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Achtes Kapitel

Therapeutisches – Die »Finanzer« – Der Lusen – Pürstling – Verlassene Kolonien

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Um wieder einmal die Freuden eines zivilisierten Schlafgemaches und einer dito Bettstätte zu genießen, lieber Leser, werden wir vielleicht guttun, dem Rachelhause auf einige Zeit Lebewohl zu sagen und nach Mader hinabzusteigen. Ich glaube, dass ich mit meinem Vorschlag deinen Intentionen entgegenkomme, denn die letzte Nacht war nicht gut. Eines der kleinen Holzhauerlein hatte Zahnschmerzen, und wenn schon das von dieser Geißel der Menschheit veranlasste Geheul nicht eben dazu beitrug, die Heiligkeit der nächtlichen Ruhe zu erhöhen, so hatte selbige Geißel auch noch andere Folgen. Zuvörderst stimmten die übrigen Stammhalter beider Holzhauerfamilien in die Klagetöne des Gequälten ein, so dass man zeitweise meinen konnte, man befinde sich in der Nubischen Wüste und höre das klägliche Geheul der Schakale, eine Illusion, die noch durch die herrschende Tropentemperatur der Wahrscheinlichkeit näher gerückt wurde. Es sollte aber noch ärger kommen. Das eine der Weiber hatte eine wahrhaft infernalische Glut in dem mächtigen Ofen angeschürt und verließ das Zimmer. Nachdem es zurückgekommen, machte es sich wieder etwas am Ofen zu schaffen, und nach und nach begann ein beißender, knoblauchartiger Geruch, in graue Rauchwolken gehüllt, das ganze Gemach zu erfüllen. Schwer wie die »Trut« – das Alpdrücken – legte sich ein grausiger, unbeschreiblich widriger Dampf auf Brust und Kehle.

»Was zum T... schafft ihr denn da?« fuhr ich auf. Ich sah zwar nichts, denn die Rauchwolken hüllten alles in einen undurchdringlichen Schleier, aus dem unentwegt die winselnden, heulenden und kläffenden Jammertöne hervordrangen, wohl aber scholl's heraus, wie die Stimme des Gerichtes aus den Qualmsäulen von Sinais heiligen Höhen:

»Räuchern toan ma!« (Räuchern tun wir!) »Und was räuchert ihr denn?«

»In Bua'm sei Mal, dass da Wehtoan afheart in die Zent!« (Des Buben Maul, damit der Schmerz in den Zähnen aufhöre!)

»Und womit räuchert ihr denn? Mit Knosel etwa? Das ist doch die reine Pest!«

»Ah, belei (beileibe), woher denn mit Knosel! Mit Kuhdünger.«

Die zarte Mutter sprach, damit ich ja historisch treu bleibe, nicht Kuhdünger – das ist nur so eine Euphemie meinerseits, weil ich trotz mehrtägigen Aufenthaltes im Rachelhaus doch gerne salonfähig bleiben möchte. Das Weib gebrauchte den einzig ihr zur Verfügung stehenden Ausdruck ...

Die Räucherung dauerte geraume Zeit, und als ich's nicht mehr aushalten konnte, flüchtete ich auf das duftige Heu des Bodens, und selbst dahin drang durch die Ritzen des Gebälkes der aromatische Duft und das Jammern des also ärztlich Behandelten.

Diese Nacht war entscheidend. In Mader werden wir nicht lange verweilen, lieber Leser; waren wir ja doch schon dort und dürfen wir beileibe nicht in die verhängnisvollen Fehler großer Männer verfallen, die nach ausgestandenen Mühseligkeiten und Strapazen sich dem Wohlleben hingaben, das sie entnervte, wie weiland dem üppigen Capua die karthagischen Helden oder den Gärten der schönen Armida die tapfersten Recken der Kreuzzüge, die unüberwindlichen Tankred. Ich will zwar nicht behaupten, dass »die Mader« ein Capua sei oder dass eine bezaubernde Armida uns dort ihre üppigen Arme erschlösse; mit dem Leben im Rachelhause verglichen, ist jedoch die alte Resonanzholzsäge mit ihren Wirtshäusern und ihrem Försterpalast doch ein Ort des Luxus und des weichlichen Wohllebens.

