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Im Eise.

Ein böser Winter war's!

Erst anfangs Januar freilich begann es zu frieren, mäßig zunächst, doch kittete ein starker Schneefall die Eisschollen auf den Flüssen und Buchten zusammen und machte selbst die von Eisbrechern offengehaltene Fahrrinne nach der Hafenstadt schwer passierbar. In der offenen See mehrte sich täglich das Treibeis und bereitete der Schiffahrt manche, aber doch noch keine unüberwindlichen Hindernisse. Der scharfe Ostwind war es zumeist, welcher den Dampfern draußen beschwerlich fiel, da er, hohen Wellengang erregend, verursachte, daß die Schiffe selbst, ihre Schornsteine, Masten und Takelung völlig übereisten. Wie sauer unter solchen Umständen die Arbeit an Bord werden mußte, läßt sich leicht denken. – Die Möglichkeit eines vollständigen Schlusses der Schiffahrt in der Ostsee lag nahe. Daß beladene Dampfer unter solchen Umständen abwartend liegen blieben, war natürlich, um so mehr noch, weil allen Anzeichen nach ein baldiger Umschlag der Witterung bevorzustehen schien.

Das taten auch die beiden ganz beladenen und seefertigen, nach russischen Häfen bestimmten Dampfer »Baltic« und »Germania«. Seit einigen Tagen lebten die Kapitäne Friedrichsen und Horstmann und die vollzählig an Bord versammelten Mannschaften in größter Spannung, denn die Wetterberichte aus dem Kanal verkündeten eine ostwärts fortschreitende Depression; der Telegraph meldete den Korrespondentreedern aus dem Norden verhältnismäßig günstige Eisverhältnisse; auch der Frostgrade wurden weniger.

»Scholl de Wind us den Gefallen dohn, Horstmann, na Westen to lopen?« fragte Kapitän Friedrichsen seinen Kollegen, mit welchem er an der Kaje auf- und ab wanderte.

»Dat is keine Frage!« war die Antwort. »Kiek man bloß mal, wo unklar de Sünne unnergeit. Darto jökt mi Finger und Föte. Morgen is Dauwäder. Ik bliw de Nacht an Bord, mit Dagwarden will ik dalwartsan gähn.«

»Denn willen wi den Isbräker bestellen. De mut vörup! Tid hebben wi nich to verleeren. Nums kann wäten, wo bald et wedder anners utsüht.«

Sie gingen an das Hafenbureau, wo sie den Führer des Eisbrechers fanden, der ihre Ansicht teilte und versprach, frühzeitig zur Stelle zu sein; er hege nicht den geringsten Zweifel, die Dampfer glücklich nach See lotsen zu können.

»Kamen Se mit, lüttje Olle,« sagte Horstmann. »Wi willen en Glas up gode Reise drinken!«

»Gott segne de Fahrt!« Mit diesem Wunsche leerten die drei Kapitäne im Schifferhause ihre Gläser. Dann holten die beiden Dampferkommandeure ihre Papiere vom Kontor und erhielten jeder die übereinstimmende Mahnung mit auf den Weg: »Seien Sie vorsichtig und bleiben Sie mit den Dampfern beieinander, damit Sie nötigenfalls sich gegenseitig helfen können. – Übrigens reisen Sie mit Gott – und riskieren Sie nichts. Ihr Bestimmungshafen ist heutigen Börsenberichten zufolge fast gänzlich eisfrei.«

Richtig lief in der Nacht noch der Wind westlich. Die Luft war bei Tagesgrauen zwar ziemlich dick, aber gut sichtig, trotz leisen Schneefalls. Der Eisbrecher meldete früh durch beharrliches Pfeifen seine Ankunft und zermalmte mit einer Kreisfahrt das Eis des Hafens, in welchem »Baltic« und »Germania« festgefroren lagen, ihnen so den Zugang nach der Fahrwasserrinne bahnend, der sie unter guten Wünschen der Hafenwächter rüstig zusteuerten.

Die aufgehende Sonne rötete die den Horizont umlagernde Nebelbank und durchbrach sie allmählich; die feurige glühende Kugel stieg hinter den wie Schattenrisse sich am Himmel abzeichnenden Häusermassen und hohen Türmen der Stadt empor. Dumpf dröhnten an den Bugen der langsam vorrückenden Dampfer die schon von dem Eisbrecher zerkleinerten dicken Eisschollen und flossen zu beiden Seiten, widerwillig sich bäumend, ab. Auf den Kommandobrücken standen die Kapitäne und schauten voraus, sich oft vor Kälte die Hände reibend, während der vorn am Ankerkran wachhabende Matrose, mit so schwächlichen Mitteln nicht zufrieden, die Arme kreuzweise in schnellem Tempo aneinander schlug, um nicht zu verklammen. Die andern Leute hatten an Deck genügende Arbeit, alles nach Seemannsgebrauch zu trimmen und zu klaren. In der Kombüse kochte der Kaffee, die Jungens schleppten mit Kannen und Bowlen nach dem Logis, wo mancher im Vorbeigehen ein übriges tat und einen kräftigen Schluck zur inneren Erwärmung nahm.

An Bord eines jeden Schiffes pflegt irgend ein erfahrener Kerl mit grauem Kopf und schlauen Augen zu sein, die verkörperte Weisheit, sei's nun der Bootsmann oder der Zimmermann, der so lange schon die See durchfurcht hat, daß er gar nicht mehr weiß, wieviele Jahre es her sind. Sowohl die »Baltic«, wie auch die »Germania« besaß solchen Schatz. Beider Gedanken steuerten jetzt den gleichen Kurs; die alten Burschen brummten vor sich hin; »De Luft gefallt mi nich. Wenn dat man god geit! Use Kaptein hadd de Sake man noch en bäten aftöwen schollt. Wer weet, wo wi hen verslagen doht!« …

Auch der Steuermann Jost auf der »Baltic« simulierte ein wenig. Er gedachte des Abschieds von seiner Braut am vorigen Abend. Sie hatte ihm das Herz etwas schwer gemacht und allerlei Befürchtungen ausgesprochen, die er zwar lachend abwehrte, aber doch so ganz nicht abschütteln konnte. Die stiegen jetzt wieder vor ihm auf, er wehrte ihnen jedoch, indem er sich dem Häuschen zuwandte, wo Nero, der Schiffshund, ein riesiger Bernhardiner, welcher freiwillig nie den Dampfer verließ, sein ständiges Lager während der Fahrt nahm, weil ihm der Anblick der wogenden See nicht zu behagen schien.

