schlaft wohl? Wie gefalle ich euch eigentlich?«

Da fuhren sie auf und starrten die Gestalt an, die dort unter den elektrischen Flammen stand, an derselben Stelle, die zuvor der leblose Ständer mit dem Nixengewand eingenommen hatte.

Wie eine Erscheinung aus der Märchen- und Fabelwelt war es da aufgetaucht.

Silbern schimmernde, gelöste Haarwellen überfluteten das duftige, grünschillernde Gewand. Über dem hob sich das süßeste Nixengesicht mit dunklen Rätselaugen. Wie träumend nickten und wippten die Wasserrosen in den weichen Haarwellen über dem jungen Scheitel, und Schilf und Algen schmiegten sich der zarten Märchengestalt an, als sei die draus emporgewachsen. Wie ein verkörperter Traum, wie ein lebendig gewordenes Märchen stand sie da – die Marlis.

Sie starrten sie an und fanden kein Wort.

Aber die Marlis schmollte: »Gefall' ich euch denn kein bißchen? Und ich kam mir doch so niedlich vor. Die Rosa meinte: Akkerat wie 'ne Nixke, gnädiges Fräulein. Und nun sagt ihr kein Wort. Onkelchen?«

Sie wandte sich dem Onkel zu, schmollend, flehend, schelmisch.

Der war noch ganz benommen: »Irrwisch,« sagte er bloß, »Irrwisch,« und sah sie immerzu an.

Die Marlis konnte aus seinem Blick herauslesen, was sie wollte. Sie war denn auch ganz zufrieden.

»Mammi!« Sie hielt die Mutter umfaßt.

»Zerdrück dir das Kleid nicht, Marie-Luise, denk dran. Das muß morgen noch frisch sein. Es ist einfach wundervoll und – ja, du siehst ganz niedlich drin aus.«

Resi war nun zu sich gekommen.

»Wundervoll,« jubelte sie, »Marlis, einfach wundervoll! Dreh dich doch mal.«

Und die Marlis faßte ihr Nixengewand mit spitzen Fingern, drehte sich sachte erst, neigte sich, wiegte sich, bog sich und beugte sich – der reine Nixentanz.

Zwischen hinein gellte plötzlich der Ton der elektrischen Glocke durchs Haus.

Weshalb er Marlise so eigen durchfuhr?

Sie war stehen geblieben, preßte die Hände aufs Herz und machte ganz große erschreckte Augen.

Man hörte Stimmen draußen. Die von Franz und eine andere, die sehr erregt klang.

»Was ist das,« lispelte die Marlis und die Augen wurden noch größer.

»Nervös, Irrwisch?« fragte lachend der Onkel. »Kenn' ich ja gar nicht an dir. Wollen wir gleich haben.«

Er öffnete die Tür.

»Franz!«

»Herr Kommerzienrat?«

»Wer ist da?«

Ehe Franz antworten konnte, eilte eine Gestalt von der Haustür her auf Herrn Fritz Erich Albers zu und eine Stimme, die fast heiser vor Erregung war, sagte: »Ich bin es, Herr Kommerzienrat, verzeihen Sie. Verena –«

»Helene, Helene Ehlert,« schrie es da innen im Zimmer auf. »Was ist's mit Verena?«

Und Marlise stand vor Helene Ehlert, zitternd, bebend und starrte ihr mit großen, entsetzten Augen ins Gesicht.

Die wich zurück wie vor einer Geistererscheinung.

Mit leuchtenden Blicken umfaßte sie das Märchenbild. Sie konnte nicht anders. Für diesen einen Augenblick triumphierte der Künstler in ihr über den Menschen. Dann aber erlosch der Glanz in ihren Augen.

Trocken, eisig sagte sie: »Verena stirbt. Sie möchte Sie noch einmal sehen. Ich habe einen Wagen da. Aber – Sie haben wohl keine Zeit?«

Wie das eisig klang. Marlise traf es wie ein Geißelhieb.

»Ich – ich –«

Sie war schon an der Haustür. Kein »Marie-Luise« der Mutter, kein »Irrwisch, so warte doch, Irrwisch« des Onkels half.

Helene Ehlert raffte bloß, schnell gefaßt, irgend einen Umhang vom nahestehenden Kleiderständer und eilte hinter Marlise her.

Bild: Richard Gutschmidt

Verena möchte Sie doch noch einmal sehen!

