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Bei Spiel und Tanz

Schon lange huschte Resi in ihrem Zimmerchen hin und her. Sie gab sich alle Mühe, die Schläferin nebenan nicht zu stören; doch sie hätte nicht so vorsichtig zu sein brauchen. Wenn Marlise schlief, dann schlief sie.

Resi hatte als Haustöchterchen schon mancherlei besorgt. Es hatte heute für sie keine Geburtstagsfeier, wie sonst üblich, gegeben, kein Gabentisch, keine Lichtertorte.

Eltern und Geschwister hatten ihr gratuliert. Am Abend sollte sie dann, wie sie es sich gewünscht hatte, ihre Feier haben.

Das Frühstück war bereits vorüber. Die Herren der Familie und die Schulkinder waren den Pflichten des Tages nachgegangen.

Marlise schlief.

Auf den Zehenspitzen schlich Resi in das Zimmerchen. Leise, leise öffnete sie das Fenster, und nun flog der Laden auf, krachend, so recht nachdrücklich.

Eine Fülle von Licht flutete in den Raum.

Marlise saß im Bett aufrecht, blinzelte in die Lichtfülle, runzelte das Näschen und nieste laut und kräftig.

»Wohl bekomm's, Marlis!«

Sie wünschte sich's selber sehr wohlwollend.

Jetzt sah sie Resi. Empört drohte sie ihr.

»Warte du, einen bei nachtschlafender Zeit zu wecken!« Im Nu war sie wieder unter den Decken und dehnte und streckte sich.

Resi lachte.

»Nachtschlafende Zeit? Du, 's ist acht Uhr vorüber!«

»Drum eben!«

Marlise gähnte, laut, lange.

»Du, das Frühstück wartet.«

»Laß warten!«

»Aber Mutter wartet auch!«

Mit einem Ruck war Marlise hoch. Ehe sie wußte, wie ihr geschah, fühlte sich Resi gepackt und tüchtig gezaust.

Dann wurde sie ebenso plötzlich losgelassen und fiel kraftlos auf das Bett.

»Hättest du gleich sagen können, Schlafmütze,« schalt Marlise.

»Möcht' wissen, wer von uns beiden die Schlafmütze ist,« entgegnete lachend Resi.

Da erhielt sie einen Strahl kalten Wassers ins Gesicht und flüchtete entsetzt.

Marlise aber flog sehr bald danach die Treppe hinunter und saß mit der denkbar unschuldigsten Miene am Frühstückstisch, als die Mutter Präsident eintrat.

»Auch da, Kind?«

»Schon lange, Rese-Mütterchen.«

»Lange?«

»Genau fünf Minuten,« sagte lachend der Schalk. »Übrigens, Resi, fast hätt' ich's vergessen, ich gratuliere.«

Sie faßte Resi am Kopf, küßte sie, daß der Hören und Sehen verging, und drückte ihr etwas in die Hand.

»Für dich!«

Es war ein Etui mit einer reizenden Nadel aus Türkisen und Brillanten.

»Für mich?«

Resi war ganz atemlos. Sie sah die Mutter an.

Die hielt die Nadel.

»Aber was denkst du, Kind, das ist ja viel zu kostbar.«

»Bitte, bitte,« flehte Marlise, komisch verlegen. Und sie hielt sich die Ohren zu und drehte sich im Kreise. »Langes Leben, Gesundheit und Wohlergehen, Resi, und – bitte, bitte.«

Wieder hielt sie sich die Ohren zu, da sie sah, daß die Mutter Präsident reden wollte.

Die nickte; mit dem Irrwisch war so nichts anzufangen. Sie behielt es sich denn auf später vor. Es gab außerdem noch so tausenderlei für den Abend zu ordnen und zu bedenken. So sagte sie also nur: »Na, dann sputet euch, Kinder, es gibt viel zu tun heute.«

Fort war sie.

Zehn Minuten danach stand Marlise mit vorgebundener Latzschürze vor der geschäftigen Hausfrau.

»Arbeit, Rese-Mütterchen.«

Sie streifte die Ärmel unternehmend hoch.

Die Angerufene sah etwas zweifelhaft auf. Sie sann nach.

»Resi belegt unten die Konfektteller. Geh ins Büfettzimmer, da findest du die Südfrüchte. Teller stehen daneben. Schichte die auf.«

Marlise sah etwas ungewiß drein, sagte aber nichts, sondern stob trällernd davon.

Die Frau Präsident gab gerade das Silber heraus.

Als sie damit fertig war, begann sie alles ins Büfettzimmer zu tragen.

Sie hörte Marlise drinnen eifrig hantieren.

Unter der Tür blieb sie regungslos stehen.

Was hatte Marlise vor?

Zu ängstlich hoher Säule getürmt, sie neigte sich bedenklich nach einer Seite, standen alle die verschiedenen Tellersorten, große und kleine, bunt durcheinander aufgeschichtet und sahen aus, als wollten sie demnächst umstürzen.

Daneben mühte sich Marlise, von Orangen, Datteln, Feigen und dergleichen einen eben solchen künstlichen Berg zu häufen.

Die runden Früchte kugelten nach allen Seiten, und unermüdlich raffte sie sie wieder und wieder auf.

»Uff,« sagte sie eben, »kitzlige Arbeit.«

Da kollerten wieder so und so viele zu Boden.

Im Aufraffen sah sie die wie versteinert Dastehende unter der Tür.

»Rese-Mütterchen, die Sache ist etwas schwierig,« sagte sie in voller Beschäftigung.

»Aber was in aller Welt tust du, Kind?«

Es klang so entsetzt, daß Marlise unwillkürlich die Arbeit einstellte.

»Ich? Ja, Rese-Mütterchen, ich tue einfach, was mir geheißen wurde. Ich schichtete erst die Teller auf, da sind sie; 'n bißchen wacklig ist's ja wohl, aber da kann ich wirklich nichts dafür! Und nun bin ich an den Südfrüchten. Bis zum Abend ist's hoffentlich fertig.«

Da purzelten wieder so und so viele von den mühsam aufgeschichteten Apfelsinen herunter.

Seufzend, ergeben bückte sich Marlise danach.

»Wenn's so weitergeht –«

Es klang sehr mutlos.

Da mußte die Frau Präsident trotz aller Verblüffung hell auflachen.

»Ja, Kind, wie hast du dir denn das gedacht? Von den Tellern rede ich gar nicht. Aber wie sollen die Gäste wohl zu den Früchten kommen oder umgekehrt, wenn du sie hier nebenan so festlegst?«

Marlise sah ganz verdutzt auf.

»Je – ja – gedacht habe ich eigentlich gar nicht,« bekannte sie dann kleinlaut.

»Das ist's ja, was den Menschen zieret, und dazu ward ihm der Verstand,« zitierte die Mutter Präsident neckend. »Geh, Kind, Resi stiftet Ordnung hier.«

Das ging Marlise denn doch gegen die Ehre. Was die Freundin konnte, mußte sie auch zu leisten verstehen.

Flink waren die Teller wieder in Sorten verlesen, ebenso flink auf einigen davon die Südfrüchte geschichtet.

»So!« sagte Marlise befriedigt, nachdem sie das schwierige Werk vollendet hatte. »Ganz so dumm, wie sie aussieht, ist die Marlis doch nicht. Sie muß nur wissen, was man von ihr will, dann versteht sie es auch auszuführen. Und nun?« Sie war voller Tatendrang.

Zweifelhafte Hilfstruppen am richtigen Ort zu verwenden, ist die schwierigste Aufgabe für den Feldherrn.

Die Frau Präsident überlegte.

»Geh zu den Kleinen, Kind, hilf dort beim Anziehen. Martha mußte vorhin ausgehen.«

Martha war das Kindermädchen.

»Zu Befehl, gnädigste Frau!«

Marlise verschwand mit schelmischem Knicks.

Als die Mutter danach etwas später über den Korridor ging, kam ein lautes Hin- und Herreden aus dem Kinderzimmer.

Die Stimmen der Kleinen klangen weinerlich und ärgerlich zugleich.

Marlise schien etwas ungeduldig.

»Flink, hineingeschlupft, eins, zwei, drei!« sagte sie eben. »Hänsel, willst du wohl?«

»Sein aber danz fals,« protestierte der kleine Mann weinerlich erregt, »Tnöpsen nix vorn.«

Ahnungsvoll öffnete die Mutter die Tür.

Dort stand Gretel und sah recht zweifelhaft an sich herunter. Sie steckte verkehrt in ihrem Hängekleidchen drin – es war vorn geschlossen – wagte aber offenbar nicht, etwas zu sagen.

