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Lüder Rohrpenns erste Reise.

Mein Freund, Kapitän Rohrpenn, ist noch kein alter, sondern ein Mann in seinen besten Jahren. Trotzdem aber gehört er schon seit längerer Zeit zu den sog. »Landleuten«, d. h. solchen früheren Seefahrern, die das Pflügen des Meeres satt haben und in der glücklichen Lage sind, auf fester Erde ein Baantje zu besitzen oder von dem Ertrage des Erworbenen leben zu können. Das letztere war bei Kapitän Rohrpenn der Fall. Er hat beim »Fahren« Glück gehabt und auch noch etwas extra verdient durch Handel an den fernen Küsten. Als sein schönes Töchterchen, welches ihm den Haushalt führte (leider war er Witwer), erfuhr, wieviel das war, da hat sie so lange gebeten und ihre hellen Augen tränen lassen, bis er ihr den Willen tat und sich bei seinen Herren Reedern »bedankte«, die den tüchtigen Mann, der viele Jahre lang glücklich für sie gefahren hatte, nur höchst ungern aus ihren Diensten scheiden sahen.

Kapitän Rohrpenn besaß ein hübsches Häuschen, welches er nun persönlich von unten bis oben »färbte«, d. h. Mauern, Türen, Fenster und Fußböden, während er noch ein gut Stückchen Geld daran wandte, die Zimmer in die hübscheste Verfassung zu bringen, wobei Tapezierer und Maler gern hilfreiche Hand leisteten. Er schmückte die Wände mit Schiffsbildern und füllte alle Ecken, Konsolen, Spiegeltische und was sonst Raum dazu bot, mit allerlei Seltenheiten aus Südamerika, Japan und China und gab so seiner Tochter hinreichend Gelegenheit, das Wischtuch und die »Uhle« vom Morgen bis zum Abend zu gebrauchen. Das mußte allerdings dann geschehen, wenn er im Garten hantierte oder in die Stadt ging, um die verschiedenen Bekannten und seine früheren Herren Reeder aufzusuchen, bezweckend, ein wenig mit denselben zu »klöhnen«. Man sah den stattlichen Kapitän überall gern, hörte ihn gern seine Fragen stellen und von seinen Fahrten und Erlebnissen erzählen, zumal er den Takt besaß, an der Tür umzukehren, wenn er merkte, daß er ungelegen kam. Er sagte dann:

»Goden Tag ook! Na, ik kiek up en anner mal wedder rin. Ik seh, Se hefft et drock. Adjüs!«

Die Antwort war gewöhnlich: »So is't, Kaptein Rohrpenn. Morgen aberst laat't wi't langsam angahn. Adjüs denn!«

Er stellte sich dann wieder ein und setzte sich stets an dieselbe Stelle im Kontor.

Indessen erschien er nach und nach weniger liebenswürdig als früher. Offenbar fehlte ihm etwas. Seine Erzählungen lauteten weniger frisch und wurden langatmiger. Was ihm fehlte, war – Beschäftigung, Beschäftigung, die ihm Spannkraft verlieh. Er fühlte das selbst und pochte daher hier und dort an, um ein »Baantje«, sei es auch noch so klein, zu erhalten. Ich will hier einschalten, daß ihm Arbeit bald in Hülle und Fülle zuteil ward, Arbeit, welche seine Energie stählte. Es währte nicht lange, so schwang er sich auf zu einem überall in Kaufmanns- und Schifferkreisen sehr gesuchten Ratgeber.

An mein Kontor, wo ich, ein kleines Agenturgeschäft betreibend, ganz allein hauste, kam Kapitän Rohrpenn wohl abends, wenn er voraussetzte, daß die Post abgefertigt war. Langte er auch wohl mal etwas unwirsch an und gähnte anfangs vor Langweile, so kehrte doch immer rasch seine gute Laune zurück, weil ich ihn auf Dinge zu bringen wußte, an welche er gern dachte. Vorzugsweise waren das Jugenderinnerungen und die ersten Reisen, welche er zur See gemacht hatte. Er ward selten müde, davon zu erzählen, und ich hörte ihm gerne zu, denn er erzählte gut.

»Kaptein«, bat ich ihn öfter, »schaffen Se sick en Book, Fedder und Dinte an, un schriwen Se up, wat Se belewt hefft. Se dähen annern Minschen en Gefallen darmit und de lange Wile, wor Se äwer klagen doht, wurd denn tum Düwel fahren. Se wußten ja ens mit de Schriweree ganz god Bescheed. Ähre Breewe to lesen, weer jümmer en Plaiseer. Man harr de gliks in'r Zeitung drucken laaten könnt.«

»Na, na, fangt Se all wedder an to targen?« antwortete Rohrpenn, »dann is man god, dat Se dat mit de Zeitung nalaaten hefft. Se wurden mi ja tum Ulenspeigel makt hebben. Mit de Schriweree is dat so 'ne Sake. Man kann nich äwer dat Papier fahren, as mit en Schipp dör't Water. Ik kann ganz god platt snacken, aberst mit dat Hochdütsche kam ik man knapp to Gange. Wo man nich bi herkamen is, dar schall man sine Näse von laaten.«

Ich redete ihm diesen Einwand und noch manchen andern, den er erhob, aus und ersuchte ihn wiederholt, auf meinen Vorschlag einzugehen:

»Drucken laaten brukt wi Ähre Schriftlichkeiten ja just nich, Kaptein Rohrpenn! Wenn Se dat aberst doch wollen, denn kann ik ja noch min bäten Semp dartogewen un hier und dar mit Raspel, Fiel und Bötel dat ruge Holt so wat in Fasson bringen.«

»Wo'r scholl ik denn Verklarung äwer dohn?« fragte er lächelnd. »Ik kann doch nich von dit und dat schriwen un nicks Rechtes tostanne bringen.«

»Fangen Se bi lüttjen an, Kaptein Rohrpenn! Wät't Se wät? Bringen Se de Geschichte von Ähre erste Reise mal to Papier.«

»Hm, hm,« schmunzelte er. »Ja, dat gung! Ik will ens dalschriwen, wo'r ik dot wesen bün un wedder upwaken däh un denn de Höll up Erden oder välmehr up See harr.«

»Ja, dar maken Se den Beginn mit.«

»Na, denn will ik unner Seils gan und Se as Bistand anmunstern, dat Se mi unner de Arme griepen könt. Mine Dochter is twarst »gebildet«, aberst wat verstaht de Froenslüde von Soltwatergeschichten!«

Der Herr Kapitän steckte sich eine Zigarre an und zog in sehr guter Stimmung ab. Während der nächsten vierzehn Tage erschien er nicht bei mir. Als er wiederkam, hielt er eine Papierrolle in der Hand, die er mit großer Feierlichkeit auf mein Pult legte, indem er sagte:

»Hier is't! Man et is man bloß erst ut'n Rugen. De Politur möt't Se gewen. Dat ward mit Mir und Mich, mit Ihnen und Sie wohl nich recht stimmen! Häweln Se't en bäten torechte. Man kannst nich wäten. Villicht is't doch wat for de – Böker. Junge, Junge! Is dat aberst en Stuck Arbeit! Ik seile lewer bi kunträren Wind dör den engelschen Kanal, as so mit de verdohmte Fedder hen- un hertokrüzen.« Er lachte dann seelenvergnügt; sein Gesicht zeigte wieder energischere Züge als bisher. Die kleine Arbeit, welche ihn ganz beanspruchte, hatte offenbar einen günstigen Einfluß geübt.

