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Fünftes Kapitel

Das Rachelhaus – Eine Heiratsvermittlung – Damen am Rachel – Verirrte Holzhauer

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Wir sind die Straße fortgezogen, ohne recht zu wissen wie. – Rechts und links Wald, freilich mit Unterbrechungen und Rodungen, die alle der leidige Borkenkäfer verschuldet hat. Dann wieder Moore und mit Knieföhren bedeckte Filze, tiefe Wasserlachen, rinnende Wasseradern mit dunkel granatfarbnem Inhalt, alles so düster und melancholisch, dass es einem das Herz zusammenschnüren möchte. Da blinkt etwas hervor zwischen den Bäumen: es ist das Rachelhaus, früher eine Försterei, jetzt nur von zwei Holzhauerfamilien bewohnt. Eine einsame, traurige Wohnung! So idyllisch liegt es da, lieber Leser, dass du vielleicht die Leute beneiden möchtest, die unmöglich mit ihren Nachbarn in Streit kommen können. Was kümmert es die, was in der Welt geschieht; sie bilden eine Welt für sich, in deren Herrschaft sie sich teilen. Ach ja! Wir sind in der schönen Sommerzeit, wo das Heu auf der Wiese duftet, wo die Sonne wärmend strahlt. Aber bedenke, lieber Leser, im Oktober setzt der Winter ein und dauert bis Juni! Ein Winter voll nordischer Schrecken, doch ohne den hehren Glanz des Nordlichtes, ein Winter völliger Abgeschiedenheit, wo der Mensch, der Wut der Elemente preisgegeben, vergebens in Not und Krankheit Hilfe bei seinem Nächsten suchen würde, denn sein Nächster wohnt Stunden weit, getrennt durch Wälder und Schnee, durch bodenlosen Sumpf und sturmgepeitschte Heide.

Dann kommt nach kurzem Übergang der Sommer und mit ihm die furchtbaren Gewitter des Hochlandes. Stelle dir vor, dass einer der zahllosen Wetterstrahle, die zischend vom Himmel herniedersausen, das Heim der einsamen Leute da oben träfe und dass es hinsänke in Schutt und Asche. Was würden die Betroffenen beginnen mit ihren Familien? Wo fänden sie ein Obdach?

Und als ein Förster hier war in dieser traurigen Öde, der hatte Pflichten, schwere Pflichten. Er war seinem fürstlichen Herrn verantwortlich für die Erhaltung des Wildstandes; das angrenzende Land aber schickte und schickt uns eine Ware herüber, der gegenüber unsere noch im Embryo liegenden Schutzzölle sich ziemlich machtlos erweisen dürften: die Herren Wildschützen, die sich um die Schonzeit verteufelt wenig kümmern.

Ich verweise auf das, was ich hierüber bereits früher gesagt habe. Es gehörte wahrlich ein tapferes Herz dazu, hier auf diesem verlassenen Posten zu stehen und seines Amtes zu walten. Da war in früheren Zeiten ein Förster hier, den ich gut kannte – Kolář hieß er –, der beherbergte mich und manchen anderen, welcher kam, den Rachel zu besteigen. Seinen mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit gegebenen Aufschlüssen verdanke ich manches, was ich über diese Gegend und das frühere Leben hier weiß. Er ist seither von hier fort versetzt worden, und ich habe nicht in Erfahrung bringen können, wo er jetzt lebt. Möchten doch diese Zeilen zu ihm gelangen und ihm meinen nochmaligen Dank aussprechen. Er hatte auch eine sehenswerte Kollektion von Rehgeweihen und Schildhahnschwänzen, ein kleines Museum in der Wildnis.