»Nu, Nero, wat seggst du?« rief er ihm zu.

Das sonst so freundliche und zutunliche Tier knurrte sehr ungnädig, ja, machte sogar Miene, nach der ihn streichelnden Hand zu schnappen.

»Na, na, man ruhig! Du hest woll slecht slapen, oder wat fehlt di sunst?«

Der Hund knurrte wieder und rollte sich, als ob ihm ungemütlich zu Sinne sei, zusammen. Jost ging seines Weges.

Langsam, aber stetig strebten die Dampfer vorwärts. Der hohe Leuchtturm an der Mündung des Stroms kam in Sicht und rückte immer näher. Vollständig gesiegt hatte die Sonne noch nicht, tief zu Füßen lag noch leichter Nebel, aber zu Häupten der Himmel erschien klar. Die Flagge der Lotsenstation wehte aus südlicher Richtung, mit leiser Neigung von Osten. In der Bucht lag eine feste Eisdecke, in welcher die hindurchgebrochene Fahrrinne sich deutlich abzeichnete. Endlich erreichte der Convoi das Städtchen, dessen Hafen in der Nähe des Zollhauses ganz eisfrei war. Da Kapitän Horstmann noch ein Telegramm vom Kontor erwartete, so legten die Dampfer an die Landungsbrücke, den Eisbrecher langsam vorauffahren lassend. Der Lotsenkommandeur überreichte selbst die eingetroffene Depesche. Sie enthielt die Nachricht, daß die Eisverhältnisse bei Reval unverändert geblieben seien. Der Beamte wechselte einige Worte mit den Kapitänen, welche die Achseln zuckten, als er meinte: »Wi kriegen wedder Frost, und twarsten scharpen Frost! Dat Barometer fluggt in de Höchte, in't Osten klart et up. Ik in Ähre Stelle wurd ik liggen bliwen un aftöwen, – man kann doch nich wäten …«

»Wi möten Order pareeren,« entgegnete Kapitän Friedrichsen, »un wie quält us ok sachte dör. Schipp und Maschinen sind in bester Ordnung, dat Driwiis buten in See kann us nich väl anhebben.«

»Nu, denn mit Gott!« rief der Lotsenkommandeur. »Holen Se sick man tosamen! Twee is jümmer bäter as een. Se könen eenanner bispringen. Wat Winterdags passeert, kann nums nich wäten. Jungens, Jungens, ji kriegt orrig wat to riten, eher ji mal in See kamt! Sieh! De Isbräker is fix an de Arbeit un quält sick af, all wat he kann.«

Ja! Das sah man schon vom Lande aus, und deutlicher noch zwischen den Molen, während die beiden sich gleich wieder in Bewegung setzenden Dampfer nach See hinaussteuerten. Hier war das Eis ungleich stärker als auf dem Strome und schwierig zu forcieren, obgleich der Eisbrecher eine Rinne hergestellt hatte. Jetzt griff er einen Wall von Packeis, der den Zugang zur See noch versperrte, mit all seiner Macht an.

Beide Kapitäne schüttelten die Köpfe, die weisen Grauköpfe brummten, Steuermann Jost dachte heim, Nero kam seiner Gewohnheit gemäß aus dem Hundehaus hervor, bellte aber keineswegs wie sonst lustig das Land zum Abschiede an, nein, er heulte in wahrhaft entsetzlicher Weise.

»Wat fehlt den Hund?« fragte Kapitän Friedrichsen.

»Weet nich, Kaptein,« war die Antwort. »He is wedder inkropen un ward nu woll still wern …«

Wir lassen jetzt die »Germania« vorausfahren und folgen den weiteren Ereignissen an Bord der »Baltic«, die als der kleinere Dampfer sich in bescheidener Entfernung hielt.

Die »Germania« ging nur langsam vorwärts, da in jenem, den Zugang nach See versperrenden Eiswall von dem Eisbrecher noch keine fahrbare Straße gebrochen war. Letzterer arbeitete mit Gewalt unter der höchsten Anspannung seiner Maschine. Lange schien es, als ob alle Anstrengungen vergeblich sein würden; oft ward ein Zulauf nötig, um durch vergrößerten Anprall die Mauer zu zertrümmern. Dann wieder rannte er fest mit seinem runden überhängenden Buge; es kostete große Mühe und Anstrengung, ihn los- und wieder in die Fahrrinne zu bringen, in welcher allein er seine Kräfte voll entfalten konnte. Aufregend war es, die übereinandergeschobenen Schollen und Eisberge brechen und schlittern zu sehen, sie krachen und donnern zu hören.

Steuermann Jost stand neben dem Kapitän auf der Kommandobrücke. Friedrichsen hielt sein Fernrohr auf den Eiswall gerichtet. Noch immer war kein Erfolg zu sehen, keine Fortschritte des Eisbrechers zu entdecken. Nero im Hundehause knurrte und heulte jämmerlich.

»Wenn doch de verdammte Hund de Näse man holen woll!« schimpfte der Kapitän. »Da kann eener ja verrückt bi warden.«

Jost fühlte sich merkwürdig bedrückt. Es war ihm sonderbar zu Sinne.

»Dat schient nicks nich to helpen, Kaptein!« äußerte er mißmutig.

