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In der Hölle.

Ich weiß nicht, warum? Aber Alt-Hamburg an der Elbe gefiel mir besser als die neue, elegante Freihafenanlage mit ihren anspruchsvollen monumentalen Gebäuden, den breiten, geraden, mit massiven Kaimauern eingefaßten Kanälen; besser der alte Ducdalbenhafen im Strom als die modernen großen Bassins am jenseitigen Ufer, die nur mittels Dampffähren zu erreichen sind. – Sonst lagen die Schiffe in unabsehbaren Reihen vor der Kaje, der Mastenwald berührte sich fast sozusagen mit den altertümlichen Giebelhäusern und zeichnete sich da, wo der Strom eine Kurve beschrieb, im malerischen Gewirr der Rahen, Gaffeln, Stengen und des Tau- und Segelwerks von dem stets dunsterfüllten Himmelsgewölbe ab. Das war ein Gewühl von Menschen – Schiffern, Kaufleuten, Matrosen, Kapitänen, Verkäufern und Flaneurs – auf den durch die vor den Läden hängenden Viktualien und sonstigen Waren noch obendrein beengten Trottoirs! Man konnte sich kaum einen Weg durch das Gedränge bahnen. Unmittelbar an den Vorsetzen ankerten die Kartoffel- und Torfewer; kleine Kräne setzten Güter auf und ab; die hochbeladenen Schuten bewegten sich in dem schmalen Fahrwasser zwischen doppelten und dreifachen Reihen großer Segler und Dampfer stromauf und -ab. Mancher originelle Kauz lehnte sich an das Bollwerk, im breiten, treuherzigen Platt seine Dienste anbietend; die Jollenführer in ihren schlanken Booten warteten auf Fahrgäste, und der griesgrämige Steueraufseher in schäbiger Uniform und grünberandeter Dienstmütze bewachte mit Argusaugen die schlüpfrigen Treppen am Wasser, damit keine »konsumtionssteuerpflichtigen« Gegenstände an Land geschmuggelt wurden. – Bis weit über Altona hinaus dehnte sich der Mastenwald, der, wenn irgend ein staatliches Ereignis oder eine Hochzeit in Kaufmannskreisen gefeiert wurde, den bunten, heitern Schmuck tausendfacher Flaggen zeigte.

Auch die alten Gasthäuser und Kneipen, die anspruchslosen, teilweise sogar etwas – fettigen Restaurationen (hieß, doch eine sehr bekannte und besuchte in Schifferkreisen »tum smärigen Läpel«) mit ihren Bänken und Beischlägen vor den Türen, auf welchen sich's die Kapitäne oft mehr wie bequem machten, waren mir lieber als jene – altdeutschen! – Lokale hinter den großen Spiegelscheiben in den Erdgeschossen der palastähnlichen Gebäude, welche heutzutage an dem so reichlich und gar malerisch überbrückten Zollkanal stehen.

Ja, ja, Alt-Hamburg an der Elbe besaß seine eigenen Reize, trotz oder vielmehr auch wegen seiner engen Straßen voll windschiefer Fachwerksgiebel und schmaler, schlangenartig gekrümmter Fleete mit den hohen Speichern und den altertümlichen Windevorrichtungen an den Dachvorsprüngen und auf den oft vor Alter morschen und vornübergeneigten Vorsetzen und Bollwerken. Die im Sonnenglanz blinkenden hohen Turmspitzen ragten majestätisch aus dem Gewirr hervor. Der graue Rauchschleier verlieh dem Ganzen das Ahnungsvolle eines halbhellen Bildes, reiz- und geheimnisvoller noch, wenn Glockengeläute und Choralmelodien den Straßenlärm und das Pfeifen der unablässig auf der Elbe kreuzenden Dampfboote durchdrang. Und nun welch Leben auf dem Wasser bei eintretender Flut! Zahllose Schuten liefen in die Fleete, um die von den Seeschiffen kommenden Waren den dunkeln, hohen Speichern zuzuführen.

Ja, ja, charakteristisch, interessant war damals Hamburg, noch zu Anfang bis Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Aber dennoch möchte wohl niemand die alten Zeiten zurückwünschen. Besser, zeitgemäßer, großartiger ist Hamburg geworden – eine neue, wiedergeborene Stadt. In der Erinnerung derer, die Alt-Hamburg kannten, wird jenes wunderbare Bild, welches ich soeben in wenigen Strichen zu zeichnen versucht habe, nie auslöschen.

* * *

Wie komme ich nur jetzt darauf zu sprechen? Ich mußte eben lebhaft an ein Zusammentreffen mit mehreren Kapitänen denken, welches noch in der Zeit vor dem Zollanschlusse stattfand.

Damals hatte ich im Hamburger Hafen viel auf Schiffen zu tun. Nach Beendigung meiner Geschäfte pflegte ich, um mein Mittagsmahl einzunehmen, ein kleines, mit einer Restauration versehenes Gasthaus an der Kaje in der Nähe des Baumwalls zu besuchen. Hübsch, einfach, gut und gemütlich war's in dem »Herzog von Holstein«. Ob das Lokal noch existiert, weiß ich nicht, denn nach den seit 1888 gänzlich veränderten Verhältnissen hat mich mein Weg nie wieder in jene Gegend Hamburgs geführt. In dem nicht großen Gastzimmer bedienten Wirt und Wirtin selbst die Gäste. An den Wänden hingen die telegraphischen Schiffsberichte aus. An den großen, runden und den vielen kleinen, länglichen Tischen saß stets der eine oder der andere Kapitän, Schiffsmaklergehilfe und Proviantlieferant, so daß gar bald ein seemännisches Gespräch sich entspinnen ließ.