»Verzeihen Sie,« rief sie noch Frau Helene zu, »aber der Tod wartet nicht.«

Draußen saß Marlise schon im Wagen. Helene Ehlert gab dem Kutscher eine Adresse an und stieg ebenfalls ein.

Der magere Droschkengaul zog an und der Wagen rollte davon.

Es war so schnell gegangen, daß keiner zur Besinnung kam. Die Zurückbleibenden standen und starrten nach der Tür.

Frau Helene fand zuerst Worte. »Marie-Luise! Sie wird sich erkälten. Das Kind kann den Tod davon haben.«

»Ich lasse sofort anspannen, Helene. Ich – ja so, aber wir wissen ja gar keine Adresse.«

»Verzeihen, Herr Kommerzienrat. Altestraße hab' ich ganz deutlich verstanden. Bloß die Nummer – die konnt' ich nicht verstehen. Die Polizei –«

»Anspannen lassen, Franz!«

»Zu Befehl, Herr Kommerzienrat.«

»Darf ich mitfahren?« Zagend und scheu kam's von Resis Lippen. »Die Marlis könnte –«

Herr Fritz Erich Albers überlegte einen Augenblick, dann entschied er.

»Sie bleiben hier, Kind. Meine Schwester soll nicht allein sein.«

Frau Helene saß matt auf einem Sessel.

»Die erste Lektion, die das Leben dem Kind erteilt, Fritz.«

»Wohl, Helene, und drum muß ich dem Irrwisch zur Seite sein.«

»Werden wir das immer können, Fritz?«

Es klang nur wie ein Hauch.

Herr Fritz Erich Albers hörte nicht. Er stürmte auf und ab. Wie die Schnecken bedienten die Leute, wenn's mal drauf ankam. Er wollte aber –

»Der Wagen, Herr Kommerzienrat!«

»Endlich!«

Mit stummem Wink nach der Schwester stürmte er davon. Sie hörten den Wagen fortrollen. Und dann blieb alles totenstill.


In ihrem engen, kahlen Mansardenstübchen lag Verena auf dem schmalen, harten Bett.

Seit Monaten lag sie nun schon so. Die Leiden, die im Anfang noch erträglich waren, hatten sich qualvoll gesteigert. Atembeklemmungen suchten jetzt die Ärmste heim und der kleine verwachsene Körper wand und krümmte sich in Pein.

Die Frau, bei der sie sich eingemietet hatte, eine gute, alte Seele, sah nach Verena. Viel Pflege brauchte die nicht. Still und geduldig lag sie auf ihrem Bett, saß sie in ihrem Lehnstuhl. Still und geduldig hoffte sie auf Abnahme der Leiden, hoffte sie darauf, wieder an die Arbeit gehen zu können.

Aber sie wurde matter und matter.

Helene Ehlert stand ihr treu zur Seite. Die einzige aus der Welt draußen, die Verenas gedachte.

Nein, Professor Lauten hatte die Schülerin auch nicht vergessen.

Von seinen guten Worten gerührt, hatte ihm Helene Ehlert die Lage Verenas geschildert. Er hatte sein Wort gegeben, niemanden davon zu sprechen. Seitdem wanderte manche Spende aus seiner Hand durch Helene zu Verena. Die staunte wohl manchmal, wie weit ihr winziges erspartes Sümmchen reichte. Um ernstlich darüber nachzudenken, nachzuforschen, dazu war sie zu matt, zu elend.

Das Kapital für das Gänsebild damals war Helene Ehlerts ganzer Trost in dieser Zeit. Aber es schmolz mehr und mehr. Kein Wunder geschah wie beim Ölkrüglein der Witwe. Und doch hätte solch selbstlos treue Freundesliebe es verdient.

Verena hatte sich mit aller Macht gegen einen Arzt gewehrt.

»Ich kenne mein Leiden, ich weiß, was ich brauche, Helene. Ein Arzt kann mir nichts anderes sagen, glaube mir.«

In Anbetracht der Umstände hatte Helene sich gefügt.

Und dann kamen die Atembeklemmungen. Leichter erst, dann immer häufiger, schlimmer.

Es war entsetzlich beängstigend anzusehen. Helene bestand darauf nach den ersten paar Malen, einen Arzt zu holen.

Der kam. Die Anfälle steigerten sich erschreckend. Kein Mittel half.