»So, Stürmann? Dar, nehmen Se mal dat Glas! Ik segge, wi kamen bald dör. Wenn mi nich alles druggt, is dargunnen jetzt apen Water to sehen.«

»Se hebben recht, Kaptein,« antwortete Jost, nachdem er einige Sekunden hindurch das Fernrohr benutzt hatte.

Da erklang auch schon ein Hurra an Bord des Eisbrechers, die Flagge am Heck desselben ging in die Höhe. Der Weg in die See lag frei, in voller Fahrt schoß der Eisbrecher durch die schmale Öffnung hinaus.

Die Mannschaften an Bord der beiden Dampfer erwiderten das Hurra, an den Toppen und Gaffeln wehten die Flaggen, langsam und majestätisch folgten »Baltic« und »Germania« dem kleinen, aber mächtigen Pionier, welcher, draußen beigedreht, sie vorüberfahren ließ.

»Ik hape, ji kamt god hen,« rief ihnen der weißhaarige Kapitän desselben zu. »De Luft klart up, dat sleit doch wedder tum Frost. Gode Reise!«

Friedrichsen und Horstmann nickten dem Alten freundlich zu. Was sie dachten, das äußerten sie nicht, beide kommandierten »Volldampf«; und so steuerten die Dampfer in Kiellinie in die Bucht hinaus, auf deren offenem Wasser nur vereinzelte Schollen und größere Eisfelder sich schaukelten.

Nero heulte und knurrte noch immerfort und schwieg erst dann, als er nach langer Überlegung einen ihm hingeworfenen Knochen in Arbeit nahm.

Die Reise verlief gut und fast unbehindert bis zu der Enge zwischen Warnemünde und Gjedser, wo eine zwar dünne, aber doch feste Eisdecke verhältnismäßig leicht zu durchbrechen war, weil die hier zwischen Deutschland und Dänemark verkehrenden Postdampfer kräftig vorgearbeitet hatten. Weiter nordöstlich befand sich wieder offenes Wasser, aber voller Eisfelder, die einigen Aufenthalt verursachten. Da die Kälte indessen fortwährend zunahm, welche der aus östlicher Richtung wehende, schneidende Wind doppelt fühlbar machte, so ward allgemach der Aufenthalt an Deck sehr unangenehm, vollends noch, als das über Bord kommende Spritzwasser sogleich gefror und vorn auf der Back und an sonst freiliegenden Stellen alle Gegenstände gänzlich übereiste. Die Speigatten konnten nur mit Mühe und unter Anwendung heißen Wassers aus den Dampfkesseln offen gehalten werden. Unter dem Heck über dem Schraubenbrunnen hingen riesige Eiszapfen herab. Der nicht kondensierte überflüssige Dampf verhüllte gelegentlich wie eine weiße Wolke die beiden rüstig arbeitenden Dampfer.

»Wenn dat man god geit!« wiederholte brummend und, um sich zu wärmen, seine Arme mehrmals übereinanderschlagend, der alte Junge, Bootsmann Grisbart. »De Sünn geit klar und in Für und Flammen unner. Dat bedüdd nicks Godes nich! De leewe Gott mag't versehen. Dar is nu nicks nich mehr gegen to bruken. Wi sünd'r vör und möt'r dör!«

Die Nacht kam heran, das Feuer von Arcona leuchtete auf. Allmählich flaute der Wind ab und schlief endlich ganz ein. Der klarste Himmel wölbte sich über der See, in seltener Pracht funkelten und glänzten die Sterne. Aber die Kälte nahm stark zu. Kapitän und Steuermann auf der Kommandobrücke, die auf Deck und auf der Back aufgestellten Wachen konnten sich kaum vor dem scharfen Froste schützen, den sogar die in ihren Kojen liegenden Leute fühlten. Heißer Tee und Kaffee war Losung und Feldgeschrei, der kleine schmierige Kochmaat hatte die größte Not, alle Ansprüche zu befriedigen; er und der Koch waren vielleicht die einzigen an Bord, welche nicht froren, der eine infolge der unablässigen Bewegung, der andere dank seinem Posten am heißen Herde. Von der vorausfahrenden »Germania« leuchtete das Hecklicht herüber; die »Baltic«, welche eine verhältnismäßig starke Maschine besaß, konnte leicht dem größeren Dampfer folgen. Allerdings verminderte sich beider Schiffe Fahrt, denn in der See bildete sich neues Eis, welches aber, wie die auch hier und da befindlichen älteren Eisfelder, doch noch bewältigt werden konnte. Wenn weiterhin nicht größere Hindernisse in den Weg kamen, dann war auf glückliche Vollendung der Reise zu rechnen. Aber weder Nero noch der alte Grisbart hegten solche Erwartung, denn der Hund heulte und knurrte wieder, und der Bootsmann brummte unablässig, mißmutig seine Prümpte Tabak von einer Seite des Gaumens auf die andere wälzend: »Hal de Düwel so'n Nordpolexpeditschon! De Seel' frust eenen ja in 'n Liwe, un de leewe Tobak ward in 'n Munne to 'n Isklumpen! Noch hebben wie Gange, aberst dat wahrt kine Stunne mehr, denn kamt wie to sitten, – ja, un wat denn? … Süh, süh, dar hebben wi ja all dat Spälwark!«

Durch die Stille der Nacht, nur unterbrochen durch das stetige taktmäßige Arbeiten der Maschine, das Krachen des zerbrochenen Eises und das Rauschen des Wassers, tönte plötzlich ein schriller Signalpfiff von der »Germania«. Das Kommando »Langsam!« ging sogleich von der Brücke der »Baltic« in den Maschinenraum hinab, denn das scharfe Auge des Kapitäns gewahrte, daß der Raum zwischen den beiden Dampfern sich verkürzt hatte. Was hat das zu bedeuten? Ist auf der »Germania« etwas in Unordnung? Vielleicht auch hat nur stärkeres Eis ihren Fortgang gehemmt.

