Viktor von Knobelsdorff
Unter Zuchthäuslern und Kavalieren
Viktor von Knobelsdorff

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Flucht

Plotho nimmt mich mit. – Das russische Wunder. – Ein paar Ueberraschungen. – Der Einbruch in das Lager von Chabarowsk. – Erneute Vorbereitungen. – Los! – Im Zuge. – Wieder in Irkutsk. – Weiter nach Westen. – In Moskau. – Die Fahrt des Artilleristen. – Am Ziel.

Ich habe auch an Sie gedacht,« sagte mir Hauptmann v. Plotho und entwickelte die Einzelheiten eines Unternehmens, dessen Durchführung uns in die Heimat bringen sollte. Es ähnelte dem Irkutsker Versuch, wie ein Bruder dem anderen. Ein Telephonogramm mußte uns nach Petrograd zur Verfügung des Großen Generalstabes rufen. Das konnte Gutes, aber auch Schlimmes für uns bedeuten. Was wir dort sollten, das war ungewiß, und das war gut. Denn diese Ungewißheit würde jeden etwa aufsteigenden Verdacht von vornherein ersticken. Selbstverständlich würde uns ein Konvoi transportieren. Das aber hatte auch seine gute Seite; wir sparten so die Ausgabe für die Fahrkarte.

Unterwegs hatte dann jeder zuzusehen, wie er sich loslöste. Vielleicht auch brachte uns der Konvoi gar nicht bis nach Petrograd, sondern begnügte sich damit, bis zu seinem Heimats-Gouvernement mitzufahren, um sich dort selbst von der Fahne zu beurlauben. Mit einigem Geschick und ein wenig mehr Geld war wohl auch dieses zu erreichen. Sollte jedoch ein Fortkommen unterwegs nicht möglich sein, nun, dann mußten wir in Petrograd zusehen, was sich da machen ließ. Zunächst kam es darauf an, hier fort und möglichst bis hinter den Baikal-See zu gelangen. Dort waren wir vor dem Zugriff dritter Mächte sicher. Natürlich würde das Ganze eine Stange Gold kosten. Aber das notwendige Geld ließe sich beschaffen.

Was war da noch zu überlegen? Ich gab meine Zusage.

Besondere Vorkehrungen waren für die lange Reise nicht zu treffen: ich besaß alles, was ich brauchte. Das einzige, was ich zu tun hatte, war, mit keiner Miene zu verraten, daß ich meine Zimmergenossen bald verlassen würde. An ihrer Zuverlässigkeit war nicht zu zweifeln: aber die Erfahrung gebot, zu schweigen.

Die Finanzierung der Flucht erledigte sich ohne besondere Schwierigkeiten. So streng auch unsere Bewachung von außen anzusehen war, so wies sie doch in ihrer Handhabung Lücken auf, die groß genug waren, um der Tätigkeit eines Mittelsmannes freien Spielraum zu gewähren. Durch diesen traten wir an einen russischen Geldmann heran. Der ausgezeichnete Ruf, den das Deutsche Offizier-Korps in der Welt besaß, trug Früchte. Ohne daß einer von uns den Geldgeber jemals sah, erhielt jeder, was er anforderte, auf die einfache Verpflichtung hin, es zu bestimmtem Zeitpunkte zurückzuzahlen. Wo in aller Welt ist ein Beispiel gleich vertrauensvoller Kreditgewährung zu finden!

Ein Kommandoschreiber wurde angeworben. Ihm lag ob, während der Dienststunden am Fernsprecher einen Befehl entgegenzunehmen, ihn, wie üblich, niederzuschreiben, zu wiederholen und zur Eintragung ins Tagebuch weiterzureichen. Dann hatte er als Begleitmannschaften für uns nur solche Leute auszuwählen, die in den östlichen Gouvernements Rußlands beheimatet waren. Er hatte also nichts anderes, als seine tägliche Arbeit zu tun. Kein Außenstehender, weder Russe noch Lagergefährte, konnte merken, daß das Getriebe militärischer Geschäftsgepflogenheiten in den Dienst unserer Absicht gestellt wurde.

Planmäßig ging alles vor sich. Die in der Lagerkommandantur als Hilfsarbeiter beschäftigten Kriegsgefangenen erfuhren als erste von unserem Abtransport. Einen Augenblick später war er im Lager der Österreicher bekannt. Ein paar Minuten darauf kam in Begleitung eines Wachtmannes unser ausgezeichneter Feldprediger Wiese freudestrahlend in den Pavillon und verkündete, daß soeben ein Telephonogramm des General-Kommandos Chabarowsk eingegangen sei: »Die Hauptleute Freiherr v. Plotho und Maske, die Oberleutnants v. Knobelsdorff und v. Roques, die Leutnants Graf Plauen, v. Bergmann und Hertramph, Fähnrich v. Boetticher und Franz, der Bursche, sind auf Befehl des Großen Generalstabes sofort zu seiner Verfügung nach Petrograd in Marsch zu setzen.« – »Bitte noch einmal, wer alles?« Die Genannten heuchelten erstaunte, freudige und auch besorgte Mienen. Was sollten sie da? Keine Ahnung! Ausgetauscht werden? Für irgendwelche Vergehen dort vors Gericht? Oh, alles war möglich. Man riet hin, man riet her. Nichts war gewiß. Nur die Tatsache blieb. Wollen sie ausrücken? Auch der Gedanke tauchte auf, aber er ließ sich durch nichts begründen. Schließlich war es ja etwas Alltägliches, daß Gefangene von einem Ort zum andern verschickt wurden.

»Vorwärts, macht Euch reisefertig!« – »Wann geht's dann fort?« Ah, so schnell geht das nicht! Überweisungspapiere und Fahrscheine müssen erst ausgefertigt, ein Konvoi muß bestimmt werden. Das Lager hatte kürzlich einen neuen Kommandanten erhalten; der wollte auch erst die einschlägigen Bestimmungen studieren, ehe er uns entließ. Nein, so schnell ging das nicht. Übermorgen, da wäre alles bereit.

Aus deutschem feldgrauem Sommerstoff hatte ich mir zu Wintersanfang an Stelle einer Uniform einen schmucken Zivilanzug bauen lassen. Die Stunde seiner Verwendung war gekommen. Jetzt hatte ich mir nur noch eine geeignete Kopfbedeckung zu verschaffen, denn meinen Panamahut konnte ich im Winter doch nicht gut tragen, und mit meiner Pelzmütze war Dietze durchgegangen. Ich nahm schließlich eine Fellmütze, die ein freundlicher Zimmergenosse einst in Taschkent erstanden hatte.

Die Stimmung derer, die zurückbleiben sollten, war nicht gerade rosig. Schließlich trösteten sie sich mit dem Gedanken, daß auch ihnen die Stunde der Erlösung, hoffentlich bald, schlagen würde. Was sollten wir auch vor ihnen voraushaben?

Mittwoch, der 6. Februar 1918, war für die Abfahrt bestimmt. Die Papiere waren fertig. Der Konvoi lungerte bereits herum. Zwei Drittel der Bestechungsgelder waren gezahlt. Wir warteten startbereit. Da – geschah das russische Wunder.

Der Konvoi wurde zum Empfang der letzten Anweisungen ins Geschäftszimmer gerufen. In Vertretung eines erkrankten Schreibers hatte ihn ein Offizier abzufertigen. Dieser war von Deutschland gegen andere Schwerverwundete ausgetauscht worden; nun tat er hier Bürodienst. »Wo sind die Papiere?« – »Hier!« – »Wohin geht der Transport?« Nach Petrograd, entziffert er, zur Verfügung des Großen Generalstabs. »Nach Petrograd? Ich habe doch eben irgendwo gelesen, daß Transporte nach Petrograd nicht mehr in Marsch zu setzen sind?« Er blättert im Tagebuch und sucht den Befehl. Richtig! Da steht es: »Infolge drohender Hungersnot sind Transporte nach Petrograd nicht mehr in Marsch zu setzen. Großer Generalstab.« Nie wäre einem Russen, der nichts anderes als seine Heimat kannte, eingefallen, irgendwelche Bedenken in sich aufkommen zu lassen. »Zieht los!« hätte jeder gesagt. Diesem aber war in der Gefangenschaft der Sinn für Ordnung geweckt wurden. »Wo ist der Befehl für den Abtransport?« fragte er. Ein Schreiber reichte ihn. Da stand's: »Der und der und der und der sind sofort zur Verfügung des Generalstabs nach Petrograd in Marsch zu setzen. Petrograd, den 2. Februar '18. Großer Generalstab.« Soll der Transport nun abgehen oder nicht? Einmal heißt's so und dann wieder anders. Wie schön ist's da doch, wenn man sich um die Verantwortung drücken und sie seinen Vorgesetzten zuschieben kann. Mögen die entscheiden: war's falsch, trifft sie die Schuld. Du aber giltst als ein gewissenhafter Mann, der in Treue seine Pflicht erfüllte.

