Viktor von Knobelsdorff
Unter Zuchthäuslern und Kavalieren
Viktor von Knobelsdorff

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It's a long way to Tipperary

Im Schutz der Polizei. – Das Gefängnis für Gentlemen. – Reisevorbereitungen. – Im Wartesaal. – Die Kuckucksuhr. – Der Sträfling mit Monokel. – Die Rache des Barbierten. – Das 1. Knobelsdorff'sche Gesetz. – In Brest-Litowsk. – Geiseln. – Fremdherrschaft. – Jaroslawl.

Man kann in sehr verschiedener Weise eine Straße entlang gehen. Wir z. B. gingen so: vier Polizisten mit acht Feuer- und vier blanken Waffen nahmen uns in die Mitte. Zehn Schritte voraus ging als Vorhut noch einer mit einer blanken Waffe und zweien zum Feuern. Außerdem verfügte er über eine gellende Stimme. Wie Hagel prasselten die Schimpfworte auf die Spaziergänger, trotzdem wir auf dem Fahrdamm lustwandelten und den Bürgersteig mieden. Standen die Einwohner in der Haustür, jagten sie wüste Drohungen hinein; blickten die Vorübergehenden uns an, belehrte sie ein Orkan von Flüchen, daß sie wegzusehen hatten. Drehte uns jemand den Rücken zu, zwang ihn eine Flutwelle gemeinster Ausdrücke, sich umzuwenden. Alles, was die Leute taten, war verkehrt. Alles. Selbst ganze Wagenkolonnen mußten halten, und auch unsere Begleitpolizisten waren nicht minder eifrig, Menschen und Tiere zurechtzuweisen. Auf diese Weise gelang es den Aufrechterhaltern der Ruhe und Ordnung spielend, einen Lärm zu vollführen, der jedes andere Geräusch der Straße zum Schweigen brachte und durch die getroffenen Maßnahmen, Verkehrsstörungen aller Art zu schaffen. Das war endlich 'mal etwas anderes. Wir waren begeistert.

An einer Straßenkreuzung standen wir vor einem See. Zackige Gebirgsspitzen ragten heraus und kündeten, daß hier ein Kontinent versunken lag.

Ruville und ich waren in Wahlstatt in der Voltigierabteilung gewesen. Ich ein paar Jahre früher, er später. Dafür trugen wir dort als Abzeichen eine schwarz-weiße Borte auf dem linken Litewkenärmel.

Wir erinnerten uns der schwarz-weißen Borte, und mit Hochweitsprung schwangen wir uns von Klippe zu Klippe. Die Polizei konnte das natürlich nicht. Dazu war sie zu schwer bewaffnet und auch nicht mutig genug. Die Waffen machen nicht das Herz.

Wir hielten vor einem Hause. Eine Klingel öffnete die Tür. Wir traten ein und standen in einem länglichen Flur. Links waren Türen, geradeaus war auch eine, rechts waren Fenster. Eine von den Türen zur linken Hand wurde geöffnet. Ein Polizist verschwand in ihr. Plötzlich flog ein roter Jude heraus. Dann kam ein zweiter; der war nicht rot. Dann kam ein Kerl mit einem alten Strohsack. Den Schluß bildete ein Landstreicher. Die Tür geradeaus nahm die Herren auf, und wir wurden in den soeben frei gewordenen Salon gebeten. Die Tür schloß sich. Wir waren im Polizeigefangnis Cholm eingeliefert.

Der Tür gegenüber saß auf einer Wandabschrägung ein vergittertes Fenster. Es hatte auch Scheiben. Aber nur an einzelnen Stellen. Unter dem Fenster stand eine Holzpritsche. Ihre rechte Schulter lehnte an der einen, die linke an der anderen Wand. Sonst war niemand zu sehen. Wir blickten uns um. Zahlreiche Gemälde und Sprüche schmückten die Wände. Die Künstler hatten fast ausschließlich hocherotische Szenen im Bilde festgehalten. Die Vorwürfe der Darstellungen fielen beinahe ausnahmslos unter das Strafgesetzbuch und berichteten von anderen Sitten und Gebräuchen. Stillleben von Messern, Beilen, Revolvern und Gewehren dienten gleichfalls zur Zierde, und Portraits von Damen und Herren, deren Gesichtszüge auf Gesellschaftskreise hinwiesen, die in der Regel Einladungen zu Hofbällen nicht erhalten, erzählten von unserem künftigen Umgang.

Wir musterten die Pritsche. Sie trug ein gestreiftes Kleid und diente Ungeziefer zum Versteck.

Die Dämmerung sah hinein. Zwei Strohsäcke wurden gebracht. Sie waren neu oder wenigstens fast neu. Wieder ging die Tür auf, und eine kleine, schwarze Tonne stellte sich in die eine Ecke. Sie sagte keinen Ton, starrte uns an und blieb dort regungslos stehen. An Menschen kannten wir das schon von Stryj her, das mit der Tonne hier war neu.

»Du, ich denke mir, dies Bjäla wird so eine Art Gefängnis für Gentlemen sein,« belehrte ich gerade Ruville, als die Tonne eintrat. Erstaunt sahen wir sie an. Die Unterhaltung starb.

Der Salon hatte ein vollkommen anderes Aussehn erhalten. Wie gemütlich war es mit einem Male geworden! Wie in einem Pastorenhause. Wozu mochte die Tonne sein? Was wollte sie dort in der Ecke? Wir rieten hin und her.

»Ich gehe jetzt endgültig schlafen,« sagte ich und erhob mich von der Pritsche. »Ich auch,« schloß sich Ruville an und stand gleichfalls auf. Dann klopfte ich an die Tür. Der wachthabende Polizist erschien. Er zeigte auf die Tonne. Heraus dürften wir nicht. Wir lachten aus vollem Halse. Auf die Bestimmung der Tonne waren wir nicht gekommen.

Wir erwachten früh am Tage. Das Waschen fiel aus. Das Frühstück auch. Gegen Mittag kam der Polizeiwachtmeister und gab uns jedem achtundzwanzig Kopeken, vierzehn für den gestrigen Tag und vierzehn für den heutigen. Das war unser Verpflegungsgeld.

Die Kollegen in den Nachbarzellen erhielten den gleichen Betrag. Kollege ist wohl ein nicht ganz zutreffender Ausdruck. Die Herren würden sich schön bedankt haben! Eine Anmaßung sondergleichen war es von uns, wenn wir es wagten, uns mit ihnen auf eine Stufe zu stellen. Nein, mein Freund, Zuchthäusler waren wir, zur höchsten Strafe verurteilt, die es überhaupt gibt: zu lebenslänglicher Zwangsarbeit! Waren wir ihre Kollegen? Aber so sind die Menschen: kaum haben sie denselben Lohn, schon dünken sie sich alle gleich.

Nein! Die größte Strafe ist der Tod. »La mort, mon fils, est un bien pour tous les hommes; elle est la nuit de ce jour inquiet qu'on apelle la vie. C'est dans le sommeil de la mort que reposent pour jamais les maladies, les douleurs, les chagrins, les craintes qui agitent sans cesse les malheureux vivants.« Was gibt es Größeres als den Heldentod? fragst du. Nun, alles zu seiner Zeit. Der Tod ist Strafe und höchstes Lob, Vergessen und Unsterblichkeit, Trost wie Ansporn, à discrétion. Der Tod ist das Leben. Meine Meinung, und für mich verbindlich.

Wir baten den Polizei-Wachtmeister, jedem von uns eine große Semmel zu kaufen. Sie kostete zehn Kopeken. Das war unser Mittagbrot.

Der Ausweis meiner Finanzen ergab am 14. April nach dem Essen 68 Kopeken. Sie hatten sich mithin binnen vierundzwanzig Stunden um 36% gemehrt. Ich wünschte, es ging mein ganzes Leben so. Es wird gleich zu sehen sein, was solche Wünsche wert sind. Erst muß ich aber etwas anderes erzählen.

Um die Vesperstunde wurden wir herausgebeten. Wohin? In den Aufenthaltsraum des Türschließers. Handschellen hingen an den Wänden. Wie wäre es, wenn man uns damit schmückte? Doch die Polizisten schüttelten die Köpfe.

Durchs Fenster erblickte ich einen Wagen. Vielleicht fuhr er in besseren Zeiten Rüben? Jetzt aber war er von der Polizei requiriert und sollte uns nach dem Bahnhof bringen. Indes wir wußten das noch nicht.