Also fort aus der Nähe dieses sinnbestrickenden Aufenthaltes, wo man sogar ein Glas Bier in Gesellschaft der lustigen Grenzaufseher und der biederen Forstleute trinken kann. Diese Zeilen werden gewiss in die Hände der Herren Revierförster gelangen, die einander auf diesem exponierten Posten ablösten und von denen einer liebenswürdiger war als der andere. Mögen sie dieselben herzlich grüßen und ihnen nochmals für all die Freundlichkeit danken, die sie mir und so vielen mehr oder minder gedankenlosen Böhmerwaldbummlern angedeihen ließen. Wie gerne wäre ich oft geblieben, aber es ging nicht; ist es ja doch meine Pflicht, hinauszustürmen in die Wildnis und meinen freundlichen Leser gerade da recht herumzuführen, wohin die wenigsten Leute kommen; sonst wäre ich ja in meinem lieben Eisenstein geblieben, wohin so viele die Nase hineinstecken und dann so Erbauliches von dem schönen Böhmerwalde erzählen wie der gleich in der zweiten dieser harmlosen Skizzen erwähnte Prager Hausherrnsohn, der seine Parnassien noch immer so hochhält.

Schließ dich also fest an mich an, lieber Leser, widersteh wacker den Sirenenklängen, die dich hier festhalten möchten, und wandere mit mir auf der neuen Straße gegen Pürstling. Die Finanzer gehen heute auch hin, und da werden wir lustige Gesellschaft haben. Die armen Jungen mit den grünen Röcken, sie werden so vielfach scheel angesehen und haben doch einen so schweren Dienst! Hinaus müssen sie bei jedem Wetter, und die bayerischen Schwärzer sind kühne, verwegene Gesellen. Wohl mancher von den Grünröcken ist nicht mehr lebend heimgekehrt in seine mehr als einfach ausgestattete »Kaserne«; wohl manches junge Herz traf die tückische Kugel, und die Gebeine modern tief drinnen im grünen Wald unter Heidekraut und Wacholdergestrüpp, beweint von fernen Lieben, welche wohl niemals das letzte Bett des einsam Dahingeschiedenen gesehen haben. Wer sollt es ihm verübeln, dem jungen Blut, wenn es die tötende Einsamkeit durch mancherlei munteres Fest bei schäumendem Pokal, durch mitunter leichtfertige Liebesaventuren erträglich zu machen sucht. Und welch sonderbare Ansichten sind über die armen Grenzwächter im Schwung! Ich habe mich selbst zu wiederholten Malen überzeugt, dass sie brav und treu sind, ihren Dienst ernst nehmen und dass Bestechlichkeit ihnen gewiss nicht nachgesagt werden kann; die meisten gingen lieber zugrunde, als dass sie trotz ihrer kärglichen Besoldung eine unredliche Aufbesserung ihrer Lage suchen würden. Mir fällt da gerade eine lächerliche Geschichte ein, die hier stehen möge, um zu beweisen, was das Volk für Ansichten über die »Aufseher« zu entwickeln pflegt.

Da kamen vor einiger Zeit Missionäre nach Rehberg und hielten da ihre gewöhnlichen Bußpredigten, die wahrlich gar oft am Platze sind. Nach einer solchen Predigt kam ein Bauernbursche zu einem der geistlichen Herren und verlangte dringend, mit demselben zu sprechen. Er berief sich auf die Worte desselben, die er gesprochen: »Wenn jemand von euch noch Zweifel hegt darüber, was ihr hier vernommen, oder wenn jemand mich nicht recht verstanden hat, so komme er zu mir, und ich bin gerne bereit, ihm fernere Aufklärung zu geben.«

»Herr Hochwürden, Herr Missionärpfarrer«, sagte der Bursche, »ich verstehe alles, was Sie gesagt haben; nur eins möcht ich wissen. Was ist das, ein unnatürliches Laster?«

Diese naive Frage brachte den guten Pater einigermaßen in Verlegenheit; er versuchte, so gut es ging, den Wissbegierigen über die Art dieses Lasters aufzuklären. Das immer verständnisinniger aufleuchtende Auge des Bekehrten ließ endlich keinen Zweifel übrig, dass es zu tagen anfing in seinem Gehirne.