»Ob der Transport nach Petrograd abgehen soll?« erkundigt er sich am Fernsprecher in Chabarowsk. »Was für ein Transport?« fragt das ahnungslose General-Kommando zurück. »Na, die neune aus dem Strengen Regime!« – »Welche neune?« – Er nennt die Namen. »Anhalten! Hier ist nichts davon bekannt. Das muß erst festgestellt werden.« – »Wartet!« wird dem Konvoi befohlen. Zwei Minuten später wissen wir alles. Was nun?

Dableiben? Ausgeschlossen. Also fort. Aber wie? Das mußte sich finden. Unwiderruflich stand in uns der Entschluß fest, auf und davon zu gehen. Soviel ich weiß, glückte es allen. –

Natürlich gab es kluge Leute, die jetzt, nachdem sie alles wußten, das sichere Mißlingen unseres Planes bestimmt, ganz bestimmt hätten voraussagen können. Ein glatter Wahnsinn war's zu glauben, daß jemals kranke Phantasie in rauher Wirklichkeit Ereignis werden könnte. Wir aber dachten: »Better a witty fool, than a foolish wit« und handelten danach.

Schön war das Wetter am Nachmittag des 6. nicht, und am Abend setzte Schneesturm ein. Unter diesen Umständen dachte die Bewachung nicht daran, daß einer fliehen könnte; sie war ohne Argwohn und wurde zudem noch sorglos gemacht. Des weiteren sorgte das Glück dafür, daß die abendliche Zählung durch den Offizier vom Lagerdienst ausfiel. Was Wunder, daß alle Genannten bis auf Plotho, Maske, mich und den Burschen bis zum nächsten Morgen verschwunden waren. Jeder besaß irgend einen Ausweis, mit dessen Hilfe er sich durchzulügen hoffte. Für meinen hatte ich 25 Rubel im Voraus bezahlt. Als ich ihn in der Hand hielt, sah ich, daß er wertlos war. Dennoch mußte er fürs erste genügen. Vielleicht gelang es, unterwegs bessere Papiere zu kaufen.

Von einer bequemen Reise konnte nun nicht mehr die Rede sein. Was du am Leibe trugst, das hatte auch dein Gepäck vorzustellen. Herrlich war die seidene Wäsche. Ein Hemd beanspruchte kaum mehr Platz in der Rocktasche, als ein leinenes Schnupftuch: trotzdem konnte ich von meiner unter mancherlei Entbehrungen erstandenen Habe nur den geringsten Teil mit mir führen. Alles, was nicht unbedingt notwendig war, gab ich – nicht ohne Seufzer – fort. Die Hose aus Sommerstoff, nun, die konnte ich jetzt nicht anziehen: die mußte in den Koffer: der Bund wärmte Rücken und Schultern, und die kreuzweis übereinander gelegten Beine panzerten die Brust. Statt ihrer kam eine aus Jaroslawl mitgebrachte, die Sensation des Pavillons, wieder zu Ehren. Herrn v. Bergmann hatte sie gelegentlich zu dem schönen Vers begeistert:

Wir haben hier auch 'nen Neuruppiner,
Der geht gekleidet wie ein Wiener.
Besonders seine Hose,
Die hat mir scheußlich imponiert,
Sie sitzt so schick und lose.

Nun sollte die von Dichtermund besungene im Verein mit einem kurzen Pelz von ähnlicher Façon, der noch des preisenden Sängers harrte, mich durch jede Fährnis tragen.

Zwischen Wecken und Morgenzählung stahlen wir uns davon. Durch das noch menschenleere Lager der Österreicher ging es nach dem Zimmer des Kapitäns Habenicht, der sich seit einiger Zeit größerer Freiheit erfreute, und nun wie die übrigen Kriegsgefangenen gehalten wurde. Dort warteten wir. Dann brachte uns ein zuverlässiger Österreicher durch die Lagerwache. »Nach dem Lazarett!« rief er in die Wachtstube hinein. Der Wachthabende trat heraus, musterte uns. »Ein Mann Begleitung!« befahl er. »Schließ auf!« rief er dem Posten zu. Niemand durfte ohne Ausweis das Tor passieren. Gehorsam öffnete der Posten die Pforte. Wir gingen voran. Der Wachtmann folgte.

Etwa zehn Minuten Wegs waren zurückzulegen. Wir waren ein Stück gegangen, da drehte Plotho sich um und sagte zu dem Wachtmanne: »Wir finden schon allein den Weg. Du kannst ruhig wieder zurückgehen!« Es war kalt. Vielleicht wirkte die Kälte noch überzeugender als die Worte: der Russe kehrte um.

Im Lazarett versorgte uns ein deutscher Sanitäter mit Frühstück, während wir auf Nachricht warteten. Die Frage war: müssen wir zu Fuß nach Chabarowsk, oder bringt uns ein Schlitten hin? Wir können einen Schlitten bekommen. Gut. Auf ins Dorf! Mit langen Schritten hasten wir ihm zu. In gleißendem Sonnenschein durcheilen wir ein funkelndes, glitzerndes Schneefeld. Das schönste Wetter ist unser Begleiter und verspricht uns weiteres Gelingen.

Alles hatte bislang geklappt, so wie es gestern verabredet worden war.

Drüben im Lager mußten sie inzwischen das Nest leer gefunden haben. Was sie dabei wohl für Gesichter machten? Wo mochten sie uns suchen? Der Weg fiel nach dem Flusse zu ab und entzog uns rasch den Augen etwaiger Verfolger.

Tief im Schnee vergraben lag das Dorf. Bald hatten wir es erreicht. Wir gingen in ein Haus. Ob uns wohl ein Schlitten zu Einkäufen nach der Stadt bringen könne? Ja, das ginge. Rasch einigten wir uns über den Preis. Der Bauer spannte an. Der Schlitten stand bereit: ein auf Kufen gesetzter Waschkorb. Stroh bedeckte den Boden. Wir nahmen Platz, einigten uns mit den Beinen, und los ging die Fahrt.

Ich saß mit dem Rücken zum Kutscher. Schnee, wohin das Auge blickte. Schnee. Schnee. Schnee. Eis und Schnee. In gemächlichem Trab ziehen wir dahin. Dann und wann überholen wir einen Fußgänger, begegnen einem Schlitten. Weiter, immer weiter lassen wir das Lager zurück, näher, immer näher trägt uns unser Gefährt einer ungewissen Zukunft entgegen.

Was wollten wir? Zunächst 'mal 'rein in die Stadt! Dort sollte uns einer weiter helfen. Wie? Ich wußte es nicht. Würde es gelingen? Ungewißheit erfüllte mein Herz. Hoffnung und Furcht lagen in erbittertem Streit.

Wir fahren über das Eis des Stromes. Mittag liegt hinter uns. Da taucht ein dunkler Punkt am Horizonte auf, saust mit Windeseile heran, scheint jetzt ein jagender Wolf, und ist einen Herzschlag später eine Troïka, die pfeilschnell auf uns zufliegt. Uniformen werden erkennbar. Offiziere! Der Lagerkommandant! Ungewiß ist's, wie du aus der ›Kiste‹ steigst, wenn sie vom Himmel trudelt und weder Verwindung noch Steuer gehorcht, ungewiß bis zur Landung. Ungewiß war, was nun kommen würde. Verfolgten sie uns? Was führte sie zur gleichen Stunde den gleichen Weg? Unbeantwortet blieben die Fragen, mußten es bis zur Entscheidung bleiben. Stärker aber zerrten sie an den Nerven, als es je Feind und Gefahr vermochten.

Da ist die Troïka heran. Horch! Wie schlägt dein Herz! Jetzt überholt sie uns. Du kaust an einem Strohhalm. Spuckst ein Stückchen aus: so! kaust weiter. Die Troïka fliegt vorbei. Musternd ruhen die Augen der Offiziere auf den Insassen des Schlittens. Jedem einzelnen sind wir genau bekannt. Keiner erkennt uns.

Chabarowsk! Langsam klettert der Schlitten das Ufer hoch. Wir sind da. Eine Sekunde später gehen wir die Straße entlang. Plotho führt. Wir folgen, jeder für sich, mit einigem Abstand.