Als er ging, äußerte er:

»Vonabend gew ik in'n Winkeller minen olen Bilöper en Glas Wien äwerher ut. Dat man sick so behelpen mutt! Mine Dochter paßt dar nich hen. Se gaht ja ook nich mit! Sunst können Se't mit geneeten.«

Ich fand nicht gleich Zeit, das Manuskript durchzusehen. Und weil auch bald nachher der gute Rohrpenn, wie schon vorher erwähnt, sein erstes »Baantje« und später noch manches andere erhielt, so daß seine Zeit gänzlich in Anspruch genommen wurde, vergaß er ganz und gar, seine kleine Erzählung wieder zurückzufordern. Da ich mir erlaube, das Recht der Verjährung in Anspruch zu nehmen, so darf ich sie auch wohl weiteren Kreisen zugänglich machen. Hier ist sie.

* * *

Ich will gar nicht weit ausholen. Aber das muß ich doch sagen, daß ich ein recht wilder Junge war, den die Mutter im allgemeinen kaum, und oft – gar nicht zu bändigen vermochte, und wenn nicht der Schulmeister, dem ich auch auf der Nase zu spielen versuchte, mir zuzeiten die stets reichlich verdiente Tracht Prügel vollgültig ausgezahlt hätte – ich wäre wohl ein rechter Taugenichts geworden. Auf dem Wasser lag ich viel herum. Freilich war das nur ein Tümpel, denn mein Heimatsdorf war etwas abseits von der Weser gelegen. Schwimmen und rudern hatte ich recht gut gelernt, mit dem Gehorsam aber haperte es ein wenig.

»Junge, wo'r willt di noch ens in'r Welt gahn!« sagte wir unser Herr Pastor wohl. »Wer nich in goden hendör will, de mutt'r in'n slimmen hendör, un dat deit weh. Wahr di vor dat, wat di äwern Hals kummt!«

Ich zweifle, ob diese Worte viel Eindruck machten. Dagegen gefiel mir der Konfirmationsunterricht recht gut; ich glaube, der Herr Pastor hatte in dieser Hinsicht Freude an mir, wenn ihm meine vielen dummen Streiche – man nannte mich im Dorfe, weil ich stets der Anführer war, nur den Major – auch gewiß Kummer verursachten.

Von meinem Vater habe ich noch nicht gesprochen. Nun, der war für mich so gut wie nicht vorhanden, denn er fuhr als Bootsmann jahrein jahraus auf der See, und wenn er, was selten geschah und nie lange währte, mal zu Hause war, dann hatte er etwas anderes zu tun, als sich über mich, seinen ältesten Sohn, zu ärgern. Ich muß sagen, daß er auch nicht viel Anlaß hatte, über mich zu klagen, weil ich dann mich an ihn hing, mir von ihm erzählen ließ und ihm bei der Instandsetzung seiner Sachen für die neue Reise hilfreiche Hand leistete. Indes mußte er doch allerlei von mir erfahren haben, was ihm nicht gefiel, denn er brummte manchmal in den Bart und war einsilbiger, als mir behagte. Er blieb zu der Zeit, von welcher ich eben spreche, etwas länger als gewöhnlich am Lande, da das Schiff, auf welchem er fuhr, vor dem Doktor lag (d. h. repariert wurde). Er konnte daher auch meiner Konfirmation beiwohnen und mit Mutter und mir zu Gottes Tisch gehen.

Ob mir die Eltern an diesem Tage gute Ermahnungen und Lehren gegeben haben, weiß ich nicht mehr. Ich bezweifle es aber, da sie in solchen Dingen wortkarg waren. Dessen erinnere ich mich aber noch, daß mir beide recht herzlich die Hand drückten und daß ich in den Augen der Mutter Tränen bemerkte.

Nach dem Abendessen sagte der Vater zur Mutter:

»Moder, bestell du Schoster un Snieder up neegste Wäke. Et is Lüder sinetwegen. He schall nu na See to. Et ward Tid, dat dat heete Blood sick afkölen deit.«

Mir aber sagte er: »Lüder, morgen fröh tügst du di gliks an, din bestet Jack un de swarte Boxen. Wie wüllt na'n Väsack (Vegesack, bremischer Hafenort), na den olen Kaptein Handspaken. Ik will ens sehen, of de di nich anhüren un in den rechten Koors bringen deit. Wi möt't maken, dat du unner Seils kummst.«

Ich nickte einverstanden und antwortete:

»Et mag so wesen, as Ji meenen doht, Vader!«

Viele Worte zu machen, war auf dem Land und vollends im Hause eines Fahrensmannes keine Mode.

Kapitän Handspaken kannte ich dem Namen nach ganz gut, denn in dem Heimatsdorfe, in welchem manche Matrosen wohnten, wurde viel über die Bremer Kapitäne gesprochen. Man wußte von jedes Eigentümlichkeiten, Manieren und Grundsätzen. Ka[*]pitän Handspaken galt für einen »scharfen Gast«, der strikte Ordnung an Bord hielt und nicht mit sich spaßen ließ, was jedoch nicht hinderte, daß er wie ein Vater zu der Equipage seines Schiffes stand. Mir war er schon recht, weil ich Angst nicht kannte. Ich dachte: »Bist du'r vör, mußt'r ook woll dör. Fräten kann di de olle Bullerballer nich.«

Im übrigen wußte ich ganz gut, daß die Musterrolle selbst den Schiffsjungen Rechte zuerkannte, welche der alte Wasserschout Harmßen an der Adampforte in Bremen, auch dem schlimmsten und gröbsten Kapitän gegenüber, zu wahren verstand.