Ein Polizist legte ein zusammengefaltetes Wachstuch auf den Fußboden. Finger hoch! wer weiß, was das ist? Das ist ein Sitz. Gut. Das war ein Sitz. Ich sollte mich auf das Wachstuch setzen. Ich tat's. Keine Ahnung, was nun kommen würde. Eine Kette klirrte. Aha! Um das Gelenk meines linken Fußes legten sich zwei breite Eisenbänder. Ein schwerer Eisenhammer trieb eine Niete durch sie, und der Fußschmuck war angeschmiedet. Ich hielt jetzt das rechte Bein hin. Das war falsch. Woher sollte ich das wissen? In der Feldbefestigungsvorschrift steht's nicht. Ich sollte aufstehen.

Ruville sagte mir nachher, er wäre starr gewesen. Das hätte er nicht gedacht!

Ruville nahm Platz. Ich dachte: das sind Athleten! Jetzt hämmern sie dem Ruville auch eine halbe Kette ums Bein, und dann darf ich mich wieder setzen. Wieder war's falsch. Diesmal was ich dachte und nicht, was ich tat. Ich tat gar nichts. Die Polizisten taten die Eisenbänder vom anderen Ende meiner Kette um Ruvilles rechtes Bein.

Kein Ehering ist imstande, zwei Menschen so eng miteinander zu verbinden, wie unsere Kette uns verband. Man kann mir das glauben. Ich habe Eheleute gesehen: der Mann saß im Kontor, die Frau war bei einem andern. Bei uns war das ausgeschlossen. Wo der eine war, war der andere auch. Kastor und Pollux, wo bleibt euer Ruhm?

Die Kette wog 'was. Als Obertertianer machte ich vierzehn- oder fünfzehnmal gleicharmig Aufstemmen hintereinander. Dazu gehören Armkräfte. Ordentliche. Ich bin daher sachverständig, was das Gewicht der Kette angeht. Ruville war auch meiner Ansicht. Aber ohne so oft Aufstemmen. Er konnte den doppelten Salto dafür. Den konnte ich nicht.

Was der Ruville überhaupt alles kann! Zur Laute singen: ich nicht. Klavierspielen ohne Noten und ganz richtig: ich nicht. Auf der Geige (auch ohne Noten), ich nicht. Karten spielt er auch. Hat er hierbei Pech, so spielt er dennoch weiter. Wenn er aber gewinnt, dann hört er auf. »Ich gebe die Bank ab,« sagt er und steht auf, das ganze Portemonnaie voll Geld und die Hosentaschen auch. Ich bin für Karten zu dumm. Das haben mir meine Eltern gesagt. Die wollten mich dazu verführen. Wegen der Erziehung, und weil mir Klavier nicht gefiel. Doch ich konnte die Karten nicht unterscheiden. Es ging mir wie mit den Noten: die Augen sahen sie richtig, die Finger falsch.

Zeichnen kann er auch, und reiten, und tanzen besser als ich. Was soll ich alles aufzählen! Ich male ihn, indem ich wiederhole, was Herr Faguet vom Chevalier Bouffiers sagt: »De tout un peu et rien supérieurement, à française. C'est assez pour charmer et il fut déclaré charmant.« Von den Damen. Der erste Satz aber gilt nur bis aufs Fliegen. Wenn er wollte, flog er große Klasse.

Nun aber ergriff er den Lederriemen, der, um die Kette zu tragen, in ihrer Mitte befestigt war. Halt! So können wir nicht laufen! Gleichschritt geht nicht! Rechtes Bein, linkes Bein: rechtes Bein, linkes Bein. Das ist gar nicht leicht! Jetzt heißt's auf den Wagen klettern!

Wieder dachten wir an die schwarz-weiße Borte. Was die uns nützte! Das ahnt ja keiner! Überschlagen haben wir uns mit dem Flugzeug, abgestürzt sind wir: raus aus der Kurve, runter auf die Erde, na und was man sonst so macht, aber wir blieben ganz. Ich will das Schicksal nicht berufen; aber wirklich: die schwarz-weiße Borte, die ist großartig!

Da sausen wir im Hundertkilometertempo, es kann auch etwas mehr gewesen sein, mit dem achtzigpferdigen Benz die Chaussee entlang. In der Kurve muß man ja ein bißchen einfangen. Also neunzig. Da wird das Beest, der Benz, plötzlich wahnsinnig und springt einen Hang von drei Metern Höhe herunter. Freisprung. Mitten rein ins Grüne. Nun, es war ihm ganz recht, daß er sich die Beine brach, wenn er das nicht einmal vertrug: das bißchen Regen und die glitschige Chaussee! Das wollte ein Rennwagen sein! Ich war natürlich ganz. Die andern merkwürdigerweise auch. Die hatten auch eine schwarz-weiße Borte. Das aber war die vom Eisernen Kreuz. Der trau ich nicht einmal so weit, wie ich sie sehe. –

Da saßen wir auf dem Stroh: zwei Polizisten hinter uns, zwei vor uns, einer neben dem Kutscher. Die Bewaffnung ist bekannt: wir nichts, die Polizisten alles. –

Kaum waren wir im Abteil, da fiel uns ein, daß wir Hunger hatten. Ein Polizist besorgte Semmeln, Salz und warmen Speck. Heißes Wasser brachte er auch. Ich habe unterwegs drei Kannen ausgetrunken. Solch einen Durst hatte ich bekommen! Nachher ist mir beinahe schlecht geworden. Um Fünf fuhren wir weg. In Wirklichkeit aber war es später, wenigstens nach der Uhr. Doch weiß ich nicht, ob die Bahnhofsuhren in Rußland richtig gehen. Vielleicht gehen die Züge richtig?

Die Fahrkarte Dritter brauchten wir nicht zu bezahlen. Ich hätte es auch gar nicht tun können, so war mein Geld vom Speck und dem Salz und der Semmel zusammengeschmolzen. Was nützt das da einem, daß das Vermögen in vierundzwanzig Stunden um 36% steigt, wenn es bereits in fünf Stunden um 82% fällt!

Mir war wieder besser geworden. Wir legten uns schlafen. Das konnten wir in dem fremden Land unbesorgt tun. Die Polizisten wachten, und wirklich: es geschah uns auch nichts!

Gegen 300 morgens stiegen wir in Brest-Litowsk um. Der neue Wagen war voller Leute. Nein, was für ein Publikum in Rußland dritter Klasse reist! Und die Luft im Abteil! Preßluft! Aus allen Gerüchen. Aber nur häßlichen. Zum Glück fuhren wir nicht lange. Dann übten wir uns wieder etwas im Gehen. Oh! Wir machten Fortschritte! Dies aber wurde uns nicht gegönnt.

Das rät ja keiner, was jetzt passierte! Um dreiviertel Fünf morgens fuhren wir Droschke. Die armen Pferde! Unseres hatte keinen Schwanz. Auch das Pferd der anderen Droschke war nur mit Leder bekleidet. Ein feierlicher Schritt, das war die schnellste Gangart, in der wir uns bewegen konnten. Nach langer Fahrt hielten wir vor dem schönsten Gebäude von Bjäla. Wie ich das sah, war ich völlig beruhigt. Es gab also doch Gefängnisse für Gentlemen in Rußland!

Die Polizisten klingelten und klopften. Niemand zeigte sich. Da beging einer Hausfriedensbruch.

Im Geschäftszimmer des Natschalniks hingen Kaiserbilder und das Heiligenbild. Wir nahmen die Kopfbedeckung ab. Das hatten wir gelernt. Die Polizisten boten uns Stühle an. Sie selbst standen. Wir warteten. Wie schön war das! Ach! was waren wir dumm!

Der Befehlshaber des Gefängnisses kam. Wir standen auf. Er begann, zu uns zu reden. In fließendem Russisch erwiderte ich, daß wir kein Russisch sprächen. Da ging er weg und holte seine Tochter. Sie hatte in der Schule Deutsch gelernt. Ob ich ein Edelmann wäre? Ich überlegte. Adlig war ich. Das wußte ich aus der Rangliste. Edelmann? Das wird sich zwar erst nach meinem Tode erweisen, aber schließlich sagte ich: ja. Titel? Baron. Die Kellner nannten mich immer: Herr Baron! Das sind Menschenkenner. Folglich war kein Irrtum möglich. Unser Geld? Ich legte eine kleine Silbermünze und ein großes Kupferstück auf den Tisch. Das war alles. Von dem anderen Gelde war mir ja beinah schlecht geworden. E.K.I legte ich auch hin, Portemonnaie dazu.