Im »Herzog von Holstein« kehrten vorzugsweise gern norwegische Kapitäne ein. Unter anderen verkehrte hier auch der Kapitän Gundersen von der schönen Berger Bark »India«, die eine Ladung Reis löschte, mit deren Inspektion ich beauftragt war. Dieses norwegische Schiff, gleich mehreren anderen, mit welchen ich zu tun hatte, zeichnete sich durch eine ganz besondere Sauberkeit und Eleganz aus. An dem schneeweißen Anstrich war ungeachtet der langen Reise und des langen Liegens in dem so stark besuchten Hafen kaum ein Fleck zu sehen. Daß die Ladung dieser norwegischen Schiffe stets im besten Zustande sich befand, wenn nicht höhere Gewalt einmal zu stark mitgespielt hatte, verstand sich von selbst und war sehr begreiflich, wenn man diese ehrenhaften, ruhigen Kapitäne und die blondhaarige, blauäugige Schiffsmannschaft sah, die den sonntäglichen Gottesdienst in der skandinavischen Hafenkapelle sicher niemals versäumte. Die Kapitäne machten aus ihrer Religiosität kein Hehl; sie setzten sich selbst im »Herzog von Holstein« nicht zu Tisch, sei's mittags oder abends, ohne ihre Hände zu falten und ihre Augen andächtig zum stillen Gebet zu senken. Dabei waren sie politisch freisinnig, radikal, Republikaner zum Teil.

Eines Abends traf ich wieder mal mehrere dieser norwegischen Kapitäne in dem bekannten Gastzimmer an, unter welchen sich auch Kapitän Gundersen befand. Ihrer Einladung folgend, setzte ich mich zu ihnen. Eine lebhafte Unterhaltung entstand, die von den sämtlich des Deutschen mächtigen Herren aus Höflichkeit für mich in deutscher Sprache geführt wurde. Wir sprachen dies und das, ohne just einen bestimmten Gegenstand zu erörtern.

Plötzlich rief Kapitän Lorenzen von der Bark »Kong Sverre«: »He, Gundersen, weißt du wohl, daß du uns noch immer die Erzählung, wie du zu der Narbe über der Stirn kamst, schuldig bliebst? Jetzt, da wir hier alle beisammen sind, könntest du uns dein Garn wohl abspinnen!«

»Das kann geschehen,« antwortete der Angeredete. »Zuvor muß ich aber meine Zunge anfeuchten und eine Zigarre anzünden. Es spricht sich leichter, wenn die blauen Rauchringel schweben, die Bilder aus vergangenen Tagen gestalten sich lebendiger.«

Die Kapitäne ließen Bier kommen. Den Spirituosen waren die eifrigen Mäßigkeitsfreunde abhold. Als die Zigarren brannten und wir alle so bequem wie möglich saßen, begann Kapitän Gundersen: »Wie ihr wißt, bin ich in der Gegend von Bergen zu Hause, wo mein Vater der Pastor eines einsamen, im grünen Tale unter hohen Gletscherbergen, am spiegelklaren Fjord gelegenen Dorfes ist. Wir waren unserer fünf Geschwister; ich bin der Älteste, die andern vier waren Mädchen, eines immer noch hübscher und aufgeweckter als das andere. Den Schwestern konnte selbst der Feind nichts Übles nachsagen, aber auf mich paßte in etwas das deutsche Sprüchlein:

Pastors Kinder und Müllers Küh'
Geraten selten oder nie.

Ein ganz durchtriebener Bengel war ich, dem nichts weniger behagte als das Stillsitzen und Hocken hinter den Büchern. Fischen, jagen, rudern, segeln, streifen durch Berg und Tal, – das war meine Lust. Vater und der Schulmeister bemühten sich vergeblich, mir die in ihren Augen nötigen Kenntnisse beizubringen. Ich aber lernte nur das, was mir gefiel, und konnte trotz Schlägen, Hungerkur und gelegentlichem Eingesperrtwerden den sogenannten Wissenschaften, sonderlich den auf das Studium der Theologie hinleitenden – ich sollte und mußte ja Geistlicher werden – nicht den geringsten Geschmack abgewinnen. Geistlicher, gezwungenermaßen Geistlicher! Wer dazu keinen Beruf fühlt, der bleibe davon, – er wird kein Hirte, sondern ein Mietling. Alle meine Vorfahren waren Geistliche gewesen. Ich würde der erste sein, welcher aus der Art schlug. Aber warum hatte denn mein Vater gegen das Familienherkommen eine Schiffers- und keine Pfarrerstochter geheiratet? Konnte ich dafür, daß ein anderer Geist in mich gefahren war?

Auch die Tränen meiner guten, von mir zärtlich geliebten Mutter rührten mich nicht. Daß ich dem Vater gegenüber einen schweren Stand hatte, könnt ihr euch denken, – sein einziger Sohn zertrümmerte ihm alle seine auf denselben gesetzten Hoffnungen! Stets zeigte er mir ein strenges, ernstes Gesicht, niemals schlug er eine heitere Saite an. Daß ich ihn scheute und ihm womöglich nicht den Weg kreuzte, war nicht zu verwundern. Trotzdem aber kam es zu Konflikten. Nach und nach gewöhnte ich mich daran, die Vorwürfe schweigend, aber oft innerlich knirschend, zu ertragen; ich lachte wohl gar im stillen darüber, wenn die väterlichen Reden fast immer mit dem Satze schlossen: »Dein Weg, führt dich geradenweges in die – Hölle!«

Ich habe später oft genug daran denken müssen.

Das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir spannte sich allnachgerade derartig, daß der häusliche Frieden darunter litt. Mutter, welche öfter zu meinen Gunsten einzugreifen suchte, trug schwer an der väterlichen Heftigkeit und weinte oft vor Kummer und Aufregung. Meine Schwestern, die anfangs zu mir hielten, zogen sich allmählich zurück. Ich stand fast allein da und suchte meinen Ärger und meine Erbitterung im unsteten Umherschweifen mit Bauernjungens und Fischersöhnen zu vergessen. Daß meine Eltern versuchten, diesem Zustande ein Ende zu machen, ist begreiflich. Ich selbst verdenke es ihnen nicht mehr.