Hier war es auch, wo ich mir einmal vorkam wie der kluge, vielgereiste Odysseus. Der Polyphemos, mit dem ich hier zusammentraf, war zwar weder einäugig noch von anthropophagen Gelüsten, hatte jedoch das mit dem genannten Ungetüm gemeinsam, dass er nie im Leben weder weißes noch rotes Blut der Rebe gekostet hatte. Es war ein etwa 20jähriger Holzhauerbursche aus dem Walde, der mich führte und mit dem ich den Inhalt zweier Flaschen Melniker teilte. Die Wirkung des Göttertrankes hatte zwar zur Folge, dass ich die Racheltour auf einige Stunden unterbrechen musste, weil ich den Führer hätte führen müssen, entschädigte mich aber durch die Herzensergießungen des Burschen, der ein olympisches Zutrauen zu mir gefasst hatte. Er erzählte mir, dass er eine sehr gute Partie machen könnte, da eine der reichsten Waldschönen sterblich in ihn verliebt sei, eine reizende Kleopatra, wegen der bei diversen Prügeleien schon viel Blut vergossen worden sei, da sie nicht weniger als eine Kuh, zwei Kälber, drei Ziegen und 45 Gulden als Aussteuer zu erwarten habe. Der Vater aber sei ein hartgesottener Geizhals, der von seinem künftigen Schwiegersohne eine Hütte verlange im Schätzungswerte von mindestens 250 Gulden, wogegen die seine bloß auf 210 Gulden geschätzt sei, worauf außerdem 30 Gulden Schulden haften. Ich könnte, meinte er, bei diesem Harpagon ein gutes Wort einlegen für ihn. Ich war mir zwar der Delikatesse bewusst, womit solche interne Angelegenheiten behandelt werden wollen; nichtsdestoweniger sagte ich ihm lachend meine Unterstützung zu und habe auch Wort gehalten.

Der Harpagon ließ sich erweichen und gab dem Burschen die Tochter, die er in einer anderen Gegend infolge früher stattgefundener delikater Vorfälle, aus denen man aber hierzulande nicht viel Wesens macht, ihm hätte ohnehin geben müssen.

Als ich ein Jahr später wieder herkam, war mein ehemaliger Führer bereits verheiratet und glücklicher Vater einer Tochter. Er dankte mir gerührt für meine damalige Fürsprache und gestand, dass er am Ziele aller seiner Wünsche sei.

Man bekommt jetzt im Rachelhause Bier, Brot, Eier, Butter; was kann man sonst noch in dieser Einöde verlangen?

Ich will den guten Leuten, die hier wohnen, nichts Übles nachsagen: sie werden dich freundlich aufnehmen und dir ihr Bestes bieten. Willst du aber hier übernachten, so empfehle ich dir zuvor tüchtige Müdigkeit und kann auch nicht umhin, ein wenig für den großen Menschenfreund Zacherl, der durch seine Präparate diversen kleinen Plagegeistern mit und ohne Flügel den Kampf ums Dasein ein wenig erschwert hat, Reklame zu machen. Denn nicht eines jeden Menschenkindes Haut ist gleich der meinigen, der ich von Jugend auf diese Wildnisse durchstreift habe, hart und unempfindlich genug, um sonder Beschwer den zahllosen kleinen Ungetümen als willkommener Äsungsplatz zu dienen. Dies zur Warnung, damit niemand sich über mich beklage, den etwa die Sehnsucht nach dem Einblick in Gottes heilige, von unserer hochgebenedeiten Zivilisation noch unentweihte Natur hierher zöge. Ich mag in schlaflosen Nächten von niemand verflucht werden.

Vor nicht gar langer Zeit verirrten sich auch zwei elegante Stadtdamen hieher, die eine flink und schlank wie eine Antilope, die andere von der allgütigen Mutter Natur mit etwas umfangreicheren Reizen ausgestattet. Ich traf die Damen in Rehberg und führte sie dort ein wenig im Gebirge umher. Die verhältnismäßig leichten Touren, die sich ihnen da boten, machten in ihnen den Wunsch rege, tiefer ins Gebirge einzudringen und namentlich den berühmten Rachelberg zu besteigen. Besonders die Schlanke war ganz Feuer und Flamme für dieses Projekt. – Ich nahm mir die Freiheit, auf die Beschwerlichkeit der Tour und den völlig mangelnden Komfort hinzuweisen, auf die

Notwendigkeit, sich eventuell mit einem Nachtlager im Rachelhaus, auf Stroh oder Heu gebettet, zufriedenstellen zu müssen.