»Stilliggen is nich, Stürmann,« sagte Kapitän Friedrichsen, »sunst hebben wi den Damper nich mehr in 'r Gewalt. Gew Gott, dat dargunnen kin Malheur passeert is.«

»De Mann an 't Roer klagt ook all, dat dat Schipp swar stüern deit.«

»Dar is nicks up to gewen, Stürmann! De Mann is en bäten verklammt. Laaten Se ein aflösen un mit en Kump heeten Koffee updauen! … Kiek eens, dat Licht geit fudder … Se is wedder in Bewegung. Gott Lof und Dank!« Wieder schrillten einige Pfiffe, die fast fröhlich klangen und Kapitän Friedrichsen veranlaßten, den Maschinentelegraphen auf »Volle Kraft voraus« zu stellen. Die »Baltic« durchschnitt das Eis in der von der »Germania« gebrochenen Rinne, eine keineswegs leichte Arbeit, da die Schollen bei der furchtbaren Kälte sogleich wieder zusammenfroren. Augenscheinlich waren die Dampfer in älteres Eis geraten, – dort lag ja auch eine Menge Packeis, welches vorhin die »Germania« aufgehalten hatte.

Steuermann Jost schritt frierend auf der Brücke hin und her. Seine Gedanken eilten nach dem Häuschen am Hafen der Vaterstadt, wo, wie er wußte, jemand seiner gedachte. Dann richtete er seinen Blick hinauf nach dem Sternenhimmel.

»Kaptein,« rief er plötzlich, »mi ducht, de ›Germania‹ hett den Kors ännert.«

Friedrichsen sah nach dem Kompaß.

»Ja, wahrhaftig, Se hebben recht, en paar Strich südlicher! … Na, wat könt wi dohn? Wi möten folgen. Kaptein Horstmann weet, wat he deit. Dar is woll sunst kin Dörchkamen.«

Jost eilte nach dem Steuerkompaß und fand auch dort seine Beobachtung bestätigt.

Obgleich die »Baltic« mit Volldampf arbeitete, so machte sie doch nur noch geringen Fortgang. Sichtlich nahm die Stärke des Eises zu. Das Anstürmen der Schollen gegen den Bug wurde immer stärker und etwas bedenklich.

»Laaten Se de Pumpen peilen,« befahl der Kapitän.

Der Steuermann ordnete das Erforderliche an.

»De troet den Kram nich mehr,« brummte Grisbart.

»Allens in 'r Riege, Kaptein,« berichtete Jost. »Kin Druppen Water! De Damper hett ja ook erst nige Platten und Spanten vorn krägen. He kann all wat afholen.«

Gegen morgen nahm die Kälte noch mehr zu. Das Thermometer auf Deck zeigte 18 Grad unter Null. Trotz der stärksten Anspannung ihrer Maschinen vermochten die beiden Dampfer sich nur noch mit großer Schwierigkeit einen Weg durch das Eis zu bahnen, welches, soweit das Auge reichte, die See bedeckte. Manchmal stockte sogar, wie deutlich durch das Fernrohr beobachtet werden konnte, die voraufgehende »Germania«, ja, mußte sogar rückwärts fahren, um durch einen dann wieder unternommenen Zulauf mit Gewalt das sich ihr entgegenstemmende Hindernis zu überwinden. Die in der Nachhut befindliche »Baltic« folgte leichter, hatte aber dennoch, da alle Schollen sogleich wieder zusammenfroren, Mühe genug, daß sie nicht stecken blieb. Die Lage der Dinge begann nachgerade kritisch zu werden. Zurück konnte man nicht mehr; wie lange man noch vorwärts kommen konnte, die Frage war schwer zu beantworten. Die Dampfer hatten sich so weit östlich von Arcona entfernt, daß das dortige Feuer und auch die pommersche Küste außer Sicht war.

Wie atmete alles an Bord auf, als nach einiger Zeit ein Strich wahrscheinlich durch starke Strömung offengehaltenen Wassers erschien. Kräftig durchschnitten die Dampfer, frei, gleich entfesselten Rossen auf der Weide, die ruhige See, in der sich die flammenden Gluten der aufgehenden Sonne prächtig spiegelten.

»Dat kenn ick!« murmelte Bootsmann Grisbart. »Dat Plaiseer ward nich lange wahren, denn sind wi wedder belurt, und twarsten bannig. Dargunnen is ja all wedder en Isblink!«

Leider täuschte sich der Alte nicht.

Nach wenigen Minuten arbeitete die »Germania« wieder vor einer starken, kaum zu bewältigenden Eisbarriere. Doch gelang es anscheinend, allerdings nach einiger Anstrengung, wie Kapitän und Steuermann der langsam fahrenden »Baltic« zu sehen glaubten.

Plötzlich laute Signalpfiffe! Aus dem Ablaßrohr der »Germania« entwich eine gewaltige Dampfwolke.

»Wat hett dat nu to bedüden?« schrie Ka[*]pitän Friedrichsen. »Mankeert wat an de Maschine? Dat weer denn doch! … Stopp!« signalisierte er in den Maschinenraum hinunter.

Jost fixierte mittlerweile durch das Fernrohr die »Germania«. »Dar is wat an 't Stürgeschirr unklar, Kaptein,« sagte er. »Alle Mann loopt na achter. Dat ward sick woll gaue repareeren laaten.«

»Willen wi hapen.« antwortete Friedrichsen.

Kaum hatte er ausgeredet, so flogen Signalflaggen am Besanmast der »Germania« in die Höhe.