Zufälligerweise hörte ich von ihrem Vorhaben, mich einer Schul- und Erziehungsanstalt anzuvertrauen, deren Vorsteher eines weitverbreiteten Rufes der rücksichtslosesten Strenge sich erfreute. Ich war empört. Mein Entschluß stand fest: Wegstecken läßt du dich nicht! Ich raffte in der Stille einige Kleidungsstücke und Schuhwerk zusammen und bemächtigte mich des Geldes, welches meine Sparbüchse enthielt. Dann kletterte ich in einer Nacht, während alles im Pfarrhause im tiefsten Schlafe lag, aus meinem Kammerfenster und verließ mit dem Bündelchen in der Hand die Heimat, um auf Wegen, die nur ich kannte, über das Gebirge mich nach Bergen zu schleichen, in der Absicht, dort Dienste als Junge auf einem Schiffe zu nehmen.

Das Herz bebte mir doch, als ich das Dorf im Tal zuletzt erblickte, als ich an Mutter und Schwestern dachte, die ich zurückließ. Ich fühlte den Stachel im Gewissen, denn daß ich ein Unrecht beging, dessen war ich mir nur zu wohl bewußt. Aber fort, fort!

»Hinaus in die Freiheit! Knechten lassen will ich mich nicht!« rief ich und rannte spornstreichs weiter.

Der Weg bis Bergen wurde mir nicht allzu sauer. Ich war ja das Wandern gewohnt. Mit Brot und geräuchertem Fleisch hatte ich mich reichlich versehen, den Durst löschten die kristallhellen Quellen der Berge. Mitten im Sommer, wie es war, fand ich abendlich immer ein hübsches, geschütztes Plätzchen zur Nachtruhe.

»Das wird alles gut gehen,« sagte ich mir. ›In wenigen Tagen schwimmst du auf dem Ozean und kein Hahn kräht mehr nach dir!‹

Ich hatte nicht bedacht, daß ich unterwegs gesehen werden könnte, daß mein Vater schneller als ich nach Bergen zu gelangen vermochte, daß ich öfter etwas von zur See zu gehen gefaselt hatte, daß man an Bord der Schiffe hergelaufene Jungens so ohne weiteres gar nicht nimmt und daß jedenfalls nach mir gefahndet werden würde. – Aber, so sind dumme Jungens, sie überlegen nicht!

Als ich, in Bergen angelangt, in eine Matrosenkneipe am Hafen ging, sah mich der Wirt gleich so eigen an, faßte mich am Kragen und zog mich in ein dunkles Gemach, dessen Tür er hinter mir abschloß.

Da war ich nun eingesperrt, ganz allein mit meinen Gedanken. Zuerst weinte und dann polterte ich gegen die Tür in Wut und Ärger, als ich bemerkte, daß ein Fenster zum Entrinnen gar nicht da war. Ich schrie wie besessen, bis ich müde ward und in eine Ecke gekauert, einschlief.

Wie erstaunte ich beim Erwachen – meinen Vater im Schein einer Laterne vor mir zu sehen.

Ihm standen Tränen in den Augen. Ohne mir irgendeinen Vorwurf zu machen, redete er mir gütig und freundlich zu, mit ihm nach unserm Dorfe zurückzukehren. Was ich ihm alles geantwortet habe, weiß ich nicht mehr, wohl aber, daß im Verlauf des Gespräches mein Nein, Nein! immer bestimmter klang.

»Ich will zur See!« dabei blieb ich beharrlich.

»Dann sollst du deinen Willen haben,« preßte er endlich mit fast gebrochener Stimme hervor. »Gehe deinen selbsterwählten Weg. Gott gebe, daß es der rechte ist, ein Weg, der dich aufwärts zum Himmel und nicht abwärts zum Verderben, zur – Hölle führt. Ich gehe jetzt, einen Kapitän für dich zu suchen.« Ich dankte meinem Vater, fiel ihm um den Hals, bat um Verzeihung und gab ihm die besten Versprechungen.

Er ging mit mir hinaus und ließ mir zu essen geben. Dann eilte er hinweg, um das Erforderliche zu besorgen.

Ich durfte mittlerweile die Stadt und den Hafen, die mir beide viel Neues und Interessantes boten, besichtigen. Draußen auf der Reede lagen einige mächtige Schiffe, von denen eines, ein Vollschiff, meine ganz besondere Aufmerksamkeit erregte.

Zur verabredeten Zeit traf ich wieder in der Matrosenkneipe ein und fand meinen Vater bereits dort vor. Es war ihm geglückt, mich als Jungen auf dem ›St. Olaf‹, Kapitän Björnson, festzumachen; auch hatte er mir schon eine vollständige Schifferausrüstung nebst der zugehörigen Kiste und dem Kleidersacke gekauft. Ich mußte die dicken blauen Kleidungsstücke, in welchen ich mir doch etwas seltsam vorkam, gleich anlegen und mich dann mit ihm zum Seeamt verfügen. Dort wurde ich in die Rolle eingetragen und erhielt von dem Beamten, einem ergrauten Seemanne – ihr kennt ihn wohl alle, den alten Larsen – einige gut gemeinte Ermahnungen, aus denen ich schloß, daß ich unter einen ungewöhnlich strengen und scharfen Kapitän kommen würde.