Hänsel sollte eben, gleichfalls verkehrt, die Höschen an die kleinen Strampelbeine ziehen.

Sein Protest war männlicher, energischer, weniger zaghaft.

Marlise wollte soeben ihr Übergewicht geltend machen, da erschien die Mutter.

Sie kam gerade zur rechten Zeit.

»Mutti, Mutti,« zeterte das Pärchen, »Mutti, sie danz vertehrt macht.«

Die Mutter lachte.

»Ja, seht ihr, Marlise hat eben kein Brüderchen und kein Schwesterchen. Wo hätte sie da lernen sollen, wie man solche Trabanten anzieht!«

»Arme Marlis!«

Klein-Gretel schmolz in Mitleid. Hänsel dagegen war kritischer angelegt.

»Selben Tleider an. Un mis immerzu sagen sein fals.«

Mutter schloß ihm den Mund mit einem Kuß, brachte das bewußte Kleidungsstück von der richtigen Seite an die kleinen Strampelbeine, und der Frieden war nun wieder hergestellt.

Bei Gretel machte Marlise flink den Fehler gut.

Sie war ein bißchen rot, ein bißchen heiß, mehr als die Temperatur des Zimmers es bedingte.

»Rese-Mütterchen hat nun wohl ganz das Zutrauen verloren,« sagte sie schalkhaft, aber daneben klang etwas wie Scheu und Verlegenheit durch.

Heiter sah die Gefragte sie an.

»Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.«

»Aber geschicktere Leute fallen zuweilen herunter, was, Rese-Mütterchen?«

Da war der alte Schalk.

Beide mußten lachen. Die Frau Präsident überlegte.

»Wie steht's mit deinem Anzug für den Abend, Kind? Hast du den bereit?«

»Gewiß, im Karton.«

»Nicht herausgenommen?«

Was alles in der Frage lag!

Marlise schlug sich vor die Stirn und war verschwunden. Bald danach erschien sie wieder, etwas Weißes, sehr Zerknäueltes und Zerdrücktes über dem Arm.

»Rese-Mütterchen, ach, sehen Sie mal hier. Das soll ein Kleid sein! Auf ein Häufchen lag's zusammengeknäuelt in der Ecke des Kartons. Das ist wohl schon beim Tragen so gerutscht. Und als ich gestern abend mein Nachtzeug holte, da – da hab' ich auch nur so zugefaßt und nicht an das Kleid gedacht. Rese-Mütterchen, was fange ich nun an?«

Da war freilich guter Rat teuer. Das Ganze sah rettungslos aus. Der feine Seidenmusselin hing zusammengeschrumpft über dem Unterkleid, die duftigen Püffchen und Rüschen alle zerdrückt.

Marlis sah ganz verdutzt drein.

»Probier's mit Bügeln, Kind. Anna soll dir Stähle heiß machen. Was anderes wüßte ich nicht.«

Marlise sah noch zweifelhafter aus als zuvor.

»Bügeln? Ja wenn –« Sie brach unvermittelt ab. Nicht gerne hätte sie der mütterlichen Freundin eingestanden, daß sie davon gar nichts verstehe.

Sie war aber ein tapferes Mädel, die Marlise. Weshalb sollte sie nicht leisten, was andere leisteten?

Sie warf das Köpfchen zurück.

»Los!« sagte sie lustig.

»So komm ins Bügelzimmer, Kind. Die Anna mag dir alles zurechtstellen.«

Anscheinend sehr unbekümmert ging Marlise mit.

Als sie danach wenig später vor dem Bügelbrett stand, das schauderhaft heiße Ding in der Hand, mit dem sie nichts anzufangen wußte, da war ihre Gemütsverfassung allerdings weniger zuversichtlich.

»Je – je,« jammerte sie vor sich hin, »Mammi hat recht, 's ist albern, wenn man so wie der dumme August im Zirkus vor allem steht und sich nicht selber helfen kann. Ich will –«

Was sie wollte, ging in einem Entsetzensschrei unter.

Es dampfte und roch plötzlich so eigentümlich. Sie hob das Eisen, das sie mit raschem Entschluß vorhin an der zerknäultesten Stelle niedergesetzt hatte.

O weh! Braungelb, scharf umrissen sah ihr dessen getreuer Abdruck entgegen. Und mitten auf der Vorderseite des Rocks!

Da war nichts, aber auch nichts zu machen.

Marlise starrte darauf nieder.

»Da hast du's, Marlis, das kommt davon! Dummes, dummes Ding du!«

Sie sann ein Weilchen.

»Jetzt aber los. Das war Lehrgeld!«

Und nun flog das Eisen und glättete tadellos die faltigen Bahnen. Marlise schien plötzlich Meister geworden. Sie konnte sich nicht genug tun.

Resi kam.

»Wie steht's? Komm, ich will dich ablösen.«

»Behüte. Es geht wundervoll. Freilich einen kleinen Haken hat's.«

Sie drehte den Rock, so daß Resi die braune Stelle sehen konnte.

»Marlis!!!«

Resi war vor Entsetzen atemlos.

»Was nun?«

»Wieso?«

»Was ziehst du an?«

»Das da!«

Marlise sagte es kaltblütig.

»Ich nähe eine Falte hinein. Im übrigen ist's doch wundervoll gebügelt, was?«

Sie glühte vor Stolz.

Resi jammerte.

»Ich muß Mutter rufen!«

Die kam, besah den Schaden.

»Kind, Kind, was tun wir?«

»Falte nähen, Rese-Mütterchen.«

»Geht nicht, Kind, sieht zu schlecht aus.«

»Was liegt dran? Ich amüsiere mich doch.«

Marlise behielt ihren Gleichmut.

»Wenn's noch an anderer Stelle wäre. Aber so in der am meisten sichtbaren Vorderbahn!«

»Eine Schleife drauf? Blumen?« schlug Marlise vor, schon etwas zweifelhafter.

»Geht nicht.«

Die Mutter schüttelte ratlos den Kopf. Resi war ganz geknickt.

»Hättst du mich doch gerufen, Marlis. Ich hätte es so gern gebügelt.«

»Du, ich bitte dich! Gebügelt ist's wundervoll. Fürs erste mindestens achtbar! Was, Rese-Mütterchen?«

Marlise umschlang sie und sah ihr mit den Schelmenaugen lachend ins Gesicht.

»Was tun wir aber, Kind?«

»Ein neues kaufen!«

Marlise sagte es so unbekümmert, als ob es sich um ein Paar Handschuhe handle.

Mutter und Tochter sahen sie sprachlos an.

»Die Erlanger hat sicher was vorrätig. Ich fliege hin. Bis nachher, Rese-Mütterchen. Ich bin gleich wieder da. Und dann geht's tüchtig wieder an die Arbeit! Vorwärts, mit frischem Mut –«

Lustig singend verschwand sie, lustig singend hörte man sie gleich danach die Treppe wieder herunterfliegen, hörte die Haustür gehen – fort war sie.

Resi seufzte tief auf.

Sie dachte daran, wie viel Hin- und Herreden es kostete, bis sie eine Bluse oder dergleichen bekam. Marlise war doch zu beneiden!

Da legte die Mutter den Arm um sie. Wie gut sie ihr Kind verstand!

»Hast du je was entbehrt, Herzblatt? Glaub mir, am Gelde hängt nicht das Glück. Wer weiß, ob's zu Marlisens Vorteil ist, daß sie so ungehindert ins Volle greifen kann. Das Leben bringt so manchen Wechsel. Du hast gute Eltern, Resi, liebe Geschwister, ein gesichertes Heim, was willst du mehr?«

Der Blick, womit Resi der Mutter antwortete, war schon wieder strahlend.

»Ich wünsch's mir nicht besser, Mütterchen.«

Beide gingen an die Arbeit.

Resi räumte erst noch flink das Unglückskleid fort.

Bald danach kam Marlise strahlend zurück.

»Ich hab' was ganz Niedliches gefunden, Rese-Mütterchen. 'n bißchen teuer kommt's mir freilich vor, was ich davon verstehe, aber es wird Mammi gefallen. Und der Onkel – der zahlt es gern! Der Mensch muß sich zu helfen wissen, was, Rese-Mütterchen?«

Der Schelm lachte sie an, so warm und so treuherzig.

»Nicht jeder kann sich so helfen, Kind!« sagte die Mutter bedeutungsvoll.

Marlise stutzte. Sie sann nach.