»Die ganze Lebensweise müßte geändert werden,« so sagte der Arzt. »Kräftige Kost, hohe luftige Räume, bequemes Lager, stete sorgsamste Pflege.«

Wer sollte das beschaffen?

Verena lächelte leise, milde. Sie schüttelte den Kopf. Helene seufzte und wandte sich ab.

»Ein Spital!« schlug der Arzt vor.

»Nie!« rief Helene und schlang den Arm um Verena.

Die legte den Kopf dagegen.

»Ich will hier sterben,« sagte sie leise und einfach.

Der Arzt drang nicht weiter darauf. Vielleicht hatte er doch nicht viel Hoffnung. Jedenfalls aber war in der Klasse des Spitals, die für ihre knappen Mittel einzig in Betracht kam, nicht das zu finden, was Verena getaugt hätte. Und an was anderes konnten die beiden nicht denken, das sah der Arzt wohl.

So redete er nicht wieder davon.

Dann kamen die Anfälle noch häufiger, nahmen an Gewalt zu.

Helene Ehlert verzweifelte beinahe.

»Wenn ich Marlise Wreden –«

»Nie, versprich!« Verena war förmlich aufgeflammt.

Aber dann lag sie, leise lächelnd und träumte vor sich hin.

Helene saß an ihrem Lager. Da traf sie Verenas Blick.

»Wenn ich – wenn ich – fort muß, Helene, laß mich Marlise noch einmal sehen, willst du?«

Helene zauderte, murrte.

»Was kann dir an der Prinzeß gelegen sein, die dich und uns im Strudel ihres Wohllebens vergessen hat?«

»Versprich, Helene,« drängte Verena. »Ich – ich habe sie lieb gehabt. Ihre Sonnenaugen haben mir warm gemacht. Ich – ich möchte noch einmal sehen, wie das lächelnde Leben dreinschaut, Helene.«

Da hatte Helene versprochen.

Heute nun war der Anfall entsetzlich gewesen, anhaltend, qualvoll wie nie.

Der Arzt selbst, der eiligst geholt wurde, hatte nur schweigendes Achselzucken auf Helenes drängende Fragen, auf ihre flehenden Blicke gehabt.

Und wie dann Verena so todmatt und blaß, so erschöpft und zum Sterben elend auf ihrem Lager ruhte, als der Leidenssturm ebbte, da hatte Helene den Arzt gebeten, eine Weile bei der Kranken auszuharren, bis sie wiederkehre.

Zustimmend hatte der genickt.

Und Helene war davongeeilt, ihr Versprechen, Marlise Wreden betreffend, einzulösen. Sie hielt die Zeit für gekommen.

Unterwegs hatte sie einen Wagen angerufen und war dann im Albersschen Hause erschienen.

Jetzt saß sie in dem rasselnden, stoßenden Wagen neben der Märchenerscheinung und wechselte kein Wort mit Marlise. Düster starrte sie vor sich hin. Marlise schluchzte jammervoll.

Scheu warf sie bisweilen einen Blick nach Helene. Deren steinernes Gesicht erstickte ihr jedes Wort in der Kehle.

Und der Wagen rasselte – klapperte, stieß und rasselte. Die Pferdehufe trabten – trabten. Nasse Straßen, trübe Laternen, hastende Menschen, endlose Häuserzeilen zogen vorüber. Und über allem klatschte der Regen nieder. Die trübe, entsetzliche Fahrt schien kein Ende nehmen zu wollen. – –

Leise, beschwerlich, stoßweise atmend, aber doch atmend, lag Verena in ihren Kissen.

Als sie reden wollte, hatte der Arzt den Finger an die Lippen gelegt.

»Helene?« hatte sie nur gehaucht.

»Das Fräulein wird wohl gleich wiederkommen. Sie bat mich, zu bleiben. Sie habe etwas Unaufschiebbares zu besorgen.«

Da lächelte Verena leise. Nun wußte sie, wohin Helene geeilt war. Wußte auch, weshalb Helene eilte – aber es schreckte sie nicht.

Der Tod war ihr bei ihrem schwächlichen Körper von jeher kein fremder Gedanke gewesen. Sie scheute ihn nicht. Der gute Gott, der ihre schwachen Schritte bis hierher gelenkt hatte, würde sie auch gnädig nicht straucheln lassen auf dem engen, dunkeln Pfad, den sie nun wandeln sollte.

Zuvor aber – zuvor aber einmal noch wollte sie dem sonnigen Leben ins Auge schauen.