Plotho betritt einen Laden. Maske folgt ihm. Franz sieht nur hinein, dreht um. »Leute!« raunt er mir im Vorübergehen zu. Soldaten verlassen das Geschäft. Frei? Ich trete ein. Soldaten stehen wartend am Ladentisch, ein Verkäufer bedient. Etwas abseits spricht Plotho mit dem Besitzer. Wo ist Maske?

Hinter dem Ladentisch, halbrechts in der Ecke, ist eine Tür. Ich sehe nichts, wie diese Tür, denke nichts, wie diese Tür, gehe um den Ladentisch herum und öffne die Tür. Tu', als wenn ich zum Hause gehörte. Der Verkäufer will mir nach. »Es ist gut,« winkt der Besitzer ab. Ich gehe weiter. An Regalen mit Vorräten vorbei, gelange ich in einen Vorratsraum, bleibe dort am Fenster stehen und warte. Was nun? Alles geschah wie im Traum.

Nach einer geraumen Weile sieht der Besitzer hinein. »Guten Tag!« wünsche ich. Er nickt mit dem Kopf, verschwindet. Endlos scheint mir die Zeit.

Wo sind die anderen? Was wollen wir hier?

Endlich tritt Plotho aus einer Tür. Winkt. Ich folge. Da sitzen sie in einem dürftig eingerichteten Zimmer. »Knobel, Sie haben vorhin die Nerven verloren.« sagt Plotho. Stimmt. Er war fein heraus, sprach russisch wie ein Universitätsprofessor, ich, wie ein Räuber. Die Vokabeln kannte ich nicht, die ich hier in diesem Laden hätte brauchen können. Von meinem Umgang hatte ich sie nie gehört.

Was Plotho dem Besitzer erzählt hatte, weiß ich nicht mehr. Immerhin war er freundlich genug, uns zu erlauben, den Einbruch der Dunkelheit bei ihm abzuwarten.

Jedem war klar, daß wir mit unseren mangelhaften Ausweisen nicht weit kommen würden. Bei der ersten Kontrolle wurden wir gefaßt. Wir mußten uns gute Pässe und bis zu ihrer Erlangung ein sicheres Quartier verschaffen. Es gab da einen in der Stadt, der dazu vielleicht verhelfen konnte. Franz mußte fragen gehen. Vor dem Kriege hatte er bereits als Arbeiter lange Jahre in Rußland gelebt. In nichts unterschied er sich in seinem Äußeren von den Einheimischen. Er konnte uns also nur nutzen. Deshalb wurde er mitgenommen. Irgend welche Mittel besaß er nicht.

Nach einer Stunde kam er zurück. Wir würden bei Einbruch der Dunkelheit erwartet. Zugang von hinten, durch den Hof.

Es dunkelte. Wir verließen den Unterschlupf. Viele drehten sich – wie heute Mittag schon – nach mir um. Später erfuhr ich den Grund: am Amur trug man andere Mützen als zwischen Tschu und Syr-Darja! Meine Kopfbedeckung wirkte in den Straßen von Chabarowsk wie ein Reiherhut auf einer Kirchweih.

Wir folgten der belebten Straße. Plötzlich war Franz verschwunden. Aha! hier mußte es wo sein! Da, durch die kleine Tür. Sie führte durch einen Hof zu einem größeren Gebäude. Im Flur des Hauses empfing uns ein Herr. Wir stellten uns vor und äußerten unsere Wünsche. Er öffnete eine Kellertür. Wir stiegen hinab.

Ein großes Gewölbe nahm uns auf. Es war bereits bewohnt. Offiziere vom Gefangenenlager Chabarowsk hielten sich hier verborgen und warteten auf die Gelegenheit, weiterzukommen. Sieh da, sieh da! Da waren ja auch zwei von den Ausreißern aus dem Pavillon! Wie man sich doch wieder zusammenfand.

Hier im nächtlichen Dunkel hatten wir uns nun für die nächste Zeit einzurichten. Wir fühlten uns geborgen. Die Spannung ließ nach, der Körper verlangte sein Recht. Seit dem frühen Morgen hatten wir nichts gegessen. Franz ging, um Wurst und Brot zu kaufen.

Ich suchte mir in einem Gang, der hinten im Dunkel in das Gewölbe mündete, einen Platz für die Nacht und legte dort meinen Pelz nieder. Hierauf setzte ich mich zu den anderen.

Unser Wirt tritt ein. »Darf ich Sie bitten, meine Herren, herzuhören,« wendet er sich an uns: »wie ich soeben erfahre, soll es zur Kenntnis der Russen gelangt sein, daß ich Sie hier beherberge. Um nicht kompromittiert zu werden, ist es notwendig, daß Sie sämtlich innerhalb fünf Minuten den Platz geräumt haben.« Alles stob auseinander, riß die paar Habseligkeiten an sich und jagte davon. Jeder dachte nur an sich: Weg! Fort! Ich sah gerade noch ein paar schattenhafte Gestalten verschwinden, als auch ich eine halbe Minute spater im Freien stand.

Ich war allein. Wo mochten die anderen geblieben sein? Wo hatte ich sie zu suchen? Ich wanderte den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren, und stieß auf Franz, der das eingeholte Abendbrot brachte. Keiner war ihm begegnet. Wir zogen Straß' auf, Straß' ab, niemand war zu finden.

Wo blieben wir die Nacht und wo die nächsten Tage? Wir schrieben den 7. Februar n. St. und befanden uns unter dem gleichen Breitengrad mit den Kurilen. Was soviel besagen will, wie: es ist verflucht kalt da oben in der Gegend zu dieser Jahreszeit!

In der Stadt war kein Unterkommen zu finden. Hotel- wie möblierte Zimmer gab es jetzt nur noch mit Erlaubnis des Ausführenden Komitees. An dieses aber konnten wir uns nicht wenden, denn Tschechen und dergleichen Kameraden der k. und k. Armee leisteten dort Spitzeldienste. Auch den Bahnhof machten sie unsicher, indem sie vor Abgang der Züge nach deutschen Gesichtern fahndeten. Das Geisha-Viertel der Stadt aufzusuchen, das hatte gleichfalls keinen Sinn: die Freuden der Venus wurden längstens für eine Nacht gewährt, und damit war nichts gewonnen. »Wo mögen nur die anderen sein?« grübelte ich; was für uns galt, das galt doch auch für sie!

Sie waren fast alle zum Bahnhof geeilt und in den ersten besten Zug gesprungen; unterwegs sind sie dann verhaftet und wieder eingesperrt worden. Plotho und Maske glückte es, noch rasch einen Treffpunkt mit unserem Wirt zu verabreden; er brachte sie anderweitig unter. Aber bei einem Ausgange erkannte sie ein Bundesgenosse und verriet ihren Schlupfwinkel den Russen. Die steckten sie nunmehr ins Lager Chabarowsk, wohin auch die übrigen Insassen des Strafpavillons infolge unserer Massenflucht überführt worden waren. Dies alles erfuhr ich in der Folge. Am späten Abend des 7. Februar aber wußten wir nichts von unseren Gefährten. Immer wieder klapperten wir die Straßen ab und suchten sie. So war es 1000 abends geworden. Da gaben wir die Hoffnung auf, sie zu finden.

Was sollten wir nun beginnen? »Franz, da gibt es nur noch eins! Wir brechen im Chabarowsker Lager ein und sehen zu, wie wir von dort weiterkommen!« Unter einigen hundert Offizieren und ein paar Dutzend Mannschaften mußten wir uns doch so verkrümeln können, daß wir nicht entdeckt wurden? Natürlich, das mußte gehen! Kitty würde helfen, die Asphaltblume. Gleich nach meiner Einlieferung ins Strenge Regime hatte Kettler die Verbindung mit mir aufgenommen. Jetzt war ich ihm über alles Erwarten nahe.

Ich nahm einen Schlitten, und wir fuhren in die mondhelle Nacht hinaus. Als wir das Lager erblickten, lohnte ich den Kutscher ab. Wir gingen zu Fuß weiter. Nun, das war keine Überraschung mehr, die sich uns da darbot: der hohe Zaun, der Stacheldraht, die Wachttürme, die Posten, die Patrouillen, ja, das kannten wir ja alles. Aus der Einfriedigung ragten die massigen Silhouetten großer steinerner Gebäude. Unbemerkt kamen wir an die Umzäunung heran. Nun hatte ich mich als Fassadenkletterer zu bewähren, denn das Gelände jenseits des Zauns mußte erst erkundet werden. Geräuschlos kletterte ich an der senkrechten Wand empor. Wahrhaftig! Das war nicht leicht! Mir wurde warm wie im Juli. Wenn die Patrouille vorbei war, mußten wir die paar Meter herunterspringen, dann auf den Lichtschimmer dort loslaufen. Das war der Feldzugsplan.