… Wir wanderten also am nächsten Morgen nach der kleinen Hafenstadt und verfügten uns sofort nach Kapitän Handspakens Hause. Der alte Seebär – er sah aber trotz seines schneeweißen Haars mit dem rötlichen, blühenden Gesichte und der geraden, strammen Haltung so gar alt noch nicht aus – war im Garten beim Teeren der Planke beschäftigt, empfing uns aber nichtsdestoweniger ganz freundlich und nötigte, ohne etwas zu fragen, uns in die glänzend blau mit Oelfarbe angestrichene Stube hinein, wo wir uns setzen mußten. Ich starrte die vielen Seegewächse und die hübschen Schiffsmodelle an, welche auf dem Sekretär standen. Frau Handspaken schenkte uns Kaffee ein, der mir jedoch nicht mundete, weil er so schwarz aussah und so fürchterlich stark war, wie ich ihn noch niemals getrunken hatte. Wir tranken bedächtig und still. Endlich sagte der Alte: »He, Bootsmann!? Ji wüllt Jo doch nich verännern? Dat scholl mi leed dohn um Joen Kaptein sinetwillen. Bi mi is aberst nicks nich los, denn de ole von Rittern geit wedder mit. Ik mag ein nich bedanken, wenn ein de Knaken von de Gicht ook all en bäten stiw sünd. En Wort for Jo bi eenen von mine Nabers kann ik aberst woll spräken.«

Vater antwortete ihm, daß es sich nicht um ihn, sondern um mich, den vor ihm sitzenden kleinen Strick, handele und bat ihn, mich als Jungen anheuern und mich womöglich gleich vor den Mast stellen zu lassen.

Kapitän Handspaken schaute mich eine Weile mit seinen großen, blauen Augen an, als ob er mich durchbohren und mir bis in das innerste Herz schauen wollte. Dann wandte er sich an Vater und sagte: »De Jung gefallt mi! He kann in acht Dagen in Bremen anmunstern. Ji wät't aberst doch, Bootsmann, dat de Reise na de Westindies geit? Ik segge dat man, dat Ji't äwerleggen doht. Et is um dat Fewer halben. Indessen, wi staht äwerall in Gottes Hand, und – ik weet mit den bösen Fiend ook en bäten umtospringen.«

»Hest du Angst, Junge?« fragte er mich.

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte und schwieg, was ihm zu genügen schien. Er fuhr fort:

»Angst mutt nums nich hebben. Woll aberst Furcht. Mark di dat: Furcht for't Böse, Furcht vor Gott un Furcht for – mi! Ik bün as de leewe Gott an Bord un lide dat Böse nich. Wer nich umliek will, den verstah ik to bögen, un ik schu mi ok nich, wenn mal wat bräken deit. In'n äwrigen brukst du kine Angst to hebben. Eten un Drinken an Bord is god un de Behandlung in aller Lewde so lange as't angängig is.«

Vater bedankte sich, und wir gingen. In der Tür rief uns der Alte noch nach: »Na, dat ward all god gähn! De Rohrpenns sind noch jümmer umliek kamen und wätet ok, dat et so sin mutt, wenn en Schipp manövreeren schall. Art lett nich von Art. Makt Jo man kine Sorgen nich, Bootsmann, un laatet den Jung gode Seestäbeln maaken, denn mine ole Brigg liggt jümmer unner Water.«

Ich musterte am bestimmten Tage und fand mich zu gehöriger Zeit an Bord ein. Der Abschied von meiner Mutter ward mir nicht ganz leicht und ihr sichtlich auch nicht. Der Vater hatte mich bis an Bord des nach der Hafenstadt fahrenden Dampfers begleitet. Er gab mir auf dem Anleger die Hand und sagte: »So, min Sähn Lüder! Nu geist du in dine eegen Schohe. Hol di hart, min Jung! Vergitt nich, dat du Rohrpenn heest. Gottvertroen is dat beste Roerpenn in'r Welt.[*] Wer dat faste hollt, de deit up'n richtigen Koors bliwen.«

Von der Reise nach Kuba will ich nicht viel erzählen. Sie ging gut vonstatten. Kapitän Handspaken hielt scharfes Regiment an Bord der Brigg »Rafaela«, das mußte wahr sein. Nachdem mir der Rücken einige Male voll Striemen gesessen hatte, wußte ich ganz genau, daß ich mich zu fügen hatte und mit meinem Übermut nicht durchkam. Sofort trat denn auch die versprochene liebevolle Behandlung in ihre Rechte, dauerte aber nur so lange, wie ich mich nicht zu mucksen wagte. Eine gute Schule für mich! Ich holte denn auch die etwa noch versäumten und verdienten Schläge in kurzer Zeit so gründlich nach, daß bald gar keine mehr nötig waren. Das stand fest: Kapitän Handspaken hätte dem tüchtigen Manne in mir sehr rasch zur, wenn auch schweren, Geburt verholfen. Leider aber sollte etwas dazwischenkommen.

* * *

Unsere hübsche Brigg »Rafaela« war in Havanna rasch entlöscht worden. Der Korrespondent des Schiffes beorderte uns nach einem der kleinen Häfen an der Küste, um dort Mahagoniholz und etwas Zucker, Rum und Honig als Heimfracht zu laden. Kapitän Handspaken, dem die Verfügung nicht recht paßte, weil er viel Aufenthalt befürchtete, machte zwar ein langes Gesicht, mußte aber selbstverständlich sich schicken.

Die »Rafaela« lief mit günstiger Gelegenheit nach dem Bestimmungsplatze und warf in einer von üppig bewachsenen Hügeln umgebenen schönen Bucht, an deren Küste ein kleiner Ort mit nur wenigen kleinen Geschäftshäusern lag, Anker. Da unser Kapitän weder in den Lagerhäusern Vorräte fand, noch auch aus den benachbarten Wäldern Holz herangeflößt worden war, so wurde er sehr ärgerlich und brummte:

»Ik schall in dat verfluchte Lock woll bit tum jüngsten Dage liggen bliwen! Et scholl mi garnich wunnern, wenn bi de gläunigte Hitze un de Slickkram an'n Lanne … Na, ick will nicks nich seggen. Man schall den Düwel nich an'r Wand malen.«

Er gebot uns auf das bestimmteste, uns am Lande nicht länger als notwendig aufzuhalten, keine frischen Früchte zu essen und uns vor Wassertrinken zu hüten:

»Ji könt Koffee supen so väl, as Ji willt, un en Sluck Win steit ook to Deenste. Hoolt Magen un Unnerliew in goden Verfaat.«

Je länger das Schiff lag, desto unerträglicher ward die über der Bucht, den Schlammufern und den Wäldern brütende Hitze. Furchtbar litt die Mannschaft unter derselben. Die Stimmung an Bord war trotz der paradiesischen Szenerie, welche uns umgab, keineswegs heiter und ward von Tag zu Tage gedrückter, vollends, da die Ladung nur in sehr kleinen Mengen auf Seite kam, weswegen gar nicht abzusehen war, wann die Brigg ihre Heimreise werde antreten können. Bisher blieb der Gesundheitszustand noch ein leidlicher, obgleich eigentlich wohl sich niemand an Bord, vom K[*]apitän herab bis zum Jungen, befand.