»Das ist's ja gerade, was ich wünsche!« rief die Schlanke, »das wird ja gerade recht lustig sein. Und den Sonnenaufgang will ich sehen vom Rachel aus; das muss ein erhebendes Schauspiel sein!«

Die Umfangreichere machte eine kleine Grimasse, als sie von einem Lager hörte, auf dem ihr junonischer Leib wohl noch nie geruht haben mochte. Als ich aber bescheidentlich anfragte, ob die Damen wohl Zacherlpulver hätten und ob sie auch bedacht hätten, dass in der Stube auch der Holzhauer nebst Frau und Kindern schliefen, verlängerte sich ihr holdes Antlitz und wurde um eine Nuance röter; dann erfolgte ein lakonischer Dialog zwischen beiden, dem ich aus angeborener Bescheidenheit nicht zuhörte und wobei die Junonische allem Anscheine nach die konservative Richtung vertrat. Das Fazit war, dass man von der Besichtigung des weihevollen Sonnenaufganges Abstand nahm, die Besteigung des Berges aber dennoch beschloss.

Die Damen nahmen einen Leiterwagen, einige Herren schlossen sich an, und fort ging's von Rehberg um fünf Uhr früh auf unsagbaren Wegen über Kinitz-Tetau und Mader zum Rachelhaus. »Wie lustig! Wie herrlich!« erklang's im Jubelton in die frische, würzige Morgenluft hinaus. Die Schlanke klatschte in die Hände, die Üppige lächelte vergnügt trotz der gewaltigen Stöße, die sie jeden Augenblick bekamen. Es mochte bereits 11 Uhr sein, als die Gesellschaft im Rachelhause anlangte. Nach kurzem Aufenthalte ging es von da ab zu Fuß dem gewaltigen, weithin sichtbaren Kogel zu.

Lieber Leser! Der damalige Sommer war auch im Gebirge so trocken wie seit langen Jahren nicht. Dieser Umstand allein machte es den Damen überhaupt möglich, das sumpfige Terrain zwischen dem Rachelhaus und der etwa eine halbe Stunde hinter demselben gelegenen Landesgrenze zu passieren. In anderen Jahren wäre ihnen dies absolut unmöglich gewesen. Bis hierher, durch den gewaltigen Kameralwald, geht der Steig fast eben dahin; stellenweise bezeichnen dicht aneinandergelegte Prügel, über die man hinschreiten muss, den Pfad. Eine unbeschreiblich üppige Vegetation charakterisiert diese Waldpartien. Riesige Rauen – vom Wind gefällte Bäume – rechts und links vom Weg, auf ihnen üppig empor wucherndes Unterholz, fast mannshohe Farrenkräuter, meterhohes Gras, mehrere Quadratklafter umfassendes Baumwurzelgewirr, das der Wind aus dem Boden gehoben, einzelne Reste des noch vor kurzem hier bestandenen undurchdringlichen Urwaldes üben einen mächtigen Zauber aus auf das Gemüt des Naturfreundes. Ob sie wohl denken können, diese Riesen einer vergangenen Zeit, deren dunkelgrüne, von grauen Flechten wie von einem greisenhaften Bart bewachsene Häupter scheinbar so verständig sich im Winde wiegen, als nickten sie dir grüßend zu? Gesehen haben sie viel in der langen, langen Zeit, seit sie da stehen – denn sie wachsen langsam hier oben in der rauen Luft und setzen fast mikroskopische Jahresringe an, da sie ja reichlich acht Monate im Wachstum pausieren müssen; Bären, Luchse und Wölfe trieben sich hier herum in kaum halbvergangener Zeit, Rudel von Hirschen zogen im Sommer hier herauf. Mancher Kampf zwischen Jägern und Wildschützen, Grenzjägern und Schwärzern wurde hier ausgefochten, und wohl manches Menschenkindes Gebein modert hier im tiefen Moos: aber Tournüren, wahrhaftige Tournüren und keck wehende Straußfedern an Damenhüten – nein, die mag mancher der Riesen wohl nie gesehen haben!