»So meinst du's, Rese-Mütterchen?« sagte sie dann hell und klingend lachend. »Ja, ja, die Marlis ist eben ein Glückspilz!«

»Das gebe Gott, Kind,« sagte die Frau Präsident weich und warm. – –

Es wurde wirklich Abend heute.

Marlise und Resi hatten eigentlich daran gezweifelt. Das heißt, Marlise namentlich. Resi hatte sozusagen bis zum letzten Augenblick irgend etwas zu tun gehabt. Irgendwo fehlte es immer noch, sei's bei den Geschwistern oder bei den Vorbereitungen zum Feste.

Dann aber hatte die Mutter daraus bestanden, daß sie auf ihr Zimmer gehe, noch ein Weilchen ruhe, und sich dann mit Muße anziehe.

So standen die beiden jetzt vor dem großen Spiegel und besahen, was sich ihnen dort zeigte.

Zwei sehr niedliche Balldämchen gab der Spiegel zurück.

Markise, wie stets, ganz weiß, nur einen Heckenrosenzweig leicht um den silberblonden Haarknoten geschlungen. Resi in Lichtblau, die hellbraunen Haare ohne jeden Schmuck aufgesteckt. Die beiden konnten sich sehen lassen.

Marlisens Augen blitzten, ihr Gesicht strahlte.

»Du, ich freue mich riesig! Wenn ich nur wüßte, wer alles kommt. Hast du keine Ahnung?« »Keine Ahnung, es sollte alles Überraschung sein, wollte Vater. Schließlich ist mir's auch einerlei.«

»Mir auch. Wenn sie nur tüchtig tanzen können und mit sich reden lassen. Tanzen, Resi, Tanzen ist mein Leben!«

Bild: Richard Gutschmidt

So standen die beiden vor dem großen Spiegel und besahen, was sich ihnen dort zeigte.

Sie wirbelte um die eigene Achse, daß es Resi ganz schwindlig wurde.

Die war etwas stiller, ihr war beklommener zu Mut.

Auf einem Haustöchterchen liegen bei solcher Gelegenheit allerhand Sorgen, außer der ums eigene Ergehen.

»Du, wenn nur der Braten reicht, er ist kleiner, als er bestellt war, und die Bowle –«

»Denkt das Mädel an den Magen! Geh, schäm dich!«

»Du hast gut reden. Für dich ist Tischlein deck dich daheim. Ich sehe hinter die Kulissen und –«

»Da hinten aber ist's fürchterlich,
Und der Mensch versuche die Götter nicht
Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
Was sie gnädig bedecken mit Nacht und mit Grauen«

zitierte Marlise lachend und etwas frei.

»Du hast gut reden,« sagte Resi noch einmal und seufzte ein klein wenig.

»Wo ist die Nadel, die ich dir geschenkt habe?« erkundigte sich nun Marlise eifrig.

»Ach, Marlis, die ist viel zu schön für mich. Bedenk doch, Brillanten.«

»Torheit, die paar Splitter. Ist nicht der Rede wert. Aber die Türkisen werden zu dem Kleid reizend aussehen. Hier steckst du sie hin!« Und kategorisch befestigte Marlise die Geburtstagsnadel vorn an Resis kleinem viereckigem Ausschnitt.

Tort sah sie wirklich allerliebst und fein aus, das bemerkte auch Resi und wollte der Freundin gerührt und dankbar um den Hals fallen.

Die schob sie von sich.

»Du zerdrückst mir ja das ganze Kleid,« zankte sie. »Soll ich's noch einmal bügeln?«

»Um alles,« rief lachend Resi, »und verbrennen!«

»Drum eben,« sagte Marlise trocken. »Vorwärts, marsch!«

»Du, Marlis, mir wird angst und bange! Da fährt wirklich schon ein Wagen vor!«

»Kleines Schaf!« sagte Marlise lakonisch, faßte die Freundin unter und zog sie mit sich fort.

»Du, die Kinder wollten uns noch sehen. Ich habe versprochen –«

»Selbstredend,« sagte Marlise.

Ein entzücktes »Ah!« empfing sie im Kinderzimmer.

Hänsel und Gretel stürmten auf die beiden los.

Resi wehrte sie ängstlich ab. Marlise aber nahm einen der kleinen Schelme nach dem anderen auf den Arm. Jetzt gab's keine Sorge um ein zerdrücktes Kleid!

»Du mis fallen,« sagte Hänsel, »du sein Assenbrödel, wo Ball dehen.«

»I wo, Marlise ist eine Prinzessin, Hänsel,« sagte Gustel, die mit strahlenden Augen Marlise umkreiste und mit spitzen Fingern an ihr herumzupfte.

Else seufzte laut und lange.

Sie musterte beide kritisch.

»Resi gefällt mir auch,« sagte sie dann gönnerhaft. »Ich hätte gar nicht gedacht, daß sie so nett aussehen kann!«

»Hm,« sagte Gustel, die nun ihrerseits kritisch die Schwester betrachtete, »weniger nett als lieb!«

Marlise lachte hell auf.

»Ihr seid mir ja höfliche Leute, ihr zwei. Bedank dich, Resi. Übrigens, daß ihr's nur wißt, der Resi reicht keine von euch das Wasser. So, da habt ihr's. Es bleibt außerdem bei der Verabredung, Else, Gustel. Denkt daran!«

Die beiden blinkerten ihr in heimlichem Einverständnis zu.

Resi wollte eben fragen, worum es sich handle, da donnerte wieder ein Wagen vor.

»Du, wir müssen hinunter, Resi, die Gäste kommen!«

Schnell wurden die Kleinen noch einmal umarmt, dann eilten die beiden zur Treppe.

Marlise flog voran, Resi folgte langsamer.

Marlise wäre fast gegen einen Herrn angerannt, der unten im Vorsaal stand und seine Handschuhe anzog.

Er konnte nur eilig beiseite treten. Belustigt sah er ihr nach.

Sie achtete nicht auf ihn und flog vorüber, so brachte er seinen Gruß erst bei Resi an.

Im festlich erleuchteten großen Empfangzimmer waren schon einzelne Gäste.

»Wo bleibt ihr, Kinder?« raunte die Mutter Präsident den beiden zu. »Flink, begrüßt zuerst die Damen!«

Sittig neigten die beiden jungen Gestalten sich, hier, dort.

Eben hatte Marlise wieder zum Knicks angesetzt, der einer besonders ehrwürdigen alten Dame gelten sollte, da schnellte sie mitten drin auf.

Ihr Blick war auf die Tür gefallen, durch die eben ihre Mutter und ihr Onkel eintraten.

»Mammi,« jauchzte sie und flog quer durch den Raum, »Mammi, da bist du ja!«

Glückselig stand sie vor der Mutter.

Die machte ein ganz entsetztes Gesicht.

»Marie-Luise, bedenke doch –«

Aber die bedachte gar nichts, das heißt, bedachte nur, daß sie die Mutter so »ewig lange« nicht gesehen hatte.

Sie hielt den Arm um sie geschlungen und rieb ihr strahlendes Gesichtchen an deren Wange.

Schmunzelnd stand der Onkel dahinter. Und noch jemand schmunzelte, der's sah, und das war ein großer, schlanker junger Herr, der unweit davon stand.

Wenn die beiden, die da schmunzelten, gegenseitig das Wort hätten hören können, das sich ihnen fast gleichzeitig auf die Lippen drängte, sie wären ob der Übereinstimmung sehr erstaunt gewesen.

Dies Wort war: Irrwisch!

»Irrwisch,« sagte nun der Onkel laut, »guten Abend, Irrwisch!« Marlise nickte dem Onkel zu und streichelte ihm liebkosend über die Rockklappen, ohne die Mutter loszulassen.

»Muß erst Abbitte leisten, Onkelchen. Eher ist mir nicht wohl.« Sie winkte bedeutungsvoll nach der Mutter hin. »Ist der Ausreißerin verziehen, Mammi?«

Die seufzte.

»Was kann ich tun, Kind?«

»Mich anbrummen, Mammi, mich zausen, kneifen. Ich weiß, ich hab's verdient, Mammi; aber, Mammi, es war zu schön, mal so ganz allein in die Welt hineinzufliegen!«

Der Herr an der Tür hätte beinahe laut hinausgelacht. Wie reimte dies »schön« sich zu dem Abteil dritter Klasse, zu dem Schreihals im Wollentuch?