»Gaue use Marryats her, dat wie antworten könt,« rief der Kapitän, »ook dat Signalbook!«

Als Jost zurückkehrte, wehte eine ganze Reihe Signale drüben, aus welchen ohne Mühe entziffert werden konnte: »Zu Hilfe kommen. Schraube gebrochen!«

»Herr du meines Lebens!« rief Friedrichsen. »Dat is ja en ganz smärige Geschichte!«

Jost hißte das Signal: »Verstanden!«

»Wat is to dohn?« sprach Friedrichsen vor sich hin. »Wi möten ähr äwert Stür ut' n Ise släpen und denn ward sick das äwrige finden.«

Die Maschinen arbeiteten gleich wieder mit voller Kraft; die »Baltic« wendete und fuhr dann langsam rückwärts der im Eise festliegenden »Germania« zu. In das Eis selbst hineinzufahren, das mochte Kapitän Friedrichsen nicht wagen, um nicht die Schraube des eigenen Dampfers aufs Spiel zu setzen. Er ließ daher signalisieren:

»Bugsiertrosse mit Boot bringen!«

Das Boot von der »Germania« brachte die verlangte Stahltrosse, welche am Heck beider Dampfer befestigt wurde. Nun schlug die Maschine der »Baltic« wieder langsam an, um die »Germania« in Fahrt zu bringen. Das Manöver gelang auch. Allmählich wurde die Kraft vergrößert, es galt, den beschädigten Dampfer vorerst auf einer Seite frei zu machen. Leider aber riß er auf der andern Seite einen großen Teil des Eisfeldes mit sich fort, in welchem er blockiert gewesen war, ein Umstand, der, weil die »Germania« nicht steuern wollte, als sie in offenes Wasser gelangte, die »Baltic« in eine sehr gefährliche Lage brachte: der vereinten Kraft der Strömung, des Andrängens von Eis und der des havarierten Dampfers war sie nicht gewachsen.

Fürchterliche Minuten folgten. Kapitän Friedrichsen manövrierte mit größter Umsicht und Geschicklichkeit. Nur eben noch vermochte er zu verhindern, daß sein Dampfer nicht zwischen das Eis und die »Germania« lief, und damit entging derselbe der Gefahr des Erdrücktwerdens. Der Schraube durfte er nichts mehr zumuten, sie wäre ohne Zweifel in den Eismassen sogleich unbrauchbar geworden. Er ließ das Ruder so legen, daß die »Baltic« auf die freie Seite – das offene Wasser – zu liegen kommen mußte, was auch glücken zu wollen schien. Jetzt war es notwendig, die Maschine rückwärts arbeiten zu lassen. Alles ging soweit gut. Plötzlich aber kam die »Germania«, von Eis und Strömung gefaßt, in Bewegung und rannte der »Baltic« mit dem Vordersteven in die Flanke. Ein gewaltiger Stoß, ein unheimliches Krachen! Der Dampfer legte sich auf die Seite; in breitem Strome ergoß sich das Wasser in das hineingerissene, große Loch und überlieferte dem Untergange das unglückliche Schiff, welches, die Schlepptrosse gekappt, mit voller Kraft von der »Germania« weg in das offene Wasser fuhr.

»Böte klar!« kommandierte Kapitän Friedrichsen.

Die Mannschaft, vollständig auf Deck versammelt, gehorchte sogleich, keine Unordnung und Hast kam vor. Auch auf der »Germania« wurden Boote zu Wasser gebracht. Um eine Explosion der Kessel zu vermeiden, trafen die Leute an der Maschine die nötige Vorsorge. Der abgelassene Dampf strömte mit lautem Geräusch aus. Nur mit Not konnten die Leute noch etwas von ihren Habseligkeiten, vermochte der Kapitän aus der Kajüte die Schiffspapiere und das Journal zu retten und in die glücklich auf Seite liegenden Boote zu bringen. Die Endkatastrophe des Sinkens war jeden Augenblick zu erwarten.

»Wat hebben Se noch bi den Hund to dohn?« rief ärgerlich der Kapitän dem Steuermann zu, der sich vergeblich bemühte, Nero aus dem Hundehause hervorzubringen und mitzunehmen. Der aber wollte nicht, knurrte und heulte, biß sogar um sich.

»Denn doh, wat du wullt, un lide, wat du magst,« sagte Jost und schwang sich über Bord in das Boot.

»Na, endlich!«

»Der Gerechte erbarmt sich auch des Viehes, Kapitän!«

»Erst kamen wi aberst! … Fatet de Remens an, Jungens, un ritet all, wat ji könt, dat wi ut de Wallung kamt, – et geit for't Lewen!«

Die Leute ruderten mit äußerster Kraftentfaltung. Die »Baltic« versank immer mehr, schon spülten die Wellen über das Deck hin. Da sprang Nero auf die Brücke mit lautem, in ein klägliches Geheul übergehenden Bellen, als ob ihm gar nicht gefalle, was er sehen mußte. Plötzlich verstummte er. – Der Dampfer war verschwunden, nur die Masten ragten noch aus dem Strudel hervor, auf welchem Fässer, Ballen und andere Gegenstände schwammen, die lose auf Deck gelegen hatten.

»Dat is en slanket Geschäft west,« brummte Grisbart. »Wat nu noch kummt, möten wi aftöwen. Väl to biten un bräken, gifft et bi so'ne Isjagd un Nordpolexpeditschon nich. En Gluck man, dat ick min Kautje up Nummer Säker brocht hebbe!«

Welch ein trübes Begrüßen an Bord der »Germania«!

»Wi hebben beide use Pflicht dahn,« tröstete Kapitän Horstmann den Kollegen.

»Dat is wahr,« antwortete Friedrichsen. »Un darmit könnt wi to. Aberst die Advokaten un Dispacheurs kriegen wat to dohn. De warden dat so all so vertakelte Klugen noch mehr vertakeln un denn mit de Tid et woll wedder utenanner kriegen … Is din Damper dicht bläwen, Horstmann?«

»Gott Lof und Dank, ja!« …

»Wat nu?« fragten nach einer Weile, als sie in der Kajüte saßen, die beiden Kapitäne einander fast wie aus einem Munde.