»Jetzt versteh ich, Herr Hochwürden, Herr Missionärpfarrer« platzte er plötzlich los. »Das ist zum Beispiel so: Meine Schwester hat einen Finanzer zum Liebhaber, und das ist ein unnatürliches Laster.« Die Geschichte schweigt darüber, ob der »Missionärpfarrer« seinen Interpellanten für hinlänglich belehrt hielt.

Der Weg nach Pürstling, heute eine fahrbare Straße, die der Fürst Schwarzenberg herstellen ließ an Stelle des unsagbaren, dem ausgetrockneten Bett eines Gießbaches gleichenden verhältnismäßig breiten Pfades, möge hier unbeschrieben bleiben. Die Szenerie ist die schon oft geschilderte des hohen Böhmerwaldes. Die neue Straße führt uns durchaus im Tal des Lusenbaches aufwärts, an einer Holzhauerkolonie vorbei nach dem kalten, im Winter von eisigen Stürmen durchtobten Plateau von Pürstling, das namentlich im Winter durch seinen unglaublichen Temperaturwechsel im Laufe eines einzigen Tages berüchtigt ist. Während am Morgen das Thermometer 20 Grad unter Null aufweist, steigt es in den ersten Nachmittagsstunden auf 15 und mehr Grad über den Gefrierpunkt, in späterer Stunde brechen dann oftmals grausige Eisstürme herein, welche die Temperatur abermals um 25 Grad herabdrücken. Vielleicht bin ich zu subjektiv, auf mich aber machte das Pürstlinger Hochplateau den Eindruck, als ob namentlich diese Gegend des Böhmerwaldes zur Verkarstung hinneige. Die Verwüstungen, welche die Stürme hier angerichtet, sind geradezu entsetzlich, und setzt einmal die heulende Windsbraut ernstlich ein, so fegt sie sogar das elende Gestrüpp fort, das die Berglehnen bedeckt. Das Aufforsten ist hier mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, und jeden Sommer kommen zahlreiche Arbeiter, häufig Mädchen und Weiber, herauf, um dieses mühselige Geschäft zu besorgen; selbst die tief liegenden Ortschaften des böhmischen Stachau und Zdikau liefern ein beträchtliches Kontingent hierzu. Mühselig, sagte ich, ist dieses Geschäft und der freundliche Leser wird es mir glauben, wenn ich ihm sage, dass im Juni gar oft noch Schnee hier liegt und der oben erwähnte Eiswind durch Wald und Hang braust.

Der Lusen, den man erst ganz nahe von Pürstling zu Gesichte bekommt, ist ein rauer Patron mit seinem weißen, zerklüfteten, verwitterten Haupt, rauer und wilder noch als der etwas höhere Rachel. Der brausende Bach, der seinen wald- und filzbedeckten Flanken entquillt, ist der Quellstrom der Wotawa. Dunkle Sagen gehen über den geheimnisvollen Berg und das viele Gold, das er in seinem Schoße birgt und von dem er jährlich eine bestimmte Menge dem goldsandführenden Wasser abgibt, welches das kostbare Metall hinab trägt ins Vorgebirge und ins flache Land, das glänzende rote Metall, dem so viele Städte längs des Flusslaufes ihr Dasein verdanken. Bergreichenstein, Schüttenhofen, Horaschdowitz, Strakonitz und Pisek, sie alle, die Städte an der »Otava kriva zlatonosna«, wurden einst erbaut als sukzessive weitergreifende Etappen dieses altböhmischen Kaliforniens. Wo sind sie, die Tage jener grauen Zeit, wo die Hügel entstanden aus aufgeworfenem Sand, die den Lauf des Flusses so charakteristisch gestalten! Noch 1826 grub das Ärar in Bergreichenstein Gold, noch heute führt es der Fluss; es ist jedoch eingesprengt in das Quarzgeröll, und seine

Gewinnung ist bei den heutigen Arbeitslöhnen zu kostspielig.