Die Damen aber fanden wohl nicht häufig Gelegenheit, sich im Gehen ein wenig umzusehen, denn sie konnten ihre Blicke kaum von ihren Füßen abwenden und von dem tückischen Terrain, dessen Wurzelgewirr recht indiskret nach ihren Garnituren und Volants griff, wovon bald kühn geformte Fransen herabhingen.

»Ich möchte doch gerne wissen, was das eigentlich für ein Vergnügen ist, sich durch dieses Dickicht durchzuwinden«, unterbrach die Junonische das hehre Waldesschweigen, schürzte sich ein wenig höher und trocknete den perlenden Schweiß mit ihrem Spitzentuch, dessen feines Londoner Parfum den Harz- und Modergeruch auf einige Augenblicke zurückdrängte.

»Ach, gehen Sie, das ist doch wunderbar!« rief unverdrossen die Schlanke und eilte lustig an die Spitze des Zuges, den anderen stets um 20-30 Schritt voraus.

So erreichte die Gesellschaft die Landesgrenze, und von da an begann die eigentliche Steigung. Immer niedriger werden die Bäume, immer lichter der Bestand. Eine gute halbe Stunde wohl steigt der Pfad sanft an, immer dieselbe Waldszenerie und schweigende Öde. Da plötzlich eine Lichtung – und vor uns erhebt sich mächtig die runde Domkuppel des großen Rachel, steil aufsteigend; dann rechts davon ein sattelartiger Einschnitt, der im Nordwest in den sogenannten kleinen Rachel übergeht. Dieser Einschnitt hat moorigen Boden, und ich musste vor einigen Jahren von einem Versuch abstehen, auf diesem Wege die Spitze des kleinen Rachels zu erreichen, da ich möglicherweise in diesem Sumpfgrund, den warnend verkrüppelte Knieföhren bezeichnen, versunken wäre.

Als der Aufstieg über die letzte und steilste Partie des Berges begann, wo der Baumwuchs aufhört, fielen fast senkrecht die Strahlen der Mittagssonne auf unsere Häupter hernieder. Das hell perlgraue Kleid der Üppigen bekam auffallend dunkle Flecke, und ihr Gesicht nahm eine karmesinrote Färbung an, deren leuchtenden Glanz selbst der mächtige Sonnenschirm nicht zu dämpfen vermochte.

»Ich kann nicht mehr weiter«, stöhnte sie und wäre am liebsten in das hohe Gras niedergesunken, wenn sie sich nicht vor den Schlangen gefürchtet hätte, welche ihre Phantasie, die an Üppigkeit mit ihren Körperformen rivalisierte, ihr überall vorgaukelte. Indessen, einiges Zureden und die eiserne Notwendigkeit, wohl oder übel doch vorwärts zu müssen, brachten sie endlich bis auf den Gipfel, wo sie sich ermüdet und schachmatt auf einen der grauen Gneisblöcke niederließ und träumerisch ihre Blicke über das sich tief unter ihrem Sitze ausbreitende Panorama hinschweifen ließ.

Ob der Anblick sie für die ausgestandenen Strapazen entschädigte, das ist eine Frage, deren Beantwortung ich der Dame selbst überlassen muss. Fast möchte ich daran zweifeln, denn stille Resignation und Ergebung in ein unbarmherziges, trauriges Schicksal lag wie ein Schleier über ihrem sonndurchglühten Antlitz.