Die für uns bestimmten Blöcke Mahagoniholz waren endlich alle herangeflößt und in der Brigg mit Hilfe von Negern verstaut, weil der Kapitän nicht zugab, daß die Mannschaft sich mit Arbeiten in der heißen, mit bösen Miasmen geschwängerten Luft anstrengte. Von anderer Ladung war aber noch gar nichts zu sehen. Die Lagerhäuser am Lande standen nach wie vor ganz leer und der Agent räkelte sich in seinem Kontor im Schaukelstuhle und zuckte mit den Achseln, wenn der ungeduldige Kapitän ihm die Ohren vollstöhnte. So ging's Wochen hindurch. Endlich vermochte es unser Alter nicht länger auszuhalten. Er erschien wieder am Kontor, stampfte mit dem Fuße auf und schrie außer sich vor Zorn:

»Dat is denn doch, um dull to weern! Ik mutt mal sulbens de Hallunken den Marsch blasen, dat de Sake tum Enne kummt. Ik heete Handspaken un will'r mal twuschen fahren!«

Der Agent nahm seine Zigarre aus dem Munde, starrte den Kapitän an und sagte:

»Dohn Se, wat Se nich laaten könt, Kaptein! Helpen ward et nicks. Aberst bliwen Se sinnig und ärgern Se sick nich! Dat deit hier to Lanne nich god und sleit up den Magen und faken ook in't – Graww! Kam ik hüt nich, so kam ik morgen, dat is hier de beste Grundsatz.«

»Gahn Se mi up'n Puckel sitten,« entgegnete Kapitän Handspaken und verlangte, um nach der Plantage zu fahren, einen Wagen, der ihm auch zur Verfügung gestellt wurde.

Wäre er doch ruhig an Bord geblieben! Die Fahrt mußte sehr beschwerlich gewesen sein oder er mußte sich furchtbar geärgert haben. Genug, der Alte kam ganz unwohl zurück und legte sich gleich in seine Koje, befehlend, ihm die Medizinkiste zur Hand zu setzen. Er ließ den Steuermann kommen und übergab demselben die Geschäfte des Schiffes, weil, wie er sagte, er wohl ein paar Tage lang das Bett werde hüten müssen.

»Et hett nicks nich to seggen, Stürmann,« setzte er hinzu. Ik krabbel mi woll bald wedder rut. Indessen holen Se en scharpet Oge upt Volk und wahren jem, dat se nich äwer't Tau slagen doht, denn de Sunne deit ut den Slampamp in'r Bucht nicks Godes torechte broen. So, nu laaten Se mi slapen! Ick bin möe.«

Da keine Waren auf Seite kamen, so war an Bord alles totenstill. Jan Maat hatte bei der fürchterlichen Hitze allen Mut, alle Lebensfreudigkeit verloren. Keine Neckerei fiel vor, kein schelmisches Lied erklang. Jeder brütete dumpf vor sich hin und suchte sich irgendein dunkles Plätzchen, wo er, geschützt vor der Sonne, schlafen oder seinen trüben Gedanken nachhängen konnte. Der Zustand unseres Kapitäns blieb sich während der nächsten Tage ziemlich gleich. Er litt an fieberhaften Anfällen, die nicht so recht zum Ausbruch kommen wollten. Meistens lag er im Schlummer, der nur zuzeiten, wie es schien, durch böse Träume unterbrochen wurde und dann einem Zustande der Aufregung und großer Unruhe wich. Ein Arzt war in dem elenden Nest an der Küste nicht zu haben. Der Agent, welcher an Bord kam und unsern Alten besuchte, schüttelte bedenklich das Haupt und sprach leise mit dem Steuermann, welcher erblaßte und hinterher stundenlang in Gedanken versunken unter dem Sonnenzelt hin und her ging.

Gegen Abend trat er in die Kajüte, um nach dem Kranken zu sehen. Er blieb lange neben der Koje sitzen und hielt die Hand des unruhigen Kapitäns in der seinigen, welcher, in einem fort sprechend, etwas auf dem Herzen zu haben schien. Was er sagte, war kaum mehr als ein Lallen und ganz unverständlich. Der Steuermann wagte nicht, den Kranken zu verlassen. Er rief mich, der ich auch kleine Dienste in der Kajüte zu leisten hatte, zu Hilfe.

Da lag der Alte mit geschlossenen Augen in der Koje, stöhnend, mit furchtbar arbeitendem Atem, die Hand des Steuermanns krampfhaft festhaltend. Die Lippen bewegten sich, und einzelne Laute rangen sich aus der Brust hervor, abgerissenen Worten ähnlich. Wie ängstlich klang das! Das flackernde Nachtlicht warf einen unheimlichen Schein in die kleine, mit Stickluft angefüllte Kabine.

»Kannst du verstahn, Lüder, wat de Ole seggen deit?« flüsterte der Steuermann mir in das Ohr.

Der Kapitän stöhnte wieder; ich hörte genau zu. Dann antwortete ich: »Bäen seggt he, Stürmann, Bäen!«

»Weest du, wo de Kaptein dat Gesangbook liggen hett?« fragte er leise.

»Nä, Stürmann.«

Der Alte ward sichtlich unruhiger und bewegte abermals, anscheinend mit der größten Anstrengung, den Mund.

»Dor is kin Tid mehr to verleeren. Denn in Gottes Namen!« Und der Steuermann, welchem die Tränen in die Augen traten, fing mit fast erstickter Stimme zu beten an:

»Vater unser, der du bist im Himmel!« …

Ich stimmte mit ein. Es war ein feierlicher Augenblick. Mir wurde, als fühlte, als ahnte ich etwas vom Morgenglanz der Ewigkeit. Der Kapitän schlug seine Augen noch einmal auf. Er ließ die Hand des Steuermanns los und faltete seine Hände. Als wir an die Worte kamen: »Und vergib uns unsere Schuld«, da hauchte er ein leises Amen und wandte das Haupt zur Seite. Er röchelte laut und ging hinüber, während wir schlossen: »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!«

Der Steuermann beugte sich über ihn und drückte ihm die Augen zu, sprechend: »He is darhen! Gott geew ein ewige Seligkeit. He weer en goden Mann un en framen Christ.«

Dann zog er die Gardinen der Koje zu, stellte die Uhr in der Kajüte still und ging mit mir hinaus. Ich war tief ergriffen, – hatte ich doch zum ersten Male an einem Sterbebette gestanden. Er weckte die Mannschaft, welche auf die Kunde von dem Tode ihres Kapitäns wie niedergedonnert war. Dann nahm er den, seinen Maßstock in der Hand tragenden Zimmermann mit in die Kajüte, wo die beiden beim Schein einer Laterne sich wenige Minuten lang zu schaffen machten. Der Zimmermann arbeitete die ganze Nacht hindurch. Das Knarren der Säge, das Hämmern und Hobeln raubte uns die Ruhe, die wir aber vor Trauer sonst auch wohl kaum gefunden haben dürften. Der Steuermann ließ sich spät noch an Land setzen und sprach lange mit dem Agenten, dem der Tod des alten Kapitäns so zu Herzen ging, daß er sich kaum zu fassen vermochte. Da die Umstände drängten, so traf er noch in der Nacht alle zur Bestattung erforderlichen Anordnungen.