Der Onkel sagte nur eilig: »Na, laß gut sein, Irrwisch. Mutter verzeiht dir diesmal noch, da alles gut abgelaufen ist. Geh, amüsier dich!«

Der Schwester ernstbekümmerte Miene mochte ihm auf die Dauer doch nicht ganz zuverlässig erscheinen. Stellte man sie zu lange auf die Probe, dann brach das verhaltene Unwetter sicher noch irgendwie los. Und dem Kinde sollte heute nichts die Laune trüben.

Marlise schüttelte den Kopf, sie machte ein sehr zerknirschtes, drollig verlegenes Gesicht.

»Ich hab' ja noch was zu beichten, Onkelchen, denk dir. Merkst du gar nichts, Mammi?«

Sie ließ die Mutter plötzlich los, trat ein paar Schritte zurück und sah bedeutsam an sich nieder.

Verständnislos blickte die Mutter ihr Kind an. Die Marlis wurde ganz ungeduldig.

»Und du, Onkelchen, siehst du auch nichts? Dich geht's nämlich besonders an.«

»Mich? Laß mal sehen!« Mit kritischem Blick überflog er die Nichte. »Ich sehe ein Spitzbubengesicht mit Flunkeraugen drin und einer Greisenmähne drüber!«

»Greisenmähne! Pfui, Onkelchen, wie unhöflich. Einerlei. Mich selber meine ich gar nicht. Das Gesicht schaut einen Tag drein wie den anderen. Nein, das Kleid meine ich, nur das Kleid.«

Jetzt wurde die Mutter aufmerksam.

»Ja, Kind, laß mal sehen, das kenne ich ja gar nicht. Weil es auch weiß ist, fiel es mir zuerst gar nicht auf. Was steckt da nun wieder dahinter, Marie-Luise?«

Die Stimme klang sehr streng.

»Wir sollten endlich unsere Wirte begrüßen, Helene,« drängte der Onkel.

Frau Helene hörte gar nicht.

»Marie-Luise,« sagte sie noch einmal mahnend, strenger noch als zuvor.

Marlise hing das Köpfchen. Ein Blick drolligster Zerknirschung traf von unten auf die Mutter.

»Ja, Mammi, wir, der Doktor und ich, meine ich –«

Der Herr an der Tür auf seinem erst unfreiwilligen Lauscherposten, den er aber jetzt nicht mehr aufgeben konnte, ohne sofort bemerkt zu werden, trat etwas zurück, spitzte aber die Ohren umsomehr.

»Was redest du da, Marie-Luise, welcher Doktor?« hatte inzwischen die Mutter ungeduldig gefragt.

»Na, eben der Doktor von neulich, Mammi,« sagte Marlise unbekümmert. »Er half den Karton tragen, wir haben ihn wohl nicht ganz wagrecht gehalten. Kurz, der ganze Inhalt war auf ein Klümpchen gerutscht und das Kleid sah gräßlich aus. Ich wollte es bügeln, Mammi, hab's auch wundervoll fertig gekriegt, wirklich, Mammi. Bloß vorn im Rock hat's ein großes braunes Loch gegeben. Das Rese-Mütterchen meinte, da sei nichts zu machen. Da hab' ich eben ein neues kaufen müssen, siehst du, etwas anziehen mußte ich doch, Mammi, nicht? Sehr teuer war's, glaub' ich, nicht, ich weiß nicht so recht. Onkelchen zahlt's gern, nicht wahr, Onkelchen?«

»Allemal, Irrwisch, soll mir eine Ehre sein!«

Marlise stutzte.

»Onkelchen!«

»Irrwisch?«

»Sag, daß du's gern zahlst!«

Sie hatte ihn mit beiden Händen am Bart gefaßt, den sie zauste.

»Gern, Onkelchen?«

»Fürs Leben gern, Irrwisch!«

»Siehst du, Mammi!« Triumphierend nickte sie der Mutter zu. »Bügeln habe ich dabei gelernt, Onkelchen, ich sag' dir, wundervoll. Ich kann dir deine Kragen und Manschetten bügeln, wenn du willst.«

»Behüte!« wehrte der Onkel in komischem Schreck.

»Na, also nicht. Mir auch recht,« sagte Marlise trocken. Plötzlich wandte sie sich der Mutter zu.

»Sag doch nur ein Wort, Mammi,« flehte sie in den weichsten Tönen. »Sieh, meine Schuld war's doch nicht, wenn das eklige Eisen das Loch brannte. Sag nur ein Wort, Mammi, damit ich weiß, daß du nicht zürnst.«

Beweglich sah sie die Mutter an. Kampfbereit trat der Onkel näher.

»Ich zahle das Kleid, Helene, und zahle es gern, damit ist die Sache doch wohl erledigt.«

Frau Helene seufzte.

»Mammi,« flehte Marlise noch einmal.

»Laß gut sein, Kind. Möchte das Leben dir nie die Lehren geben müssen, die ich dir nicht geben kann. Du hast recht, Fritz, wir sollten unseren Wirten endlich guten Abend sagen. Vor allem Resi Glück wünschen.«

Der Raum hatte sich inzwischen mehr und mehr mit Gästen gefüllt. Die Gruppe an der Tür war somit unbemerkter geblieben.

Aber die Absicht, nun endlich die Gastgeber zu begrüßen, sollte von Mutter und Onkel noch immer nicht ausgeführt werden. Frau Helene Wreden wollte eben den Arm des Bruders fassen, da machte ein Laut der Überraschung von Marlise sie stillstehen und sich umsehen.

»Da ist er ja!« hatte Marlise gerufen und war auf einen Herrn, der unweit an der Tür stand, zugeeilt. »Der Doktor!« hatte sie zuvor noch erklärend mit heller Stimme den Ihrigen bedeutet.

Jetzt stand sie dort und schüttelte mit freudestrahlendem Gesicht dem Herrn wie einem alten Bekannten die Hand.

»Herr Doktor, wissen Sie, daß Sie ein rechter Duckmäuser sind! Weshalb haben Sie gestern nicht erzählt, daß Sie heute hier sein werden?«

Sie sah ihn mit großen strahlenden Augen unbefangen an.

Er neigte sich lachend.

»Wollte meinerseits auch einmal den Vorteil haben, überraschen zu können. Gnädiges Fräulein haben den bis jetzt stets vor mir voraus gehabt.«

Marlise kicherte.

»Im Sturm damals freilich! Und dann gestern mit dem Schreikind, übrigens –«

Er ließ sie nicht ausreden.

»Darf ich bitten, mich mit den Herrschaften bekannt zu machen?«

Er hatte die befremdeten Mienen von Mutter und Onkel gesehen, die unwillkürlich hinter Marlise her zu ihm herangetreten waren.

Marlise wandte sich, sofort ganz junge Dame.

»Erlaube, Mammi, daß ich dich mit Herrn Doktor Ebert bekannt mache. Meine Mutter, Herr Doktor Ebert, Onkelchen, mein Onkel, Herr Fritz Erich Albers, gleicher Firma!«

Da war der Schalk wieder.

Der Onkel drohte mit dem Finger. Dann bot er Doktor Ebert die Hand.

»Ich höre, Sie haben meiner Nichte einigemal aus der Klemme geholfen, in die ihr – na, sagen wir Übermut, sie brachte. Herzlichsten Dank für die gehabten Bemühungen.«

»Nicht der Rede wert, Herr Kommerzienrat. War mir eine ganz besondere Freude, dem gnädigen Fräulein in ihren kleinen Nöten ein wenig behilflich sein zu können.«

»Dem Hut hab' ich dafür aus der Klemme geholfen, Onkelchen, so sind wir quitt!« meinte Marlise und lachte.

»Irrwisch!« Mehr sagte der Onkel nicht.

»Meine Tochter hat das ganz besondere Geschick, sich mit Vorliebe in allerlei Klemmen zu fangen, Herr Doktor,« sagte nun auch die Mutter liebenswürdig. »Da ist es für uns wirklich ein Trost, wenn sie dabei an ritterliche Hilfe gerät. Immer kann man ja dafür nicht stehen.«

»Aber, Mammi,« schmollte Marlise.

»Nun müssen wir aber wirklich zu Präsidents,« mahnte der Onkel. »Dort sehe ich Resi!«

Man verabschiedete sich von dem Doktor.

»Bis nachher.«

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor! Ohne Klemme heute!«

Das hatte Marlise gesagt und war hinter Onkel und Mutter hergehuscht. –

Bei Präsidents wurde viel gespielt. Präsident Köller liebte das sehr.

So saßen denn auch jetzt alle Väter und Mütter, Onkel und Tanten an den Spieltischen versammelt. Skat und Whist war die Losung.