An der Kaje, dem Gasthause gegenüber, lag das Boot bereit, in welchem ich meine Sachen schon verstaut sah. Vater und ich stiegen ein. Und fort ging's nach der Reede hinaus gerade auf jenes Schiff zu, welches ich eben vorher aus der Ferne bewundert hatte. In der Tat war es, auch in der Nähe gesehen, ein ganz herrliches Schiff, in seinem frischen Anstrich und der neuen Vergoldung an Galion und Heck glänzend, als ob es eben erst aus der Hand seines Erbauers gekommen wäre. Die Segel an den Rahen waren aufgegeit, der blaue Peter wehte vom Topp des Fockmastes und an der Gaffel des Besanmastes die Unionsflagge, – Zeichen, daß der ›St. Olaf‹ zum Absegeln bereit lag. Wir klommen am Fallreep hinauf. An Deck nahm uns Kapitän Björnson in Empfang, ein großer vierschrötiger Mann mit harten Zügen und schielenden Augen. Vater sprach mit ihm, worauf er mit grinsender Miene einiges erwiderte, von welchem ich die Worte nur zu gut verstand und behielt: »Verlassen Sie sich auf mich, Herr Pastor! Ich habe schon viele Menschen zurechtgebracht. Was gemacht werden kann, das wird gemacht, und geht's nicht so, dann geht's so!' wobei er eine nicht mißzuverstehende Bewegung machte. »Der Lotse ist schon an Bord. Ich kann mich Ihnen leider nicht weiter widmen, leben Sie wohl!«

Vater empfahl sich dem Kapitän und legte mir die Hände wie segnend auf das Haupt, mit bewegter Stimme sprechend: »Behalte Gott vor Augen und im Herzen, mein Sohn! Vergiß, was dahinten ist, und strecke dich nach vorn, nach dem dir vorgehaltenen Ziele.«

»Mit Verlaub, Herr Pastor!« rief der erste Steuermann. »Wenn Sie nicht mit nach England und weiter nach Ostindien wollen, dann ist's Zeit, von Bord zu gehen. Das Fallreep wird gleich eingeholt.« Das war deutlich. Vater stieg in das Boot; ich stand an der Reling und sah dem Scheidenden mit etwas beklommenem Herzen nach. Lange aber konnte ich mich der Beklemmung nicht widmen, denn ich ward an die Arbeit gestellt und meiner ersten Unbeholfenheit durch Flüche, Stöße und Schläge begegnet, – man machte mir sozusagen Arme und Beine – die bitteren Tränen rollten mir über das Gesicht.

Wohin war ich geraten? Das ging hier ja fast zu wie im Zuchthaus. Der Kapitän und die Offiziere standen gut miteinander und hielten gegen die übrige Mannschaft, wie es schien, zusammen.

Dieselbe bestand offenbar aus allerlei hergelaufenen Leuten, welche nur widerwillig arbeiteten und, je mehr sie kujoniert wurden, desto aufsässiger sich gebärdeten. Das merkte ich allerdings nicht sogleich, aber doch schon während der Reise nach England, die bei günstigem Winde und gutem Wetter rasch vonstatten ging und mir bald zu richtigen Seebeinen und dem gehörigen Seemagen verhalf. Der letztere wurde allerdings nicht ganz leicht geboren, weil die Kost nichts taugte und selbst dem Genügsamsten und Unverwöhntesten anfangs Mißbehagen verursachte. Wir Schiffsjungen und Leichtmatrosen, von welchen keine Widersetzlichkeit zu befürchten stand, wurden wie Sträflinge und Sklaven behandelt, – kurz, die Furcht und das Tauende regierten an Bord.

In Newcastle, wo wir Kohlen für Rangoon luden, erhielt niemand Erlaubnis, an Land zu gehen.

Trotzdem aber gelang es einigen, von Bord zu kommen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Auch mir legte man es nahe, zu desertieren, aber ich widerstand der Versuchung, da ich die harte Behandlung als eine Strafe ansah, der ich mich zur Sühne der Sorgen und Nöte, welche ich meinen Eltern verursacht hatte, willig unterziehen müsse.

Die durch die Desertionen entstandenen Lücken mußten natürlich wieder ausgefüllt werden. Da der böse Ruf des Schiffes nicht verborgen blieb, so kamen nur sogenannte Rowdies, der Auswurf der Seeleute, die in solchen Kohlenhäfen hemmlungern, an Bord, gerade die rechten Leute für unsern Kapitän. Die konnte er wie Klötze und Vieh behandeln, und bei ihrer Uneinigkeit und der Gehässigkeit und Eifersucht des einen gegen den andern, da sie den verschiedensten Nationen angehörten, war er vor einer Meuterei, gegen die stets bereit liegende Waffen überhin nach Möglichkeit schützten, ziemlich sicher.

Von unserer Reise will ich nicht viel sagen. Sie verlief im allgemeinen günstig und ohne besondere Ereignisse. Das Leben an Bord war kaum zu ertragen. Eine Roheit und Unflätigkeit von seiten des Seegesindels überbot immer noch die andere. Zank, Streit, Flüche, Schlägereien, Schimpfen überall; eine kleine Grausamkeit fast immer die Strafe für die geringsten Vergehen!

Dadurch, daß mein Vater, gewiß in bester Absicht, dem Kapitän etwas von meinem Vorleben mitgeteilt, hatte er der Willkür gegen mich Tor und Tür geöffnet. Der alte Björnson, ein Tyrann sondergleichen, und die Offiziere glaubten sich alles mir gegenüber erlauben zu dürfen.

Gestoßen und bedrückt erhielt ich bei dieser oft nicht menschenwürdigen Behandlung kaum genügend zu essen. Ja, wahrhaftig, hier an Bord des ›St. Olaf‹ konnte man einen Vorgeschmack der Hölle kriegen! Täglich verbitterte ich mehr; nur Roheiten und Böses hörte und sah ich.

