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Zweites Kapitel

Die künischen Freibauern – Rehberg – Gasbeleuchtung und Soldatenpresse

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Wir verlassen Stubenbach, sonst sehen oder hören wir noch manches in diesem Regenwinkel Europas, was uns aufhält, und wir kommen nicht weiter.

Langsam aufsteigend geht der Weg gegen Süden, über Kruhberg nach Neubrunn, das hoch oben steht am Gebirgsrücken, der die Wasserscheide bildet zwischen Kieslinger und der Wydra, dem zweiten Quellfluss der Wotawa. Links hinunter eröffnet sich die Aussicht gegen Großhaid, das noch vor kurzem zur Gemeinde Rehberg gehörte.

Das Vieh weidet so ruhig unten im Tal, und der Schall seiner Glocken klingt so traut herauf durch die klare Luft, so tiefer Friede liegt über der Landschaft, dass man meinen möchte, es könne keine Kämpfe geben in diesem stillen Erdenwinkel. Der Schrei eines Raubvogels, der aus hoher Luft hernieder tönt, reißt dich aus deinen Gedanken; er kündet anderes als Frieden.

Jäh biegt ein Fußsteig nach links ab; ehe du ihn betrittst, stößt dein Fuß gegen ein etwa klafterlanges Brett, einige andere liegen nebenher. Wie kommen sie her, diese Bretter, auf die Straße? Warum lässt man sie hier faulen? Denn tatsächlich sind welche dabei, die schon im Zerfalle begriffen sind. – Ihr Vorhandensein, lieber Freund, kündet dir an, dass du im Herzen des Böhmerwaldes bist. Einem alten Gebrauche zufolge werden hier die Bretter, auf denen die Toten gelegen sind, neben den Weg, besonders an Kreuzwege gelegt; hier bleiben sie, bis sie zerfallen, ein Memento mori für die Vorübergehenden. Die Leute wissen zumeist, wer auf ihnen gelegen; schweigend bekreuzen sie sich und gehen vorüber. Arger Frevel wäre es, sie fortzutragen oder gar sie zu irgendeinem profanen Zwecke zu benützen.

Der Steffen Toni unten im Tal war ein wüster Geselle; von ihm erzählen noch die alten Leute, obgleich er lang, lang schon unter dem Rasen liegt. Eine gewöhnliche Bauerngeschichte ist's, wie man deren zu Dutzenden in den Kalendern lesen kann; ich werde sie daher nur kurz berühren.

Am Allerseelentage wettete er, er werde eines der Bretter heimtragen und darauf schlafen; Brett sei Brett, ob man Brot darauf schlichte oder einen Toten. Lachend verließ er das Wirtshaus, und fort stürmte er in die finstere Novembernacht, ob auch den plötzlich entnüchterten Gästen vor Grauen die Haare zu Berg standen und nur zwei besonders beherzte es wagten, ihm in respektvoller Entfernung zu folgen. Heulend fegte der Sturm über Moor und Heide, und stöhnend bogen sich die hohen Fichten des damals noch unberührten Urwaldes unter seinem Wehen. Blaue Lichter tanzten im Moor, und warnend erscholl der Schrei eines Nachtvogels: »Tu's nit! Tu's fit!« Der Toni aber fasste keck ein Brett und lud es auf den Rücken; in diesem Augenblicke war's, als löste sich ein weißer Ballen aus dem finsteren Grün des Waldes, er wuchs und wuchs und glich endlich einem riesigen Haufen flatternder weißer Linnen. Von fern bemerkten's die zwei und flohen, so schnell sie die Füße trugen. Dem Toni aber wurde mit einem Male das Brett so schwer, dass er es kaum tragen konnte. Er sah wohl nichts, doch sauste es plötzlich hinter ihm drein, wie sturmgepeitschte Segel. Grauen erfasste ihn; er wollte das Brett wegwerfen, doch, o Schrecken! er vermochte es nicht, es saß wie festgewachsen.

Die Angst trieb ihn vorwärts, so schnell er konnte, und immer rauschte es hinter ihm drein. So kam er atemlos an der Kapelle unten im Tal vorbei. »Heilige Jungfrau, verzeih meinen Frevel und erlöse mich!« flüsterten in namenloser Angst in inbrünstigem Gebet seine bebenden Lippen. Es war nach langer Zeit zum ersten Mal, dass er betend den Namen der Hochgebenedeiten aussprach. Da fiel das Brett von seinen Schultern, und stille ward's um ihn herum. Er aber sank in die Knie und betete lange.