Sollten wir uns vor der Tochter etwa ganz ausziehen? Vielleicht machte man solche Sachen in Rußland. Seit Januar nicht mehr gebadet! Der Gedanke war mir entsetzlich. Zum Glück kam es nicht so weit. Ich hätte mich auch sonst unsagbar geschämt.

Wenn wir uns gut führen würden, sollten wir es gut haben, sagte sie noch: dann verschwand sie. –

Wenn der Befehlshaber des Gefängnisses in sein Gefängnis wollte, mußte er klingeln. Dann öffnete ihm der Türschließer. Vorher sah er aber erst nach, wer da läutet.

Ich möchte wissen, wie das der Natschalnik eines Gefängnisses in Rußland macht, seine Untergebenen zu überwachen? Als ich das zum ersten Male sah, wußte ich, daß ich mit Recht verurteilt worden war. Was war ich für ein jämmerlicher Untergebener! Was ist das für ein Untergebener, der seine Vorgesetzten nicht überwacht! In Rußland passen die Untergebenen auf die Vorgesetzten auf. Das wußte der Generalstäbler in dem zweiten Kriegsgericht, ich aber nicht. Deshalb konnte er mich nicht begreifen und ich ihn nicht. Das Gefängnis sah von außen noch prächtiger aus als die Dienstwohnung des Natschalniks. Es glich dem Kasino in Neu-Ruppin, und das wäre für Rußland eine Sehenswürdigkeit gewesen. So herrlich schaute das Gebäude aus, auf das wir zuschritten. In der Tat, ich hielt es für ein Gefängnis für Gentlemen.

Wir traten ein. Nein, wie seltsam! In allen Kammern und Zellen sangen die Leute. In jeder anders. Jeder in jeder auch anders. Ruville sagte mir das. Ich verstehe nichts davon. Ich denke immer, das muß so sein. Ja, was sangen sie? »Heil sei dem Tag, an welchem du erschienen!« Vielleicht aber war es auch 'was anderes. Wirklich: es war überraschend schön! Ja, das war es. Und so lieb! Unsere neuen Kameraden brachten uns eine Ovation. Das hatten wir nicht erwartet. Der Sang verklang.

Wir gingen bis zur Mitte eines ziemlich breiten Korridors und dann bogen wir links ab in einen schmaleren. Links waren große Fenster. Sie sahen aus: wie die von einer Bank. Rechts waren Türen. Die Türen waren feldgrau. Eine stand offen. Sie führte in einen Raum, dessen Wände in ihrer unteren Hälfte mit schwarzer Ölfarbe, in ihrer oberen mit weißem Kalk gestrichen waren. Schwarz-weiß der ganze Raum. Die Preußenfarben! Ich freute mich. Ich bin zu närrisch. In diese beiden Farben bin ich verliebt. Sterblich. Rettungslos. Für sie tue ich alles, leide auch alles.

Ich leide oft. Auch dann, wenn andere etwas tun, was ich nicht machen würde. Auch das schmerzt mich.

Die Preußenfarben sollten niemals etwas tun, was ich nicht billigen könnte. Tun sie es aber doch, dann liebe ich sie nur noch mehr: dann weiß ich erst, wie innig ich sie liebe: weil es mir wehe tut. –

Ein sehr schmales Bettgestell und eine kleine Tonne weckten in Ruville sofort die kameradschaftlichsten Instinkte: »Das Bett nehm' ich,« sagte er schnell und überließ es mir, wie Diogenes die Tonne zu wählen.

Wir standen in der Zelle. Der Natschalnik auch. Der Starschi auch. Ein Nasiratel auch. Wir sollten uns ausziehen. Schön. Rock aus. Wickelgamaschen ab. Schuhe aufgeschnürt. Weiter geht es nicht. Wir hatten doch noch die Kette am Bein. Runter mit den Breeches! Ja, wie denn? Durch den eisernen Ring durchzerren! Es war eine Quälerei, aber es ging. Wir hatten nichts mehr abzulegen.

Nein, die schöne Wäsche! Alles neu. Und wir waren doch so schmutzig. Wie der Ruville aussah! Also Unterhosen durch den Ring. Den Schnitt bestelle ich mir nach dem Feldzug. Hinten stand ein Segel weg, groß wie das von der Regimentskuff. Und der Bund! Bis ans Kinn. Russisch-feldbraune Beinkleider. Durch den Ring. Ich begreife nicht, wie man bei einem Londoner Westend-Schneider arbeiten lassen kann? Nach Bjäla muß man gehen, nach Bjäla! Die Hose war eine Sensation. Eine Jacke bekamen wir. Russischfeldbraun. Ärmel, Schultern bis zur halben Brust gefüttert. Die Jacke stand. Ganz gleich, wie man sie hinstellte. Wie die Hollundermarkkügelchen eines geladenen Elektroskops standen meine Arme vom Leibe. Aber ich kriegte sie heran. Ha, ich hatte doch noch Armkräfte! Die prächtigen Fußlappen! Wie Hemd und Unterhosen aus fabelhaft derber Sackleinwand. Die Stiefelchen, die ich anzog! Ich taxierte auf Pariser Arbeit.

Die Armbänder, die man uns jetzt reichte, ich muß es zugeben, sie waren ein wenig plump. Das Vorhängeschloß hätte kleiner, die Kette dafür länger und weniger schwer sein können.

Wir gingen auf den Hof. Wie schön schien doch die Sonne vom Himmel! Das wunderbarste Flugwetter. Aber wir flogen nicht. Ein Nasiratel kam mit Stemmeisen und Hammer, entfernte die gemeinsame Fessel und schmiedete meine Fußgelenke in schöne, breite Eisenbänder. Die Kette, die sie miteinander verband, war fingerdick. Malitiös sah mich Ruville an: »Ist das Dein Gefängnis für Gentlemen?«

Der Natschalnik wandte kein Auge von uns. Dann sagte er, ihm wäre ganz schlecht, so leid täten wir ihm. Er war ein guter Kerl und hat uns nur Freundlichleiten erwiesen.

Die Zellentür schloß sich hinter uns. Wir waren äußerlich in zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilte Sträflinge umgewandelt. Soweit reichte die Macht der Russen. Hier war ihre Grenze. Mein Reich umfaßte weitere Gebiete.

Eine Pritsche wurde hereingebracht. Ich sagte, sie sollten sie unter das Fenster stellen. Dann nahmen sie unsere Habe und trugen sie hinaus. Ob wir nicht wenigstens unser Papier behalten könnten? Nein, das ginge nicht, aber man würde uns jedesmal welches geben, sicherte uns der Natschalnik zu. Wir waren glücklich. Das russische Verfahren gefiel uns nämlich nicht: so ganz schnell aufstehen und die Hosen hochziehen, davor hatten wir einfach Angst. Was war ich doch noch für ein Feigling! Nach einem Vierteljahr indessen hatte ich mich auf mich selbst besonnen. Jetzt scheue ich nichts mehr. Nichts. Nur das zweite Verfahren: die Hand nachher im Schnee abwischen. So – oberflächlich. Falls wir aber gerade Sommer haben, am Stiefel oder auch an einem Baum.

Ich bitte Sie, das braucht ja doch kein Mensch zu wissen!

Wie? Nicht wissen? Nicht einmal die Sitten meiner nächsten Vorgesetzten, mit denen ich ständig zu tun hatte, soll ich schildern, die Ueberlegenheit slavischer Zivilisation an trefflichen Beispielen belegen dürfen? Wie? Ja, das ist so das richtige: ich soll so tun, als ob ich mit verbundenen Augen durch die Welt gegangen wäre. Fällt mir gar nicht ein! Nicht ein Wort streiche ich aus. Schreibe ich denn einen Roman?

Endlich waren wir allein. Wir sahen einander an. Das also war der elegante Ruville? Ich stand auf. Ich werde mein Auge doch nicht länger als nötig durch eine Karikatur beleidigen lassen! Ich betrachtete die Gemälde an der Wand. Sie zeigten denselben gewählten Geschmack wie in Cholm. Mir wurde klar: das waren Menschen von zäher Eigenart, denen ich jetzt Kamerad und Bruder war. »Sieh' Dir mal die Bilder an!« sagte ich zu Ruville, »da kannst Du 'was lernen.« Er saß da und grübelte. Hatte er denn den ersten Fähnrichssatz: »Die Kriegskunst ist veränderlich«, noch immer nicht begriffen?