Und doch ist dieser Ausblick herrlich und überwältigend in seiner Art, wenn es auch an diesem Tage »hoarrucki« (höhenrauchig) war und Berg und Tal in ziemlicher Nähe in grauen Nebel gehüllt verschwammen. Wenn die Luft vollständig klar ist, so übersieht der Blick nach Bayern hinein das Donautal, und man gewahrt in weiter Ferne, jedoch deutlich und scharf sich abhebend, den schneebedeckten Gipfel des Watzmann und noch mehrere andere hohe Berge der oberbayerischen und salzburgischen Alpenwelt. Das immense Waldland des zentralen Böhmerwaldstockes übersieht man jedoch jederzeit, vorausgesetzt, dass nicht dichte Nebel aufsteigen oder Regenwetter eintritt, und diese Aussicht ist wahrhaftig lohnend genug. Düster und melancholisch ist das Bild, aber der Eindruck bleibt jedem unvergesslich, denn wohl nirgends in Mittel-, Süd- und Westeuropa gibt es so ungeheure zusammenhängende Wälder. Da stehen sie in fast greifbarer Nähe, einander ähnlich in Form und Kleid und doch wieder verschieden, die übrigen Riesen dieses Stockes, der Lusen mit seinem grauweißen Haupt, der finstere Schwarzberg, wo die Moldau ihren Ursprung nimmt, der hohe Mittagsberg, und wie sie alle heißen, und in bereits weiterer Ferne der langgestreckte Rücken des Kubani.

Die schlanke Dame erklomm den höchsten Grat des den Gipfel krönenden Felsens, wo eine hohe Stange wie ein Wahrzeichen in die Lüfte ragt, und überblickte mit freudigem Staunen das soeben geschilderte Panorama. Ich sehe sie noch dort stehen auf den schroffen Felszinken, die Wangen von der frischen Luft gerötet, das blonde Haar von den Strahlen der Sonne vergoldet. Dann sprang sie herab und eilte dem südlichen Hange zu, wo tief unten wie ein düsteres Zyklopenauge, zwischen buschige Wimpern und Brauen gebettet, der See liegt. Der Anblick des Sees schien sie zu enttäuschen, sie hatte sich denselben größer vorgestellt und klar und grün, wie einen Alpensee. In ihrer gewohnten Energie wollte sie den Hang hinab eilen, und wir hatten Mühe, sie zurückzuhalten; denn gerade der Abstieg zum See ist höchst beschwerlich und stellenweise mit großen Gefahren verbunden: es gilt eine schroffe Seewand zu überwinden, deren Abschüssigkeit von oben nicht zu sehen ist. Wiewohl der See nur wenige hundert Fuß unter dem Gipfel des Berges liegt, so braucht man doch reichlich zwei Stunden, um hinab zu gelangen.

Wir werden indessen den See selbst besuchen, lieber Leser, aber nur in Männergesellschaft, die Damen können wir unmöglich mitnehmen, und unsere angeborene Galanterie erfordert gebieterisch, dieselben jetzt zum Rachelhause zurückzugeleiten, damit sie vor Nacht wieder in Rehberg eintreffen, denn so freundlich und liebenswürdig der Herr Revierförster von Mader auch sein mag, wir können ihm doch nicht zumuten, eine Karawane von 12 Personen über Nacht zu beherbergen – und auch dahin ist es noch weit.

Doch, lieber Leser, ich vergesse ja, dass du damals nicht mit warst und dass ich dir ja die Geschichte bloß erzählen wollte.

Der Abstieg ging glücklich vonstatten, und es ereignete sich nichts Bemerkenswertes. Die Schlanke blieb guten Humors, und auch die Starke kam nach und nach wieder ins Gleichgewicht, verschwor sich aber doch hoch und teuer, nie mehr eine solche Bergpartie zu unternehmen.

Gerade an der Landesgrenze zweigt ein Steig rechts ab, und den zu betreten kann verhängnisvoll werden, denn es würden vielleicht Tage vergehen, ehe man einen bewohnten Ort erreichen würde. Gar mancher, selbst Holzhauer, die doch Wald und Sumpf kennen, hat sich hier verirrt und ist nicht mehr zurückgekehrt. Ich kann darüber eine traurige Geschichte erzählen.