Doch die Gnomen sollen noch leben, tief drinnen im Bauche des Lusen, und es wird eine Zeit kommen, wo sie wieder eine mächtige Ader des glänzenden Metalls, das so viel Gutes und Böses in die Welt gebracht, abbauen und den braunen Wogen des Flusses zuführen werden. Dann wird eine neue Zeit des Reichtums kommen über das ganze Böhmerland, eine wahrhaft goldene Zeit, die ungeahnte Schätze zutage fördern wird. Und auf den Bergzinnen des Böhmerwaldes werden herrliche Schlösser erstehen, mit schlanken Türmen, gleich den Fichten seines Hochwaldes. Die arm und niedrig gewandelt vor dem Herrn, sie werden besonders erhöht werden. Das walte Gott!

Wir haben diesmal den neuen Weg von Mader gewählt, um nach Pürstling zu gelangen; es existiert aber noch der alte, den ich in meiner Jugend so oft gewandelt. Der geht nicht im Tal, sondern bergauf, bergab, gradaus. Das wäre an und für sich nichts Sonderbares, denn unsere Vorfahren waren gleich uns überzeugt, dass der Luftweg stets der nächste ist, und durchdrungen von der Wahrheit des geometrischen Satzes, dass zwei Punkte nur durch eine einzige Gerade, wohl aber durch unzählig viele krumme Linien verbunden werden können, gaben sie sich in der Regel nicht viel Mühe, die am besten entsprechende krumme ausfindig zu machen, sondern wählten die »Gerade«, wenn auch nur in Bezug auf die Vertikalebene; die Horizontalebene ignorierten sie gewöhnlich. Auffallend ist aber, dass neben dem alten Wege hie und da Spuren eines noch älteren zu sehen sind, freilich nur wenig erkennbar und fast ganz verwachsen. Diese Spuren, lieber Leser, sind die Überreste des einst so wichtigen goldenen Steiges oder vielmehr eines der goldenen Steige, die an mancherlei Orten über das Gebirge führten. Wohl magst du dich zurückversetzen in jene alte Zeit, wo die Glöcklein der schwer beladenen Saumtiere durch die endlose Waldwüste klangen, die rechts und links vom Pfad viele Meilen weit sich erstreckte. Du magst wohl mit einer Art Wehmut der Zeit denken, wo die Natur so unentweiht hier schaffte und waltete, wo heiliger, stiller Friede über dem hehren Urwald lag. Friede! du herrliches Wort, du schönstes, das wir haben – aber dein Schall ist leer!

Sieh, lieber Leser – hier ist noch ein alter Baum stehengeblieben, sie haben Ihn nicht gefällt, die gierigen Menschenkinder, weil sein Stamm voll Auswüchse ist, ein wahrer Kretin voll Kröpfe unter den edlen schlanken Fichten. Dieser Baum könnte dir vielleicht ein harmloses Geschichtchen erzählen über eine kleine Exekution die in seiner Nähe, vielleicht zwischen seinen knorrigen Ästen vorfiel. Die Straßenpolizei ist hier strenge gewesen, und Übertretungen gegen die Saumpfadgesetze wurden summarisch und rasch gesühnt. Es gab am Wege kleine Hürden, wo jeder Vorübergehende irgendetwas an Nahrungsmitteln niederlegen musste. Tat er dies nicht oder nahm er ohne Not, aus bloßer Habgier von den vorgefundenen Vorräten etwas weg, so wurde er unnachsichtlich auf dem ersten besten Baum so lange beim Hals aufgehängt, bis er tot war. So wenigstens besagen alte Überlieferungen, die hin und wieder sich noch im Gedächtnisse des Volkes erhalten haben.