Franz warf Brot und Wurst über den Zaun: wir wollten doch nicht mit leeren Händen kommen! Still! Der Posten! Tapp, tapp, tapp, treten die Filzstiefel den weichen Schnee, kommen näher, gehen vorüber, treten weiter. Auf den Türmen dösen die Wachen vor sich hin und stampfen mit den Füßen. Achtung! Jetzt! Los! Runter von dem Wolkenkratzer! Glatte Landung. Ein Griff, die Wurst ist da. Das Brot ist nicht zu finden. Weiter!

Wir stürzen in den Schatten der Gebäude, schleichen uns an das Licht heran. Durchs Fenster ist nichts zu erkennen. Rein ins Haus! Ich öffne die nächste Tür und blicke in eine Kasernenstube russischer Soldaten. Zu! und raus aus dem Haus! Dorthin! Eine Gestalt wächst aus der Nacht. »Steh!« befehle ich auf russisch. »Halt's Maul, dummes Luder!« werde ich zur Ruhe gemahnt. Aha! ein Offizier! Gerettet.

»Knobelsdorff.« stelle ich mich vor. »Ah, Sie?« – »Ja,« antworte ich, »ich komme aus Krasnaja Rjätschka. Können Sie mir vielleicht sagen, wo Kettler wohnt?« – »Ich führe Sie!«

Über eine schwach erleuchtete Treppe geht's hinauf in den ersten Stock der nächsten Kaserne. »Hier!« Ein großes Zimmer voll kleiner Verschläge. Ganz hinten rechts am Fenster schläft Kettler. Da und dort brennt noch Licht. »Guten Tag, Kitty!« wecke ich ihn, »da habe ich Dir 'ne Wurst mitgebracht!« – »Knobel!« begrüßt er mich, »ich hab's ja immer gesagt, daß Du hier nochmal auftauchen würdest!« – »Also Du mußt uns verstecken, bis wir weiter können!« Franz wird untergebracht. Mir wird ein freies Bett neben Kittys Verschlag angeboten: morgen früh aber, noch vor der Zählung, darf ich nicht mehr zu sehen sein.

Zweimal, auch dreimal am Tage werden die Gefangenen von der immer gleichen Innenwache gezählt. Sie kennt jedes Gesicht ihres Bereichs. Vor ihr darf ich mich nicht blicken lassen. Auch das geht zu machen, und so bleibe ich im ›Kinderzimmer‹ heimatsberechtigt.

Am nächsten Morgen melde ich mich beim dienstältesten Offizier. Er bietet seine Hilfe an. »Danke, ich will niemandem lästig fallen. Auch wird meines Bleibens hier wohl nicht allzu lange sein, so hoffe ich.«

Kettler will auch fort. Aber noch fehlt es ihm an diesem und jenem. Es ist ihm erst später geglückt.

Tag um Tag verrinnt. Die Insassen des Strafpavillons haben ihren Einzug gehalten. Plotho und Maske sind eingeliefert worden, ich warte noch immer auf meinen Paß.

Endlich ist es so weit. Aber mittlerweile ist Krohn, mit dem ich anfangs zusammen fort wollte, in Arrest gesteckt worden. Ungewiß ist's, wie lange er dort bleiben wird. Sicher, daß ich nicht noch länger warten will. Doch nur Krohn allein kann die Pässe bekommen. Da bleibt nichts weiter übrig: Krohn muß hin! Ich werde ihn so lange im Arrest vertreten. Zur festgesetzten Stunde erwarte ich ihn im Abort. Pelzkragen hoch, Mütze tief im Gesicht kommt er herein. Während seine Wache in der Tür wartet, tauschen wir schnell wie Verwandlungskünstler Pelzmützen und Mäntel. Pelzkragen hoch, Mütze tief im Gesicht verlasse ich die ungewöhnliche Garderobe und werde als ein anderer zurückgeführt. Während der Zählung bin ich krank. Wozu braucht der wachthabende Offizier mein Gesicht zu sehen: genügt es nicht, daß ich im Bett liege?

Krohn ist zurück. Wenn Schiller heute noch lebte, ob er da wohl noch auf den guten Damon zurückgreifen würde? Der gleiche Trick wird noch einmal exerziert, und als Krohn verlasse ich die Arreststube, um draußen wieder Knobelsdorff zu werden.

»Besuch war da,« erzählte Kettler, als ich wieder kam. Röhrig, unser jüngster Leutnant, war gleichfalls aus dem Strengen Regime ausgebrochen und hatte im Marinelager – wenn ich nicht irre – Unterschlupf gefunden. Im Besitze eines Ausweises als Zahnarzt passierte er frei von Lager zu Lager. Wir kamen überein, gemeinsam loszuziehen. Ein Paß wurde ihm besorgt, und mit Hilfe unsichtbar tätiger Hände wurde uns der Boden für die ersten Schritte in die Freiheit geebnet.

Die echten, durch Wasserzeichen vor Nachahmung geschützten, Paßformulare waren teuer, dafür bildeten sie aber auch bei dem in aller zivilisierten Menschheit verbreiteten Aberglauben an die Heiligkeit amtlicher Dokumente den wirksamsten Schutz gegen alle staatlichen Organe. Sie stellten somit eine Tarnkappe dar, mit deren Hilfe es wohl möglich war, sicher in die Heimat zu gelangen. Ausweislich meines Passes stammte ich aus Walk, Röhrig aus Wenden in Livland. Wir waren beide infolge Krankheit von jeglichem Militärdienst befreit, – nein, wir brauchten nichts vom Soldatenhandwerk zu verstehen. Die Unterschriften der verantwortlich zeichnenden Beamten waren gefälscht. Das angebliche Dienstsiegel mit Kopiertinte hergestellt. Wenn jemand so lange wie ich im Zuchthaus gesessen hat, beherrscht er die einschlägige Technik. Einen besonderen Reiz aber gewährt es, sie in dem Lande zur Anwendung zu bringen, dem du diese Kenntnisse dankst.

Alles war wieder gut vorbereitet. Ich hatte mir eine mittelgroße Reisetasche zugelegt, die, außer Wäsche und Kleidung, reichlich Verpflegung enthielt. Oho, mir konnte so leicht nichts passieren!

Sonntag, der 3. März, war als Reisetag festgelegt. Im Laufe des Nachmittags fand sich Röhrig ein. 900 abends sollten wir abredegemäß das Lager verlassen. Zur selben Zeit erwartete uns draußen ein ortskundiger Führer. In der gleichen Nacht ging unser Zug.

Mit dem Posten vom hinteren Lagertor waren wir für ein paar Rubel handelseinig geworden. Wir wollten gewissermaßen offiziell das Lager verlassen. Wir hätten eine Verabredung im Dorf: er wäre doch sicher auch nicht so ungalant, daß er sein Mädchen warten ließe. Ja, da müßten wir wohl pünktlich sein. Nachher, wenn es dunkel wäre, dann sollten wir kommen. Auf die Minute waren wir da. Aber unser Posten hatte einen Schweinehund zu Besuch, wie er sagte: dem könne er nicht trauen: der würde ihn sicher verraten, wenn er sähe, daß er uns herausließe. Wir müßten warten. Wir warteten. Eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Der Schweinehund blieb. Wir konnten den Abmarsch nicht länger mehr hinauszögern. »Kitty, so geht's nicht! Wir müssen über den Zaun!« Kettler und noch ein paar halfen dabei. In hohem Bogen flog meine Reisetasche als erste über die Einfriedigung. Einen Augenblick später waren auch wir 'rüber. Wo ist meine Tasche? Pst! Gestalten tauchten aus der Dunkelheit auf. Wir machten, daß wir fortkamen. Mein Gepäck blieb liegen.

Lange nach der verabredeten Zeit stießen wir auf den Führer. Wir mußten uns eilen.

Um Kopf und Kragen ging es für unseren Begleiter. Wir konnten ihm beim Abschied nur dankbar die Hand drücken. Solche Leute gibt's! Setzen aus Liebe zum Deutschtum ihre Existenz aufs Spiel und nehmen dafür keinerlei klingenden Dank. Das Bewußtsein, einem Deutschen geholfen zu haben, gilt ihnen Ruhm und schönster Lohn. –

Verschneite Wege brachten uns nach der Stadt. Dunkle, menschenleere Straßen führten nach einem kleinen Hause. Schwacher Lichtschimmer drang durch die Spalten der Fensterläden. Unser Führer klopft, ein verabredetes Zeichen. Stichwort. Wir treten ein. Fahrkarten für die beiden Gentlemen! Geld. Eine Minute später folgen wir dem neuen Führer.