Marlise Wreden! Es war, als ob bei dem Gedanken an sie Sonnenwärme sie durchdringe, Sonnenlicht sie umflute. Lächelnd öffnete sie die müden Augen. Da – was war das?

War es ein Traum, eine Vision? Hatte der Himmel bereits einen seiner Boten gesandt, Verena auf dem düsteren Pfade zu geleiten?

Im dunkeln Türrahmen stand eine Lichterscheinung, so unirdisch, so traumhaft lieblich, so leuchtend und strahlend in ihrer Schöne. Konnte das anderes als ein Himmelsbote, eine Erscheinung von oben sein?

Aber nein, es lebte ja, atmete. Es löste sich vom Türrahmen, es flog quer durchs Zimmer, sank am Lager in die Kniee und die Töne, die es hören ließ, klangen so ganz nach Menschenweh und Elend, nach Menschenleid und Pein. Ein jammervolles, herzbrechendes Schluchzen.

»Verena, o Verena!«

»Marlise,« hauchte die, »Marlise Wreden!«

Auf Verenas Gesicht lag's wie ein Abglanz von Sonnenschein. Leise, leise strich sie über den schimmernden Scheitel des zuckenden Köpfchens, das sich da in ihre Kissen wühlte.

Die Seerosen mit den leuchtenden Tautropfen drin waren vom Scheitel niedergeglitten, hingen aber noch fest in den Haarwellen.

Leise, sachte löste sie Helene und legte sie still beiseite.

Was sollte der Erdentand hier, wo der Himmel schon seine Tore öffnen wollte?

Der Arzt war still zurückgetreten. Es war ein alter Mann. Bis ans Ende seiner Tage, wenn er der Stunde gedachte, pflegte er zu sagen: »Meine Augen haben manches gesehen im Leben, aber dies Bild werden sie nie vergessen. Hier Jugend, Glück, Leben, dort Not und Tod. Ergreifend!«

Lange hörte man in der kleinen Mansarde nur Marlisens Schluchzen, Verenas leise liebkosenden Zuspruch.

»Nicht, Marlise, nicht. So seien Sie doch ruhig. Ich freue mich, daß ich Sie noch einmal sehen durfte. Ich sterbe gern – das Leben –«

Ein weher Aufschrei Marlisens unterbrach sie.

»Sie sollen nicht sterben, Verena. Ich – ich ertrüge es nicht!«

»Kind, ich –«

Da trat der alte Arzt dazwischen.

»Von Sterben ist einstweilen nicht die Rede. Ruhe muß meine Patientin haben, sonst stehe ich freilich für nichts. Absolute Ruhe. Ich schlage vor, die beiden Damen ziehen sich zurück. Frau Meier bleibt so lange hier, bis ich eine Schwester schicke. Die muß kommen. Eine richtige Pflege ist durchaus notwendig, sonst –«

Er zuckte die Achseln.

»Ich bleibe,« sagte Helene mit steinerner Ruhe als einzige Antwort. »Was eine Schwester kann, kann ich auch.«

»O lassen Sie mich bleiben, bitte, bitte,« flehte Marlise verzweifelt. »Ich habe so viel nachzuholen, gutzumachen. Ich –«

Wieder barg sie laut schluchzend den Kopf auf Verenas Lager.

Die sah plötzlich furchtbar erschöpft und todblaß aus. Man sah, alle Kräfte hatten sie verlassen nach der vorhergegangenen Erregung.

Wie ein Nebel umfing es all ihre Sinne. Sie streckte sich und schloß die Augen.

Der Arzt wies nach ihr hin.

»Sehen Sie nicht, wie recht ich habe?«

Aber Helene beharrte in ihrem steinernen Schweigen. Leise, zart, man hätte es den knöchernen Händen gar nicht zugetraut, netzte sie die Stirn der Kranken mit Eau de Cologne.

Und Marlise schluchzte – schluchzte und rührte sich nicht.

Da kam dem Arzt eine ganz ungeahnte Hilfe.

Leise öffnete sich die Tür und ein Herr trat ein – Herr Fritz Erich Albers.

Mit einem Blick überflog er das Zimmer und als er den Arzt sah, winkte er ihm herauszukommen.

Weder Helene noch Marlise, noch auch die Kranke merkten etwas davon.

Eine Weile war es nun ganz still in dem kleinen Raum.