»Das ist ja ein Dorf!« rufst du verwundert aus. Richtig, da ist so eine alte Holzhauerkolonie, Gott weiß, wie sie einst hieß. Du kannst Studien daran anstellen, wie ein verlassenes menschliches Heim wieder ganz zur Wildnis wird. Niemand bewohnt diese Hütten mehr, junge Wildlinge von Fichten, dichtes Himbeer- und Heidegestrüppe entwächst dem ewig feuchten Boden zwischen den Hütten, erfüllt alle Lücken und Ritzen zwischen den roh zusammengezimmerten, bereits morschen Balken und fängt sogar an, von den Dächern Besitz zu ergreifen.

Selbstverständlich ist diese in Moder hinsinkende einstige Ansiedelung wegen nächtlichen Spukes verrufen. Feurige Flammen sollen bisweilen aus den leeren Fensterhöhlen entsteigen; was sie bedeuten, wusste mir niemand zu sagen.

So, mein lieber Leser – jetzt wären wir in Pürstling. Der Herr Förster, dessen Liebenswürdigkeit ich persönlich kennengelernt habe, wird uns seine Gastfreundschaft nicht versagen für die eine Nacht und gibt uns jemanden mit, der uns morgen auf den Lusen hinaufführt und von da nach Buchwald.

Wir sind also in Pürstling neben dem Rachelhaus, der einsamsten menschlichen Wohnung im Böhmerwald. Eine melancholische und doch in ihrer Art herrliche Aussicht vom Forst- oder vom Hegerhaus gegen Süden. Der Lusen liegt vor uns, das Haupt in bläuliche Dämpfe gehüllt. Unmittelbar vor uns grüne Wiesengründe und rechts und links davon der Filz mit graugrünem Kleid aus Knieföhren. An Sommermorgen entstehen aus ihm weiße, dichte Nebel, welche wogen wie ein tückisches Meer, bis die Sonne sie emporzieht zum blauen Himmel und sie auflöst mit ihrer sengenden Wärme.

Es ist so still hier, so tief still, dass das Rauschen des seichten Baches zehnmal verstärkt an unser Ohr schlägt.

Das Krachen eines fallenden Baumes, die Schläge der mordenden Axt dringen von weit her zu uns ...

Man lauscht, und die Gedanken kommen in tanzendem Reigen, unaufhaltsam sich drängend, froh und melancholisch, gleich den treibenden Wolken am Himmel, welche die Sonne verdunkeln und breite, gleitende Schatten auf Flur und Wald werfen; sie eilen fort, und ein Lichtstrom ergießt sich über das All, blendend, verklärend – aber andere Wolken treiben daher, und das Licht scheint vor ihnen zu laufen, rasch zu fliehen, als fürchtete es, für immer verschlungen zu werden.

Darf ich einmal meinen Gedanken die Zügel schießen lassen, lieber Leser? Siehst du, da fallen mir die modernen Reisenden ein, welche Länder und Städte im Fluge durchschwirren. In fünf Tagen wollen sie mit dem Böhmerwald von Eisenstein bis Hohenfurt fertig werden – eine Brieftaube legt in der angegebenen Zeit einen viel größeren Weg zurück und hat noch den Vorteil, die ganze Gegend weit und breit aus der Vogelperspektive zu überblicken.

