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Drittes Kapitel

Der Borkenkäfer und die »Käferzeit« – Die Schachtelei – Ein Spaß – Annamirls Größenwahn – Schnee und Pest – Die Vincenzsäge und Unterreichenstein

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Das Jahr 1870 brachte eine Katastrophe, welche alle Verhältnisse änderte: die Borkenkäferkalamität, von welcher wir gelegentlich noch sprechen werden. Diese Kalamität betraf den ganzen Böhmerwald und schädigte unser Nachbarland Bayern ebenso sehr wie Böhmen. Wer in den Jahren 1872 bis 1874 unser Gebirge berührte, dem mussten die schrecklichen Verheerungen dieses entsetzlichen Waldfrevlers auffallen. Grün und dunkel standen sie heute da, die herrlichen Fichten: da fingen sich die Nadeln an den Spitzen zu röten an, zuerst oben, dann allgemach immer weiter herab. Schließlich wurden sämtliche Nadeln rot und begannen abzufallen. So weit das Auge reichte, ganze Bestände, alt und jung, alles nahm diese verhängnisvolle Rostfarbe an, auch das grüne, üppige Moos, das von den herabfallenden Nadeln buchstäblich begraben wurde. Ein ungemein trauriger Anblick!

Hin und wieder ragte eine grüne Buche oder ein breitblättriger Ahorn aus diesem Meer von Rot und wiegte leise das dicht behängte Haupt, wie trauernd um die sterbenden Genossen.

Tag und Nacht hallten die Axtschläge, loderten die Flammen empor, widerhallte Fels und Berg von dem Knallen der Peitschen der Fuhrleute und dem Dröhnen der über die Hänge zu den Wasserläufen und Schwellen hinpolternden Stämme. Ein ungewohntes Leben in diesem stillen, menschenleeren Dome der Natur!

Fürst Schwarzenberg und die Stadtgemeinde Bergreichenstein wandten sich an die Regierung um Hilfe; es ist mir nicht mehr genau erinnerlich, wer um Militär bittlich wurde. Hilft ja doch das Militär bei allen allgemeinen Katastrophen, bei Bränden, Überschwemmungen und dergleichen, und das war doch eine allgemeine Not von ganz imminenter Qualifikation. Baron Koller soll dem Bittsteller geantwortet haben, dass das Militär zu ganz anderen Dingen da sei als zum Abrinden von Baumstämmen.

Da die einheimischen Arbeitskräfte durchaus nicht ausreichten, sah man sich gezwungen, italienische Arbeiter zu Hilfe zu rufen, welche auch zu Hunderten erschienen.

Die »Käferzeit«, wie die Leute jene unglückselige Epoche nannten, brachte momentan viel Arbeit und viel Geld in dem Böhmerwald. Die Arbeiter wurden gut gezahlt, die Bauern bekamen Geld für die Stämme, wenn diese auch zu einem wahren Spottpreis bezahlt wurden; denn früher brachten sie dieselben gar nicht an, da erst die Not zwang, Wege zu bahnen. Auch verdienten sie viel Geld für gestellte Bezüge. Die Unmasse geschlagenen Holzes lockte die Holzhändler heran, die sich da sammelten wie Geier um ein totes Tier; kurz, es entstand ein nie dagewesenes Leben. Mancher Bauer sah in einem Monate mehr Geld als früher in seinem ganzen Leben. Man muss heutzutage lächeln, wenn man hört, wie die Leute die »Käferjahre« als eine Art goldenen Zeitalters preisen, wo es allen so gut ging. Eine Folge dieses Geldzuflusses wieder war es, dass die Wirtshäuser gute Geschäfte machten, dass sie sich vermehrten wie Pilze nach einem Regen, dass ein unerhörter Übermut und eine kopflose Verschwendung Platz griffen.

Die Leute gewöhnten sich an die üppigen Sonn-und Feiertage, und als das Holz aufgearbeitet, verfrachtet und fortgeschwemmt war und der Verdienst aufhörte, fiel es ihnen schwer, zu ihrem früheren Leben zurückzukehren, zumal die Wälder devastiert waren und keinen Ertrag mehr abwarfen. So wurden denn »Bankgelder« aufgenommen, Wucherschulden kontrahiert, und jetzt ist der Katzenjammer da. Ein Hof nach dem andern wird verkauft, die Bettler nehmen überhand, und der Auswanderer wird Legion. Der vorige Winter hat Illustrationen hierzu in Fülle geliefert.

Da die frühere Regierung einsah, dass für den Böhmerwald doch etwas geschehen müsse, so entsendete sie den Herrn Hofrat Exner aus Wien, über dessen Enquete seinerzeit viel geschrieben und geredet worden ist. Ich zolle hier der persönlichen Liebenswürdigkeit und dem guten Willen des Herrn Hofrates meine volle Hochachtung, bin auch überzeugt, dass die zu Bergreichenstein und zu Wallern errichteten Fachschulen sich in der Zukunft segensreich erweisen werden – doch gut Ding will Weile –, wir sind ein wenig stark konservativ und gar so abgeschieden vom Weltverkehr.

Doch ich bin ein einfacher Feuilletonist und will mich in keine weiteren Erörterungen über diese Dinge einlassen, mir genügt es, sie angedeutet zu haben.