Ein paar Tanten und Mütter nur, die gar keinen Kartenverstand zu haben erklärten, saßen nebenan, wo eben die Jugend zum Tanz antrat.

Marlise hatte Resi in einen Winkel gezogen.

»Du, er ist da!«

»Wer?« hatte Resi darauf natürlich erstaunt gefragt.

»Ei, der Doktor!«

»Der Doktor?«

»Frag doch nicht so albern,« hatte Marlise ganz ärgerlich gesagt. »Ich hab' dir's doch erzählt. Der aus dem Sturm und vom Bahnhof her.«

Zerstreut hatte Resi vor sich hin genickt. Sie hatte an so vielerlei zu denken.

Da hatte ihr Marlise einen Stoß gegeben.

»So interessier dich doch ein bißchen. Dort kommt er!«

Und da hatte Doktor Ebert auch schon vor den beiden gestanden, hatte sich vor Marlise geneigt, und die war sehr vergnügt mit ihm davongeflogen.

Es war ein Walzer.

Unermüdlich drehte sich Marlise mit ihrem Tänzer, Runde um Runde. Ein paarmal hatte er einhalten wollen. Da hatte Marlise den Kopf gehoben.

»Bitte, nur noch ein bißchen, ich tanze Walzer nämlich so schrecklich gerne und die Gelegenheit dazu ist so selten.«

Dem war nicht zu widerstehen. Doktor Max Ebert hatte nur gelächelt und sich geduldig weiter gedreht.

»So ein Irrwisch natürlich,« war es ihm durch den Sinn gefahren.

Er selbst war kein begeisterter Tänzer. Aber das Gesichtchen unter dem weißblonden Scheitel an seiner Schulter sah so strahlend aus, daß er nicht das Herz hatte, der Lust ein Ende zu machen.

»Wie lange tanzen gnädiges Fräulein schon?« fragte er einmal zwischendurch.

»Ich, o ewig!«

»Das heißt?«

»Seit ich aus den Tragkissen bin mindestens. Erst faßte ich meine Puppen, dann meine Röckchen, dann kam der Rollo, der Franz, der Friedrich daran, Onkels Kontorherren, sehr wählerisch war ich nicht, dann in der Schule die Mädels, jetzt sind Sie an der Reihe.«

Er lachte und sagte: »Danke! Eine stattliche Reihe von Vorfahren. Große Ehre!«

»Sie nämlich in generis meine ich. Die Herren im allgemeinen,« bedeutete Marlise.

»Und sind gnädiges Fräulein mit dieser neuen Phase zufrieden?«

»Ob's einen Fortschritt bedeutet, frage ich mich immer noch.« Sie lachte ihn so lustig an, er mußte mitlachen, obgleich die Antwort nicht die war, die er hatte hören wollen.

»Mir kommt's nämlich nur aufs Tanzen an,« setzte sie noch erklärend bei. »Und die Mädels waren darin nicht so faul wie die Herren.«

»Verbindlichsten Dank!«

Sie sah ihn vergnügt an.

»Sie machen wirklich eine glänzende Ausnahme, Herr Doktor. Es hat's, glaub' ich, noch keiner so lange ausgehalten wie Sie!«

»Also 1a,« sagte er lachend.

» 1a,« bestätigte sie lakonisch und drehte sich, drehte sich unermüdlich.

Der Walzer war zu Ende.

»Schade,« sagte Markise und seufzte. »Die albernen Pausen sind unausstehlich.«

»Verzeihen Sie, aber der Mund will auch sein Recht.«

»Und danach der Magen. Puh, mir graut vor der großen Essenpause, die wieder lange genug dauern wird. Was könnte man da nicht alles tanzen.«

»Darf ich gnädiges Fräulein zu Tisch führen? Vielleicht kann ich das Grauenhafte etwas leichter machen.«

»Meinethalben,« sagte sie und lachte. »Aber an die Tür müssen wir uns setzen, ja? Ich halte nämlich wirklich das lange Stillsitzen nicht aus. Es geht mir gegen die Natur – und dann –« – sie sah ihn schelmisch herausfordernd an – »dann habe ich auch noch so meine Privatverabredungen.«

»Die Geheimnis sind?«

Sie nickte.

»Und bleiben!«

»Wollen gnädiges Fräulein vielleicht wieder ausrücken?«

Sie nickte schelmisch.

»Nicht weit diesmal. Weder der Sturm noch die Eisenbahn haben damit zu tun. Walter, Walter, hier bin ich!«

Sie war aus der Fensternische vorgeschnellt, worin sie Platz genommen hatten.

»Er sucht mich nämlich. Ich habe ihm den zweiten Tanz versprochen.«

Fort war sie.

Das Gesicht, womit Doktor Ebert ihr nachschaute, war nicht sehr freundlich.

Und ja, wirklich – er brummte wieder etwas wie »Irrwisch« in den Bart.

Die Augen aber folgten unermüdlich dem Irrwisch, der nun im Galopp mit dem Sohn des Hauses an ihm vorübertanzte.

Als sie dann im Promenieren an ihm vorüberkam, schürzte sie die Lippen, zuckte die Achseln, kurz, gab auf jede Weise ihr Mißfallen an dieser Art des sich Fortbewegens kund.

Er mußte vor sich hinlachen.

Noch mehr lachen aber mußte er, als er sie beim nächsten Rundgang sagen hörte: »Lassen Sie uns doch tanzen, Walter, reden können wir ja jeden anderen Tag. Ich mache mir gar nichts aus dem albernen Herumlaufen und Unterhalten.«

Da hatte der junge Offizier sich auf die Lippen gebissen.

»Wie Sie wollen, Marlis!« Damit hatte er den Arm um seine Dame legen und mit ihr forttanzen wollen.

Sie aber war stehen geblieben.

»Beleidigt brauchen Sie gar nicht zu sein, Walter. Ich meine natürlich nicht, daß Ihre Unterhaltung albern sei, sondern daß es albern ist, sich zu unterhalten, wo man tanzen kann. Ich tanze doch so gern, Walter!«

Der junge Offizier hatte gelacht und war ganz versöhnt mit ihr davongetanzt.

»Ehrlich und offen,« hatte Doktor Ebert vor sich hin gesagt und ein sehr warmer Blick war dabei in seinem Auge gewesen.

Dann hatte er sich besonnen, daß er mit der Tochter des Hauses noch nicht getanzt habe.

Flink machte er sein Versäumnis gut

Danach stand er wieder vor Marlise.

»Dürfte ich bitten, mein gnädigstes Fräulein?«

»Schon wieder?« sagte die, unbefangen lachend, »gerne. Nein, warten Sie. Sehen Sie doch mal dort die Gerta, 's ist eine sehr liebe Freundin von mir. Die dort, mit dem betrübten Gesicht, sehen Sie. Sie tanzt nämlich nicht gut, und – ja, ist vielleicht auch nicht so hübsch, wie jede gerne wäre – ich mag ihr Gesicht übrigens sehr, es ist so gut – ja und da – da hat sie nicht so viele Tänzer wie andere. Sehen Sie, dort drücken sich wieder mal ein paar zur Tür hinaus, und der Walter sieht sich vergebens um. Gehen Sie doch mal hin und holen Sie Gerta, ja? Ich wäre Ihnen so dankbar und es wäre so nett, und –«

»Und gnädiges Fräulein?«

»Ich? Je nun, ich ruhe einmal aus, ich bin nämlich wirklich müde, und wer weiß, vielleicht kommt mittlerweile auch einer oder der andere von den Herren wieder. Auf jeden Fall, ja, gehen Sie zu Gerta?«

Er neigte sich stumm und stand gleich danach vor dem Mauerblümchen drüben.

Dessen verklärtes Gesicht hätte ihm Lohn genug sein können. Aber Marlisens strahlender Blick lohnte ihn noch außerdem.

»Das war wirklich nett,« lobte sie ihn danach so recht anerkennend wohlwollend wie eine gute alte Tante.

Er mußte sich auf die Lippen beißen, um nicht laut hinauszulachen.

Einen Tänzer aber hatte Marlise doch noch gefunden. – – –

Man saß bei Tisch.

Seinem Versprechen gemäß hatte es Doktor Ebert so einzurichten gewußt, daß er für seine Dame und sich Plätze an einem Tisch in der Nähe der Tür erhielt.

Die Gesellschaft war sehr zahlreich und glänzend. Außer den älteren Herrschaften waren etwa fünfzehn bis zwanzig tanzende Paare anwesend.

Es waren zwei große Tafeln gedeckt. An einer hatte der würdigere Teil der Gesellschaft Platz genommen, an der anderen saß die Jugend.