Sonderbare Reisende das! Sie wählen gewissenhaft die Wege, welche die Reisebücher angeben, speisen und schlafen in den ihnen vorgedruckten Restaurants und Einkehrhäusern, nehmen da eine Kirche, dort einen Aussichtspunkt in Augenschein, wohlgemerkt, wenn er nicht zu weit abseits liegt von der im Vorhinein festgesetzten Route, kehren dann auf Flügeln des Dampfes zurück und sind stolz, eine Reise gemacht zu haben, obwohl in dem Augenblick, wo sie den Bahnhof verlassen, um zu ihrer Tagesbeschäftigung zurückzukehren, die empfangenen Eindrücke längst verschwommen, ja verwischt sind. Ich kenne einen, der in Rom war und sich rühmte, binnen fünf Tagen sämtliche Kirchen, Museen und Kunstsammlungen der Ewigen Stadt »in Augenschein genommen zu haben«, worauf er wieder fortfuhr. – Zu Hause angekommen, schimpfte er über das Klima, über Land und Leute, kurz über alles; er musste es ja wissen, er war ja dort gewesen! – Mein armer, einfacher Böhmerwald, du trautes Heim meiner Väter! Geht's dir nicht ebenso? Da kommen sie hin, preisen deine Schönheit, ohne sie gesehen zu haben; machen Witze über deine Bewohner, ohne mit ihnen mehr verkehrt zu haben, als dass sie dort jemanden fragten, ob dies der rechte Weg nach Kuschwarda sei oder sonst wohin!

Um das, was das Leben diesen Menschen, an denen sie vorbeifliegen, für Freuden und Kämpfe bringt, um das sich zu kümmern fällt ihnen nicht ein. Der Puls des Lebens ist für sie nicht fühlbar; kalt ist ihr Herz und leer ihr Sinn. Was kümmert sie's, wie's früher hier war und wie es in der Zukunft sein wird – Sie waren da, und hiermit basta!

Und erst die Sommerfrischler! Glücklicherweise haben sie erst den Rand okkupiert, und tiefer hinein getrauen sie sich ebensowenig, als sie ihr Sommerzelt an den Ufern des geheimnisvollen Lualaba im Innern des Kongostaates aufschlagen würden. Man muss sie beobachten, diese Schwärmer für Kieswege und billige Pensionate, die keinen Tag ohne ihre gewohnte Suppe leben könnten und die höchstens Interesse zeigen für unsere armen bunten Forellen, unter denen sie grauenhaft aufgeräumt haben. Wie frei war es früher unter den grünen Tannen und Fichten, an den stillen Seen und rauschenden Bächen, und jetzt, wie gespreizt geht es zu! Reine Karlsbader Promenadetoiletten, herrliche Tournüren, reizende Hütchen und junge Herren mit Schnabelschuhen, Nasenkneifern und Claquehüten. Aber im Böhmerwald waren sie alle! Er fängt an, modern zu werden das ist das Ganze!

Doch ich wollte ja nicht bitter werden; ich weiß, dass viele mit aufrichtigem, liebendem Herzen kommen, mit offenem Sinn für Gottes unentweihte Natur. Oh, die sind uns willkommen, die werden auch ein Herz mitbringen für unser armes Volk und dauerndes Interesse für unser leider noch lange nicht genug gewürdigtes Hochland. – Sollte es mir gelungen sein oder noch in der Folge gelingen, jenes Interesse im Herzen wenigstens eines Teiles meiner Leser zu erregen, so erachte ich meine Aufgabe für gelöst. Politische Aspirationen liegen mir fern, die einzige, die ich hege, ist die, ein Wort des Friedens mitzureden in diesen ungemütlichen Zeiten: was wir hier oben am wenigsten brauchen könnten, wäre die Entfesselung wilden Rassenhasses, ein Unglück, das uns, wie ich unsere Böhmerwaldbevölkerung kenne, wohl erspart bleiben wird.