Am nächsten Morgen früh erschienen wir alle, ohne daß es befohlen war, im besten Zeuge. Die Flaggen wurden halbmast gezogen, und der mit der großen Staatsflagge bedeckte Sarg des Kapitäns ward in die Gig gestellt, während die Schaluppe zu Wasser gebracht wurde, in welche unter dem Kommando des Steuermanns die Mannschaft stieg, nachdem auch die Gig mit ihrer traurigen Last über Bord gesetzt war. Die Schaluppe nahm selbige ins Schlepptau, und so bewegte sich der Zug langsam nach dem Lande, wo schon eine Bahre für den Sarg bereit stand. Vier kräftige Matrosen hoben denselben auf ihre Schultern und trugen ihn nach dem kleinen Friedhof. Niemand folgte als wir von der Brigg »Rafaela« und der Agent, denn die Leute am Lande, so lange sie unsern Kapitän gekannt und so gern sie ihn gehabt hatten, scheuten sich doch, dem – Ketzer die letzte Ehre zu erweisen. Dort auf dem Hügel betteten wir die Leiche neben der Mauer in die Erde, ohne jegliche Feierlichkeit. Aber zu einem stillen Gebet hielten wir doch unsere Mützen vor die Augen, als das Grab sich geschlossen hatte.

Dann fuhren wir niedergeschlagen nach unserer Brigg zurück, deren jetzt hochgezogene Flaggen bei der gänzlichen Windstille schlaff an Toppen und Gaffel niederhingen. Ein Totenschiff!

Das war ein trauriger Tag! Kein Lächeln stahl sich über die Lippen eines einzigen von uns. Die Kajüte wurde gelüftet und das ganze Schiff ausgeräuchert, aber dennoch war es, als ob ein unheimliches Etwas sich eingenistet habe, ein Etwas, das niemand nannte, das aber jeder fürchtete.

Und so war's! Das gelbe Gespenst hauste an Bord; keine irdische Macht vermochte es zu bannen oder zu vertreiben.

Einer nach dem andern fiel dem Vampir zum Opfer und ward hingestreckt und lag bald in den ärgsten Schmerzen und im glühendsten Fieber da. Ich hielt mich aufrecht, obgleich ich schwach war und das Gefühl hatte, jeden Augenblick auch niedergeworfen werden zu können. Der allein noch Gesunde blieb der Zimmermann Wacker, welcher alle pflegte und dem ich nach meinen geringen Kräften beistand. Furchtbar war das Elend im Volkslogis. Des Ächzens und Stöhnens war kein Ende. Es ließ nur nach, wenn einer still ward und die Augen schloß – zum ewigen Schlafe. Einer nach dem andern schloß sie, und in so kurzen Zwischenräumen, daß es dem Zimmermann nicht mehr möglich war, die Totenkisten anzufertigen. Der Agent schickte sie vom Lande, sobald wir die Flagge halbmast zogen. Die Neger, welche den Sarg brachten, nahmen dann gleich die Leiche mit sich und verscharrten sie an der Friedhofsmauer ohne Sang und Klang und ohne alle Begleitung. Es war ja nur ein toter Ketzer!

Schrecklich und tief berührte es mich, dies Leiden und Sterben zu sehen und mich gefaßt machen zu müssen, auch jeden Augenblick über die Schwelle der Ewigkeit zu treten. Wie trösteten und richteten mich da die vielen guten Sprüche und Lieder auf, welche ich, oft widerwillig und unverstanden, in der Schule und beim Herrn Pastor hatte lernen müssen. Sie leuchteten wie freundliche Sterne im Tale der Todesschatten. Der Zimmermann, ein aufrichtig frommer Mensch, äußerte sich nicht oft, wenn aber, so sagte er ein Wort, welches über Erdennot und -leid zum ewigen Frieden hinüberleitete.

Alle, alle mußten dahin, auch unser Steuermann.

Der Zimmermann und ich blieben allein an Bord zurück. Wir hatten uns in der Kajüte einlogiert, denn vorn in der Back zu bleiben war unmöglich und unverantwortlich, dort, wo Krankheit und Tod mit allen ihren Schrecken geherrscht hatten.

* * *

Es war an jenem Tage, als des Steuermanns Leiche an Land gebracht wurde. Der Zimmermann hatte sich's nicht versagen können, ihr zu folgen.

Ich saß in der Kajüte und stützte den Kopf in die Hände, an die ferne Heimat, an Vater und Mutter denkend. Da ward mir schwindlig; ich fühlte, daß ich niedersank, mein Bewußtsein schwand. Dann ward mir's, als ob ich im Eise läge – hu, wie fror mich! – dann wieder durchglühte mich eine Hitze, als ob ich im Feuer verbrennen sollte. Die Gedanken verwirrten sich und durchflogen mein trockenes Hirn; plötzlich setzte sich ein einzelner fest und marterte es unbarmherzig. Jetzt durchzuckte mich ein jäher Schmerz, – als ob jemand mit einem Messer mich durchschnitte. Ich streckte mich mit aller meiner Kraft und zuckte. Nun lag ich starr da; die Gedanken lösten, verflüchtigten sich. Mir war, als schwebe ich einem schwachen Lichtschimmer entgegen. Ich vernahm fernes Brausen, wie das Branden der See, ich hörte den leisen, dumpfen und feierlichen Klang von Glocken. Ein Gefühl der vollkommenen Ruhe und des tiefsten Friedens beseligte mich, welches auch fortwährte, als es stiller und stiller und immer dunkler um mich her wurde, als ich, noch immer schwebend, niederzusinken glaubte. Wieder durchzuckte mich ein heftiger Schmerz. Ich fühlte einen Fall und das Gewicht meines Körpers. Ich schrie vor Angst und schlug die Augen auf …

… Über mir leuchteten die Sterne am dunkeln Himmel. Mein Kopf wurde von jemand gestützt, und auch die Füße ruhten in den Händen eines Mannes. Mir däuchte, als ob ich getragen würde. Um mich her erschallten laute Worte in einer fremden und harte Verwünschungen und gar Flüche in deutscher Sprache:

»Zum Teufel! Wer heißt Euch, die Kajüte zum Lazarett zu machen? Bringt die Leiche in die Back und schafft sie so bald wie möglich an Land, daß sie unter die Erde kommt. Ich habe hier jetzt zu befehlen. Ich bin Euer Kapitän!«

Ich weiß nicht, wie mir geschah. War ich am Orte der Qual? Ich konnte nur einen Stoßseufzer zu Gott senden. Dann schwand mir das Bewußtsein abermals.