Der Schnee knirschte unter unseren Füßen. Oh, es war zu merken, daß man in Sibirien war. »Hier warten!« Irgendwo standen wir an einem abgelegenen Bahnübergang. Die Augen in das Grau der Nacht gebohrt, harren wir auf die Rückkehr des Helfers. Hu, wie lang sind dort die Nächte! Und wie weit die Wege! Geduld! Alles braucht seine Zeit.

»Die Karten.« – »Die Wagen?« – »Dort!« Wir gehen ein Stück die Strecke entlang, dann wird der Bahnhof sichtbar. Die Scheinwerfer zweier Lokomotiven blinken von fern. Jetzt sind wir an die schnaubenden Züge heran. Welcher ist's? Der rechte? Probieren. Wir sind wohl ein wenig früh? Die Abteile sind erleuchtet, aber leer. Wir können uns die besten Plätze aussuchen. Ein Schaffner kommt und löscht die Lichter aus. Da merken wir: wir sind verkehrt gegangen. Rasch in den anderen Zug!

Die Plattformen, die Trittbretter sind voller Menschen. Rücksichtslos stürzen wir uns ins Gewühl: stoßen, werden gestoßen, drängen, werden gedrängelt, werden schließlich emporgehoben, geschoben, fühlen wieder Boden unter den Füßen und stehen eingekeilt in drangvoll fürchterlicher Enge vor der Wagentür. Langsam rücken wir weiter, am Abort vorbei, in den Gang hinein. Rauch, Dunst, milchige Schwaden legen sich erstickend auf die Brust. Macht nichts: wir sind im Wagen; er ist bis auf den letzten Platz gefüllt: Menschen, Kisten und Kasten neben- und übereinander geschichtet. Da, einen halben Schritt vor mir, zwischen zwei Offizieren hindurch, erspähe ich neben dem Klosett ein kleines Käfterchen, den Platz für den Schaffner. Reisekörbe stehen dort: ich zwänge mich durch. Röhrig folgt. Noch eine Anstrengung, und schon hocken wir hoch oben auf dem Gepäck.

»Was macht Ihr da?« fragt ein in der Mitte des Wagens stehender Offizier und drängt sich durch. »Nichts,« antworteten wir. »Kommt herunter!« befiehlt er mißtrauisch. Gehorsam kletterten wir herab. »Wer sind Sie?«

Die Frage war billig. Auf dem Kopfe trug ich eine Soldatenmütze aus Krimmer ohne Kokarde. Ein sprossender Vollbart verdunkelte mein Gesicht, und die Mißgestalt meines Pelzes verlieh mir das Aussehen eines Menschen, von dem nicht ohne weiteres zu sagen war, was von ihm zu halten ist. War ich ein entsprungener Sträfling? Ein Bolschewist, der auf Beute zog? Ein schlechtbezahlter niederer Angestellter? Jede Frage blieb offen. So hatte ich es gewollt. So war ich angezogen.

Röhrig dagegen war ein feiner Herr. Das sah man. Schon im Pavillon wurde er mit seiner Eleganz geuzt. Jetzt imponierte er den Russen durch einen fabelhaften Pelz, und das Rauchwerk seiner Mütze atmete Wohlhabenheit. Er wußte: Kleider machen Leute und hatte Recht damit. Sein Gewand verlangte respektvolle Behandlung, und die wurde ihm ohne weiteres zugebilligt. Wir waren ein ungleiches Paar und eben deswegen in einer Republik unverdächtig. Denn wer könnte zum Beispiel bei uns, sagen wir einen Minister und seinen Parteifreund, frisch von der Straße weg oder aus dem Zuge heraus aufs bloße Aussehen hin verhaften lassen? Das geht doch nicht. In Rußland ging das auch nicht. Mithin paßten wir gut zusammen. Doch hier, wo es schien, als ob der Inhalt der Körbe uns angezogen hätte, war die Frage des Stabskapitäns berechtigt.

Ein Streichholz flammte auf und leuchtete mir ins Gesicht. »I–i–i–ii–ich b–b–b–bin Bu–bubu–bubu–Buchhalter!« stotterte ich. »Ich bin Kaufmann,« antwortete Röhrig. »Wwww–wir tun Iii–Iii–Ihnen nichts.« fuhr ich fort: »S–ssss–Sie brauchen keine A–aaa–A–Angst zu haben,« beruhigte ich ihn. »Entschuldigen Sie, wenn das Ihre Körbe sind,« bedauerte Rührig, »aber es ist sonst nirgendwo Platz.« Der Offizier winkte einen Kameraden heran, und dann mühten sie sich zu zweit ab, die Körbe fortzuschaffen. »So ist's besser für Sie,« sagte der Stabskapitän, nachdem er seine Habe in Sicherheit gebracht hatte, und wies auf die freigewordene Ecke.

Ein schmales Brett litt an Größenwahn und wollte durchaus ein Sitz sein. Binnen kurzem hatten wir heraus, daß es vortrefflich der Aufgabe gewachsen war, einen Menschen, den Schaffner, der während seines Dienstes nicht schlafen soll, daran zu verhindern. Noch eine Annehmlichkeit unseres Platzes entdeckte ich fast zur gleichen Zeit. Hm, das roch hier so eigentümlich! Vor uns war die Wand des Aborts. Das war eine Erklärung, aber eine unzureichende, wie mir schien. So durchlässig pflegt Holz doch sonst nicht zu sein, daß man des Glaubens sein könnte, die Wand sei überhaupt nicht da. Wenn man nur 'was sehen könnte! Undurchdringliches Dunkel hüllte den Fußboden ein. Die spärliche Beleuchtung des Wagens begnügte sich damit, sich selbst zu erhellen. Ja – das war ein bißchen naß da unten. Eine Teekanne, die ihren Inhalt verschüttet hatte? Mit der Zeit wurde der Geruch intensiver. Die Feuchtigkeit am Boden schien zuzunehmen. Ich zog die Füße hoch und stemmte sie gegen die Wand. Röhrigs Beine suchten sich im Gedränge des Ganges eine trockene Stelle. Als am Montag der junge Tag überallhin seine Boten sandte, fanden sie, daß unser Aufenthaltsraum mit dem Abort in einträchtigem Kommunismus lebte, und daß dieser, was er zu viel empfing, bereitwillig mit uns teilte.

Sieben Tage, vom 4. bis zum 10. März, hockte ich mit angezogenen Beinen in der Fensterecke, sieben qualvolle Tage wurde meine Nase von den häßlichsten Gerüchen gemartert. Die Furcht vor Entdeckung ließ mich nur zum Waschen meinen Platz verlassen. Die Verpflegung erstand Röhrig auf den Stationen: er sprach gut und geläufig Russisch.

Ich stellte mich krank. Da war verständlich, dah ich keine Lust zum Schwatzen hatte. Auch Röhrig vermied es, sich in endlose Unterhaltungen einzulassen. Zudem lag unser Zufluchtsort ein wenig abseits der strömenden Redefluten. Nur selten verirrten sich ein paar Pilger zu ihm. –

Aufatmend hatten wir Platz genommen. So, nun konnten uns die k. und k. Spitzel am Bahnsteig suchen! Wir saßen im Zug und hatten fürs erste nichts zu fürchten. Oder doch? Jeder Kilometer, den wir nach Westen rollten, ließ in mir die bange Frage immer wieder, immer dringlicher werden: wird es dir endlich dieses Mal gelingen, glatt nach Hause zu gelangen? Schon fast zu viel war mir durch den Feind zugemutet worden: bis an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit hatte ich mir selber Forderungen auferlegt. Unbarmherzig rüttelte die Ungewißheit an Nerven und Gesundheit.

Unbekümmert um unser Fühlen und Denken, gleichgültig, seelenlos eilte der Zug seine Straße, den Amur, die Schilka entlang. Er sah nicht die reichen Gefilde, die sich nach Norden und Süden auftaten. Achtlos ging er über gerodeten Urwald hinweg. Fronarbeit der Kriegsgefangenen hatte die Strecke gebaut; ausgeführt, was im Frieden geplant und begonnen worden war. Nun half sie uns, dem Feind zu entweichen.