Doch kehren wir zurück zu unserer Bergpartie. Der Lusenaufstieg ist entschieden beschwerlicher als die Besteigung des Rachels; natürlich hängt viel vom Wetter ab, namentlich solange der Weg durch die waldigen und sumpfigen Hänge aufsteigt. Der letzte Teil des Weges führt über wild zerrissenes Granitgestein. Tiefe Spalten, oft von knorrigem Wurzelwerk, kriechendem Bärlapp und Heidegestrüpp verräterisch maskiert, hemmen häufig den Schritt. Einen eigentlichen Pfad gab's früher nicht, man musste zusehen, wie man über das Gestein wegkam; ich machte vor reichlich 20 Jahren den letzten Teil des Weges buchstäblich auf allen vieren und präsentierte mich nach meiner Rückkehr im Forsthause mit den unter solchen Verhältnissen unausweichlichen Havarien in der Kleidung. Die Wälder auf der bayerischen Seite waren damals von unvergleichlicher Majestät und übertreffen auch heute noch die der böhmischen an imposanter Vegetationsfülle bedeutend. Schwarz lag er da, der stille Urwald mit seinen dunklen Fichten, seinen faulenden Rauen und graugrünen Bartflechten, in schwermütiges Schweigen gehüllt. Der Blick von der Höhe herab zeigte so manche vom Sturm abgebrochene, vom Blitz zerschmetterte Spitze – doch genug davon, ich habe den Urwald ja bereits sattsam geschildert.

Nahe am Gipfel schritt mein Fuß über eine schmale schwarze Spalte; wie das Brausen eines fernen Meeres drang ein Rauschen an das horchende Ohr – ist Wasser unten tief im Schoße des Berges, oder rauscht ein Luftzug? Wer möchte es ergründen? Meine Begleiter behaupteten das letztere. Man erzählte mir auch eine traurige Geschichte von einem Schwärzer drüben aus Heinrichsbrunn, einem ungemein verwegenen Patron, den hier oben sein Schicksal ereilte. Er hatte, ich weiß nicht mehr, ob in Buchwald oder sonst wo an der Grenze, wie schon oft zuvor, ein Renkontre mit den Grenzjägern gehabt. Diesmal war die Sache jedoch schlimm ausgefallen. Nicht nur dass er den einen seiner Verfolger, einen Familienvater, über den Haufen schoss, er wurde auch selbst durch einen Streifschuss im Gesichte gezeichnet und, trotzdem er sein Antlitz geschwärzt hatte, von den übrigen erkannt. Über Requisition der österreichischen Behörden sollte er drüben in Bayern, wohin er geflüchtet, in Haft genommen werden. Die Gendarmen umzingelten seine Hütte und verlangten Einlass. Der Verfolgte wehrte sich jedoch mit dem Mute der Verzweiflung. Einer der Gendarmen blieb tot am Platze, ein zweiter wurde verwundet; der Schwärzer selbst schlug sich durch, erreichte den Wald und entging für den Augenblick der weiteren Verfolgung. In den Wildnissen am oberen Reschwasser zwischen dem Lusen, dem Hohen Filz und dem Fahrenberg fand er sichere Schlupfwinkel und behauptete sich, trotzdem er den ganzen Sommer über wie ein wildes Tier gehetzt wurde. Es ist bezeichnend, dass ein Schwärzer, ein Wilddieb, ja ein offenkundiger Räuber unter dem Landvolke stets Herzen findet, die ihn weniger als einen Empörer gegen Recht und Gesetz anzusehen geneigt sind denn als einen Unglücklichen, ja als einen Märtyrer und Helden. Dieser Satz gilt hier geradesogut wie in den Abruzzen, am Balkan und am Kaukasus.

Wohl überwachte man die Familie des Geächteten, doch konnte man nicht hindern, dass anderweitige Leute ihn mit Nahrungsmittieln, Munition und dergleichen versorgten. Wochen-, ja monatelang bezog der Mann höchstens eine Hirten- oder Holzhauerhütte als Nachtquartier; indessen machte sich der wetterharte Geselle wenig daraus, wenn er auch diese nicht hatte, wenn das nicht immer blaue Firmament sein einziges Dach war.

Als aber die Tage kürzer wurden, als eisige Stürme zu toben anfingen, den schneereichen Winter verkündend, da wurde es auch ihm zu ungastlich unter den stöhnenden Fichten des Hochwaldes. Häufig stieg er nun herab nach den Waldhäusern oder nach Finsterau, selbst bis Alt-Schönau, und quartierte sich bald da, bald dort ein, vorsichtig, wie ein Fuchs, auslugend, ob die Luft rein sei. Obgleich ihm die Gendarmen mehrfach auflauerten, entging er ihnen jedes Mal, denn es gebrach ihm nicht an Warnern.