Als ich wieder erwachte, war es heller Tag. Die Sonne schien durch die offene Tür des Volkslogis herein. Über mich beugte sich das bleiche, aber doch vor Freuden glänzende Gesicht des Zimmermanns, der leise sagte: »Ik danke usen Herrgott, Lüder, dat du so wid büst! He ward fudder helpen. Magst du wat äten un drinken?«

Ich bejahte die Frage und schlürfte begierig das kühle Getränk und aß das Stück Brot, welches der gute Mann mir reichte. Er verbot mir, viel zu sprechen. Aber ich konnte nicht umhin, zu sagen: »O, wo is mi wesen! Mi drommte, ik weer dot, – weer't doch man wurklich wesen! De Fräden un de Rauh un dat Sweben, dat Klockenlüden un de lise Brandung! Un nu dat Upwaken, – de Angst un de Larm! O, mi ducht, ik weer an jenen Ort, wor kin Minsch nich geern von spräken deit. Mi is so swack. . Ik bün woll swar krank wesen un bün't noch?«

»Ja, min leewe Jung, swar, swar krank! Un du leegst all stiw un starr in de Koje, as jenne Unmensch keem un di rutriten leet. Dor slogst du de Ogen apen! Un nu keem mi de Hapnung wedder, un ik smeet dat Sark äwer Bord, wat all for di parat stahen däh. Nu is't alle god, un use Herrgott ward us nich verlauten, – wenn't an Bord ok nich so steit, as't stahen konn.«

Mir kamen die Beängstigungen wieder, und meine Phantasie beschäftigte sich abermals mit Schreckbildern. Der alte Zimmermann aber legte mir die Hand auf die Stirn, faßte meine rechte Hand und flüsterte: »Mußt nich angst wesen, Lüder! Wi sünd in Gottes Hand. Et ward allens god weern. Slap nu ruhig in! He lett sine Engels um di stahn, dat di nums wat to leide dohn kann.«

Ich schlief ein und schlief den süßen Schlaf der Genesung. Wie lange ich so geruht habe, weiß ich nicht mehr; es müssen aber Tage und Nächte gewesen sein. Denn als ich aufwachte, strömte durch die offene Tür eine frische Seebrise herein, und ich sah, daß das Schiff unter Segel war. Neben mir lag schlummernd der Zimmermann. Er sah wohl blaß und hinfällig, aber nicht gerade krank aus. Als ich mich bewegte, sprang er auf, beugte sich über mich und sagte:

»So, Lüder, nu büst du'r mit dör! To Kräfte schallst du all wedder kamen, – ik will dohn, wat ik jichtens vermag. De Keerl dor achter, de sick use Kaptein nennt, wurd us am leewsten versmachten und verkamen laaten. Et is en Gluck, dat ik den selgen Kaptein Handspaken sine Aptheke un sin bäten Win up Sid brocht hebbe. Dat kummt uns nu to paß.« Er hatte recht. Wir beide erholten uns schnell. Man kümmerte sich nicht um uns und ließ uns tun, was wir wollten. Zur Arbeit wurden wir nicht herangezogen, da wir gewissermaßen als Passagiere galten. Wie der Zimmermann mir erzählte, hatte der neue Kapitän, allerdings ein Deutscher und von dem Agenten engagiert, um das verwaiste Schiff nach Europa zu bringen, sich geweigert, uns an Bord zu behalten. Doch hatte unser Konsul darauf bestanden, weil es keine bessere und billigere Gelegenheit gäbe, uns in die Heimat zu senden. – Ich war ein langsam Genesender und der Zimmermann von aller Aufregung der vergangenen Wochen so herunter, daß auch er für gesund nicht gelten konnte.

Dieser neue Kapitän war ein sog. Hochdeutscher, ein Mann, in welchem man den Abenteurer sogleich erkannte. Er sah unseemännisch aus und trug eine goldene Brille, die dem gelben, blassen, durch schwarzes Haupt- und Barthaar eingerahmten Gesicht ein ganz besonderes, unangenehmes und unheimliches Aussehen gab. Der Himmel mochte wissen, welche Schicksale den Mann in diese Gegenden getrieben hatten. Er machte den Eindruck eines Menschen, der mit allen Hunden gehetzt ist. Die schwarze Schiffsmannschaft hielt er im Verein mit dem Steuermann, einem Amerikaner, der nur englisch sprach, im vollsten Respekt, trotzdem er ihr reichlich Rum austeilen und auch Freiheit genug ließ. Daß er wirklich ein Seemann war, ging aus der Art und Weise hervor, mit welcher er an Bord auftrat. Er verstand mit der Brigg umzugehen, die unter seiner Führung ebensogut segelte, wie unter der des verstorbenen Kapitän Handspaken, eine Tatsache, über welche sich der Zimmermann manchmal befriedigt aussprach.

Eines Tages aber sagte er mir: »Lüder, ik kann en Schipp nicht äwer See bringen; de Kunst heff ik nich lehrt. Aberst dat kann ik doch mit en halwet Oge sehen, dat bi düssen Wind use Koors ganz anners wesen moßte, as wi seilen doht. He« – er meinte den Kapitän, – »krüzt mit use ole gode Brigg herum, dat is ganz säker. Du schallst mal sehen, nun Jung, dar is wat nich ächt! – Töw man, du Racker, mit dine veer Ogen! Ick will mine beiden ehrlichen Ogen ook upknöpen. Du Schurke!« . .

.. Das Wetter blieb günstig, der Wind beständig in seiner Richtung. Trotzdem wurden einige Male die Segel umgebraßt und das Schiff auf einen andern Kurs gebracht. Der Zimmermann gewahrte mit seinen scharfen Augen, daß in gewissen Zwischenräumen die fernen Umrisse kleiner Inseln in Sicht kamen und dann wieder, je nachdem das Schiff über Steuerbords- oder Backbordshalsen lag, verschwanden.

»Wat dat to bedüden het, dat kann ik nich kleen kriegen,« meinte er. Er starrte lange Zeit in Gedanken vor sich hin in der Ecke der Back, wo er auf seiner Kiste zu sitzen pflegte, wenn er nicht draußen am Kranbalken mit der gleichgültigsten Miene von der Welt in See zu blicken schien. Endlich flüsterte er mir eines Abends zu: »De Keerl hett en Schandstreich vor! Paß mal up, Lüder, wat sick begewen ward. De Pumpen lett he all garnich mehr rögen. Nu, det deit ook nicks nich, denn de Brigg is pottdicht. Aberst, aberst, aberst! Mine Ahnung ward mi nich drügen!«

Weiter äußerte er sich nicht. Er ersuchte mich nur noch, so harmlos wie möglich zu erscheinen, damit kein Verdacht gegen uns beide, daß wir vielleicht etwas ahnten, geschöpft werden möge.