»Wi sitten in'n Ise un möten hier sitten bliewen so lange, as't Gott gefallt un nich noch wat Slimmers kummt. Proviant und Water is äwerleidig an Bord, wie könt de Geschicht en paar Wäken lang utholen. An Land is nich to gelangen, un en Signal is ook nich darhen to kriegen. Dat eenzigste is noch, bi Nacht Blaufür aftobrennen. Et kann ja doch wesen, dat irgendwer Arg darut hadd und de starke Gripswolder Damper us to Hulpe keem.«

»Willen dat Beste hapen, man ik glöw an den Damper nich recht,« antwortete Friedrichsen. »De Sake möten wi jetzt nehmen as se is, aberst den Mot nich verleeren. Unverhofft kummt oft, – de leewe Gott gifft us woll noch'n Chance, dat wi nich to versupen brukt as verklammte Müse … Min Stürmann hett mi up en goden Gedanken brocht, et hangt von Umstänne af, of de uttoföhren is.«

»Du makst mi neeschierig, Friedrichsen! Wat hebben ji denn utklamüsert?«

»Wi möten en Segelsläen na de faste Wall schicken, dat wie Hulpe kriegen.«

»Dunner un Doria! Dar hebben ji den Nagel up'n Kopp drapen! Aberst, aberst, de Utföhrung?«

»Dar laat't wi den Stürmann for sorgen, Jost ist Hans in allen Högen.«

»Denn wacker Hand an't Wark! Gott segne Rat und Dat! Min Meister bi de Maschine is ook so'n Tausendsasa, – wat din Jost nich weet un kann, dat versteit und deit de! … Nu is't aberst Tid, in de Feddern to krupen, en rejellen Slap to dohn un den morgenden Dag for dat Sinigte sorgen to laaten. Je, ja, ji, ja! Dieses Tages Qual war groß, seggt jawoll Wallenstein up'n Theater.«

Da die »Germania« große Räume für Passagiere besaß, so fanden alle Leute der untergegangenen »Baltic« bequemes Unterkommen. Sie saßen gemütlich mit ihren glücklicheren Kameraden beieinander. Bei Jan Maat greift ein Mißgeschick nie tief. Und so erklang dann bald fröhliches Singen, muntere Scherzrede und helles, herzliches Lachen. Nur Bootsmann Grisbart hockte allein in einem Winkel und räsonierte laut vor sich hin: »Snackt und lacht ji man to! Wer weet, up wat for'n Elend de Sünn noch ens hier schient. En Wrack in 'n Ise, ik weet, wat dat bedüdd! Nums kann seggen, of eener von us up Kösters Kamp to liggen kummt.«

»Von 'n Ende to 'r Wende, Bootsmann!« rief ihm einer zu.

»Wenn de Sünn von 'n Hewen fallt, sitt 't wi alle in 'n Düstern,« ein anderer.

Alle lachten aus vollem Halse. Der Lärm hörte erst auf, als Jost hereintrat und rief: »Lüde, ji könt ja woll kin Ende un Tall finden! Nu gaue to Koje! Morgen is ook noch en Dag, un wenn 't so kold blifft, denn bruk nums de Beene to smären, de loopen von sulben.«

Das Wort half. Die Leute gingen und rollten sich in doppelte und dreifache wollene Decken, denn es fror draußen nordpolmäßig.

Hell und klar brach der neue Tag wieder an. Rings um den Dampfer erstreckte sich, soweit das Auge reichte, eine spiegelblanke, selten durch rauhe Stellen unterbrochene Eisfläche.

»Hadden wi Striedschoh,« meinte der Spaßmacher an Bord, »dann können wie loopen. Nu möt 't wi mit kole Föte up Deck rumklabastern. De Holschen sind ja tum Unglück bi Moder bläven, ja, de hett nu god böten, wenn ähr frust.«

Des Zimmermanns Vorräte an Planken reichten nicht hin zur Anfertigung eines Segelschlittens, wie Steuermann Jost, der einen solchen jedoch nie gesehen hatte und seiner nur aus Abbildungen sich erinnerte, zu bauen beabsichtigte. Not bricht Eisen und anderes, und so beschloß man, Holz im Zwischendeck loszubrechen, wobei sich denn auch die gewünschte Gelegenheit ergab, die Leute durch Beschäftigung bei Laune und Gesundheit zu erhalten. Bald waren denn auch alle Mann wacker dabei, einen Teil der Ladung zu löschen und vorläufig auf Deck zu verstauen, eine Arbeit, die unter Anführung des Spaßmachers gar munter vonstatten ging. Im Maschinenraum glühte lustig das Herdfeuer, nachdem Jost mit dem Meister eine Zeichnung des Schlittens entworfen und die Maße festgestellt hatte. Die Funken sprühten, Hammer und Amboß dröhnten, die schlittschuhähnlichen Eisen für die Seitenplanken und das Steuerruder entstanden, wurden geschliffen und geschärft. Auch der Zimmermann fand genügend Holz zur Arbeit. Die Anfertigung des Mastes und Segels und des nötigen Tauwerks verursachte einige Schwierigkeiten, da sich ja an Bord eines Dampfers wenig tauglich Material auftreiben ließ. Doch half man sich mit dünnen Spieren, mit einem rauchgeschwärzten Stagsegel und Flaggen. Auf Josts Frage, wer Segelmacherarbeit verstände, antwortete der Spaßmacher: »Dat Neihen hebbe ik all bi Moder lehrt, aberst so 'n Wiwerkram is for de Katte und holt nich. In Hamborg bin ik ens up 'n Segelboden west un weet nu so 'n bäten von de Seesniderei Bescheed. Man her mit den Lappen, Stürmann! Jungens, wer en Stoppnadel in sine Kiste hett, de laat se mal antreten! Ik will up de Naht losstöten, as de beste Zägenbuck an 'n Lanne deit.«

An Deck polterten Fässer und Ballen und gelangten durch die Luken wieder an ihre Plätze; in der Vorkajüte saß, eine muntere Weise pfeifend, unser Spaßmacher, schnitt das Segel zurecht und arbeitete mit einer Stopfnadel nach der andern in dem mürben, schwärzlichen Stoffe herum, das allmählich in die Gestalt eines handlichen Bootsegels sich wandelte.