Am Sonnabend nachmittag näherten wir uns dem Baikalsee. Gegen Abend hielten wir irgendwo. Soldaten besetzten den Zug. Niemand durfte aussteigen. Kriegskontrolle! Beamte und Soldaten prüfen Fahrkarten und Personalausweise. Jetzt sind sie nebenan. Gleich müssen sie bei uns sein! Schneller schlägt das Herz. Du stellst dich schlafend. »Ihre Papiere, bitte!« hörst du und fährst aus dem Schlafe auf. »Bitte, Ihre Papiere!« wiederholt der Beamte höflich, aber bestimmt. Du greifst in die Tasche. »Bitte!« Der Beamte prüft den Paß. Eine Blendlaterne strahlt weißes Licht auf das Dokument. Deutlich siehst du den doppellöpfigen Adler des Wasserzeichens im grellen Schein der Lampe. Unterschriften, Stempel, alles ist in Ordnung, und du erhälst deinen Paß zurück, in dem du dir erlaubt hast, für Jahresfrist zwischen sämtlichen Städten und Dörfern des Russischen Reiches umherzureisen. »Haben Sie auch Fahrkarten, kranke Genossen?« werden wir gefragt. Wortlos reichst du sie hin. Auch sie sind in Ordnung. Weiter schläfst du in deiner Ecke, mit gutem Gewissen, denn deine Dokumente, die sind in Ordnung.

Am nächsten Vormittag sind wir in Irkutsk. Wir verlassen den Zug. Sieben Nächte und sechs Tage haben mich ohne Unterlaß gepeinigt und gemartert. Die Glieder sind steif. Der Wille ist lahm. Weiter! treibt dich die Pflicht.

Trotzdem, ein Ruhetag ist not. Im ›Hotel‹ meines Letten würden wir sicher gut unterkommen. Ein Schlitten bringt uns über die Angara hinein in die Stadt. Überall sind die Spuren der letzten Kämpfe zwischen Roten und Weißen Garden sichtbar. Der Besitz der Metropole war von entscheidender Bedeutung für beide Parteien. Die zerschossenen Häuser bestätigten es. Augenblicklich herrschte Ruhe.

Wir hielten vor unserem Quartier. Was hatte es doch für einen schönen Namen! Phantasielos und nüchtern will ich es hier »Paradies« nennen, »Hotel zum Paradies«. Um vieles mehr Glück verheißend aber war sein Name in Wirklichkeit! Ich fragte nach dem Besitzer. »Oh. er ist nicht da.« – »Nicht da? Wann kommt er wohl wieder?« – »Nicht so bald! Er ist verreist.« – »Verreist?« Ganz recht! Ja, das war ich auch. »Wir möchten ein möbliertes Zimmer haben.« Wir bekamen es. »Sehr zweckmäßige Einrichtung!« mußte ich loben, als ich es sah. Das Bett war breit, doch dafür fehlte die Wäsche.

Am Montag vormittag ging unser Zug. Das hatten wir im Fahrplan festgestellt, bevor wir die Station verließen. Wir hatten Zeit. Wie wäre es, wenn wir nach weiteren Bekannten suchten? Schön fuhr es sich im Sonnenschein über den glitzernden, knirschenden Schnee am Zentral-Hotel vorbei dem Flusse zu. Zentral-Hotel! dachte ich und lächelte über die im vergangenen Jahre ausgestandene Angst. Unwirklich schien alles, was gewesen war: alles lag, so wie heute, weit, weit zurück. Ich fand meine Freunde nicht. Früh legten wir uns zur Ruh.

Wir hatten kein Gepäck. Das dünkte den Burschui nicht standesgemäß. Auch hatte sich sein traveller-collar während der Fahrt aus leuchtendem Weiß in schmutziges Grau verwandelt. Unerläßlich war zur Wiederherstellung seines eleganten Äußern der Einkauf von einigen Kragen. Eine Teekanne brauchten wir auch. Kümmerlich hatten wir uns bislang ohne sie durchgeschlagen. Wir benutzten die Zeit, um alles Notwendige einzukaufen. Ein mit zwei Riemen verschnallbarer Strohkoffer nahm unsere Ausrüstung auf. Ein Schlitten brachte uns zur Bahn.

Am Schalter erfuhren wir, daß unser Zug schon lange nicht mehr verkehrte. Am Nachmittag ginge ein Postzug nach Moskau. Schnurgerade über Moskau durch die Front, wollten wir nach Hause. Über Petrograd durch Finnland schien aussichtsreicher, kürzer aber war der erste Weg. Dazu kam: ich hatte auch in Moskau Bekannte. Die würden schon helfen. So entschlossen wir uns für den graden Weg.

Wir kehrten ins ›Paradies‹ zurück. Eva war für uns noch nicht erschaffen. Trotzdem fehlte noch viel zu unserem Glück. –

Die russischen Bahnen sind die billigsten der Welt. Das fiel mir ein. Ob wir da wohl mit gutem Gewissen von nun an auf die dritte Klasse verzichten konnten? Kassensturz. Ja, das ging. Dann würden wir ein Abteil für uns allein haben, niemand würde uns mit neugierigen Fragen plagen, wann wir nur wollten, konnten wir uns auf die weichen Polster strecken: einer oben, einer unten: all diese Vorteile rechtfertigten es, daß wir die Staatsbahnen um den Betrag für die Fahrkarten Erster bereicherten.

Rührig sollte sie kaufen. Für solch einen feinen Herrn verstand sich die erste Klasse von selbst. Ich weiß nicht, ob ich ohne ihn nicht doch einmal irgendwo hängen geblieben wäre. Nie kam ihm der geringste Zweifel, daß nicht alles glücklich enden könnte. Gelassen ertrug er alle Strapazen, und nie kam ein verzagtes Wort über seine Lippen. Er war ein vortrefflicher Kamerad und jeder Lage gewachsen. –

Wieder stehen wir am Schalter. »Zwei Erster Moskau!« verlangt Röhrig. »Sie haben die Erlaubnis?« fragte der Schalterbeamte, fragt es, ohne sich von seinem Platz, hinten an der Wand, zu rühren. Ein prüfender Blick begleitet hierbei die Frage und ruht auf dem Herrn in Pelz und kostbarem Tuch. »Ja!« antwortet dieser ohne Besinnen. Die Fahrkarten werden ausgeschrieben. Über Omsk, Tjumen, Jekaterinenburg, Wjatka führt der Weg. Wir treten auf den Bahnsteig hinaus.

Er ist voller Soldaten. Nur vereinzelt taucht da und dort der Rock eines Bürgers, das Kleid einer Frau im Gewühle auf. Ein starkes Aufgebot Roter Garde hält die Reisenden in Schach. Der Transbaikalzug braust heran, hält. Im Nu ist er von der Bahnhofswache besetzt. Niemand darf hinein, ohne sich durch eine Fahrkarte auszuweisen. »Eins Erster!« sagen wir dem Schaffner. Er öffnet den V-Wagen und führt uns zu einem prächtigen Abteil. »Bitte!« Wir treten ein. Die fensterlose Tür rollt hinter uns in ihren Geleisen. Der Sicherheit halber schieben wir noch den Riegel vor. Die schwellenden Polster nehmen uns auf. Wir lächeln einander zu: eine Spielerei ist so eine Flucht.

Der Zug ist geheizt. Wir legen ab. Ohne Pelz und Mütze passe ich auch ganz gut hierher. Unter meinem doppelreihigen Jackett aus feldgrauem deutschem Sommerstoff trug ich eine prächtige, gestrickte, amerikanische Weste mit großen Permutterknöpfen. Dazu ein weiches, graues, seidenes Hemd mit festem Kragen und einen unauffälligen Selbstbinder. Was die Wäsche anging, da war ich überhaupt schicker als mein Gefährte mit seinem vorn und hinten angenagelten Kragen. Nur meine Hose war ein wenig derb und wies keine Bügelfalten auf. Immerhin ein Mangel, ich gestehe es. Dafür paßte sie jedoch gut zu Kittys lederner Fliegerjacke und dem großen, grauen Wollschal, die ich beide für unerläßlich fand. Ihre Dienste aber waren jetzt überflüssig geworden. Sie konnten im Gepäcknetz neue Kräfte für weitere Verwendung sammeln.