»Indessen mak di kine Sorgen nich, Lüder,« setzte er zu meiner Beruhigung noch hinzu, »Gott hett us sowid hulpen und ward us ook fudder nich verlaaten. He lett Ehrlichkeit nich to Grunne gahn.«

Wenn der Kapitän an Deck sich befand, was selten der Fall war, dann machte er sich stets an dem kleinen Schiffsboote zu tun; auch die Schaluppe ließ er nicht aus den Augen. Er beorderte die Reinigung der Boote und befahl zuzeiten, sie voll Wasser zu tragen und sie so stehen zu lassen. Es war offenbar – wenigstens der Zimmermann meinte es – daß er die Boote auf ihre Dichtigkeit probieren und sie in fahrbaren Zustand versetzen ließ. Dem Anscheine nach wurden in die Kajüte allerlei Vorräte geschafft, und in die Nähe der Gig legte man Remen u. dgl., vielleicht unter dem Vorwande, der Mannschaft gegenüber, als ob die Ordnung das erheische. Von uns beiden, die sich übrigens ganz still und bescheiden hielten, nahm niemand Notiz als nur der gutmütige schwarze Koch, welcher uns unsere Mahlzeiten in reichlicher Menge verabreichte.

Sonst fiel eben nichts Besonderes vor. Nur wurde der Kurs der Brigg noch immer so reguliert, daß wir oft in Sicht von Inseln liefen. Da der Mond schien, so waren die Nächte ziemlich hell. Die schwarze Mannschaft führte ein harmloses Leben. Der Dienst war bei dem leichten Winde und da die Brigg nur wenige Segel führte, nicht beschwerlich.

Nach einiger Zeit traten wegen fehlenden Mondlichts dunklere Nächte ein. Soviel stand uns nun ganz fest, daß bei Tage die Brigg immer in die freie See hinaussegelte und gegen Abend wieder westlichen Kurs nahm. Die Neger, unter welchen sich sehr wenige befahrene Leute befinden mochten, faßten augenscheinlich nicht den geringsten Verdacht. Vielleicht kannten sie gar nicht mal die Bestimmung des Schiffes. Da wir an der Sache nichts ändern konnten, so nahmen wir sie möglichst kühl und schliefen nachts in unsern Kojen den Schlaf der Gerechten und Genesenden.

* * *

Eine ziemlich steife Brise hatte am Tage geweht und die See etwas aufgewühlt; dabei herrschte Regenwetter. Nach Sonnenuntergang war es sehr finster geworden. Ich mochte schon ein paar Stunden lang geschlafen haben, als ich durch einen Ruck am Arm geweckt wurde. Der Zimmermann stand an meiner Koje und raunte mir in das Ohr: »Lüder, hörst du wat? Nu is de Düwel los!«

Ich richtete mich auf und hörte nicht allein das Schlagen der Pumpen, sondern auch Hin- und Herlaufen an Deck und Kommandoworte und Flüche in spanischer und englischer Sprache. Der anfangs eintönige Singsang der Schwarzen nahm immer mehr den Charakter eines wilden Gejöhls und Gebrülls an. Wahrscheinlich machte die Wirkung des in großer Menge verabreichten Rums sich geltend.

»De Hallunke!« schimpfte der Zimmermann. »Dat Schipp is anbahrt und schall tum Sinken brocht weern. Nu, bild di man nicks nich in! De Brigg driwwt up ähre Ladung.«

Der Alte öffnete leise die Luke ein wenig und sah durch die Spalte hinaus. Ich stellte mich hinter ihn und gewahrte beim Schein einiger Laternen eine ganz sonderbare Szene. Die halbbetrunkenen Schwarzen arbeiteten ganz ohne Überlegung an den Pumpen, die nicht lenz schlagen wollten. Manche machten allerlei Gebärden und Grimassen, und alle schrien zuletzt durcheinander. Sie mochten ihre Arbeit für eine vergebliche halten. Am Ruder stand niemand. Das Schiff trieb steuerlos vor dem Winde und rollte hin und her. Plötzlich öffnete sich die Tür der Kajüte, und heraus traten der Kapitän und der Steuermann, beide gespannte Pistolen vor sich haltend. Sie schritten auf die Gig zu, die offenbar ganz fertig und vollständig ausgerüstet war, ließen sie an den Davits zu Wasser und schwangen sich über die Rüsten an Bord. Die entsetzten und überraschten Neger stürzten ihnen nach an die Reling, aber einige über sie hinsausende Kugeln erregten einen panischen Schrecken, so daß die Menge zurückwich. Die Neger stoben auseinander und fielen nun gierig über daß Rumfaß her. Hin- und Hertaumeln und wüstes Geschrei waren die Folgen. Einige der Nüchternsten hoben die Schaluppe aus ihrem Stande und befestigten vorn und achter Taljen, um sie über Bord zu setzen. Sie begannen auch damit, aber so ungeschickt, daß das schwere Boot gegen die Schiffsseite schlug und schlingerte. Hals über Kopf stürzte die ganze Menge hinein und suchte von der Brigg frei zu kommen. Sei es nun, daß ein falsches Manöver gemacht wurde, oder sonst ein Unglück sich ereignete: genug, wir hörten ein Krachen und unmittelbar hinterher ein wildes, verzweifeltes, markerschütterndes Geschrei und Geheul und das Plätschern vieler Menschen im Wasser. Und dann ward es plötzlich totstill.

Wir krochen aus unserem Verstecke hervor und sahen über Bord. Nichts weiter wie die wallenden und schaumgekrönten Wogen erblickten wir, so ängstlich wir auch späheten. Die See hatte ihre Opfer verschlungen. Fern im Westen flackerte ein Feuer auf. »De Hallunke het sick in Säkerheit brocht! Mag Gott em lohnen und den Düwel up em loslaaten, Lüder!« sagte der Zimmermann. »Us stah Gott in Gnaden bi! Man ja nich verzagen! Wat is dat ein Gluck dat so'ne Schurken in alle ähre Slauheit doch jümmer en Dummheit makt! Harr he dat Schipp in Brand stäken, denn weern wi verlaaren wesen. Nu möt't wi sehen, dat wi uns dörquält. Ik gah an't Roer dat ik dat Schipp in Tum un Tögel un et bi den goden westlichen Wind up en östlichen Koors bringe. Mit de beiden Mastseils kamt wi woll so wid, dat wi bet morgen fröh ut Sicht von de Eilanden sünd; un denn ens mutt ik sehen, wat sudder to dohn is.«

Nachdem der Zimmermann in die Speichen des Steuerrades gegriffen hatte, kam unsere Brigg auf ihren Kurs und schnitt, ohne mehr zu rollen und zu stampfen, durch die See. Eine Peilung der Pumpen meinerseits zeigte allerdings viel Wasser im Raum, doch wuchs es dem Anscheine nach nicht mehr, eine Kunde, bei welcher der Zimmermann, dem ich sie brachte, mir freundlich und befriedigt zugrinste.