Ich fühlte, daß ich körperlich und geistig zugrunde gehen müsse, wenn ich länger in diesem Sündenpfuhl bliebe. Der Gedanke an Flucht erwachte und verließ mich nicht wieder. Ich wollte sie ausführen, sobald das Schiff in Rangoon ankam. Jedes Los, auch das erbärmlichste, erschien mir golden gegenüber den fürchterlichen Banden, in welche ich mich verstrickt fand.«

»Das ist wahr, Gundersen,« fiel ihm Kapitän Lorenzen in die Rede, »Ihr habt da gleich anfangs eine Schule durchgemacht, die Euch für Euer ganzes Leben vielleicht gut getan hat. Daß Ihr in der untersten Klasse Euch schon überreichlich satt fühltet, verdenke ich Euch nicht. Wir alle wären solchen Schulmeistern auch ausgeritscht. Habt Ihr nie wieder von Kapitän Björnson gehört?«

Gundersen antwortete: »Noch bin ich ihn ja gar nicht los! Ich will's euch aber gleich sagen: den hat der Teufel mit Mann und Maus geholt! Wer nicht zu den Gerechten gehörte, der hat wohl gleich ihm ein Bantje in dem Kesselraum der Unterwelt erhalten. – Nun aber laßt mich fortfahren: Wir kamen glücklich – d. h. die Fahrt war glücklich – in Rangoon an. Die Matrosen verließen, einer nach dem andern, wie die Ratten, das Schiff; sie ließen lieber einen Teil ihrer Gage im Stich, als daß sie noch länger auf diesem Kasten, unter solchem Kapitän und solchen Offizieren, gefahren hätten. Nur noch die letzteren, einige Leichtmatrosen und ein paar blöde Jungens, zu denen auch ich gehörte, waren an Bord. Wir wurden jetzt etwas freundlicher und menschlicher behandelt, da man Klagen bei unserm Konsul vermeiden wollte. Die desertierten Rowdies hatten natürlich keine Veranlassung, sich bei dem Konsul zu melden. Ich suchte mir etwas Geld zu verschaffen und ersah mir eine Gelegenheit, zu flüchten. Meine Absicht verbarg ich selbst meinen Gefährten gegenüber.«

»Das Seefahren, Kapitän Gundersen,« fragte ich, »hatten Sie damals gewiß gründlich satt?«

»Gar nicht,« antwortete er. »Ich wollte nur unter allen Umständen vom ›St. Olaf‹ weg! Ich hatte auch, wie der verlorene Sohn im Evangelium, Heimweh nach dem Vaterhause. Den Seemannsberuf liebte ich, – ich dachte durchaus nicht daran, ihn aufzugeben. Die leidenschaftliche Liebe für die See liegt den Normännern – so nennt ihr Plattdeutschen uns ja wohl? – im Blute. Wogenrauschen und Sturmgeheul ist uns Wikingern, deren Söhne zu sein wir uns rühmen, die schönste Musik. – Doch, wo bin ich in meiner Erzählung stehen geblieben? Ach so, richtig!

Da lag ganz in der Nähe des ›St. Olaf‹ ein englischer Dampfer, der, wie ich erfahren hatte, am nächsten Tage nach Europa mit einer Ladung Reis abgehen sollte. Ich beschloß, mich bei Nacht und Nebel dort einzuschleichen, als blinder Passagier auf See an das Licht zu kommen, um dann für die Arbeit, die ich leisten wollte, mitgenommen zu werden, – umsonst wollte ich gar nichts haben. So dumm dieses Vorhaben auch war, ich führte es aus.

Ich schnürte mir ein Bündel mit den notwendigsten Sachen zurecht, legte auch mein wasserdicht verpacktes Seemannsbuch hinein, ergriff das Päckchen im Dunkel der Nacht und schwamm, nur mit dem Hemde bekleidet, nach dem Dampfer hin. Leider verlor ich im Wasser meine Mütze. Ich erreichte das Fallreep, erkletterte es leise, blickte vorsichtig über die Reling, um zu erspähen, ob nicht etwa eine Wache oder ein Hund an Deck sei. Doch bemerkte ich gar nichts derartiges. Alles schien in tiefstem Schlafe zu liegen.

Leise tappte ich nach dem Maschinenraume hin, aus dessen Luken Lichtschimmer hervordrang. Ich schaute hinunter und gewahrte, wie die Leute beschäftigt waren, Kohlen herbeizufahren und die Kessel zu heizen, die Maschinenteile zu ölen und zu putzen. Ich suchte nach einem geeigneten Versteck. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß unter den obwaltenden Umständen der Donkey-Kessel auf Deck zum Betreiben der Lade- und Ankerwinden nicht mehr benutzt werden würde. Ich schlich mich an denselben, der ungewöhnlich groß war, hinan und öffnete die nur angelehnte Tür zum Feuerraum. Durch Fühlen mit den Händen fand ich, daß er gereinigt und auch hoch genug war, mich in gehockter Stellung aufnehmen zu können. Ich kleidete mich notdürftig an, legte das nasse Hemd in mein Bündel und kroch in den Kessel hinein, der Dinge wartend, die da kommen würden. Der Aufenthalt war allerdings nicht sehr bequem, aber doch für einen Jungen, der, wie ich, öfter in dem Geäste eines Baumes geschlafen hatte und gewohnt war, seine Glieder den Verhältnissen anzupassen, erträglich. Der über mir sich erhebende Schornstein gewährte genügenden Luftzug und konnte mir nötigenfalls als Ausweg dienen, wenn die Tür zum Feuerraum geschlossen wurde. Von der Gemütsbewegung und dem kalten Bade ermüdet, sank ich bald in Schlummer.