Neben Marlise und Doktor Ebert, die am unteren Ende des Tisches saßen, hatten rechts Resi, links Gerta Dillen, das Mauerblümchen von zuvor, mit ihren Herren Platz gefunden.

Marlise jubelte.

»Wie herrlich, da sind wir ja ganz unter uns! Wollen wir mal fidel sein, Resi. Was?«

Resi nickte, aber ein etwas ängstlicher Blick streifte dabei über die Tafel hin und haftete an den Mädchen, die gerade das Servieren begannen.

Marlise sah's und lachte hell auf.

»Sehen Sie doch das Hausunkchen, Herr Doktor. Sitzt da und hält den Atem an, ob auch alles am Schnürchen geht. Sollte mir eben fehlen.«

Sie warf den Kopf zurück.

Resi war ganz verlegen.

»Das gnädige Fräulein ist eben Haustochter,« sagte Doktor Ebert, um Resi zu Hilfe zu kommen.

»Nun und –?«

»Schließt eine gewisse Verantwortung ein –«

»Puh!«

»Eine gewisse Pflicht und –«

»Du lieber Himmel!«

»Und Pflichten muß der Mensch haben,« schloß Doktor Ebert, ohne sich irre machen zu lassen, mit einer Verbeugung und einem lachend herausfordernden Blick auf Marlise.

»Stimmt! Sagt Mammi auch.« Marlise sagte es ganz treuherzig ernst und nickte dazu mit dem Köpfchen, daß die weißen Ringellöckchen zitterten und wippten. »Mir leuchtete bloß bis jetzt der bekannte Reim: häuslich-scheußlich! mehr ein!«

Sie lachte wie ein Kobold.

»Marlis! Aber Marlis!«

Resi war ganz entsetzt.

»Was gibt's, geliebte Moraltante? Dies hier ist nämlich mein verkörpertes Gewissen, Herr Doktor, und das zwickt und kneift mich nicht übel.«

Sie fuhr Resi liebkosend über die heiße Wange und sah sie dazu mit den Schelmenaugen ganz wunderbar warm an.

Resi aber wehrte ab. »Ach, geh, du bist abscheulich.«

»Wieso?«

Marlise sagte es ganz kriegerisch herausfordernd.

»Laß sie, Resi,« sagte Gerta Dillen und mischte sich zum ersten Male in die Unterhaltung. »Du weißt, die Marlis macht sich immer schlimmer, als sie ist!«

»Na, na, auch noch,« entgegnete lachend Marlise, »wo wollte denn das hinaus?«

»Wer hat denn neulich, als euer Hausmädchen ein paar Tage so elend war, und es nicht Wort haben wollte, darauf bestanden, ihre Pflichten zu übernehmen, he?«

»Wer hat für die alte Ricke und unter deren Aufsicht gekocht, als die sich den Kopf so schlimm gestoßen hatte? Wer –«

»Ach was, Spielerei! Wer hat aber dabei Mammis schönste Vase entzwei geschlagen und dem Onkel die liebsten Leckerbissen versalzen und verbrannt? Wer? Eure ergebenste Dienerin! Und wer schwatzt aus der Schule und verklatscht eine unschuldige Freundin? Ihr! Schwarze Seelen! Ich entweiche!«

Sie hatte ihr Glas aufgegriffen und war damit quer durchs Zimmer geflogen, dorthin, wo Präsident Köller saß.

»Na, Irrwisch?« rief der gutgelaunt. »Wieder mal auf der Reise? Prosit!«

»Prosit, Onkel Präsident,« hörte man sie mit ihrer hellen Stimme sagen. »Ja, die dort sind mir zu gesetzt und alt!« Ein Schelmenblick flog über die Schulter zurück. »Da wollte ich lieber mal zu den Jungen kommen! Prosit!«

Sie stieß an das gebotene Glas, daß es hellen Klang gab. Zu hellen! Sie hielt nur noch den Fuß des ihren in der Hand. Die Scherben lagen ihr zu Füßen, der Inhalt floß in schimmernden Perlen über ihr Kleid hinunter.

»O weh! Marlis, wie ungeschickt!«

Ganz erschrocken und verdutzt stand sie da mit weit aufgerissenen entsetzten Kinderaugen.

Es war fast komisch anzusehen.

»Marie-Luise!«

Was alles in dem Anruf lag!

Frau Helene Wreden war von Präsident Köller zu Tisch geführt worden, saß also dicht daneben.

»Mammi, ich – je, ja, wie kann man auch wissen, daß so 'n dummes Ding so leicht entzwei geht.«

»Glück und Glas, wie leicht bricht das!« sagte lachend Präsident Köller. »Geh, Irrwisch, reiß die Augen nicht so entsetzt auf, es geschieht dir von niemandem etwas.«

»Weiß nicht,« sagte Marlise sehr kleinlaut, warf noch einen scheuen Seitenblick auf die Mutter und huschte davon.

Vor dem Stuhl der Frau Präsident blieb sie stehen und faltete flehend zerknirscht die Hände. Ein stummes, aber bewegliches Mienenspiel.

Lachend winkte die ihr ab.

»Das soll das größte Unglück sein, Kind!«

»Danke, Rese-Mütterchen.«

»Onkelchen, was sagst du?«

Sie war hinter des Onkels Sitz stehen geblieben und zupfte ihn leicht am Ohr.

»Irrwisch!« sagte der nur und lachte.

Bild: Richard Gutschmidt

»O weh! Marlis, wie ungeschickt!«

»Bezeichnend,« entgegnete sie und hing den Kopf. Dann war sie wieder an ihrem Platz.

»Das habt ihr nun davon,« sagte sie strafend zu Resi und Gerta.

»Wären gnädiges Fräulein sitzen geblieben, so wäre dies alles nicht passiert,« begann Doktor Ebert sehr weise.

Da fuhr ihn Marlise an: »Wäre der Junge nicht auf den Baum gestiegen, wär' er nicht runtergefallen! Kenne ich. Billig! Wenn Sie auch noch mit Moral kommen, kneife ich aus, daß Sie's nur wissen!«

Marlise war recht ungnädig.

»Marlis!«

Resi faßte mahnend ihre Hand.

»Ja, ja, herzliebes Gewissen, an mir ist Hopfen und Malz verloren.«

Doktor Ebert sah etwas ungewiß drein, faßte sich aber schnell.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein, werde mir nie wieder erlauben –«

»Ich kann Kritik vertragen, Herr Doktor, wirklich,« sagte Marlise da sehr liebenswürdig, »namentlich, wenn sie von guten Bekannten kommt. Und die sind wir doch?«

»Kriegskameraden,« war die lachende Erwiderung. »Erst im Sturm, dann im Kampf mit dem Dra–, wollt sagen Schreikind. Heute –«

Das Wort wurde ihm abgeschnitten.

Präsident Köller hatte sich erhoben und schlug ans Glas.

Er ließ sein Kind, das Geburtstagskind, leben und führte launig aus, wie Kinder ins Leben der Eltern eingreifen, vom Schreikind in der Wiege an bis zur erwachsenen Tochter, die einen Hausball begehrt.

»Und nun sehen Sie sich den Revolutionär und Wühlhuber dort an, meine Herrschaften. Sieht das nicht aus, als ob es kein Wässerlein trüben könnte? Prosit, Kind!« so schloß er.

Die errötende Resi sah sich von allen Seiten umringt, alle Gläser hoben sich ihr zu.

Dieser ersten Tischrede folgten noch weitere. Die Wirte, die Gäste, die Damen dienten der Reihe nach als Thema.

Das Mahl nahm seinen fröhlichen Verlauf.

Je mehr die Zeit vorrückte, desto ungeduldiger wurde Marlise.

Sie hielt es kaum mehr auf ihrem Sitz aus, und ein paarmal war sie schon an eine nahe Glastür gehuscht und hatte durch einen Spalt im Vorhang hinausgespäht.

»Was gibt's, Marlis?« fragte Resi sehr erstaunt.

»Laß mich, ich halte das Stillsitzen nicht mehr aus!«

Marlise war ganz ärgerlich. Sie gab nur noch sehr knappe Antworten. Alles an ihr fieberte vor Ungeduld, man sah es deutlich.

Jetzt hielt sie den Blick unverwandt auf Präsident Köller geheftet. Als er sich ihr zuwandte, hob sie so flehend beschwörend die Hände, sah so bedeutungsvoll nach dem Nebenraum, daß die Meinung nicht mißzuverstehen war.

Präsident Köller lachte laut hinaus, nickte gewährend und flüsterte einem Diener etwas zu, der eilends verschwand.