Die Sonne ging klar über der sanft bewegten, im rötlich klaren Morgenglanze schimmernden See auf. Jetzt übergab mir mein alter Freund das Ruder mit der Weisung, genau Strich zu halten. Er selbst kramte in seinem Kasten und nahm Werkzeuge heraus, mit deren Hilfe er einige hölzerne Pfröpfe verfertigte. Er sagte mir: »Ik will doch ens versöken, of ik den Leck nich stoppen kann. Annerswo as achter in die Piek ward de Hallunke nich to Gange wesen sin.«

Er ging in die Kajüte, von wo aus eine Luke in die Piek führte. Nach einigen Minuten hörte ich dumpfe Hammerschläge unter mir. Bald nachher kam er total durchnäßt wieder an Deck und rief: »Bliew man an't Roer! Ik mutt dröget Tüg antrecken. De Löcker harren sick tämlich dicht settet, ick heff de Plucke inslaen. Wenn Mannschaft an Bord weer, können wi ook lenz pumpen. Indessen, wat nich is, dat is nich! De Brigg geit ook so dör't Water.«

Er kehrte bald zurück und übernahm wieder das Ruder, indem er mich anwies, die Notflagge zu setzen und auf die Focksaling zu klettern, um von dort vermittelst des Kiekers genauen Ausblick zu halten. Er selbst ließ seine scharfen Augen auch in die Weite schweifen. Das Wetter war wunderschön und sichtig, der Himmel glänzte wolkenlos über uns. Wir freuten uns der angenehmen Wärme, denn nach der Aufregung der Nacht war uns doch beim Morgengrauen frostig zumute geworden. Ich spähte, so eifrig ich's vermochte, konnte aber nichts am Horizonte gewahren.

Plötzlich rief Zimmermann Wacker: »Lüder, kannst du nicks nich sehen? Stürbord, Südwest vorut! Straland, dar mutt en Damper gähn.«

Ich verneinte, denn ich konnte auch mit dem Fernglas nichts entdecken.

»Denn kumm gau dal un bring mi dat Glas!«

Ich war flink wie ein Eichhörnchen an Deck. Wacker übergab mir das Steuerrad und hielt dann das Glas vor die Augen. Er sah lange nach einer bestimmten Richtung hin. Als er dasselbe abgesetzt hatte, leuchteten seine Züge wie verklärt. Er faltete die Hände und sagte:

»Dat is as en Wunner von Gott! Dor loppt en Damper, un wi kriegt just sinen Koors. Dat ward en Engelsmann, en Man of War (Kriegsschiff) wesen, denn sunst sünd hier kine Dampers begäng. Hol dat Roer fast, Lüder, un bliew studdig up'n Koors. Ik will ens sehn, of ik nich en paar Schuß ut de Kanone klar kriegen kann, dat ik den Damper averteer.«

Die Brigg machte wundervolle Fahrt. Jetzt sah auch ich die Rauchwolke deutlich am Horizonte. Es währte nicht lange, so konnte ich sogar die Mastspitzen des Schiffes ausmachen. Der Zimmermann kam strahlenden Antlitzes aus der Kajüte zurück. Er lud die Kanone, die er, so wie der Dampfer sich näherte, einige Male hintereinander abfeuerte. Seine Züge drückten die höchste Spannung aus. Er hielt die Hand ans Ohr und horchte. Da rollte ein dumpfer Donner über das Wasser her. Man mußte uns gesehen und verstanden haben. Wacker griff wieder nach dem Kieker und blickte nach dem Dampfer hin.

»De engelsche Orlogs-Flagge weiht von de Gaffel,« rief er erfreut. »Wi wilt de Brigg noch en bäten lopen laaten, un denn will ik versöken, de Fallen lostosmiten und ähr bitodreihen.« Der Dampfer kam immer näher und setzte sichtlich seinen Kurs auf uns zu. Jetzt fielen unsere beiden Marssegel, und die »Rafaela« mäßigte ihre Fahrt.

Hurtig wie ein ganz junger Kerl lief der Alte zum Steuerrade und löste mich ab. Er griff kräftig in die Speichen und brachte die Brigg in den Wind.

Der Engländer – es war ein kleiner Avisodampfer – drehte nun auch bei und setzte ein Boot ab, welches auf die »Rafaela« zufuhr. Wie Musik klang uns das Brausen des aus der Röhre ausströmenden Dampfes; wie ein Engelsfittig leuchtete uns die weiße, wallende Kriegsflagge.

Eine Verständigung mit dem an Bord der Brigg kommenden Offizier erfolgte. Er schrieb wenige Worte auf einen Zettel, welche er durch einige Leute im Boote dem Kapitän des Kriegsdampfers sandte. Letzterer legte nun auf Seite der »Rafaela« und brachte eine Trosse aus, um uns ins Schlepptau zu nehmen, weil es an Mannschaft fehlte, die Brigg besetzen zu können.

Nachdem dieselbe lenz gepumpt worden war, wurde sie nach den Bermuda-Inseln geschleppt, wo wir glücklich anlangten, etwas reparierten und nach einiger Zeit einen tüchtigen Kapitän und gute Mannschaft erhielten.

Wir gingen dann wieder unter Segel und kamen nach kurzer Reise wohlbehalten und ohne weitere Abenteuer in unserem Bestimmungshafen an.

Die Versicherer von Schiff und Ladung mußten freilich in hohe Bergungskosten willigen, die sie jedoch um so lieber bezahlten, als sie einem durch die Schurkerei des in dem kubanischen Hafen an Bord gekommenen Kapitäns möglicherweise verursachten Totalverlust glücklich entgangen waren.

Es verlautete, daß in New-Orleans ein größerer Betrag, von jemand auf die »behaltene Fahrt« der »Rafaela« in Auftrag eines andern versichert worden war; niemand aber sei je wieder auf die Angelegenheit zurückgekommen. War der Spitzbube mit seinem Helfershelfer untergegangen, oder hatte er inzeiten Nachricht von der Ankunft der »Rafaela« auf den Bermudas empfangen?

So endete meine erste Reise.

Der liebe Gott und der selige Kapitän Handspaken hatten mich Wildfang »umliek« gekriegt.

Wenn ich auch hundert Jahre alt werden sollte, meine erste Reise, auf welcher ich so wunderbare Erfahrungen machte, werde ich nie vergessen.

Der alte Zimmermann Wacker, jetzt eisgrau geworden, wohnt auf dem Seefahrtshofe zu Bremen und erzählt noch immer gern von seiner letzten Reise, – er meinte damit die nämliche, welche meine erste war.

»Ja,« sagte er oft, »weer de Engelsmann nich to rechter Tid mit den olen Qualmkasten kamen, denn weer us doch woll for alle Tid de Piepe utgahn!«

Darin mag er wohl nicht ganz unrecht haben.


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