Nach kurzem Aufenthalte setzte sich der Zug in Bewegung. Gleichmäßig schlug der Rhythmus der Räder ans Ohr. Langsam senkte sich der Abend aufs Land. Da! auf freier Strecke hält der Zug. Stimmen. Kommandos. Was ist los? Zugkontrolle. Reisende und Gepäck werden einer scharfen Musterung unterworfen. Es klopft. Wir öffnen. Soldaten suchen nach verbotenen und verborgenen Waffen im Gepäck, unter den Polstern und unter den Sitzen. Wir selbst werden abgefühlt: »Nichts!« – »Ihre Papiere!« Wir reichen den Beamten die Pässe. »Die Fahrkarten, bitte!« Eingehend wird jedes einzelne Stück geprüft. Alles ist in Ordnung. Soldaten und Beamte verlassen das Abteil. Um Haaresbreite waren wir der Festnahme entgangen. Nicht ohne Grund hatte der Schalterbeamte nach dem Fahrtgenehmigungsschein gefragt. Nach Moskau wie nach Petrograd war die Reise auch für Zivilisten verboten: nur mit besonderer Erlaubnis des Ausführenden Komitees in bestimmt begründeten Fällen gestattet. Ohne sie durfte keine Fahrkarte ausgehändigt werden. Das wußten wir nicht, als Röhrig sie löste. Da wir nun im Besitz einer vorschriftsmäßig ausgefertigten Fahrkarte waren, nahmen die revidierenden Beamten an, daß wir auch den Erlaubnisschein besäßen und fragten deshalb nicht nach ihm. Zudem hatten unsere Pässe auch dieser sorgfältigen Prüfung standgehalten, und die Frage nach dem Erlaubnisschein, die uns zum Verhängnis geworden wäre, überflüssig erscheinen lassen. Wir sahen einander an: ja, Tücken birgt so eine Flucht!

Einen vollen Tag genossen wir alle Vorzüge der ersten Klasse. Dann aber schob die Macht der Verhältnisse rücksichtslos alles beiseite, worauf wir Anspruch hatten. Je weiter wir nach Westen kamen, um so mehr füllte sich der Zug. Irgendwo bat ein gutgekleideter Herr, der im Gange stand, das Abteil mit uns teilen zu dürfen. Ich war anfänglich dagegen. Röhrig aber wies mit Recht darauf hin, daß wir auf die Dauer doch nicht für uns allein bleiben würden. Da willigte ich ein. »Aber ich bin krank,« erklärte ich, »das sage ich Ihnen gleich.« Unser Fahrtgenosse entpuppte sich als ein liebenswürdiger Mann. Wir hatten keinerlei Belästigung durch ihn zu fürchten. Irgendwo stieg er aus. Seine Nachfolger wurden zwei Offiziere. Ich lag auf der oberen Matratze und spielte den Kranken. Alle vierundzwanzig Stunden nur einmal verließ ich meinen Bau, um mich zu waschen und der Natur Rechnung zu tragen. Auch auf gepolstertem Sitz wird dies auf die Dauer zur Qual. Kaum saßen die beiden Leutnants, da fing die Unterhaltung an. Wortkarg stand Röhrig Rede und Antwort. Die Russen merkten den Widerwillen. Da starb das Gespräch. Schön hatte es begonnen. »Woher sind Sie?« wurde Röhrig gefragt. »Aus Wenden,« antwortete er, so, wie es im Passe stand. »Ah, ich bin aus Walk,« erklärte der eine. Ich auch, dachte ich. Schöne Stadt! Keine Ahnung hatte ich, wie sie aussieht. Wie gut. daß ich aus Walk und krank hier oben war! Röhrig war aus Wenden. Walk brauchte er nicht zu kennen. Walk kannte er nicht. Irgendwo stiegen die Offiziere aus. Vier drangen vom Korridor ein und beschlagnahmten die freigewordenen Plätze. Der Zug war überfüllt. Röhrig zog zu mir herauf.

Am 16. März waren wir in Omsk. Von nun an häuften sich Kontrollen und Revisionen. Stundenlange Aufenthalte kamen hinzu. Lokomotiven versagten den Dienst, wurden notdürftig ausgebessert, blieben wieder stehen. Rußland verfiel mit Riesenschritten. Dein Los, Deutschland, wenn du erst dieselben Machthaber wie die Russen hast!

Am 20. früh um sechs erreichten wir Wjatka. Längst standen die Leute auch im Gang des Abteils. Am 21. abends verließen wir in Wologda den Zug, um nach Petrograd weiter zu fahren. Unterwegs war mir eingefallen, daß meine Bekannten ja gar nicht ständig in Moskau, sondern in Petrograd wohnten. Auch schien es unmöglich, auf kürzestem Wege durch die Front nach Hause zu gelangen. Auf dem Umwege über Finnland mußte es versucht werden.

»Den Erlaubnisschein!« hieß es am Fahrkartenschalter. Den hatten wir nicht. Also durch die Front! Wir eilten zurück in den Zug. Nach zwei Stunden hatten wir uns bis zu unserem alten Abteil durchgekämpft. Hohngelächter empfing uns. Unsere Plätze waren besetzt.

Am 22. grüßten die Kathedralen und Klöster von Jaroslawl. Dort drüben, da lagen die Gräber der lebendig Toten. Was lag doch alles hinter mir!

Wir standen im Gang. Zehn Schritte von uns, in der Nähe des Aborts, stand einer und blickte von Zeit zu Zeit nach mir hin. Als Röhrig an ihm vorüber mußte, hielt er ihn fest. »Du, woher kennst Du Deinen Kameraden?« – »Woher? Oh, schon lange!« – »Nu, nu, das kann nicht gut sein, wir beide waren lange zusammen.« »Du mußt Dich irren,« sagte Röhrig und ging weiter. »Sie sind erkannt!« sagte er mir. als er zurück kam. »Von wem?« – »Von dem da!« – »Von dem?« War das nicht ein ehemaliger Katorschanin? Natürlich! Da konnte ich beruhigt sein: wir Gauner verraten einander nicht. Nein, das tun wir nicht. –

Mit Verspätung kamen wir in Moskau an. Ein Eisenbahnunfall hatte die Strecke auf Stunden gesperrt. So zogen wir anstatt am 22. abends am 23. März 600 vormittags in der Kremlstadt ein.

Eine Droschke erhielt Auftrag, uns nach dem erstbesten Hotel zu fahren. Jeder Platz war besetzt. Weiter zum nächsten. Alles besetzt. Weiter zum dritten. Alles besetzt. Eine Stunde und fünfzig Minuten fuhren wir von Hotel zu Hotel, von möbliertem Zimmer zu möbliertem Zimmer. Ein Unterkommen fanden wir nicht. Fünfundsiebzig Rubel kostete die Wissenschaft. Das war damals ein ansehnlicher Preis. Der Allrussische Kongreß tagte in Moskau. Jeder zur Verfügung stehende Raum war von der Regierung mit Beschlag belegt. Ohne einen Ausweis von ihr war nichts zu machen.

Wir hielten Kriegsrat in einem Teehaus fünften Ranges. Bouillonkeller sagen wir in Deutschland. Meine Lederjacke paßte da gut hinein. Das Ergebnis war: wir gingen baden. Ah! das tat gut. –

»Röhrig, es gibt doch Leute hier in Moskau, die, wenn sie mich auch nicht persönlich kennen, zum mindesten von mir gehört haben müssen. Die wollen wir aufsuchen. Wenn sie können, helfen sie weiter.« –

Nach einigem Hin und Her sind wir an Ort und Stelle. »Ich bin der Oberleutnant v. Knobelsdorff,« stelle ich mich vor. »Wie? Sie sind hier?!« werde ich herzlich begrüßt; »was kann ich für Sie tun?« – »Ich komme mit einem Kameraden aus Krasnaja Rjätschka. Können Sie uns wohl so lange unterbringen, bis wir von hier weiterkommen?« – »Warten Sie hier: ich schicke zu Bekannten.« – »Vielen Dank!«

»Röhrig, die Sache ist gemacht!«

Eine Stunde später verlassen wir das Haus. Eine halbe Stunde darauf nehmen uns wildfremde Menschen gastlich auf. »Sie wollen weiter?« erkundigt sich der Herr des Hauses nach Tisch. »Ja.« – »Wann?« –«Wenn es sich machen läßt: noch heute.« – »Das läßt sich vielleicht einrichten. Woher kommen Sie?« Ich berichte kurz vom Erleben dreier Jahre. »Oh! da müssen Sie sich erst ein paar Tage bei uns ausruhen. Das wird zu viel für Sie!« – »Danke: nein!« – »Aber eine Nacht wenigstens müssen Sie bleiben, solange, bis alles geordnet ist.«

Rührend, mehr als rührend, unbeschreiblich hilfsbereit haben sich die gütigen Wirte unserer und anderer angenommen. Wer kündet je von allen denen, die wie sie in stillem Werk den Farben Schwarz-Weiß-Rot zu Hilfe eilten: Leben und Gut selbstlos einsetzten; keinen Dank und keinen Lohn wollten: aus dem einzigen Grunde halfen, weil wir Deutsche waren: Söhne eines freien Volks, dessen Werke und dessen Taten in unvergänglichen Lettern am Firmamente eingemeißelt stehen. Ob sich wohl einem Paria auch hundert helfende Arme entgegengestreckt hätten? Ich glaub' es nicht. Möchte nie ein Enkel klagen, daß er überall verschlossene Türen fand! –