Marlise atmete hörbar auf.

Mit lustigem Tusch setzte das kleine Orchester im Nebenraum ein, um alsbald in einen feurig lockenden Tanz überzugehen.

Im Nu standen die Paare geordnet. Auch den älteren Herrschaften war die Tanzweise lockend in die Glieder gefahren.

Vergebens sah Doktor Ebert sich nach seiner Dame um. Die weißblonden Ringellöckchen über dem welligen Scheitel, die lichtbraunen, blitzenden Schelmenaugen, die leichte schlanke Gestalt war nirgends zu entdecken.

Da hörte er ein Kichern im Rücken, hörte ein Hin- und Herhuscheln, leicht schlürfendes Geräusch im Nebenraum.

Er stand an eine Glastür gelehnt, die in ein Vorzimmer führte, dieselbe, durch die Marlise während des Essens einige Male so eifrig gespäht hatte.

Ein klein wenig schob er die verhüllenden Vorhänge zur Seite. Da bot sich ihm ein niedlicher Anblick.

Die er suchte, Marlise, drehte sich dort im Kreise zusamt einem Mädel mit fliegendem Zopf, einem Schulmädel offenbar.

Ein anderes stand daneben mit allen Zeichen der Ungeduld.

Jetzt faßte Marlise das zweite Schulmädel, das erste drehte sich wie ein aufgezogener Automat allein weiter.

Mit dem zweiten wollte es nicht so recht gehen. Marlise ließ es fahren, faßte ihr Kleid und drehte sich zierlich im Kreise. Sie erteilte wohl Unterricht.

Dies zweite Schulmädel begriff nicht leicht. Marlise schob und zog an ihr herum. Dann kam die erste wieder dran und dann –

»Werden wir nicht einmal die Freude haben, Sie draußen im Waldhaus bei uns zu begrüßen, Herr Doktor?«

Kommerzienrat Albers war zu Doktor Ebert herangetreten.

»Sie sind sehr gütig, Herr Kommerzienrat. Gerne würde ich Ihrer Einladung nachkommen, wenn meine Abreise von hier nicht schon für die allernächste Zeit festgesetzt wäre.«

»Sie gehen fort?«

»Ich habe mich für zwei Jahre als Assistenzarzt an einer Berliner Klinik verpflichtet.«

»Schade. Und bald schon?«

»In acht Tagen.«

»Und dann?«

»Dann muß ich sehen, wo ich mein Domizil aufschlage. Wir armen Jünger Äskulaps haben's nicht leicht heutzutage. Auf einen Patienten kommen bald ja wohl drei Doktoren durchschnittlich.«

Er lachte, ein frisches, frohes Lachen, das sich nicht anhörte, als ob er es scheute, sich in einen Wettkampf mit den dreien einzulassen.

»Aber sehen Sie doch, Herr Kommerzienrat, sehen Sie doch!« Sein Blick war wieder durch den Ritz im Vorhang gefallen.

Lächelnd erweiterte er den ein bißchen, so daß auch Kommerzienrat Albers bequem durchschauen konnte.

»Potztausend, der Irrwisch hält Privatball!« hatte der lachend gesagt.

Drinnen hatte sich die Szene kaum geändert. Nur behauptete das größere der Mädels nun länger den Platz als Marlisens Tänzerin.

Die kleinere drehte sich ungeduldig hinterher.

Da flog die Tür drinnen krachend auf.

Zwei kleine Gestalten erschienen Hand in Hand. Unter den langen weißen Nachthemden sahen die nackten Füßchen vor. Beide strebten eiligst auf Marlise zu. Man hörte ein Kichern, ein Zwitschern. Marlise hielt die beiden Schelme gefaßt und küßte ihre schlafheißen Gesichter.

Dann gab's einen fröhlichen Ringelreihen, dann – ja dann erschien Mutter Präsident unter der Tür und wies wie der Engel des Gerichts mit erhobener Hand hinaus.

Wie ein Märchenspuk zerstob die niedliche Szene drinnen – die Schulmädels, das kleine weiße, verschlafene Pärchen, die zürnende Mutter, waren verschwunden. Nur Marlise war geblieben, als einziges Zeichen, daß nicht alles nur ein Traum gewesen war.

Sie starrte einen Augenblick auf die geschlossene Tür. Dann faßte sie zierlich ihre Röcke mit spitzen Fingern und drehte sich wirbelnd und neigend im Walzertakt um die eigene Achse. Man hörte sie mit klingender Stimme die Melodie dazu singen.

»Irrwisch!« sagte der Onkel vor sich hin und schmunzelte. Dann besann er sich und pochte an die Glasscheibe.

Die Tänzerin drinnen wandte das Köpfchen, sah den Onkel, warf ihm eine Kußhand zu und – drehte sich weiter.

Da pochte er stärker und winkte.

Sie flog auf die Tür zu und stand mit leuchtendem Gesichtchen vor ihm.

»'s war herrlich, Onkelchen! Hab' mich mal so richtig ausgetanzt.«

»Hab's gemerkt,« sagte er trocken.

Jetzt sah Marlise den Doktor.

»Hab' ich's nicht gesagt, mit Schulmädels geht's besser. Das war nämlich meine Verabredung,« rief sie lustig. »Aber nun komm, Onkelchen, einmal mußt du doch mit mir tanzen.«

Sie schob ihren Arm in den des Onkels und zog ihn im Sturmschritt mit sich fort.

Der hatte nur Zeit, den Kopf nach dem Doktor zu wenden, die Achseln zu zucken und folgte dann ergeben seinem Schicksal. –

Man war bei dem Höhepunkt der Festlichkeit angelangt.

Es wurde die Blumentour getanzt.

Marlise saß wieder neben Doktor Ebert oder vielmehr, ihr Sitz war dort.

Sie selbst wirbelte wieder und wieder im Arm eines anderen Tänzers durch den Saal, und die ihr gebrachten Blumenspenden mehrten sich überwältigend.

»Ich könnte sechs Arme und ein Dutzend Hände brauchen,« seufzte Doktor Ebert komisch verlegen. Er hatte sich erboten, die seiner Dame geweihten Spenden zu verwahren. »Solcher Segen ist erschreckend.«

»Sage ich auch,« stimmte sie eifrig bei, »möchte nur wissen, wie so –«

Da stand wieder einer und hielt ein paar duftige Rosen in der Hand.

»Wollten Sie die nicht lieber –«, ein bezeichnender Blick flog zu einer in der Nähe sitzenden jungen Dame, der es leichter wurde, das ihr Gebotene zu verwahren. »Nein, warten Sie mal, die Rosen sind doch zu reizend!«

Und lachend flog Marlise im Arm des Spenders davon.

Die Ordentour folgte.

Marlise hatte viel zu tun, sich aller ihrer Pflichten aber rasch entledigt.

»Onkel Präsident und Onkelchen müssen die schönsten haben!« Das war ihr das wichtigste gewesen.

Doktor Ebert hatte aussuchen helfen müssen.

»Und nun für Sie selbst, Herr Doktor!«

»Was, ich soll auch einen haben?«

Er schien sehr erstaunt zu sein.

»Wer sonst?« sagte Marlise unbefangen. »Sie haben sich doch so redlich Mühe gegeben mit dem Tanzen.«

Er sah sie ungewiß an und biß die Lippen zusammen, ein Lächeln zu verbergen.

»Sie brauchen gar nicht zu lachen,« sagte sie ganz ernst, »ich weiß, wie ungern Herren tanzen; Herren sind eben so gräßlich faul, sehen Sie!«

Da mußte er doch laut hinauslachen, und sie stimmte lustig ein.

»Gnädiges Fräulein sind wohl sehr fleißig?«

»Ich? Na, wie man's nimmt.« Sie zögerte einen Augenblick. »Ich bin wenigstens den ganzen Tag unterwegs.«

»Irrwisch,« wäre es ihm fast entschlüpft.

»Sind gnädiges Fräulein eigentlich nie müde?«

»Kenne ich gar nicht.«

»Und Abends?«

»Nur schläfrig.«

»Feiner Unterschied! Was tun gnädiges Fräulein den ganzen Tag?«

»Ich? O tausenderlei. Warten Sie mal. Ja, eigentlich kann ich das gar nicht so genau sagen. Auf dem Lande gibt es eben so viel, wonach man sehen muß.«

Es klang sehr wichtig.

Er blieb ganz ernst.