Eine Klappe war in der Tür. Schwupps warf eine unsichtbare Hand Streichhölzer und Zigaretten auf den gedielten Fußboden. Das war praktische Nächstenliebe, eine Predigt ohne Worte. Binnen zwei Sekunden hatte Ruville alles aufgelesen. –

Die Tür ging auf. Der Starschi und ein Aufseher traten ein. In ihrer Begleitung befand sich ein Herr. Brauner Jackettanzug. Sagen wir: etwas abgetragen. Schnürschuh. Hemd gar nicht sauber; aber auch gar nicht. Nun soll es ja Leute geben, die Hemden tragen, welche aus mehreren Stücken zusammensetzbar sind: die z. B. den Kragen vermittels einer komplizierten Maschinerie an einer Halsleiste befestigen. In diese Kategorie war jedoch der Herr nicht einzureihen. Sein Hemd wies weder Kragen noch Leiste auf, dafür schmückte den Hals eine prächtig gebundene Schleife, deren Farbe mit Sicherheit anzugeben, eine Aufgabe ist, der sich meine Feder nicht gewachsen fühlt. In der rechten Tasche steckte eine zusammengelegte Radfahrermütze.

Sportsmann taxierte ich in der ersten Sekunde; ich blickte auf seine Kopfbedeckung. Taschenspieler in der zweiten; mein Auge bewunderte die Halsschleife. Taschendieb in der dritten; als ich seine unheimlich raschen Bewegungen sah. Unbedingt brauchbar; in der vierten. Das war mein feststehendes Urteil auf Grund des Gesamteindrucks. Mit einem Aufblitzen der braunen Augen hatte er Zelle, Ausstattung, Insassen gemustert, geschätzt, verschlungen, und dann war sein Blick erloschen. Das bleiche Gesicht nahm einen demütigen Ausdruck an, und das Kinn fiel matt auf die Brust. Der Herr erwies sich später als der Chef des Nachrichtenwesens, der im Bjälaer Gouvernementsgefängnis untergebrachten 157 Insassen; es war unser Freund Brod. Ausweislich seiner Papiere war er weder Sportsmann, noch Taschenspieler, noch Taschendieb. Nach seiner Aussage war er »Teelohr«; nach seiner Nationalität Jude. Nach seinem Aussehen nicht unter fünfundzwanzig, nach der vor Gericht und den Gefängnisbeamten gemachten Angabe achtzehn, in Wirklichkeit aber war er neunzehn Jahre alt. Er hatte die Aufgabe, uns in die Geheimnisse des guten Benehmens im hiesigen Gefängnisse einzuweihen.

Der Starschi sagte ihm, er solle anfangen. Er begann: »Im Morgen, wenn de bell iss ringing, dann misse se stäntöp.« – »Well,« unterbrach ihn Ruville, »you speak English?« Nicht wahr, es ist erstaunlich, was der Philipp für musikalische Ohren hat, nich? »We understand. You may tell your story better in English than in German!« – »If it's easier for you, Sir!« höflich war ich immer. »Auh, well, ei schpiek inglisch; ei woss menni jihrs in Neffyork.« – »Than you may begin,« sagte Ruville, »we hear.« – »In de morning, wenn de bell iss ringing, juh möst stäntöp! Juh will hier ä song. Dätt iss de prejer. Juh känn mehk juhr prejer or not. Leik juh will it. Batt juh möst stänt uppreit. Juh niet not tu klien juhrsself. Batt juh möst mehk nössink.« Dann kam etwas Jiddisch. Dann Deutsch. Dann Russisch. Dann halfen wir Englisch ein. Dann hatten wir verstanden. »Got meh help juh!« sagte er noch, und dann verließen Starschi, Nasiratel und Dragoman die Zelle.

»Jude macht alles!« lobte Ruville: »wer kann denn sonst noch etwas hier zu Lande! Der Kerl ist großartig. So ein Englisch lern ich auch. Das muß man einfach können. Ruville war begeistert. »In Neffjork war er. Warst Du in Neffjork?« – »Ich laß Dich jetzt allein. Da kannst Du Englisch lernen. Ich starte zum Erkundungsflug.« – »Ich auch,« sagte Ruville. Ich klopfte. Hallo! Der Schließer kam. »Was? Zu dieser unvorschriftsmähigen Zeit?« – »Nada!« Nada heißt: nötig. Er überlegte. »Bumaga!« sagte ich. Bumaga heißt: Papier. Er ging. Mit einem leeren Forderungsnachweis kam er wieder. Dann schloß er auf.

Das waren ja nur vier große Kammern, an denen wir vorbei mußten. Gitter vertraten die Türen. Es war wie in einer Menagerie. Ein Vorraum nahm uns auf. Dann erst öffnete sich die Tür zur Toilette. Glänzend, glänzend einfach. Bis auf den Gestank. Eine derart bequeme Einrichtung hatte ich nach allem bisherigen in Rußland gar nicht für möglich gehalten. Es war alles ganz schön; bis auf unsere Handfesseln. Höchstens dreißig Zentimeter Spielraum. Zum Glück waren wir alte Voltigeure.

Das Mittagessen kam: ein Eßnapf Graupen. Vier Stückchen Speck, 2 mal 3 mm groß, manchmal auch kleiner, saßen wie eine Spinne in der Mitte des völlig geschmacklosen Breis. Damit das Diner auch anschlug, legten wir uns ein bißchen schlafen. Das war zwar gegen die Vorschrift, war aber nicht zu ändern. Ruville klappte sein schönes Bett herunter und legte sich auf die straffgespannte Leinewand. Probeweise kletterte ich über ihn hinweg auf meine Pritsche. Da merkte er, daß es verkehrt gewesen war, das Bett zu nehmen. Von mir ging es über Ruvilles Pfühl. Zu mir ging es über Ruvilles Pfühl. Er sagte nichts. Ich aber sagte: »Du mußt es nicht übel nehmen, aber fliegen kann ich hier nicht.«

Am Abend lauschten wir dem ›iwening prejer‹. War das nicht derselbe Sang wie heute morgen? Dann hatte man uns ja gar keine Ovation gebracht! Wir waren um eine Enttäuschung reicher.

Das Morgenprejer jagte uns den Schlaf aus den Augen. Wir wuschen uns à la Russe über der Tonne und suchten vergeblich, das Problem zu lösen, die Nase während dieser Prozedur selbsttätig zu schließen. Das Frühstück kam. Ein Untersuchungsgefangener, dessen Widersacher im Verlauf des Wortgefechtes gefallen war, brachte zwei Näpfe mit warmem Essigwasser. Vier Kartoffeln lagen ertrunken in der Lauge, und die millimetergroßen Leichen von sechs Speckstücken schaukelten bräunlich auf der trüben Brühe.

Dazu gab es Brot. Schwarzes. Feuchtes. Häufig verschimmeltes. Nein, was das Brot für eine Wirkung auf die Verdauung und die in unserer Zelle herrschende Luft ausübte! Gar nicht zu beschreiben.

Dreimal in der Woche wurde gegen 1100 vormittags Fleisch gereicht. Rot, grün, rötlich-grün, in allen Farben des Sonnenspektrums schillerten die Portionen von einem kleinen Holzpfeil. Die Spektralfarben aber waren vom Geruch des Fleisches abhängig. Der sachverständige Küchenchef – er trug wie ein Mann die anderthalb Jahre Gefängnis für einen bescheidenen Mord – hielt es für ›pferdigen Kopp‹. Ab und an gab es Kuheuter; an diesen Tagen stand ein großer Heiliger im Kalender.

Lecker war auch das Mittagessen. Es war so raffiniert zubereitet, daß es der Zunge unmöglich war, festzustellen, ob Graupen oder Erbsen die Aufgabe hatten, den Gaumen zu kitzeln. Im Interesse eines gesunden Schlafs sah die Gefängnisverwaltung davon ab, den Magen mit einem Nachtmahl zu überladen. –

An einem Juni-Nachmittag kam der Natschalnik mit der Nachricht, er habe gehört, Knobelsdorff käme nach Jaroslawl in ein Spezialgefängnis. »Wo liegt Jaroslawl?« – »An der Wolga.« Hm, die Wolga ist lang. »Wo an der Wolga? Kasan? Twer?« Der Natschalnik nickte ja und nein. Im neuen Gefängnis wäre alles schlecht, berichtete er. Strenges Regime! »Strenges Regime!« betonte er mit bekümmerter Miene. Ich wußte damals noch nicht, daß der Russe darunter Bummelei und Brutalität, schamloseste Ausplünderung durch die Gefängnisbeamten und feigste und niederträchtigste Mißhandlung Wehrloser versteht. Auch das Essen sei dort schlecht, bereitete er mich auf die Erweiterung meiner gastronomischen Kenntnisse schonend vor. Aufrichtiges Bedauern sprach aus allen seinen Worten.