Es war im Oktober vor etwa zwanzig Jahren – ein nebliger, trüber Tag. Dampfend entquoll der Nebel den weiten Filzen und dem nassen Waldgrund, milchweiß und dick wie der Qualm aus dem nassen Reisig, das die Holzhauer im Walde anzünden, um die zuweilen quälenden Mücken abzuhalten. Er kletterte empor an den Stämmen der Urwaldfichten, er machte sie klebrig und umhüllte langsam Zweig an Zweig; nicht drei Schritte weit vermochte man zu sehen, und das sich niederschlagende Wasser rieselte herab von allen Steinen und Felswänden.

Fünf Holzhauer von drüben aus Guglöd hatten den ganzen Tag über hart an der Grenze im königlich bayerischen Walde gearbeitet. Gegen Abend machten sie sich auf, um eine der im Walde zerstreuten Holzhütten zu gewinnen. Im Nebel verfehlten sie die Richtung und wanderten die halbe Nacht in dieser entsetzlichen Öde umher. Als sie nirgends einen Ausweg fanden, gelang es ihnen endlich nach großer Mühe, unter einem Felsvorsprung ein Feuer anzumachen, und hier verbrachten sie, einigermaßen gegen Kälte und Nässe geschützt, die Nacht.

Eine furchtbare Nacht! Denn gegen Morgen gefror der Nebel buchstäblich, und es fing an zu schneien, wie es eben nur in diesem Gebirge zu schneien vermag. Binnen wenigen Stunden war alles fußtief mit einem schütteren Schnee bedeckt, der jedem Tritt nachgab. Die armen Holzhauer waren in ihrem Versteck buchstäblich eingeschneit. Was nützte es aber, fort mussten sie, denn sie hatten keinen Proviant mehr. Der Schnee hatte ihre Spur gänzlich verweht, und so ging es denn wieder hinaus, fast aufs Geratewohl, denn sie hatten keinen anderen Wegweiser als das Moos an den Bäumen. Dabei schneite es ohne Unterlass: bald versperrte ein tückischer Sumpf ihnen den Weg und zwang sie, die Richtung ihres Marsches zu ändern, dann wurden sie wieder durch die zahllosen umgestürzten und übereinandergeworfenen Bäume aufgehalten. Gegen Abend verlor einer von ihnen den Mut und die Kräfte; er erklärte, nicht mehr weiterzukönnen, und blieb zurück.

Hunger und Verzweiflung trieben die anderen vorwärts. Diesmal mussten sie ungeschützt die Nacht im Freien zubringen; nicht einmal ein Feuer konnten sie anmachen, da sie kein trockenes Ästchen fanden. Sie kauerten sich, nachdem sie lange vergeblich um Hilfe gerufen, in einer Art Höhle nieder, welche übereinander gestürzte Bäume gebildet hatten. Als der Morgen graute, lag einer der Männer tot und starr inmitten seiner Kameraden, die übrigen drei machten sich wieder auf den Weg; jedoch schon nach wenigen Stunden blieb wieder einer zurück, so dass nur mehr zwei von den fünf übrig waren. Gegen Mittag kamen sie an den Ort, wo sie die erste Nacht zugebracht hatten. Halbtot vor Ermüdung, Kälte und Hunger, schlugen sie die entgegengesetzte Richtung ein. Der eine der beiden war ein ungemein kräftiger Mann von etwa 35 Jahren, der andere ein kaum 20-jähriger Jüngling. Letzterer erklärte gegen drei Uhr Nachmittag, gleichfalls nicht mehr weiterzukönnen. Alles Zureden des älteren Genossen war vergeblich. Umsonst wies dieser darauf hin, dass ja der Schneefall nachgelassen habe und ihnen möglicherweise Hilfe werden könnte, der Bursche möge nur noch kurze Zeit seine Müdigkeit überwinden; der Unglückliche sank erschöpft zusammen, und sein älterer Gefährte konnte nichts weiteres tun, als ihn zu ermahnen, er möge tunlichst darauf sehen, dass er nicht einschlafe, worauf er ihn mit dem Versprechen verließ, ihm Hilfe zu bringen.