Beim Erwachen fand ich mich in einem fast vollständig finstern Raum, in welchen nur durch die Schornsteinöffnung ein Sonnenstrahl fiel, der mich selbst jedoch nicht zu erreichen vermochte. Die Tür war geschlossen. An der schaukelnden Bewegung meines Gefängnisses, an dem Pochen und Poltern der Maschine in meiner Nähe und dem oft vernehmbaren Rauschen des Wassers merkte ich, daß sich der Dampfer in Fahrt befand. Trotzdem mich empfindlich fror und Hunger und Durst mich quälten, so schien es mir doch geraten, noch eine Weile mich still zu verhalten. Ich fürchtete nämlich, daß, wenn ich zu früh aus meinem Verstecke hervorkäme, man mich vielleicht irgendeinem nach Rangoon segelnden Schiffe oder dem zurückkehrenden Lotsen mitgeben könnte, und dann – das wußte ich nur zu gut – dann standen mir schreckliche Tage an Bord des ›St. Olaf‹ bevor! Um keinen Preis dorthin zurück! Wem ich hier in die Hände fiel, das war ja ungewiß. Aber – es gibt doch barmherzige Menschen! Ich flehte zu Gott. Lange hatte ich nicht so innig aus vollem, bedrängten und bedrückten Herzen gebetet. Die Psalmworte: ›Der Herr ist barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue‹ kamen mir nicht aus dem Sinn. Da saß ich nun wie im Grabe! Draußen die schöne Welt, der warme, heitere Sonnenschein! Fern gen Norden sah ich im Geiste das stille, einsame Pfarrhaus im grünen Tal unter den hohen Bergen voll heller, rauschender Bäche; auf dem stillen Wasser des Fjords schwammen die Kähne und Schiffe, bis zum Rande mit duftigem Gras und den weißrindigen Scheiten des Birkenholzes beladen. Die Juniabendsonne stand noch hoch am Himmel. Die Glocken summten von dem Türmchen der alten Holzkirche hernieder. Im dunkel getäfelten Wohnzimmer saß die Mutter mit den Schwestern am Tische; Vater las aus der Bibel vor und schloß mit einem kurzen Gebet, des fernen Sohnes mit Tränen im Auge gedenkend. Das Herz wollte mir brechen vor Wehmut und Sehnsucht. Ich brach in lautes Weinen aus. Ich armer, armer, verlassener Junge! …

Lange gab ich mich nicht meinen Gefühlen und Gedanken hin. Ich dachte bald nur noch an das Verlassen meines Gefängnisses zwar nicht ganz ohne Furcht vor dem, was mir vielleicht bevorstehe, aber doch mit dem leichtsinnigen Troste, daß man mich nicht auffressen könne. Auf mit dir! rief ich mir zu und zwängte mich, mit Armen und Beinen arbeitend, die enge Schornsteinröhre hinan; ich kam auch richtig nach vieler Mühe und manchen vergeblichen Anstrengungen nach oben. Dort mußte ich mich verschnaufen und neue Kräfte sammeln, bevor ich an das Hinabklettern denken konnte. Alles andere kümmerte mich jetzt nicht, als ich auf dem ziemlich scharfen Rande der Röhre saß und mir den Schweiß mit dem Ärmel meiner Jacke vom Gesicht wischte. Ich mag schön ausgesehen haben!

» Look here, the devil!« hörte ich schreien. Die sich rasch um den Donkey-Kessel sammelnden Leute riefen mir allerlei rohe und lose Redensarten zu und trieben ihre Späße mit mir, bis der Kapitän erschien und Ruhe gebot, mich auffordernd, an Deck zu kommen.

Ich folgte zitternd und meine hellen Tränen vergießend. Der Kapitän, kein ganz unfreundlicher Mann, nahm mich in ein scharfes Verhör, prüfte mein Seemannsbuch und ließ mir zu essen und zu trinken reichen, nachdem ich zuvor unter seiner Aufsicht einer gründlichen Reinigung, Abspülung und vorläufigen Umkleidung unterworfen worden war. Auf meine Bitte um Arbeit antwortete er achselzuckend. Ich verstand, daß die Mannschaft vollzählig und kein Raum im Volkslogis mehr für mich vorhanden sei. … Indes, in der Maschine oder im Kesselraum könne vielleicht noch irgendein Platz frei sein.

Nun ließ der Kapitän mich stehen und verfügte sich auf die Kommandobrücke, wo er mich im Auge behalten und somit vor weiteren Belästigungen und Roheiten schützen konnte. Ich bemerkte, wie er dort einige Minuten lang mit einem Herrn sprach, den ich bald als den ersten Ingenieur kennen lernen sollte. … Dann winkte er mich herbei. Indem ich gehorchte, hörte ich hinter mir her bedauernde und höhnende Worte, deren Sinn ich dahin auffaßte, daß ich zur – Hölle verdammt sei. Mit der Ermahnung, meine Pflicht zu tun, übergab mich der Kapitän dem Herrn. Letzterer befahl mir, ihm zu folgen. Es ging die steile, von Öl und Talg schlüpfrige, in den Maschinenraum und zu den Kesseln führende Treppe hinab. Ein betäubender Dunst, eine sich mit jedem Schritte abwärts steigernde Hitze schlug mir entgegen. Da unten glühete alles wie im hellsten, roten Feuer; nackte Kerle, schweißtriefend, die Totengesichter hohlwangig, die Augen hervorquellend, hantierten vor den Ofentüren mit eisernen Stangen, andere schleppten in kleinen Wagen und Körben Kohlen herbei. Wie Teufel und Kobolde arbeiteten die Leute, von den Vorgesetzten, die von einem widerwärtigen Menschen, dem Oberheizer, kommandiert wurden, unter Flüchen und Schimpfworten gestoßen und geschlagen. Der Ingenieur wies mich diesem Menschen zu, dem Oberheizer, der mich grinsend empfing mit den Worten, ich käme ihm gerade gelegen, da wieder einige von diesen verdammten Strolchen krank geworden seien.