Ende Juni ging der Befehl ein, der mich nach Jaroslawl und Ruville nach Orel versetzte. Wir mußten unsere Uniformen verkaufen. Es wurde uns nicht erlaubt, sie mitzunehmen. Sie brachten uns jedem etwa fünfzehn Rubel ein.

Jetzt waren wir reich. Wir kauften uns eine blecherne Teekanne und eine emaillierte Tasse, schneeweißen Zucker, herrliche Wurst und langentbehrte Seife. Am folgenden Morgen sollte es mit der Bahn von Etappe zu Etappe gehen. Wir erteilten an die Gefängnis-Insassen die letzten Instruktionen und kratzten in die Zellenwände unsere Namen, Dienstgrad, Truppenteil, Dauer des Aufenthaltes, Verurteilung und Reiseziel ein. Vielleicht rührte sich jemand für uns, wenn die Heimat von unserem Ergehen hörte.

Am 28. Juni n. St. 600 vormittags standen wir auf dem Gefängnishof. Es war ein prächtiger Tag. KonvoisoldatenDer Konvoi besteht aus besonders ausgesuchtem, zuverlässigem Material und bildet eine Truppe für sich, sie wird fast ausschließlich zu Sträflingstransporten verwandt. waren damit beschäftigt, Kleider und Bündel von zwölf Sträflingen, die zu weiterer Strafverbüßung anderswohin abgeschoben wurden, nach verbotenen Dingen zu durchsuchen. Wir traten in Reih und Glied. Unsere Rohrplattenkoffer, hops: der Sack, den der Natschalnik uns großmütigerweise für die Verpackung unserer Habe zur Verfügung gestellt hatte, wurden geöffnet, Brot und Wurst mehrfach durchschnitten und alles wieder eingepackt. Wir hatten nichts zu verheimlichen, auch die Löcher im Drillichzeug nicht, denn die waren Kaiserlich-Russisch und damit erlaubt.

Wir waren soweit. Der Konvoi nahm die Abteilung in die Mitte, und wir verließen das Gefängnis für Gentlemen.

Im Wartesaal nahmen wir dem Buffet gegenüber Platz. Hinter ihm thronte die Mama. Die hätte ich vor den Nibelungenhort gesetzt. Der Siegfried war doch ein mutiger Mensch, aber ob er den Drachen angegriffen hätte? Eine Stimme hatte sie! Seitdem ich die Madam' hab' krähen hören, weiß ich, daß alle Hähne auch nur gackern. Trotzdem besaß sie ein weiches Herz! Sie ließ jedem von der Rasselbande von Gaunern, Dieben und sonstigem Gesindel, das da mit uns zusammen war, für 20 Pfg. Semmel, für 30 Pfg. Wurst, 2 Sooleier (macht doch auch ungefähr 20 Pfg.) und dazu noch Tee und Zucker geben. Ist das nicht geradezu rührend!

Solches Verdienst habe ich nicht aufzuweisen. Ich bin lediglich einmal in Uniform mit einem Herrn gegangen, der von Beruf Landstreicher war. Er sprach mich an und fragte, ob er mich nicht ein Stückchen begleiten könnte. Er roch zwar ein bißchen nach Alkohol, aber das ist ungefähr so, als wenn unsereins ungeschickterweise nach Parfüm riecht: man hat ein wenig zu viel genommen! »Natürlich!« sagte ich: »kommen Sie mit!« Wir unterhielten uns sehr angeregt. Die Leute blieben alle in der großen Straße in Ruppin stehen, so wunderten sie sich über meinen neuen Freund. Im Laufe der Unterhaltung wurde er ein wenig zutraulich: ob ich nicht jemanden habe, den er verhauen solle? Oder ob ich nicht einen ähnlichen Auftrag für ihn hätte? Für mich täte er alles. Ich schenkte ihm eine Mark und sagte: »Nee.« Das war in dreißig Jahren meine einzige Ausgabe für Vagabunden und verwandte Berufe. Heute hatte ich von der guten Frau etwas gelernt. Ich bin ihr dankbar.

Unter unseren Genossen befand sich auch ein Kosak. Da ist nun weiter nichts dabei, denn in Rußland gibt's Kosaken. Trotzdem will ich von ihm erzählen. Zwei Bettler hatten den Wartesaal betreten. Mein Freund, der Ruppiner Landstreicher, war im Vergleich zu diesen beiden da angezogen wie ein Sohn aus wohlhabendem Hause. Na, und wie sie gar erst herumschlichen: da kroch das leibhaftige Elend! Meinem Kosaken standen sofort die Tränen in den Augen. Er nahm ein großes Stück Brot, ein anderer gab gleichfalls eins und dann legten sie mehrere große Stücke Zucker dazu.

Hierauf winkte er den einen heran. »Für Euch beide!« sagte er und drückte dem Fechtbruder die Gabe in die Hand. Als dieser sich unbeobachtet sah, strich er schnell den Zucker ein und ehrlich teilte er das Brot mit dem andern. »Was er schlau ist!« bewunderte ihn leuchtenden Auges der Kosak.

Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir, er wäre auch schon mal in Deutschland gewesen und zwar in Kattowitz. Dort hat er erst vierzehn Tage im Gefängnis gesessen, ehe er per Schub über die Grenze befördert wurde. Was hat er in Kattowitz gemacht?

Den Wirtsleuten seiner Schlafstelle gehörte eine Kuckucksuhr. Eine Uhr, aus der ein Vogel herausspringt und Kuckuck ruft! Kuckuck! Kuckuck! So etwas hatte mein Kosak noch nicht gesehen, ja überhaupt nicht für möglich gehalten! Alle Stunden rief sie Kuckuck! versicherte er mir unter Beteuerungen. Jeden Abend sah er vor der Wunderuhr, um aufzupassen, wenn der Vogel heraussprang und dann Kuckuck! Kuckuck! rief. Unaufhörlich beschäftigte ihn der Gedanke an das kostbare Werk, und eines Tages, da war ihm klar: den Schatz mußte er haben! Er wartete, bis der Vogel wieder hineinsprang und dann warf er seinen Rock schnell übers Gehäuse, um ihn am Entweichen zu hindern. Jetzt nahm er die Uhr von der Wand und verschwand heimlich mit ihr. Er kam nicht weit. Ein Gendarm, kräpki: stark – der Kosak zeigte Muskeln, die Herkules beschämt hätten, blies die Backen auf und drückte die Brust heraus: so stark war der Gendarm! – nahm ihn am Schlunks und fragte: »Weshalb läufst Du denn so? Was hast Du denn da unter dem Arm?« Seine Neuerwerbung wurde ihm zunächst 'mal fortgenommen. Dann kam er auf vierzehn Tage 'rein ins Kittchen. Doch seine Sehnsucht hat er nicht vergessen. Bevor er sich in seinem Heimatsdorfe, nach Sturm und Drang, endgültig niederläßt, will er in Deutschland eine Uhr kaufen, die dann in seiner Stube alle Stunden Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck! ruft.

Es war 500 nachmittags geworden. Zehn Stunden erst warteten wir auf unseren Sonderwagen. Da ging gegen ½600 die Nachricht ein, daß er heut nicht käme. Wir konnten wieder nach Hause gehen.

Am 5. Juli n. St. 600 vormittags standen wir wieder auf dem Gefängnishof, und derselbe Konvoi stellte abermals fest, daß wir nichts verborgen hatten. Auch diesmal waren wir ein wenig früh am Bahnhof und hatten Zeit genug, zuzusehen, wie unaufhörlich Züge mit Soldaten, Munition und Verpflegung nach Warschau rollten.