Kaum eine halbe Stunde später vernahm der nunmehr allein Übriggebliebene das Bellen eines Hundes. Er rief und pfiff, und richtig kam ein fürstlicher Heger, der ihm Hilfe brachte. Sie kehrten zurück zu dem jungen Burschen, doch war derselbe bereits eine Leiche. Vergeblich jedoch war das Suchen nach den übrigen drei Gefährten; man fand keine Spur mehr von ihnen, trotzdem die aufgebotenen Leute den Wald nach allen Richtungen durchsuchten; der Schnee hatte sie in ein weites Leichentuch gehüllt.

Erst im nächsten Sommer fand man zwei Skelette, deren Gliedmaßen von den Füchsen zerrissen und von den Ameisen rein abgenagt worden waren. Von dem dritten aber wurde keine Spur mehr gefunden. Hatte der Filz ihn verschlungen? Hatten fallende Bäume oder üppig wucherndes Moos ihn begraben? Wer wüsste es zu sagen.

Mir aber hat vor nicht langer Zeit das Weib des Überlebenden die Geschichte erzählt, tief drinnen in unserem böhmischen Land, wohin sie jährlich wallt zum heiligen Berg bei Pribram, getreu dem Gelübde, das sie der Jungfrau getan, als ihr Mann zurückkehrte.

So liegt wohl noch mancher drinnen im tiefen Walde in der heiligen Erde, welche die Mutter Natur selbst geweiht. Die zuckenden Flammen, von denen Holzhauer und Hirten erzählen, die oft hoch über den Wipfeln der Bäume aufflackern, mögen wohl die Seelen der armen Verzweifelten sein, die hier ihr schauerliches Ende gefunden. Die Leute gedenken ihrer wenigstens, wenn sie der Flammen ansichtig werden, schlagen ein Kreuz und sprechen ein requiescat.

Doch zurück zu unseren Damen. Sie haben höchst eigenhändig im Rachelhaus eine Einbrennsuppe gekocht, mit ihrer Bedeckungsmannschaft einen Schinken verzehrt und sind nun auf ihrem Leiterwagen auf dem Rückweg nach Rehberg begriffen. Wir begleiten sie im Geiste und erfahren, dass die Üppige sich ihren weißen Arm an den Wagenketten blau und schwarz geschlagen hat, während die Schlanke durch das Schütteln von Kinitz-Tetau ab über Schlösselwald seekrank geworden ist.

»Aber gehen Sie«, soll erstere etwas bissig gesagt haben, als letztere traurig das Köpfchen zur Seite neigte und Stoßseufzer gegen Himmel sandte, »aber gehen Sie, das ist ja so lustig!«

So, meine schönen Leserinnen, jetzt erwägen Sie einmal, ob Sie Lust haben, den Rachel zu besteigen. Die Partie in einem Tage zu machen erfordert mindestens 12 Stunden teils Fahrt im Leiterwagen auf schauerlichen Wegen, teils Fußmarsches; wollen Sie aber zwei Tage auf die Reise verwenden, so müssen Sie sich schon entschließen, mit oder ohne Zacherlpulver im Rachelhaus zu bleiben. Letzteres entfiele nur dann, wenn der Herr Revierförster von Mader Sie in seinem Forsthause behielte; dann müssten Sie aber immer noch acht Stunden unterwegs bis zum Rachel und zurück zubringen. – Du aber, lieber Leser, der du rüstig bist und einige Nächte im Rachelhaus nicht scheust, kannst schon mit mir dort bleiben, denn ich habe noch manche Partie mit dir vor, ehe wir diese Gegend verlassen.


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