Verena schien zu schlummern. Helene und Marlise hielten den Atem an, sie nicht zu stören.

Auf das Murmeln vor der Tür achtete keine. Sie dachten, der Arzt sei gegangen.

Da trat Herr Fritz Erich Albers ein, kam zum Lager heran.

Voll und klar ruhten die Augen der Kranken auf ihm. Sie hatte nicht geschlummert. Tiefe Röte bezog ihr schmales Gesicht.

Ihr Blick machte zuerst Helene und dann auch Marlise aufmerksam.

Die hob das tränenüberströmte Gesicht, aber sie rührte sich nicht vom Fleck.

»Onkelchen, du hier?« fragte sie mit leiser, zitternder Stimme. »Sieh doch, ich tanzte und sie –«

Ein Blick nach Verena vollendete den Satz. Und wieder fiel der Kopf auf das Schmerzenslager der Freundin und krampfhaftes Schluchzen durchrüttelte den Körper.

Verena streckte ihm die abgezehrte Hand entgegen. Die peinliche Röte, die ihr zuvor ins Gesicht getreten war, war geschwunden.

»Verzeihen Sie, daß ich sie rufen ließ.« Ein Blick nach Marlise erklärte, was sie damit sagen wollte. »Ich – ich wollte ihr liebes Gesicht so gerne noch einmal sehen, ehe –. Führen Sie sie fort. Es ist kein Anblick für ihre frohen Sonnenaugen.«

Herr Fritz Erich Albers hielt die abgezehrte Hand fest.

»Von dem Irrwisch reden wir jetzt gar nicht, Kind, der bleibt hier ganz aus dem Spiel,« polterte er gutmütig, um seine Bewegung zu verbergen. »Von Ihnen allein ist die Rede. Und nun hören Sie, was ich mit dem Doktor ausgemacht habe. Sterben kommt einstweilen gar nicht in Betracht, im Gegenteil. Leben sollen Sie, und zwar ein ganz anderes Leben. Keine Widerrede, bitte« – Verena hatte sichtlich etwas sagen wollen – »alles ist bestimmt und ausgemacht. Der Doktor ist schon in die Hertelsche Heilanstalt gefahren« – es war die berühmteste Klinik der Stadt –. »Dort findet sich am ehesten gleich Platz. Er schickt sofort eine Schwester und den Krankenwagen. Fräulein Ehlert legt einstweilen Ihre Kleider bereit. Der Irrwisch und ich fahren heim, sobald der Arzt mit unserem Wagen kommt. Still, Irrwisch, kein Wort! Hier rede jetzt bloß ich. Und Sie, Kind, folgen brav und lassen mal ein bissel Gott und andere Menschen für sich sorgen, nachdem Sie sich so redlich gewehrt haben. Ihre tapfere Freundin hier braucht auch eine Erleichterung.«

Er schüttelte Helenens Hand.

Die hatte die seine ergriffen und drückte und schüttelte dran herum im Übermaß des Dankgefühls.

»Ach ja, Helene,« hatte Verena nur leise gehaucht, und sie konnte den Tränen nicht wehren, die ihr Gesicht überströmten. »Ich – wie kann ich – Ihre Güte –«

Da stand Marlise vor ihr und sah sie mit den Sonnenaugen an, die jetzt freilich stark von Tränenschleiern verdeckt waren.

»Wollen Sie mir das eine nehmen, Verena, was mich wieder aufrichten könnte? Der Gedanke, Ihnen durch Onkels Hilfe doch noch etwas sein zu können.«

Augen und Stimme hätten kaum so zu flehen brauchen. Verena war viel zu schwach, um sich gegen das zu sträuben, was eben nun einmal an sie herangetreten war. Müde, willenlos, wie ein kleines Kind in der Mutter Schoß, so wohlig fast, ließ sie nun mit sich geschehen, was andere bestimmten.

Sie war kampfesmatt.

Unten fuhr der Wagen vor. Gleich darauf trat der Arzt ein.