Der Wind schlief ganz ein, die Sonne schien freundlich herab auf die »Germania«, – ein heiteres Bild mitten in der Eiswüste. Ja, wer das nicht besser wußte! Ernst, furchtbar ernst war die Lage des Dampfers und seiner Besatzung.

Scharen wilder Enten und Gänse flogen mit heiserem Geschrei gen Süden, nur zu sicher anzeigend, daß der Frost, welcher sie von ihren gewohnten Stätten vertrieben hatte, ein langes, strenges Regiment führen werde.

Bei Dunkelheit rückte die Mannschaft wieder in die Vorkajüte, wo der glühende Ofen eine behagliche Wärme verbreitete. Es währte nicht lange, so erklangen die Weisen einer Ziehharmonika, nach welcher die Leute sich munter im Tanze drehten. Die beiden Kapitäne schauten eine Weile zu, redeten gelegentlich ein gutes und freundliches Wort und gingen dann wieder in ihre Kajüte zurück, um Berichte an die Rederei abzufassen, die Jost, von einem Matrosen begleitet, versuchen sollte, nach irgendeiner Poststation zu bringen, nebst einigen, nach verschiedenen Häfen abzulassenden Telegrammen.

Jost in seiner Koje konnte lange keinen Schlaf finden. Im Geiste sah er sich auf dem Segelschlitten mit Windeseile der nächsten Küste zufahren. Freundliche Bilder umgaukelten ihn endlich im Traume: Die Reise war glücklich vollendet, ein liebes Gesicht sah er nahe dem seinigen, eine bekannte Stimme rief ihm zu: Willkommen in der Heimat! Er erwachte am Morgen mutig und hoffnungsvoll, warf sich rasch in die Kleider und eilte an Deck. Aber wie erschrak er!

Eine Schneedecke verhüllte alle Gegenstände, lag auf dem Eise rings um den Dampfer, und noch unablässig schneite es weiter, ein südwestlicher Wind strich durch die nebelige, kaum sichtige Luft. Unter solchen Umständen durfte man nicht wagen, die geplante Expedition auszuführen, die nicht nur gefährlich war, sondern ihren Zweck obendrein auch verfehlt haben würde. Unmutig betrachtete er das fertig dastehende Fahrzeug, welches in allen Teilen seinen Angaben entsprach. Da klopfte Grisbart ihm auf die Schulter und sagte: »Stürmann, niks for ungod! Dat Dings da is ganz fein for 'ne Lustreise, – aberst Lüde, de wat utrichten un ähr Lewen nich lichtsinnig up 't Späl setten willen, dörft dar nich mit unner Seils gahn. Ik bin faken in Holland west, ik weet, wat darto höt: en Boot mutt up de Stellage stahn! Geit denn up 'n Ise wat miß, denn kann man sick doch helpen un bruk nich up 'n Grund to duken.«

»Bootsmann, Ji hebben recht,« entgegnete Jost, sich sogleich an Kapitän Horstmann wendend, der auf der Kommandobrücke nach Wind und Wetter schaute. Nach kurzer Besprechung stellte er das kleinste Boot zur Verfügung, indem er hinzusetzte, daß er heute die Abfahrt nicht gestatten könne, weil das Wetter in einer Krisis begriffen und bei dem hohen Barometerstands sehr bald wieder größere Kälte und aufhellende Luft zu erwarten sei.

Die vorgeschlagene Veränderung wurde sogleich vorgenommen und Grisbart zum Begleiter Josts bestimmt, Proviant, Wasser, ein Kompaß und Seekarten in das ganz schmucke, schiffsmäßig erscheinende Fahrzeug gebracht.

Kapitän Horstmanns Wetterprophezeihung erfüllte sich. Nach vierundzwanzig Stunden klärte sich der Himmel auf, bei östlichem Winde war die Kälte erträglich, die Schneedecke auf dem Eise erwies sich kaum einen halben Zoll dick.

… Jost und der Bootsmann standen gerüstet, die Fahrt anzutreten. Das Eisboot kam glücklich über Bord. Sie stiegen ein, setzten das Segel, machten einige, die gute Manöverierfähikeit erweisende Gänge und verfolgten dann unter Jubel und guten Wünschen ihren westlichen Kurs. Pfeilschnell schossen sie davon und kamen bald außer Sicht.

In unglaublich kurzer Zeit erreichte das Boot sein Ziel, den Hafen von Saßnitz auf der Insel Rügen, dort fast wie ein vom Himmel herabgekommenes Wunder angestaunt. Jost erkundigte sich sogleich nach dem Abgange des nächsten Eisenbahnzuges und ob der Anschluß nach Stralsund sicher sei. Dann gab er die Telegramme auf, traf am Hafen einige Anordnungen in betreff des Bootes und reiste mit Grisbart zu Lande weiter.

Die Telegramme verursachten bei den Reedern und Versicherern große Erregung und führten zu Anfragen bei den verschiedenen Bergungsgesellschaften. Von Dänemark und Schweden war wegen der dort herrschenden Eisblockade keine Hilfe zu haben. Nur der auch schon von Jost direkt benachrichtigte Reeder des Greifswalder Eisbrechers erklärte sich bereit, einen Versuch wagen zu lassen, dessen Gelingen bei der großen Stärke des Küsteneises aber fraglich sei. Jost und Grisbart sowohl, die am nächsten Morgen eintrafen, wie auch die Briefe der Kapitäne, erläuterten die näheren Umstände des Unglücks.

Wie herzlich begrüßte den unvermutet Eintretenden die liebliche Braut! Grisbart sprach bei den Frauen der Kapitäne und den Angehörigen der Mannschaften beider Dampfer vor, um zu erzählen. Das war eine Aufgabe, bei deren Erfüllung ihm zuletzt der Kopf so schwer, der Gang so unsicher wurde, daß sein Hauswirt – Grisbart war unverheiratet – sich glücklich schätzte, als er ihn in seinem Bette sicher vor Anker gelegt hatte.