Dann ging er heim. Am anderen Tag lag das Brett wieder dort, wo er es genommen hatte. Von dieser Zeit an war der Toni wie ausgewechselt: der frömmste Mensch in der ganzen Gemeinde. Die Toten sind heilig und alles, was bestimmt ist, ihr Andenken zu wahren.

Steil geht der Weg hinab über den »Dürren Berg«, an mächtigen Steinhalden vorbei ins Tal. Erst ziemlich tief unten, gegen den klaren Stillseifenbach zu, betritt man den Wald. Drüben erhebt sich hoch und steil ein anderer Berg, mit ziemlich jungem Wald bewachsen. Das ist der »Brennte Berg«. Vor Jahren bedeckte ihn dichter, undurchdringlicher Urwald. Da häuften sich an seinen Hängen in zahlloser Menge Schlangen und jegliches Geschmeiß. Der »Schlangenkönig« erkor sich ihn zur Residenz.

Der Schlangenkönig war, wie die Leute erzählen, eine ganz ungeheure Schlange, mit der verglichen die größten Pythons und Abgottschlangen reine Blindschleichen sind. Er trug eine goldene Krone und erschien dann und wann zu nicht geringem Entsetzen der Holzhauer und Viehhirten, in Begleitung einer zahllosen Suite größerer und kleinerer Nattern.

Da fasste der damalige Richter des königl. Freigerichtes, Stadler Anteil erster Teil, im Einvernehmen mit dem Oberrichter zu Seewiesen einen heroischen Entschluss, um die Gegend von der Schlangengeißel zu befreien: während einer lang anhaltenden Dürre ließ er den Berg von allen Seiten umstellen; mächtige Haufen trockenen Reisigs, Stroh und Moos wurden aufgetürmt und dann angezündet. Der Brand teilte sich dem Walde mit, und bald standen einige hundert Joch Urwald in Flammen. Wochenlang brannte es fort, und als endlich das Feuer erlosch, stand kein Baum mehr an sämtlichen Lehnen. Die Schlangen hatten ihren Untergang in den Flammen gefunden, wohl auch ihr König; denn man hat nichts mehr von ihm gesehen. Wo nur seine Krone hingekommen sein mag; denn bis zum heutigen Tag fand man sie nicht, trotzdem man nicht aufgehört hat, sie zu suchen. Der Berg aber, gedüngt von der vielen Asche, überzog sich bald mit neuem, üppigem Anflug, und heute bedeckt ihn abermals ein schöner gemischter Wald.

Der Boden, wo du jetzt wandelst, lieber Leser, ist geschichtlich interessant; du hast ihn schon in Kruhberg betreten, dann aber wieder verlassen: du befindest dich nämlich hier auf ehemaligem »künischem« (königlichem) Freigebiet. Dieses Gebiet umfasst acht Gemeinden des sogenannten königlichen Waldhwozd, welche sich bis zum Jahre 1848 bedeutender Privilegien zu erfreuen hatten. Es waren dies die Gemeinden St. Katharina, Hammern, Eisenstraß des jetzigen Neuerner, Seewiesen, Künisch Heidel, Stadeln des Hartmanitzer, Stadler Anteil oder Rehberg und Stachau des Bergreichensteiner Bezirkes. Mit Ausnahme der südlichsten dieser Gemeinden, Stachau, die fast ganz böhmisch ist, sind die übrigen sämtlich deutsch. In den nördlichen dieser Gemeinden, die dem Verkehr mit der übrigen Welt mehr erschlossen sind, hat sich die Erinnerung an die früheren Privilegien schon ziemlich verwischt, in den südlichen, namentlich in Rehberg und Stachau, ist sie jedoch noch sehr frisch geblieben. Letzteres führt im Gemeindesiegel noch immer die Worte: Královská frejrychta Stachovská.

Über dem Ursprung dieser Gemeinden schwebt manches Dunkel, das vielleicht nie gelichtet werden wird. Ich will mich vorderhand über diesen Gegenstand in keine weiteren Erörterungen einlassen, da ich nicht imstande war, mir Quellen darüber zu verschaffen, und die verschiedenen Traditionen denn doch zu unhaltbar sind. Doch will ich die Sache nicht als aufgehoben, sondern bloß als aufgeschoben ansehen und werde nicht ermangeln, bei einer späteren Gelegenheit auf diese Frage zurückzukommen. Der Privilegien gab es mancherlei. Im Wesentlichen waren es folgende: Die Gemeinden waren frei, die Insassen niemandem untertan. Sie verwalteten sich autonom und stand einer jeden ein Richter, der sogenannte Freirichter, vor; darum führte auch jede Gemeinde den Namen königl. Freigericht. Als obere Instanz fungierte der gleichfalls frei gewählte Oberrichter von Seewiesen. Dieser sowie die Richter der einzelnen Gemeinden waren einfache, schlichte Bauern, von denen man keine weitere Gelehrsamkeit forderte; kam es doch häufig genug vor, dass diese Magistratsperson weder lesen noch schreiben konnte.