Da fiel der erste Schnee. Unauffällig zog eine größere Abteilung Gendarmerie einen Kreis um die Gegend, wo die frische Spur die Anwesenheit des Geächteten verriet; zuvor avisierte man die kaiserliche Grenzwache, damit diese seine Flucht auf böhmisches Gebiet verhindere. Ein regelrechtes Kesseltreiben begann. Mit der Schlauheit einer Wildkatze zog sich der Getriebene durch Wald und Sumpf zurück; umsonst, seine Spur verriet ihn; sie führte auf den Lusen, in dessen schwer zugänglichem Felsenlabyrinth er sich zu verteidigen gedachte. Mit dem größten Aufwand von Vorsicht folgten ihm die Gendarmen. Da, nahe dem Gipfel, musste er zwischen den Felsen irgendwo stecken.

Man begann eine regelrechte Belagerung, nachdem man ihn aufgefordert hatte, sich zu ergeben. Totenstille herrschte ringsum. Die Nacht brach an, und lockere Schneemassen schüttelte der Himmel herab. »Er muss verhungern oder erfrieren! Nur aufgepasst, dass er uns nicht durchschlüpft!« ermahnte der Wachtmeister seine Leute.

In ihre Mäntel gehüllt, hinter Felsen gegen die tückische Kugel des Verzweifelnden und gegen den fallenden Schnee gedeckt, vollbrachten die Gendarmen eine wahrlich nicht beneidenswerte Nacht in der scharfen Luft dieser Höhen. Nichts Verdächtiges regte sich.

Am anderen Tag versuchte der Mörder sich durchzuschleichen; es gelang ihm aber nicht, und er musste in seinen Schlupfwinkel zurückweichen. Abermals verging eine Nacht.

Da, gegen Abend des dritten Tages, erschien die Gestalt des Belagerten hinter einem Felsvorsprung. »Ich will mich ergeben!« rief er. »So wirf das Gewehr fort und komm!« lautete die Antwort. Zugleich erschienen an mehreren Punkten die Gendarmen, das Gewehr im Anschlag. Blitzesschnell riss der Verfolgte seine Waffe an die Wange, und ein Schuss krachte; das Echo hallte donnernd von Berg zu Berg, von Felsenwand zu Felsenwand. Unmittelbar darauf krachte die Salve der Gendarmen. Als aber der Pulverdampf sich verzog, war die Gestalt des verräterischen Gesellen verschwunden. Die Gendarmen drangen vor, und als sie zur Stelle kamen, gähnte ein schwarzer Riss in dem weißen Schnee ihnen entgegen, ein tiefes, unermessliches Loch. Der Fuß des Schwärzers hatte die trügerische Schneedecke betreten, und er war hinab gesunken in ein schmales, grausig gähnendes Grab.

Die Gendarmen kehrten heim; zwar brachten sie den Gesuchten nicht mit, doch war seine Blutschuld gesühnt. Dass er nächtlich umgeht und mit der Windsbraut um die Wette heult und jammert, versteht sich von selbst; das tut hier jeder, der auf plötzliche Art aus dem Leben scheidet. Wo würden sonst die Töne herkommen, welche der sonst so schweigsame Wald zuweilen von sich hören lässt?

Vom Gipfel des Lusen genießt man eine ähnliche Aussicht wie vom Rachel aus; doch ist der Kubani besser sichtbar und die Gegend gegen Südost mehr offen. In nächster Nähe, im Kreis herum, gewahrt das Auge den Rachel, den Plattenhausen, den Spitzberg, den hohen Kogel des Antigel, den einst waldbewachsenen Schwarzberg, den Hohen Filz und drinnen weiter in Bayern den Steinberg.


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