* * *

Auf der »Germania« konnte man den Erfolg von Josts Fahrt nur hoffen, – Gewißheit war begreiflicherweise vorerst nicht zu erhalten. Tage banger Erwartung kamen. Glücklicherweise blieb das Wetter bei gelindem Frost gut.

Wie oft richteten sich die Ferngläser nach Westen und Süden. Sollte nicht irgendwo am Horizont eine Rauchsäule, das Zeichen herannahender Rettung, aufsteigen? Eitle Hoffnung! Nichts zu sehen, so klar die Luft auch war! Man mußte besorgen, noch lange im Eise sitzen zu bleiben, vielleicht gar schlimmes Ungemach zu erleben. Wenn nur das Wetter heiter blieb und keine Stürme eintraten, die den Dampfer, hilflos wie er war, ins Verderben ziehen mußten!

Die Kapitäne beschlossen, die Rationen zu vermindern. Räsonierend zwar nahmen die Leute diese Verfügung auf, aber sie bestritten die Notwendigkeit nicht und versuchten, sich durch Rauchen und Tabakkauen schadlos zu halten.

»Snört de Smachtreemens faste, Jungens,« rief der Spaßmacher. »Man kann nich wäten, wo lange Kaptein Knapphans dat Regeer hett.«

Mittlerweile suchte der Bergungsdampfer »Rugia« mit Aufwand aller Kraft und der äußersten Energie seitens seines Führers und der Geschicklichkeit der vorzüglich eingeübten Mannschaft die Eisbarriere vor der Küste zu durchbrechen. Die Arbeit gelang, aber erst nach mehreren Tagen und nach ganz ungewöhnlich großen Anstrengungen. Die weitere Fahrt des mit einer außerordentlich starken Maschine versehenen Dampfers, auf welchem man durch den an Bord befindlichen Steuermann Jost, der gleich wieder nach Greifswald hatte abreisen müssen, genau den Schiffsort der »Germania« kannte, ging leichter vonstatten, aber doch langsamer, als bei offenem Wasser möglich gewesen wäre. Da die »Rugia« über elektrisches Licht verfügte, so war auch die Nachtfahrt ganz sicher, ja bot sogar bei der weithin reichenden Wirksamkeit des Scheinwerfers einige Vorteile zur Auffindung des havarierten Dampfers, von welchem nach Eintritt der Dunkelheit selbstverständlich auch Feuersignale erwartet werden konnten.

Welch, unbeschreibliche Aufregung entstand auf der »Germania«, als in einer Nacht die Wache Kapitäne und Mannschaften alarmierte mit der Botschaft, daß am Horizonte sich ein heller Schein zeige, eine Lichtsäule, die, weil im Westen, kein Polarlicht sein könne.

»Gott sei Dank!« rief Kapitän Horstmann, der durch das Fernrohr in der Lichtwolke den dunkeln Körper, von welchem sie ausging, ein Schiff entdeckt hatte. »Dar kummt de Damper von Gripswolde!« Er befahl von Zeit zu Zeit die Kanonen zu lösen. Nötig war das kaum, den sehr bald stellte sich zweifellos heraus, daß der Dampfer in gerader Richtung sich näherte, also die »Germania« gesehen haben mußte. Der Scheinwerfer war fest auf dieselbe gerichtet.

Noch aber vergingen viele Stunden, ehe der Erlöser so nahe kam, daß das Geheul seiner Dampfpfeifen – Musik in den Ohren der Germanialeute – deutlich herüberschallte.

Gegen Sonnenaufgang lag endlich die »Rugia« auf Seite des Dampfers, den sie ohne Aufenthalt ins Schlepptau nahm, um ihn nach Saßnitz auf Rügen, als dem nächstgelegenen Hafen, zu bugsieren, den beide Schiffe freilich nicht ohne Schwierigkeiten, aber doch glücklich erreichten.

Die Kapitäne und Mannschaften belegten dort sogleich Verklarung, den Advokaten und Dispacheuren überlassend, den einigermaßen schwierigen Fall auseinanderzusetzen und den Schaden auf die Interessenten zu verteilen.

Der Verlust an Geld und Gut war groß, der gute Dampfer »Baltic« lag im nassen Grabe zum Nimmerwiederaufstehen. Durch Gottes gnädige Bewachung war aber kein Leben verloren gegangen außer dem des Schiffshundes Nero, der seinen Dampfer nicht verlassen wollte. Niemand hatte von Hunger und Kälte ernstlich gelitten. Manche anderen im Eise besetzten Dampfer gerieten bei eintretendem Tauwetter und den heftigen Stürmen in die größte Bedrängnis; ihrer viele mußten von der durch Entbehrungen und Frost hinfällig und krank gewordenen Mannschaft, die unter Lebensgefahr an das Land zu flüchten suchte, verlassen werden; ja, einige waren gänzlich verschollen, – nie wieder hat man von ihnen gehört: sie sind mit Mann und Maus untergegangen.

So geschehen im Winter des Jahres 1893.

* * *

Bootsmann Grisbart gab das Fahren auf und bezog eine Prövenwohnung im Schifferhause seiner Vaterstadt, wo er den alten Mitinsassen, wenn ihm Gott das Leben erhält, noch lange von seiner letzten Winterreise vorbrummen wird. Kapitän Friedrichsen übernahm das Kommando der »Germania«, da Horstmann ein Amt am Lande erhielt. Steuermann Jost wurde Kapitän eines neuen Dampfers und feierte während des Baues desselben fröhliche Hochzeit. Ihm war das Ende der »Baltic« der Anfang zu einem Glücke geworden, das ihm nie untreu werden möge.

Jan Maat aber geht leichtherzig immer wieder nach See, sei's nun Sommers- oder Winterszeit. Der Seemann handelt ja auch unbewußt nach dem Worte: Navigare necesse est, vivere non est necesse.


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