»Zum Beispiel?«

»Ja, gleich Morgens zum Beispiel die Veilchen am Hag. Wenn ich die nicht früh hole, kommen mir die Dorfkinder dahinter. Dann muß Rollo seine Bewegung im Park haben, da rennen wir um die Wette. Dann kriegt Beauty ihren Zucker. Dann die Tauben, die Kaninchen, Mammi, Onkelchen, mein Rad, das neue Auto – der Onkel hat mir's erst ganz kürzlich geschenkt – Sie glauben nicht, wie viel's zu tun und zu bedenken gibt, 's ist eine ewige Hetzjagd!« So schloß sie, ganz atemlos vom Aufzählen.

Er schmunzelte.

»Scheint so!«

»Sie glauben überhaupt nicht, wie herrlich es da draußen auf dem Lande ist! Wie kann man sich nur so unter Mauern vergraben! Ich hielte es nicht mehr aus. Beim ersten Frühlingslüftchen fange ich an, Onkelchen zu drängen, bis wir draußen sind. Das alte Haus hier ist dann das reine Gefängnis. Oft sind wir freilich noch tief in den Schnee gekommen, aber das ist erst recht köstlich.« Sie kicherte. »Sie müssen sich unser Waldhaus draußen einmal ansehen kommen, Herr Doktor. Ich würde – das – das heißt, Mammi und Onkelchen würden sich sicher sehr freuen.«

Sie hatte sich ein bißchen verwirrt.

»Und gnädiges Fräulein?«

Da sah sie ihn schon wieder ganz offen und unbefangen mit den frohen Kinderaugen an.

»Ich doch natürlich. Wir sind so gute Kameraden gewesen.«

»Schade,« sagte er ernst, »daß es nicht sein kann.«

»Weshalb nicht?«

Die Stimme nahm ein klein wenig den Klang eines verzogenen Kindes an, das an eine Verweigerung irgendwelcher Art nicht gewöhnt ist.'

»Weil ich abreise.«

»So bleiben Sie!«

Es klang ganz selbstverständlich.

»Kann ich nicht.«

»Weshalb nicht?«

Der gleiche Tonfall von zuvor noch um weniges verstärkt.

»Ich habe Pflichten, ich –«

Marlise fuhr sich mit den Händen nach den Ohren.

»Dies gräßliche Wort macht mich noch ganz krank! Pflichten! Allemal, wenn Mammi besonders unglücklich über mich ist, muß ich das Wort hören. Ich bin nämlich Mammis Schmerzenskind, wissen Sie,« – ein schelmisch verlegener Blick traf den Doktor – »Mammi hat ihre liebe Not mit mir. Ich –«

»Marie-Luise,« sagte eine Stimme ganz dicht bei den beiden.

Marlise fuhr herum.

»Da bist du ja, Mammi, eben redeten wir von dir. Ich erzählte dem Herrn Doktor, wie viel ich dir zu schaffen mache. Nun kannst du's ja bestätigen.«

Die Mutter mußte lachen.

»Das bedarf wohl gar keiner Bestätigung meinerseits, fürchte ich. Mein Bruder sagt mir, daß Sie unsere Stadt verlassen, Herr Doktor?«

»Bald schon, gnädige Frau.«

»Sie machen einen guten Tausch. Berlin muß ein interessanter Aufenthaltsort sein.«

»O weh, immer noch mehr Mauern,« sagte Marlise.

»Für mich kommt ja einstweilen nur die Klinik dort in Betracht, gnädige Frau. Ich will tüchtig arbeiten.«

»Das Beste, was der Mensch tun kann. Alles andere resultiert daraus. Wir müssen uns verabschieden, Marie-Luise, es ist Zeit.«

»Schon?« Marlisens lachendes Gesicht zog sich bedenklich in die Länge.

»Kaum zwölf Uhr, gnädige Frau,« wagte Doktor Ebert einzuwerfen.

»Onkelchen bleibt sicher noch. Ich will –«

Marlise wollte davonhuschen, aber der Mutter Hand hielt sie fest.

»Mammi, es ist noch so schön, bitte, bitte!«

»Ich bin recht müde, Kind.«

Marlise sah in der Mutter Gesicht – es sah so müde, so blaß aus.

Unwillkürlich legte sie den Arm um deren Schultern und schmiegte ihr blühendes Gesicht an die blasse Wange.

»Dann gehen wir natürlich, Mammi! Warum hast du das nicht gleich gesagt, du Böse? Gute Nacht, Herr Doktor, und leben Sie wohl! Vielen Dank noch für die Hilfe in der Not. Die Welt ist rund. Wir sehen uns wohl noch einmal wieder. Dann kann ich vielleicht vergelten.«

Sie hatte ihm dabei flüchtig die Hand gereicht, hatte ihn mit warmem, offenem Blick gestreift und – war davon.

»Ich verabschiede mich schnell, Mammi,« hatte sie noch über die Achsel zurückgerufen.

Man sah sie dann von einem zum anderen huschen, kichern, lachen, man hörte ihre helle Stimme und dann, dann hatte sie Resi gefaßt, war mit ihr zur Tür gewirbelt und – fort war sie.

Doktor Ebert stand und starrte die Tür an.

Es war alles so schnell gekommen, daß er sich nicht gleich zurechtfinden konnte.

Er besann sich erst darauf, daß Frau Helene Wreden noch neben ihm stand, als er sie halb lachend, halb entschuldigend sagen hörte: »So ist meine Tochter nun einmal, alles muß im Wirbel gehen. Mein alter Kopf kommt nur schwer mit. Entschuldigen Sie, Herr Doktor, und leben Sie wohl. Nehmen Sie auch noch meinen besten Dank für alles. Ich sage wie Marie-Luise: vielleicht auf Wiedersehen!«

Tief hatte er sich über die gebotene Hand geneigt und sie ehrfurchtsvoll an die Lippen gezogen.

Dann hatte er auch Frau Helene Wreden und den Kommerzienrat verschwinden sehen.

Plötzlich fiel ihm ein Patient ein, bei dem er im Krankensaal noch vorsprechen wollte. Zu spät durfte er auch da nicht kommen.

Rasch verabschiedete er sich.

Drunten hielt ein Wagen vor der Haustür.

Vor den ungeduldig scharrenden Pferden stand eine schlanke Gestalt.

Sie klopfte die feinen Hälse der Tiere und hielt dazu auf einer Hand irgendwelche Leckerbissen hin.

»Langsam, Hektor, Bella,« hörte man sie kichern, »immer hübsch eins nach dem anderen. Ja, die Marlis hat an euch gedacht. Die Zuckerdose hat's büßen müssen. Das Rese-Mütterchen wird Augen machen. Hier, so! Gleich, Mammi, gleich!«

»Irrwisch, vorwärts!« klang jetzt des Onkels Stimme aus dem Wagen. »Die Pferde stehen nicht gern.«

»Wenn ich sie mit Zucker füttere, ha, ha, Onkelchen, die ständen bis übermorgen. So, Schluß!«

Das galt den Pferden, denen sie nochmals die Hälse patschte.

Dann huschte Marlise nach dem offenen Schlag.

»Da bin ich, und nun los!«

Der Schlag flog zu.

Die Pferde zogen an – heidi – fort ging's.

Dort lag was am Boden.

Doktor Ebert bückte sich danach.

Ein Rosenzweiglein war's, ein künstliches – Heckenröslein.

Hatte er nicht ein ähnliches diesen Abend um einen weißblonden Haarknoten geschlungen gesehen?

Richtig. Er sah ordentlich das lichte Gekräusel darüber hinzittern.

»Irrwisch,« brummte er vor sich hin. »Muß ihr das Ding doch morgen zuschicken.«

Vorsichtig barg er den Zweig in seiner Tasche, nahm ihn aber nach kurzer Zeit wieder hervor, um ihn nicht zu zerdrücken. Bei der Lampe daheim unterwarf er ihn nochmals einer gründlichen Besichtigung.

Doktor Ebert hatte plötzlich ein großes Interesse für die Blumenindustrie gefaßt.

»Habe gar nicht gewußt, daß das Zeug so wunderbar naturgetreu nachgeahmt wird,« brummte er ab und zu vor sich hin. »Wirklich interessant, wirklich!«

»Morgen früh eingepackt! Denk dran, Doktor! So etwas verliert man nicht gern!«

Wie dem nun war, Marlise Wreden mußte sich dennoch in den Verlust finden. Wenigstens kam der Rosenzweig nicht wieder in ihren Besitz.

Er war wohl auf der Post verloren gegangen. 'So etwas kommt zuweilen vor. Und ist so natürlich bei dem großen Verkehr!

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