Abgaben zahlten diese Freibauern keine; der Ertrag ihrer Wälder reichte aus, um die Gemeindeauslagen zu bestreiten; desgleichen waren sie vom Militärdienst befreit, doch hatte der Richter das Recht, ein fremdes oder ein heimisches Individuum, das sich als gemeinschädlich erwies, einfach bei Nacht und Nebel abfassen und ohne weiteres nach Pisek abführen zu lassen, wo es, wenn diensttauglich, auf 14 Jahre unters Gewehr musste.

Dieses bedenkliche Recht des Richters ist wiederholt zu Willkürakten missbraucht worden, denn seinem Ermessen lag es ob, zu entscheiden, wer gemeinschädlich sei. Ich werde übrigens gleich ein Beispiel erzählen.

Jagd und Fischerei war frei, wahrlich nicht zum Vorteil der ersteren, denn Rehe gab's nie viele in den Gemeindewäldern, umso mehr Raubzeug.

Die Freibauern hatten auch das Recht, eine gewisse Anzahl Vieh den ganzen Sommer über in den fürstlichen Waldungen weiden zu lassen. Noch heute werden Ochsen, Stiere und Jungvieh zu Johanni in die Wälder getrieben und verbleiben dort bis Michaeli. Freilich besteht der Trieb nicht mehr zu Recht und ist es der gute Wille des Fürsten Schwarzenberg, der es gestattet.

Für diese und andere Rechte, die ich hier übergehe, hatten die Insassen der Freigerichte die Pflicht, die Grenze gegen etwaige feindliche Einfälle zu verteidigen und sich nötigenfalls dem Kommandanten der kaiserl. Grenzjäger – einem nunmehr aufgelösten, streng militärisch organisierten Finanzaufseherkorps – zur Verfügung zu stellen.

Es mochte gegen Ende der dreißiger Jahre sein, als eines schönen Tages der Sohn eines armen Häuslers, der, wenn ich nicht irre, in Wien studierte, zu den Ferien nach Rehberg kam. Besagter Student –nennen wir ihn Georg – war ein aufgeweckter junger Mann, voll Laune und lustiger Streiche; kam er abends ins Wirtshaus, so gab's gewiss eine Haupthetze. Eine solche kam auch am Abend vor dem 15. August – dem »großen Frauentag«, wie die Leute diesen Tag nennen – zustande. Auf diesen Tag fällt das Kirchenfest, und da muss es ja ohnehin lustig zugehen. Im Gasthaus bei der Kirche saßen die Gemeindehonoratioren – der Richter natürlich auch mit –, und Georg ließ seine Witze springen. Gespräch hin, Gespräch her, ich weiß nicht, wie man auf die Gasbeleuchtung zu reden kam, die damals erst hie und da in Einführung begriffen war. Der Richter, der über das Wesen dieser . Neuerung, die er in seiner Weisheit a priori in den schärfsten Ausdrücken verdammte, nicht die blasseste Ahnung haben mochte, denn er hatte in seinem Leben neben dem damals gebräuchlichen Buchenspan höchstens eine Unschlittkerzenbeleuchtung gesehen, sprach konsequent »Goasbeleuchtung« (Goas = Geiß, Ziege). Das war ein Lichtstrahl für Georg. Er band dem Richter ungeheure Bären auf, sprach von satanischer Tierquälerei, so dass der Richter auf den Gedanken kommen musste, man verbrenne unglückliche Ziegen bei lebendigem Leibe. Diesem Gedanken gab er auch zu nicht geringem Ergötzen des anwesenden Schullehrers und des Kaplans Ausdruck, und weiß Gott, wie lange der Spaß gedauert hätte, wenn nicht ein zufällig eingetretener Grenzjäger, der wahrscheinlich in dieser Gesellschaft sein Licht leuchten lassen wollte, den Richter aufgeklärt hätte. Als dieser sich gefoppt sah, geriet er in namenlose Wut. Ein Hagel von Schimpfworten und Drohungen ergoss sich über das Haupt des Studenten, der sich zwar bemühte, den Erbosten zu besänftigen, indem er die Sache als einen unschuldigen Scherz darstellte, endlich aber, als der Richter in seinem Toben immer weiter ging und immer gröber wurde, auch die Geduld verlor und diesem entgegendonnerte: »Es ist ohnehin eine Schande für das ganze Gericht, einen Richter zu haben, der nicht einmal schreiben kann und dem sein Weib die Hand führen muss, wenn er unter irgendetwas seinen Namenszug setzen will.«