Der Natschalnik winkte. Wir sollten 'raus. Unser Zug käme. Ich ergriff mein Gepäck und draußen stand ich auf dem Bahnsteig. Es wimmelte von Menschen. Die Sonne brannte glühend heiß. Zwei Züge aus Warschau brausten heran. Ich klemmte mein Monokel ein und sah mir ein wenig die Leute an. Das machte Effekt. Ein Kerl – allerdings tadellos rasiert – ein weißes Jockeikäpplein auf dem Kopfe, in zerrissener Drillichjacke und mit Löchern in den Hosen, an Händen und Füßen in Ketten, hielt auf dem Rücken einen Sack und in der Hand eine blecherne Teekanne, und dieses Subjekt – trug ein Monokel! Die Leute in der ersten Klasse von dem Kiewer Zuge waren starr. Mit Hilfe meines Monokels stellte ich bald fest, daß wir weder mit diesem noch mit dem Moskauer Zuge fahren würden. »Philipp, wir wollen nach Hause gehen, wir fahren heute nicht,« prophezeite ich ihm 1000 vormittags. Wir standen noch geraume Zeit herum. Dann gingen wir wieder in den Wartesaal.

Abermals labte uns die Bahnhofswirtin mit Speise und Trank. Dann warteten wir weiter.

Um die Zeit nicht lang werden zu lassen, werde ich etwas erzählen. Ich rühmte vorhin, wie gut ich rasiert sei. Der uns rasiert hatte, verstand das Geschäft auch. In der Freiheit, da war er Fleischer. Die beim Abbrühen und Schaben der Schweine erworbenen Fähigkeiten ließen ihn im Regierungsgefängnis Bjäla zum Coiffeur und Barbier avancieren. Der Rasiersalon: ich setze mich auf einen Schemel im Korridor. Der Herr Barbier läßt sich durch das Gitter der Nachbarzelle eine Kruschka mit Wasser reichen. Dann schnallt er seinen Lederriemen ab und lehnt sich an die Wand, damit die Hosen ihm nicht herunterfallen. Jetzt wird das Messer abgestrichen. Nachdem der ehemalige Fleischer hinreichend warm geworden ist, glaubt er, das Messer sei nun auch scharf. Daraufhin schnallt er den Riemen wieder um seine Taille. In eine zweite, leere Kruschka tut er das von mir mitgebrachte Stückchen Seife. Dann nimmt er aus der ersten einen tüchtigen Schluck, hält ihn einige Zeit im Munde und – mich faßte das bleiche Entsetzen, als ich das zum erstenmal erlebte – dann speit er das Wasser auf meine Seife. Mit einem Pinsel macht er jetzt Schaum und schmiert ihn mir, wie selbstverständlich, ins Gesicht. Dann nimmt er das Messer und fängt an zu schaben. In der Tat: schaben und nicht etwa rasieren. Beim erstenmal glaubte ich, er schabt mit dem kunstvoll stumpf und schartig gemachten Messerrücken; es war aber die Schneide. Nachdem die rechte Wange hinreichend zerhackt worden ist, wird das Messer erneut haarscharf geschliffen.

Maizière hat mich 'mal in Ruppin rasiert. Dreiundzwanzig Schnittwunden hatte er mir damals beigebracht und mich dabei wie einen Fakir zugerichtet. Und das war ein preußischer Verwaltungsbeamter! »Wissen Sie nicht, daß Sie meinen ganzen Respekt vor der Regierung durch diese Untat untergraben haben?« fragte ich ihn. »Ich habe hier noch ein paar Messer,« sagte er begütigend: »vielleicht können wir sie morgen probieren?« Mordlustig funkelte mich sein Monokel an. Ich aber wünschte ihn zu allen Teufeln mit seiner Kunst. Jetzt sehnte ich ihn herbei. Er war ja ein Meister gegen diesen Menschenschlächter! Schon allein auf Grund der Leistungen als Barbier wollte ich ihm heute die Befähigung zum Regierungspräsidenten erteilen. Aber was nützen alle Versprechungen!

Die linke Wange wird zerstückt. Jeder andere Mensch wäre nach Beendigung dieser Prozedur tot gewesen. Mich aber ließ ein grausames Geschick weiter leben.

Nun kommt der Hals dran. Das Messer wird extra scharf geschliffen. Mein Peiniger schwitzt, so scharf ist jetzt das Messer. Der starke Blutverlust ist nicht ohne Einwirkung auf meine Herztätigkeit geblieben. Ich bekomme Angstzustände. Meine Phantasie beginnt zu arbeiten. Wenn das ein von den Russen gedungener Meuchelmörder ist! Ein ganz hinterlistiger! In der Maske eines russischen Barbiers – das schloß ich daraus, daß der Kerl in einer Weise aus den Ärmeln stank, Verzeihung! roch, die gar nicht zu beschreiben ist – will er uns umbringen? Wir würden wohl so dumm sein und sein Vorhaben nicht bemerken? Ha, er sollte sich verrechnet haben! Mit Argusaugen folge ich nunmehr jeder seiner Bewegungen. Da fühlt er sich durchschaut. Er gibt sein Vorhaben auf. Mein Leben ist gerettet! Mit einem Handtuch verhülle ich Gesicht und Hals. Dann wanke ich in die Zelle.

Ruville ist an der Reihe. Mochten sie ihn umbringen! Er hatte mich ohnedies geärgert. Indes der Henker glaubte, ich hätte ihn gewarnt und ließ ihn leben. Als er wieder kam – Ruville sah aus wie ein gefolterter Heiliger – fragte ich interessiert aber harmlos: »Na, wie war's? Nicht wahr, der hat 'ne leichte Hand?«

Gesicht und Hals brannten erst wie Feuer, dann schwollen beide an. Gegen Krankheiten und Verletzungen kann man sich zwiefach nur verhalten: entweder man reagiert auf sie, oder man reagiert nicht auf sie. Ich entschloß mich, nicht zu reagieren.

In der Folge aber sorgte ich für starken Zulauf zum Rasiersalon. Dies führte eines Tages sogar dazu, daß ein Scherenschleifer das Messer ganz besonders kunstvoll schliff, und so kam es schließlich dahin, daß die Hand des Operateurs immer sicherer und geschickter wurde. Als ich nun die Reisenden der ersten Klasse des Kiewer Zuges beaugenscheinigte, hatte ich nicht nur ein Monokel, sondern auch ungefähr dreiundzwanzig Schnittwunden im Gesicht. Da darf ich wohl mit Fug und Recht behaupten, daß ich ganz tadellos rasiert war; so tadellos, wie dies nur ein Königlich-Preußischer Regierungsrat zu tun vermag! Maizière, wir sind quitt! Ihr Rasieren ist gerächt.

Es fing an, Abend zu werden. Wir wurden nach einem abgesonderten Raum geführt. Dort warteten wir weiter. Glücklicherweise war ich schon ein paar Jahre Soldat: mir war das Warten daher nichts Neues, und da Rußland größer als Deutschland ist, so mußte die Wartezeit hier naturgemäß auch größer sein. Die Verfolgung dieses Gedankenganges führte mich zu der Entdeckung eines allgemein gültigen Gesetzes: ›Alles, was in Deutschland unvernünftig und töricht ist, ist es in Rußland auch und zwar proportional zur Größe der beiden Länder.‹ Das russische Staatsgebiet umfaßt 1/6 des Festlandes der Erdkugel. Mithin verhält sich, in runden Zahlen ausgedrückt, deutsche Unvernunft zu russischer wie 1 : 40.

Aufgabe: wenn man in Deutschland auf irgend etwas sechsunddreißig Minuten zwecklos warten muß. wie lange muß man dann in Rußland darauf warten? Für diejenigen, die im Rechnen nicht stark sind, will ich die Aufgabe lösen. Die Wartezeit in Rußland kenne ich nicht: ich bezeichne sie daher mit x. Nun verhält sich nach dem 1. Knobelsdorff'schen Gesetz die Wartezeit in Deutschland zu der in Rußland wie 1 : 40. Ich kann somit die Proportion aufstellen:

36   1    

=
   
x   40    
         
    36 mal 40    
x =
= 1440 Minuten
    1    
Ich rechne die Minuten in Stunden um:
1440 durch 60 = 24 Stunden
120    

  240
  240

     ·/·

Ich muß also in Rußland 24 Stunden warten, wenn ich in Deutschland 36 Minuten warten muß.

Wenden wir nun das, was wir soeben gelernt haben, auf meinen besonderen Fall an, so ergibt sich, daß wir vom 5. 7. 645 vormittags bis zum 6. 7. 645 vormittags zu warten hatten. In der Tat erschien der Natschalnik am 6. 7. zwischen 630 und 700 vormittags (die genaue Zeit vermag ich nicht anzugeben, da die Bahnhofsuhr nur ganze und halbe Stunden schlug) und sagte, es ginge wieder ins Gefängnis zurück: unser Wagen käme nicht.