»Alles zur Zufriedenheit geordnet. Ein helles, luftiges Zimmer steht zur Verfügung. In einer halben Stunde wird der Wagen mit der Schwester da sein. Ich bleibe, um unsere Kranke hinunterschaffen zu helfen.«

»Vielen Dank, Herr Doktor. Da bin ich also ganz beruhigt. Komm, Irrwisch, nimm Abschied. Hier, steck die Nixe unter den Mantel, den Fräulein Ehlert hält. So, und vergiß deinen Kopfputz dort nicht. Ein eigenartiger Krankenbesuch, was, Herr Doktor?«

»Ich vergesse das Bild nie.«

»Ja, ja. Ich hatte mir die Einweihung des Anzugs freilich anders gedacht. Das Leben dichtet eben die überraschendsten Situationen, da kann die lebhafteste Phantasie nicht mit. Ob ich ein Ende mache?«

Das galt dem Abschiednehmen von Marlise und Verena.

»Bitte, und rasch!«

Herr Fritz Erich Albers trat zu Verenas Bett heran und zog mit flinkem Griff Marlise an sich.

Dann reichte er Verena die Hand und sah ihr tief in die Augen.

»So, und nun seien Sie brav, Kind, und tun hübsch, was von Ihnen verlangt wird. Auf Wiedersehen! Flink, Irrwisch! Auf Wiedersehen, Fräulein Ehlert!«

Ehe Marlise wußte, wie ihr geschah, war sie aus dem Zimmer und im Wagen drin.

Sie schluchzte nur immer vor sich hin und hielt des Onkels Hand fest gepackt. Einmal preßte sie die Lippen darauf.

»Mein Onkelchen!«

»Irrwisch!«

Mehr sagte Herr Fritz Erich Albers nicht. Er schwächte die Lehre nicht ab, die das Leben dem Liebling heute gegeben hatte, aber – er verschärfte sie auch nicht. Fühlte er sich doch nicht ganz rein von Schuld?

»Mammi, o Mammi!« Damit hing Marlise daheim an der Mutter Hals und schluchzte herzbrechend.

Herr Fritz Erich Albers mußte berichten.

Frau Helene hörte still zu, umfaßte ihr Kind noch einmal fester und schob es dann von sich.

»Danke dem lieben Gott, Marie-Luise. In seiner Güte hat er dich vor schwerer Seelenpein bewahrt. Die Lehre ist glimpflich gewesen. Verena hätte sterben können, schon tot sein, wenn du hinkamst. Du hättest es dir nie verziehen, sie so lange vernachlässigt zu haben. Davor hat der Herr dich in Gnaden bewahrt. Geh hin und zieh den Anzug aus, Marie-Luise, wie soll der sonst noch für den Ball morgen taugen?«

Marlise kam wie aus einer anderen Welt zurück.

»Der Ball, Mammi? Wie kann ich jetzt an einen Ball denken!«

»Wohl, Marie-Luise. In Freud und Leid seine Pflicht tun! Der Ball, auf den so viele sich freuen und vorbereitet haben, ist dir als Gastgeberin nun auch eine Pflicht, die zu erfüllen ist, wohl oder übel.«

»Ich kann nicht, Mammi, gewiß, ich kann nicht!« Marlise schluchzte jammervoll.

»Könnten wir die Sache nicht aufschieben, Helene?« Der Onkel wollte seinem Liebling zu Hilfe kommen.

»So kurz vorher, Fritz? Ohne zwingenden, allgemein verständlichen Grund? Die wenigsten Menschen können sich immer ihren Gefühlen hingeben, genau so tun, wie ihnen zu Mute ist. Für die meisten besteht ein Zwang auch in dieser Beziehung. Und es ist gut so. Marie-Luise mag es als wohlverdiente Strafe hinnehmen, daß nun die Freude am Ball, die zuvor so groß war, ihr durch eigene Schuld getrübt wird. Geht schlafen, Kinder! Trotz allem müßt ihr morgen frisch sein.«

Marlise und Resi schlichen still davon. Sie hatten sich den Vorabend zum lange ersehnten Ball anders gedacht.

Resi schlief bald. Merkwürdig angenehme Traumbilder umgaukelten sie. Sie tanzte mit einem Tiroler, der ihren Anzug sehr niedlich fand und sie versicherte, die duftigste, poetischste Nixe sei nichts gegen ein fesches Tiroler Madel.

Das gefiel der Resi.

Die Marlis dagegen brauchte lange, lange, bis sie sich in Schlaf weinte.

Zum ersten Male hatte sie neben der anderen schweren Lehre die Bitternis dessen empfunden, daß uns ein langgehegter Wunsch in der Erfüllung Pein bringen kann statt Lust.

Wie hatte sie diesen Ball ersehnt, herbeigewünscht! Und nun!

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