»O Gott,« rief ich unwillkürlich aus, »hier ist die Hölle! … Ich armer, unglücklicher Junge! … Ach, werde ich lebendig wieder herauskommen?«

»Fort mit dir in die Kohlenbunker!« hieß es. »Keine Worte machen, aber die verdammte Pflicht und Schuldigkeit tun! Wir besitzen Mittel, auch die Widerspenstigsten lammfromm zu kriegen!«

Die harte Faust des Oberheizers saß mir im Nacken; er hob wie drohend sein Schüreisen empor.

»Verstanden Sie denn Englisch, Kapitän Gundersen?« fragte ich.

Schiffer-Englisch versteht jeder Fahrensmann. Das lernt sich in wenigen Wochen an Bord eines Ozeanfahrers. Diese Sprache ist international und es versteht sie der Romane so gut wie der Russe und Germane. Wenn dazu die Zeichensprache kommt, wie dies hier geschah, dann weiß man genau, was die Glocke geschlagen hat. Aber nun weiter im Text: Ich war in der Hölle bei lebendigem Leibe! Wie bald gelangte ich dahin, mir den Tod und damit das Ende der Leiden zu wünschen, die jetzt für mich begannen.

In der staub- und gasgeschwängerten Luft, in der trockenen Hitze, die in den Kohlenbehältern herrschte, vermochte ich anfänglich kaum zu atmen. Ich fühlte meine Kräfte versagen. Aber man zwang mir unter Mißhandlungen die Schaufel in die Hand, den vor mir stehenden kleinen Wagen oder Korb zu füllen, ihn nach den unsagbare Gluten aushauchenden Kesseln zu transportieren. So kurz die Dienststunden auch waren, so schreckliche Wirkungen äußerten sie dennoch auf Körper, Geist und Gemüt. Es war mir, nachdem ich zuerst Ströme Schweißes vergossen hatte, als ob ich austrockne, mich innerlich verzehre. Dazu das Ertragen der Roheiten und Unflätigkeiten der Menschen, mit welchen ich zusammen sein mußte, das Anhören der erbitterten Worte über ihr elendes Los … Sklaven, Sklaven wir alle … Die Unseligkeit der Verdammten im ewigen Feuer! Ich ahnte, was das sagen will.

In den wenigen Stunden Schlafes quälten mich die fürchterlichsten Gedanken, – mein ganzes Leben erschien mir wie eine Kette der schwärzesten Verbrechen. Vater, Mutter, Schwestern sah ich händeringend dastehen: ich hatte ihnen das Herz gebrochen! … Ich wollte ihnen zu Füßen fallen, mit heißen Tränen sie um Vergebung bitten: Ich habe gesündigt im Himmel und vor euch! Ach, und da brausen ja die kühlen Ströme der Heimat! Hinein, hinein, die heißen, dürren Glieder zu kühlen, zu erquicken! Ich sprang in die klaren Fluten, – ach, ein Wahngebilde war's! Der Feuerschein leuchtete mir entgegen!

Eine rauhe Faust schüttelte mich … Der Dienst sollte wieder beginnen. Zuvor aber führte man mich mit einigen Leidensgefährten nach oben, damit wir etwas frische Luft schöpften, ehe wir wieder an die fürchterliche Arbeit gestellt wurden. An Deck standen vierschrötige Matrosen neben der Reling, um uns arme Kerle zu bewachen und zu beobachten und jeden zurückhalten, der etwa Miene machen wollte, über Bord zu springen, in der Absicht, sein schreckliches Los durch einen freiwilligen Tod zu enden. Und aller Vorsorge zum Trotz gelang es doch manchmal einem armen Schelm, den selbstmörderischen Sprung in die kühle Tiefe auszuführen. Der war dahin! Uns Übrigbleibenden aber erwuchs vermehrte Arbeit, denn Ersatz für den Fehlenden konnte ja auf hoher See nicht beschafft werden.

Wir erreichten Aden, wo wir neue Kohlen nehmen mußten. Die fürchterlichste Hitze herrschte und machte Europäern jegliche Arbeit unter Deck fast unmöglich, vollends uns, den Heizern und Kohlenziehern in dem durch seine falsche Anlage berüchtigten Kesselraume des Dampfers, der seinen Namen »Orkus« mit vollstem Recht trug. Der Kapitän beabsichtigte Neger anzunehmen, um uns den Dienst während der Fahrt durch das Rote Meer etwas zu erleichtern. Leider aber meldeten sich nur wenige, und damit schwand die Aussicht auf Verminderung unserer Arbeit fast ganz dahin.

Die Reise begann wieder. In den Bunkern und vor den Kesseln wurde die Hitze fast unerträglich. Die weißen Menschen fielen wie die Fliegen. Einer nach dem andern mußte krank hinweggetragen werden. Der Oberheizer schnaubte vor Wut und trieb die wenigen noch Gesunden, zu welchen auch ich gehörte, zu fast übermenschlichen Anstrengungen. Scheltworte, ja Grausamkeiten regnete es förmlich. Ich nahm die ganze Kraft zusammen, meine Pflicht zu tun, um nur mit dem schrecklichen Menschen nicht in Berührung zu kommen.

Während ich eines Tages beschäftigt war, einen beladenen Wagen durch die Tür des Bunkers zu schieben, überfiel mich plötzlich eine Schwäche; ich mußte stehen bleiben, um mich einen Augenblick zu verschnaufen. Die Reihe der hinter mir Herfahrenden stockte natürlich … Da stürzte der Oberheizer wütend und mit erhobenem Schüreisen auf mich zu, brüllend: »Vorwärts, du Freifresser, du Hund! Wart', ich werde dir zeigen, was arbeiten heißt! Vorwärts, in des Teufels Namen!«

Ich stand da, zitternd, und versuchte, meine Last wieder in Bewegung zu bringen. Aber ich war wie gelähmt und konnte mich nicht regen.