Wir wurden mit Hallo empfangen. Im Laufe des Tages ging die Weisung ein, Ruville und mich nach Brest-Litowsk abzutransportieren.

Am nächsten Morgen, dem 7. Juli n. St., gegen 700 vormittags bestiegen wir mit unserem Konvoi zwei kleine Leiterwagen. Die Fuhren setzten sich in Bewegung, und der Natschalnik winkte Abschiedsgrüße.

In Brest-Litowsk hielten wir zunächst im Schatten der Militär-Arrestanstalt und machten Mittag. Der Konvoi schenkte uns Brot und Wurst, und mit herrlichem Kwaß löschten wir unseren Durst. Schräg über dem großen, sandigen Platz lugte aus Kastanien- und Ahornbäumen ein obwohl weiß getünchtes, doch verdächtig aussehendes Gebäude hervor. Da sollten wir sicher hin. Richtig, dahin ging die Reise.

Es war sofort zu merken, daß wir in einer Festung waren. Das Personal des Gefängnisses mit Ausnahme des Natschalniks bestand ausschließlich aus Soldaten. Unser Bündel wurde durchsucht und hierbei entdeckte ich das zweite allgemein gültige Gesetz: ›Die Leute halten sich hier zu Lande alle miteinander für Gauner.‹ Es ist der Boden dieses Grundsatzes, auf dem die gegenseitigen Beschuldigungen der Bestechlichkeit wachsen. »Er ist bestochen, er hat uns verkauft!« mit dieser Formel wird hier jeder Mißerfolg erklärt. »Man kann nie wissen!« wurde ich belehrt. In der Zelle stand ein eisernes Bettgestell, und auf diesem lag ein Strohsack. Das war 'was für Ruville. Das Bettgestell hatte den zweifellosen Nachteil, daß man nicht darauf liegen konnte, wenigstens so ohne weiteres nicht. Die Stelle einer Sprungfedermatratze vertraten Eisenbänder: die aber hatte der bekannte Nager, der Zahn der Zeit, bis auf einen schmalen Rand hinweggefressen. Mit Hilfe zweier Bretter und des Strohsackes gelang es Ruville dennoch, sich ein üppiges Lager herzurichten. Eine Tonne fehlte nicht, und als Symbol der Reinlichkeit war sogar ein Besen da. An den Wänden die bereits bekannten Fresken. Ein zweites Prunkbett fand sich nicht für mich. Wir waren ohnedies bereits im Fürstenzimmer.

Weshalb gab es denn kein Abendbrot? Hatten die Leute uns am Ende gar vergessen? Wir zehrten von unseren Vorräten. Dann legte ich mein Bündel auf den Fußboden und streckte mich auf den Beton. Wo blieb das Frühstück? Was war das für 'ne Wirtschaft! Wir aßen den Rest von unserem Brot und den letzten Zipfel Wurst.

Die Tür wurde geöffnet. Wir sollten die Tonne heraustragen, ausgießen und wieder hereinbringen. Der Ernst des Lebens begann. In Bjäla hatten das andere für uns besorgt. Mit verbindlichem Lächeln ergriffen wir die Tonne und brachten sie wieder. Dann setzten wir den Soldaten vom Korridordienst dadurch in Verwunderung, daß wir uns waschen wollten. Da fiel ihm ein, daß wir verkappte Offiziere waren. Da ging's. Nach dem Waschen gab es warmes Wasser. Was sie sich in Unkosten stürzen! Nicht wahr? Wir machten uns Tee. Gegen 900 vormittags erhielt jeder ein Zehn-Kopekenstück. Das waren unsere nunmehrigen Tagegelder. In Rußland waren sie kleiner, als im Lande zu beiden Seiten der Weichsel. Dank der Freigebigkeit unseres Konvois hatten wir unsere vierzehn Kopeken von gestern noch.

Am Abend besuchte uns der Natschalnik. Mein Bett deuchte ihm nicht komfortabel genug. Die Insassen aus der Nachbarzelle wurden hinausgeworfen, und wir zogen um. Ruville wurde sein Paradiesbett nebst Wanzen los und mußte sich zu mir auf die Pritsche legen.

Da das Gefängnis in Brest-Litowsk lediglich als Sammelstelle diente, so hatten wir nur mit kurzem Aufenthalt zu rechnen. Immerhin dauerte er zehn Tage, bis zum 16. Juli n. St. abends.

Der Konvoi, dem wir nunmehr anvertraut wurden, bestand aus Spitzbuben. Was ihnen gefiel, steckten sie ein. Jetzt kam die Reihe an Ruville. Den Kerl im schmutzigen Drillichzeug konnte doch keiner für einen preußischen Offizier halten! Ruvilles Kruschka verschwand. Was sollte er auch mit ihr? Trinkt ein Russe aus 'ner Tasse? Ein Stockrusse? Steckt er nicht das Mundstück des Teekessels ins Maul? Nimmt er etwa nicht den Stückzucker zum Abbeißen in die Hand? Der Löffel war also unnötig und verschwand in einer Hosentasche.

»Was ist das?« fragte der Soldat, der die Schachtel mit dem Zahnpulver aus meinem Sacke herausgelangt hatte. »Dynamit,« antwortete ich. Da verriet einer mein Inkognito, und ich durfte alle meine Sachen behalten. Wer Geld habe, solle es gegen Quittung abgeben! Wir waren doch nicht verrückt geworden! Die Soldaten hatten eben erst festgestellt, daß wir keins hatten. Folglich besaßen wir auch keins.

Gegen 1000 abends verließen wir Brest-Litowsk. Ich legte mich auf die Pritsche und schlief. Wenn der Jude nicht gewesen wäre, dann hätte ich auch keine Läuse bekommen. So bekam ich welche in der ersten Nacht, Ruville in der zweiten. Zwei Nächte und anderthalb Tage fuhren wir über Gomel bis Brjansk. Hier kamen wir am Sonntag vormittag an.

Zum ersten Male seit vierzehn Tagen aßen wir mittags wieder warm. Ich lobe, was ich loben kann: also, das Essen war warm. Kaum war ich damit fertig, schon mußte ich wieder weg. Ein neuer Konvoi nimmt mich in Empfang; alles wird durchsucht; mein Geld wird nicht gefunden. Noch heute abend fährt ein großer Transport nach Moskau. Wir sind bereits im Gouvernement Orel. Von hier geht Ruville direkt in das neue Heim. Rasch darf ich mich noch von ihm verabschieden. Ich finde ihn als Kranken; er ist in der Zelle ausgeglitten und hat sich den Fuß verstaucht. Wir geben uns die Hand. Wo sehen wir uns wieder?

Wir haben einen unheimlich langen Marsch vor uns. Wie wäre es, wenn ich wieder etwas erzählte? Da sitze ich also während der Fahrt nach Brjansk in meiner Ecke und sehe zum Fenster heraus. Auf einer Station werden gutgekleidete Leute in unseren Arrestantenwagen verstaut; dichtgedrängt stehen sie im Gange. »Was stellen Sie denn vor?« frage ich den ersten besten. Erschrocken blickt mich der Jude an. Scheu sieht er sich um. »Ich habe Angst zu reden,« flüstert er. »Sie können doch sprechen!« ermutige ich ihn. »Ich habe Angst,« erwidert er. Neben ihm steht ein zweiter mit grauem Haar. Furcht, Anstrengung und Alter lassen ihn am ganzen Leibe zittern. Machtlos muß ich es mit ansehen, wehrlos dulden, wie der Feind ihn höhnt. Grenzenloses Mitleid faßt mich mit dem alten Manne, und das Herz wird mir weh, so weh. War das der Krieg? Was wollte der russische Staat von dem dreiundachtzigjährigen Greise? Was will er von all den anderen Leuten? Sie sind in Galizien grundlos verhaftet worden und werden nach Sibirien abgeführt: als ›Geiseln‹!