Das war wahr, und jedermann wusste es, obgleich der Richter stets sorgfältig bemüht gewesen war, diesen kleinen Mangel seiner Befähigung vor den Augen seiner Gemeindeangehörigen zu verhüllen.

»Das ist eine ganz niederträchtige Lüge von diesem Lausbuben!« brüllte er.

»Beweiset sie, Richter, schreibt mal Euren Namen vor uns allen auf«, höhnte Georg.

Damit hatte er dem Fasse den Boden ausgeschlagen. Einen Moment hatte es den Anschein, als wolle sich der Richter auf den Verächter seiner Autorität stürzen; er bezwang sich jedoch, nahm Stock und Hut und verließ mit einer Drohung auf den Lippen die Gaststube.

Einige der Gäste lachten, andere schüttelten bedenklich den Kopf; die Gesellschaft trennte sich erst spät in der Nacht.

Der Frauentag verging in gewohnter Weise und noch zwei oder drei Tage. Da kam eines Abends atemlos ein Bauer in Georgs Elternhaus. Der Student machte sich eben zum Ausgehen fertig.

»Georg!« rief der Bauer. »Georg, wart einen Augenblick; ich habe dir etwas mitzuteilen. Heut Nacht sollst du abgefasst werden; mach, dass du fortkommst. Der Richter hat's auf dich abgesehen.«

Dem jungen Mann war der Gebrauch des Soldatenpressens nicht unbekannt; dennoch zweifelte er einen Augenblick. Er war doch nicht gemeinschädlich; einen solchen Gewaltakt würde der Richter doch nicht wagen.

»Wo willst rekurrieren?« fragte der Bauer. »Ich kann dir nur raten, augenblicklich zu fliehen. Du kennst den Richter nicht. Wenn er dir auch die »Goasbeleuchtung« verziehe, das schenkt er dir niemals, dass du ihn als schreibunkundig hingestellt hast.«

Georg entschloss sich zur Flucht. Er wählte die verstecktesten Pfade und erreichte binnen einer Stunde das Bergreichensteiner Gebiet, wo die Macht des Richters aufhörte.

Es war höchste Zeit gewesen. Als die Nacht hereinbrach, wurde es im Wald um das einzeln stehende Haus lebendig. Einige Bauern und zwei Grenzjäger umstellten das Haus. Der Richter und zwei Begleiter öffneten die nur angelehnte Türe – hier wird nichts zugesperrt – und traten ohne Umstände ein.

»Wo ist Georg?« fragte er den Alten, der ihm mit einem brennenden Buchenspan entgegentrat.

»Er ist fortgegangen; wohin, weiß ich nicht«, lautete die Antwort.

»So? Fortgegangen? Wir werden sehen.«

Das ganze Haus wurde in allen seinen Winkeln durchstöbert; selbst das Heu wurde übereinandergeworfen, natürlich ohne Erfolg. Fluchend entfernte sich endlich der Richter; Georg war offenbar gewarnt worden. »Ich werde dich schon noch kriegen!« murmelte er.

Er bekam ihn indessen nicht; denn Georg hatte in Hurkental bei den Abeles eine Zuflucht gefunden. Als etwa vier Wochen später der Richter nach Seewiesen ging, begegnete er dem Rebellen, der ihn höflich grüßte. Da der junge Herr Abele mitging, musste der Richter noch gute Miene zum bösen Spiel machen und den Gruß erwidern. Solange indessen seine Herrschaft währte, wagte Georg es nicht, das Gebiet des erbitterten Dorfpotentaten zu betreten.

Wir werden uns einige Tage hier aufhalten, lieber Leser, denn hier gibt es noch manches, was dich interessiert, Gegenwärtiges und Vergangenes. Ich empfehle dir das Gasthaus des Herrn Weber oder das des Herrn Hoffmann bei der Kirche, du wirst dort nicht schlecht aufgehoben sein, wenn du nicht zu große Ansprüche machst. Bescheiden musst du allerdings sein, denn du bist hier an der Grenze der bewohnten Welt, tief drinnen in der alten Sumava.


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