»Um Gottes Barmherzigkeit willen! Nur einen Augenblick noch … Ich will ja … Ich kann nicht,« rief ich.

Der Unmensch schwang sein Eisen und traf mich über der Stirn. Blutüberströmt trug man mich fort. Ich regte mich nicht, die Sinne waren mir vergangen.

Wieder zu mir gekommen, fand ich die brennende glücklicherweise nicht gefährliche Wunde verbunden. Und weil ich sonst gesund war, mußte ich wieder an die Arbeit.

»Konnten Sie sich denn nicht beschwerend an den Kapitän wenden?« fragte ich.

»Nein,« antwortete Gundersen. »An Bord war ganz geteilte Herrschaft. Der Kapitän kümmerte sich nicht um das, was in dem Maschinen- und Kesselraum vorging. Man hielt uns von jeder Berührung mit der eigentlichen Schiffsmannschaft fern. Wollte ich meinen Zustand ändern, so mußte ich mir schon selber helfen … Ich hatte auch schon einen Entschluß gefaßt … Doch ich habe die Aufmerksamkeit der Herren bereits zu lange in Anspruch genommen. Sie wissen ja jetzt, woher ich die Narbe über der Stirn habe. Wollen Sie aber noch mehr hören, dann will ich versuchen, mich ganz kurz zu fassen.«

Wir baten alle, die Erzählung zu Ende zu führen.

Kapitän Gundersen fuhr fort: »Schwimmen und tauchen hatte ich von klein auf gelernt und geübt; keiner tat es mir darin zuvor. Hierauf baute ich meinen Plan, froh, in der besten Erwartung, daß er gelingen werde. Meine Arbeit verrichtete ich unverdrossen, und merkwürdigerweise ward sie mir trotz der gräßlichen Hitze leichter als bisher. – Der Blutverlust infolge meiner in rascher Heilung begriffenen Wunde schien günstig eingewirkt zu haben.

In Suez legte der Dampfer an. Dort wurden die Neger entlassen und ein Haufen Strolche, die schon darauf warteten, als Kohlenzieher engagiert. Die Kerle ahnten nicht, in welche Hölle sie geraten waren.

Nach der Abfahrt von Suez ergriff ich einen Vorwand, an Deck zu kommen, – an eine Flucht dort in Suez war nicht zu denken. Ich machte den wachehabenden Matrosen einige Kapriolen und Sprünge vor, über welche sie sich unter lautem Gelächter ergötzten, weniger aufmerksam auf ihren Dienst als sonst. Plötzlich nahm ich einen gewaltigen Anlauf und sprang in hohem und weitem Bogen, um von der mit voller Kraft arbeitenden Schraube frei zu bleiben, über die Reling hinweg in die wogende See hinein.

»Mann über Bord!« hörte ich schreien. Der Dampfer stoppte, kam aber nur langsam aus der Fahrt. Ich tauchte und blieb so lange, wie ich nur irgend vermochte, unter Wasser. Nach einer Weile kam ich vorsichtig in die Höhe und schaute mich um. Ich bemerkte, daß der »Orkus« wieder seinen Kurs verfolgte. Offenbar hatte man mich verloren gegeben, in dem Glauben, daß mich der Schlag gerührt oder ein Haifisch in die Tiefe gezogen habe. – … Ich war gerettet, schwamm an das Land und begab mich zu unserm Konsul, welcher, da ich mich durch ein Seemannsbuch legitimieren konnte, mich demnächst auf einem norwegischen Schiffe von Alexandrien nach Hause schickte. In Bergen mußte ich natürlich die gesetzliche Strafe wegen der Desertion von dem »St. Olaf« abbrummen. Aber die schändet ja nicht, wie ihr Seeleute ja alle wißt.

Im elterlichen Hause herrschte eitel Freude über meine Rückkehr. Alles Herzeleid war vergessen und vergeben. Da meine Mütze in Rangoon treibend gefunden war, so hatte man mich anfangs als tot beweint, bis ein Brief von mir aus Suez eintraf. Der Aufenthalt im »Orkus« war ein Läuterungsfeuer für mich geworden. Ich kam als ein anderer Mensch heim. Meine Eltern und Geschwister bezeigten mir durch verdoppelte Liebe, wie teuer ich ihnen war.

Ich ging bald wieder nach See, avancierte von Stufe zu Stufe und wurde auch früh Kapitän.

Daß sein Sohn nicht sein Amtsnachfolger sein konnte, war und blieb dem Vater schmerzlich. Er fand sich aber darein, erfreut, daß ich wenigstens eine – Pfarrerstochter heiratete und meine vier Schwestern alle von Pfarrern heimgeführt wurden. Vater und Mutter leben noch und freuen sich des Glückes ihrer Kinder und Kindeskinder.

… Meine Geschichte ist beendigt. Habe ich euch gelangweilt, so habt ihr's selbst zur Schuld, denn ich sollte ja erzählen … Aber Jungens, wie die Zeit hingeht! Es ist ja schon Flut. Die Dampfer auf der Elbe heulen wie verrückt. Mein Schiff soll noch verholen. Ich habe Eile, an Bord zu kommen. Lebt wohl! …«

* * *

»Gehen Sie mit?« fragte mich Gundersen. »Ich möchte Ihnen die Bilder meiner Frau und meines Heims am Hardanger Fjord zeigen. Sie schmücken die Kajüte des Schiffes.«

Ich begleitete ihn und verlebte noch einige angenehme Stunden an Bord der »India« mit dem liebenswürdigen und gebildeten Kapitän.


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