So hinter Gomel werden sechs Arrestanten aus unserem Abteil hinausgeworfen, und vier gut angezogene ältere Männer nehmen für kurze Zeit die freigewordenen Plätze ein. Ruville und ich sagen nichts. Mißtrauische Blicke treffen uns. »Wenn Sie Ihr Gepäck übereinanderstellen, sitzen Sie bequemer,« rate ich. »Sie haben recht!« sagt einer und bringt schnell seine Sachen vor mir in Sicherheit. Ich lächle. »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, ich tue Ihnen nichts,« beruhige ich ihn. »Wie kommen Sie hierher? Wo fahren Sie hin?« frage ich. »Sie sprechen Deutsch?« zweifelt er noch immer. »Fließend,« versichere ich. »Ja, aber?« Fassungslos sieht er mich an. »Wenn es Sie nicht stört,« beeile ich mich nunmehr vorzustellen, »der da mit der Konditormütze ist der Herr v. Ruville, Leutnant in der dem Ober-Kommando der Kaiserlich Deutschen Süd-Armee zugeteilten Feld-Flieger-Abteilung 30. Ich bin der Oberleutnant v. Knobelsdorff von derselben Innung. »Wie?« fragen sie entsetzt. Ja, das waren also auch ›Geiseln‹, d. h. Leute, die der weichende Russe mir nichts, dir nichts verhaftet hatte und nun irgendwohin verschleppte. Wozu soll ich noch mehr Worte machen: die allgemeine Abrüstung müßt ihr unterstützen, pagani; dann seid ihr um so sicherer, gefressen zu werden: es ist Verlaß auf die Menschen: insonderheit auf ihre schlechten Eigenschaften! –

Brjansk liegt hinter mir. Mir gegenüber sitzt ein Warschauer Jude mit seinem vierzehnjährigen Sohne. Ab nach Sibirien! Das sind ›Spione‹. Urteil ist überflüssig: es sind Juden. In meinem Abteil bin ich der einzige Halunke. Alle anderen sind auf administrativem Wege verschickt. Weil sie Spione sind. Alle gehen nach Sibirien. Ich führe noch zwei ›Spione‹ vor: den, der mir schräg gegenübersitzt und den rechts neben mir. Nummer Eins trägt die Medaille vom russisch-japanischen Kriege auf der Brust. Er ist Deutschrusse aus dem Cholmer Gouvernement, Bauer von Beruf. Er hat erst seine fünf Jahre abgedient (er ist Pionier und die dienen wie die Matrosen fünf Jahre!), dann wurde er als Reservist einberufen und machte als solcher den japanischen Krieg mit. Bei Beginn dieses Feldzuges wurde er wieder eingestellt. Im achten Feldzugsmonat erkrankte er an Lungenentzündung, wurde geheilt und dann wurde ihm aufgegeben, binnen 24 Stunden sein Besitztum zu verkaufen. Seine Frau und seine Kinder waren bereits, wer weiß wohin, abgeführt worden. In trübe Gedanken versunken, saß der ›Spion‹ vor mir.

Nummer Zwei stammte gleichfalls aus dem Cholmer Gouvernement. Auch er ist Deutschrusse. Bauer. Er war verwundet worden. Aus dem Lazarett entlassen, geht er zu völliger Wiederherstellung nach Hause. Der im Dorfe hörbar werdende Kanonendonner treibt ihn in die Kirche. Dort nimmt ihn ein Kosak fest und behauptet, er habe in der Kirche mit dem Feinde telephoniert. Ein Telephon ist weder gesehen noch gefunden worden. Wenn man auch nichts gefunden hat, so beweist das doch gar nichts. Seine Frau muß in aller Hast die Wirtschaft verkaufen. Dann wird sie mit den Kindern abgeführt. Wohin? Zeugen beweisen, daß in der Kirche kein Telephon war, daß es im ganzen Dorfe keins gibt, daß das Telephon des Kosaken ein Harmonium ist. Das nutzt alles nichts. Er ist Deutschrusse. Also auch Spion. Jetzt sitzt er mir gegenüber und fährt nach Sibirien. »Werden wir jemals unsere Weiber und Kinder wiedersehen?« fragt er den Pionier. –

Die Fahrt geht im Zickzack nach Nordosten. Die Hauptlinie Warschau-Moskau halten die Russen ängstlich frei. Sie scheinen im Westen keine guten Geschäfte zu machen. Wenn – ich breche ab. Das Wort ist mir widerlich. Den ganzen Krieg hat es uns verdorben. –

Am 19. Juli mittags hielten wir unseren Einzug in die große Halle des Moskauer Gefängnisses. Noch eine Tagereise, und ich war in Jaroslawl.

Ein kleiner Saal nahm mich auf. »Guten Tag!« sagte ich, als ich eintrat; »sind Sie auch ein ›Spion‹?« Ein mißtrauischer Blick des einzigen Anwesenden, der nicht die übliche Gefängniskleidung trug, traf mich. Dann sagte er auf deutsch: »Ich spreche nicht Deutsch.« – »Ich bin nämlich bis jetzt fast ausschließlich mit Spionen gereist,« entschuldigte ich meine aufdringliche Frage, warf meinen Sack auf die Pritsche und sah mir mein Gegenüber näher an. Ein vierzig- bis fünfzigjähriger Mann. Unendlicher Kummer drückt sich in seinen Zügen aus. Bittere Tränen haben zahllose Furchen in sie hineingegraben. Aus blauen Augen sieht er mich forschend an.

Was er auch begangen haben mochte, das einzige Gefühl, das er mir einflößte, war Zuneigung und Mitleid, unendliches Mitleid. Ein solches Gesicht hatte ich noch nicht gesehen. Weint ein Mann? Wann weint er? Weint so, daß der Weg der Tränen unauslöschlich tiefe Spuren hinterläßt? Schurken und Heuchler sahen anders aus. Das war gewiß. »Mein Anzug gefällt Ihnen nicht?« brach ich das Schweigen: »es ist nicht mein Geschmack. Aber hier trägt man solche Sachen. Man hat mich als Blitzableiter frisiert, vielleicht weil ich als Flieger dem Himmel so nahe war. Sie dürfen sich durch mein Äußeres nicht stören lassen!« – »Was sind Sie?« – »Ich bin Offizier. Was kann ich anders sein?« Ich berichte aus meiner jüngsten Vergangenheit. »Ja, so sind sie,« sagte der Pole.

Er hatte in Warschau ein Haus. War Witwer mit neun Kindern. Als man ihn festsetzte, war sein ältester Sohn zwölf, die jüngste Tochter zwei Jahre alt. »Vater und Mutter mußte mein Sohn zugleich sein; was ist aus den Kindern geworden?«

Acht Jahre hatte er in Nischni-Nowgorod in Untersuchungshaft gesessen, dann wurde er zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt; macht zusammen fünfzehn.

In seinem Hause wohnte ein reicher Mann. Der hatte zwei Söhne. Die Söhne brauchten, wie das so vorkommt, Geld, viel Geld. Sie schlugen ihren Vater tot. Da hatten sie das Geld. Die Polizei bestachen sie. So blieben sie straflos, und anstatt ihrer wurde der Hausbesitzer festgenommen. Nichts geht über die Gerechtigkeit! »Und weshalb wurden Sie anstatt in Warschau in Nischni-Nowgorod verurteilt?« – »Das ist weit weg,« belehrte er mich, und seine rechte Hand zählte blankes Gold auf die Pritsche.

Neun Jahre war er in Nischni-Nowgorod. Jetzt ging er nach Smolensk. Bittschrift auf Bittschrift hatte er eingereicht, um aus der Neustädter Hölle wegzukommen. Endlich hatte man ihn erhört.

Das Nowgoroder Gefängnis war bekannt. Selbst in Bjäla wußte man von ihm. Von heißem Wasser, schimmeligem Brot und stinkender Suppe ist nicht gut zu leben. Die Zähne fallen aus. Sie haben nichts zu tun. Sinnlos werden ihre Funktionen.

Wie weit war ich doch noch von dem »humani nihil a me alienum puto!« Bis dahin führte noch ein weiter Weg.

»Ich habe viel geweint,« endete der Pole seine Erzählung. Gram zerschnitt sein Herz, und ich dachte an die Kinder, die weder Vater noch Mutter hatten, und an die Heimat, die im Kampfe lag. Ob sie wohl wußte, um was es ging und wie's im Leben ausschaut, wenn Fremde herrschen?

Am 27. Juli vormittags traf der Moskauer Sträflingstransport in Jaroslawl ein. Es ging zunächst ins Regierungsgefängnis. Der Pomoschtschnik vom Dienst glaubte, ihn rühre der Schlag, als ich ihn durchs Monokel betrachtete, aber ich hatte mir wohlweislich in Bjäla eine Bescheinigung geben lassen, die es mir zubilligte. Die reichte ich ihm jetzt als stärkende Medizin, und siehe da: er genas. Ich wohnte im ersten Stock in einer schmucken, gedielten Zelle, spielte mit den Wanzen und hatte auch an den Läusen meine helle Freude. Sonnabend mittag ging es nach dem Zuchthaus.


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