»Wollen Sie Soldat werden?« wurden wir gefragt: »da kommen Sie am schnellsten zu den Ihren.« Soldaten waren wir von Beruf. Weshalb sollten wir es da nicht auch 'mal in anderer Vermummung sein? Also werden wir Soldaten. Uniformen wurden beschafft, Stiefel, Mäntel besorgt. Unsere Pelze, Mützen, Schuhe, Anzüge, unser Gepäck erhielt die Kriegsgefangenenhilfe. Bis zum Mittag des 24. März waren wir ausgerüstet. Ein Ausweis wurde uns überreicht. Auf ihm stand: »Das Kommando-Komitee des 154. Artillerieparks bestätigt hiermit den Genossen, Karl Lange (der war ich), Peter Dirk (das war Röhrig) und Iwan Semmal (der war zerplatzt), daß sie zur Dienstleistung in Orscha zur Verfügung des Kommandeurs des dortigen Artillerie-Parks abkommandiert sind: was wir unter Beifügung unseres Dienstsiegels der Wahrheit gemäß bestätigen. Der Vorsitzende: Unterschrift. Der Schriftführer: Unterschrift. Klin, den 23. März 1918. Dienstsiegel.« Die Rückseite des Ausweises enthielt eine Nachschrift: Falls Orscha bereits geräumt sein sollte, so hätten wir uns zur Verfügung des nächstgelegenen Parkkommandeurs zu halten. Dieser Zusatz verschaffte uns die nötige Bewegungsfreiheit an der Front: wir konnten uns somit die Übergangsstelle selbst aussuchen.

Sonntag Nachmittag brachen wir nach herzlicher Verabschiedung auf. Viele gute Wünsche begleiteten uns. Unser selbstloser Wirt ging voran. Wir folgten. Er stieg in eine Elektrische. Wir stiegen in die Elektrische. Sie fuhr uns zum Alexandrowsker Bahnhof. Rechts und links von mir saßen Soldaten: Röhrig hatte auf der gegenüberliegenden Bank Platz gefunden. Alles ging selbstverständlich seinen Weg. Unfaßbar schien es mir, daß niemand die Maskerade durchschaute. Der Bahnhof. Der Ausweis ersparte die Fahrkarte. »Ihr seid doch drei!« – »Nee, der Dritte macht nicht mehr mit.« Das war die ganze Kontrolle.

Lettische Schützen – sie galten als die zuverlässigsten Soldaten der Republik – hielten die weitläufigen Bahnhofsanlagen besetzt. Niemand durfte auf den Bahnsteig. In langen Reihen standen die Leute vor den Sperren. Wehe, wenn sich einer vorzudrängen suchte. »Ans Ende, ans Ende!« schrie die vielhundertköpfige Menge, und schauerlich hallte es von allen Ecken wieder. Langsam rückte der Zeiger der Bahnhofsuhr vor. Mehr, immer mehr Menschen füllten die Halle. Das Gedränge wuchs. Längst schon stand alles in dichten Haufen und drängte nach den Zügen. Da dröhnte plötzlich ein Schuß. Ura! schrien wilde Stimmen, die Masse setzte sich in Bewegung, begann zu laufen, wir rannten mit und sprangen in einen der gedeckten Viehwagen. Dort verkrümelten wir uns in der finstersten Ecke.

Montag nachmittag waren wir in Smolensk, der Endstation des planmäßigen Verkehrs. Von nun an hatten wir zuzusehen, wie wir weiter kamen.

Erst um 600 morgens ging ein Zug nach Orscha. Auf ins Hotel! Alles besetzt. Nun, dann haben wir ja Zeit, uns im Orte umzusehen. Ein trübseliges Nest. Auch der Dnjepr verschönte es nicht. Es dunkelte. Wo blieben wir über Nacht?

Am Bahnhof waren zwei Übernachtungs-Baracken. Sie gewährten kostenlos Unterkunft. Wir gingen hinein und sahen uns um. Die hölzernen Pritschen wimmelten von Menschen und Ungeziefer. Nein, das war nichts für uns.

Wir gingen nach dem Wartesaal hinüber, legten uns dort auf den Fußboden und schliefen. Kolbenstöße weckten uns. Rote Garde säuberte den Bahnhof und trieb alles nach dem Ausgang zusammen. »Einzeln vortreten!« – »Waffen?« – »Nein.« Durchsuchung. »Raus!« Eben war ich an der Reihe und gehe die vier Stufen herunter, die ins Freie führten: da erhalte ich von hinten einen Stoß. Gleichzeitig knallt ein Schuß in die Nacht hinein. Wildes Laufen auf der Straße. Ein regelloses Geknatter beginnt. Sst, pfeifen die Kugeln ihr bekanntes Lied. Sst, Sst! Mit drei Sätzen bin ich an irgend einem Haus und springe in die nächste Tür. Bevor es noch die Augen wußten, wo sie waren, hatte es die Nase längst erfaßt: die Übernachtungs-Baracke hatte mich wieder. Wo mochte Röhrig sein? Da kam er.

Wir kämpften einen erbitterten Kampf mit dem Gestank, aber er war stärker als wir. Da gingen wir in die bitterkalte Nacht hinaus und schritten die Straße auf und ab. Pendelten sie von der Brücke bis zum Bahnhof hin und her. Schließlich trieb uns die Kälte wieder ins Bahnhofsgebäude hinein. Todmüde standen wir auf den Fliesen vor den Schaltern herum. Es wollte und wollte nicht tagen. Endlich graute der Morgen. Der Schalter wurde geöffnet. Wir lösten die Fahrkarten, taten es, weil es alle Soldaten taten, und traten auf den Bahnsteig heraus. Eine endlose Reihe geschlossener Viehwagen wartete auf uns: wir bekamen in einem Platz, mit rauchendem Schornstein. Grade war ich etwas warm geworden, da riß Rote Garde die Tür auf und befahl: »Zivilisten raus!« Sie wollte den geheizten Wagen für sich. Das war praktischer Kommunismus.

Auch wir suchten uns ein anderes Unterkommen. Eisige Kälte herrschte im neuen Waggon. Die schützte uns. Hier kam keiner freiwillig herein. Nun war alles so weit. Die Maschine zog an. Die Räder knirschten und kreischten. Hart stießen die Puffer gegeneinander. Wir fuhren.

Drei Jahre lagen hinter mir. Drei Jahre Opfer, drei Jahre Geduld, drei Jahre Kampf, drei Jahre – nutzlos vertan. Nun war ich frei. War ich es auch? Noch war das letzte nicht erreicht! Aber es mußte glücken!

Orscha! Die Sonne stand im Zenith und spendete Lebenskraft. Mit raschen Schritten gehen wir auf einen Schlitten zu. In langer Reihe halten sie am Bahnhof. »Du sollst uns fahren!« – »Wohin?« – »Da!« – »Um Gotteswillen, dort sind schon die Deutschen!« – »Dann verdient die Rubel ein anderer!« Das Geld ist mächtiger als die Furcht. Wir nehmen Platz. Die Pferde ziehen an. Bald sind wir im freien Gelände. Die Front ist zerbröckelt. Nur an wichtigen Punkten stehen die Gegner einander gegenüber. Es muß ein leichtes sein, durchzukommen. Da, ein russischer Posten! »Halt! Weiter dürft Ihr nicht!« – »Wie? Im freien Rußland darfst du dich nicht frei bewegen?« – »Die Deutschen erlauben es nicht!« – »Was! Die Deutschen. Uns erlauben sie's!« – »Fahrt!« warnte der Posten. »Aber ich sage Euch, die Deutschen erlauben es nicht!«

»Vorwärts! Los! Kerl, fahr zu!« Der Schlitten fliegt über den Schnee. Halb links, aus dem Unterholz, taucht eine deutsche Patrouille auf. Auf sie zu! »Wo ist der nächste Ortskommandant?« – »Die Richtung!« Es geht in den lichten Wald hinein. »Seh' ich die Meinen jemals wieder?« jammert der Kutscher. »Dir wird nichts geschehen. Wir sind deutsche Offiziere.« Da weicht seine Furcht.

Häuser.

Feldgraue Umformen.

»Halt!«

»Wo wohnt der Ortskommandant?« – »Da.« Grade tritt er aus seinem Hause. Ich gehe auf den Hauptmann zu und melde: »Oberleutnant v. Knobelsdorff aus russischer Gefangenschaft zurück.«


 << zurück