Ich führe dich, lieber Leser, wieder in den Wald, und zwar zuerst in die sogenannte Schachtelei; ein Marsch von etwas über einer Stunde führt dich von der Rehberger Kirche aus in die tiefe Schlucht, welche der südliche Quellfluss der Wotawa sich zwischen den gewaltigen Urgebirgsmassen ausgehöhlt hat. Die schroffen Hänge links und rechts sind zum Teil noch von schönen Wäldern bestanden, in welchen der Borkenkäfer und die Axt allerdings schon große Lücken gerissen haben. Unten braust der Fluss meilenweit hörbar, seine klaren Wellen schäumend und brüllend an den zahllosen mächtigen Felsblöcken brechend, die sein Bett ausfüllen. Die braune, an tiefen Stellen purpurschwarze Flut scheint aufgelöst in silbernen Schaum, die mächtigen Geröllstücke sind oft kugelförmig abgeschliffen und sonderbar ins Innere hinein ausgewaschen, wie etwa die Salzachöfen oberhalb Golling in der Nähe des Pass Lueg. Man kann sich keinen Begriff machen von dem Toben und Brüllen der Wasser, wenn im Frühjahr das Bett des Flusses gefüllt ist und die oberen Schleusen geöffnet werden zum Zwecke des Scheiterholztriebes. Das Bild ist überwältigend in seiner großartigen Schauerlichkeit.

Mit langen Spießen bewaffnet, folgen die Holzknechte zu beiden Seiten des Flusses den treibenden Scheitern, um diejenigen abzustoßen, die das Wasser an den Strand wirft. Schmal und gefährlich ist der Pfad, an dem nassen Ufergestein haftet kaum der suchende Fuß, und wehe dem Unglücklichen, den ein Fehltritt in den kochenden Brodel schleudert. Er findet wohl kaum Zeit zu einem Hilferuf. Alljährlich ereignen sich solche Unfälle und vermehrt sich die Zahl der Opfer der Wotawa, die der Volksglauben auf neun jährlich festsetzt. Ich glaube eher, dass die Zahl zu niedrig als zu hoch gegriffen ist, denn auch unter den Flößleuten sucht sich der Fluss alljährlich seine Opfer, namentlich in seinem oberen Lauf, wo die Flöße häufig genug zerschellen.

Die Schachtelei zieht sich wohl anderthalb Stunden weit von der sogenannten Bruckmühle bis gegen die Bifurkation der Wydra unterhalb Mader hinauf. Das Tal, häufig zur Schlucht eingeengt, folgt den mannigfachen Windungen des Flusses und eröffnet mit jedem Kilometer Weges neue, ungeahnt romantische Perspektiven. Links erhebt sich schroff und steil der Schlösselberg, dessen Gipfel von mächtigen, zinnenartig sich türmenden Granitblöcken gekrönt wird, die, selbst aus nächster Nähe betrachtet, einer alten Ruine gleichen und dem Berg sowie den dahinter sich weithin erstreckenden Forsten und den spärlichen Ansiedelungen darin den Namen Schlösselwald gegeben haben. Rechts ist der Abfall weniger steil und führt eine Strecke längs des Ufers eine gebahnte Straße. Hier, lieber Leser, bist du im Waldgebiet der königl. freien Goldbergstadt Bergreichenstein angelangt, ein Gebiet, das reichlich 9000 Joch Waldung in sich schließt, den mächtigen Antigel, an dem du vorüber musst, um in die »Gefilde« zu gelangen, mit inbegriffen.

Tief unten, im Tal der Schachtelei, stand vor Jahren – ich habe es noch gesehen – ein einfaches, morsches Holzkreuz. Eine fromme Hand hatte es hier aufgestellt, wohl zwanzig Fuß über den tosenden Wassern, zum Dank der gütigen Vorsehung, die schützend hier gewaltet.

Hoch oben am Schlössel hatte sich eine Gesellschaft übermütiger Bauernburschen eingefunden, die hinabsahen in die wohl dreihundert Meter tiefe Schlucht. Die untergehende Sonne vergoldete die Kuppeln der Berge, unten im Tale lag bereits graue Finsternis. Der matte Schein eines Feuers drang herauf zu der johlenden und lärmenden Schar. Einige Holzknechte hatten es unten angezündet und bereiteten sich daran ihren Schmarren. Müde von des Tages Anstrengung, lagerten die armen Teufel im Grase.

»Höre, Hannes«, sprach oben einer, »wie wäre es, wenn wir von hier ab einen tüchtigen Stein herabrollten? Die sollten Füße kriegen, die da unten.«

»Lass das, Sepp«, warnte der Angeredete, »du könntest einen erschlagen; sie haben dir ja nichts getan.«

Andere mischten sich ins Gespräch. Der tolle Einfall, die unten lagernden, nichts ahnenden Holzknechte durch einen hinab gerollten Stein zu erschrecken, fand Beifall, und trotz der Warnung der Besonnenen schritt man sogleich zur Ausführung. Ein wohl zehn Zentner schwerer, loser Block lag hart am Rande; sie brauchten sich bloß anzustemmen, und er musste hinab rollen, unaufhaltsam, alles zermalmend.

Und sie stemmten sich an. Langsam neigte sich der Stein, rutschte einen halben Schuh weit und blieb dann wieder liegen; eine Baumwurzel hatte ihn festgehalten. Umsonst. Die rüden Gesellen schoben und drängten ihn weiter. Abermals machte der Stein eine Wendung, dann noch eine, dann einen Sprung, dann noch einen – und krachend sauste er hinab den Hang, junge Bäume abknickend, kleine Steine loslösend, prasselnd wie ein Hagelwetter, donnernd, sausend.

Da blickten die Männer unten auf – ein vielstimmiger Schrei des Entsetzens gellte durch die Luft. Der Stein war im Fallen gegen die Felsen geprallt und hatte sich in drei oder vier Trümmer zerschellt, die nun, jedes für sich donnernd, in Sätzen, kleines Gestein wie eine Lawine mit sich fortreißend, talab polterten. Entsetzen lähmte die bedrohten Holzknechte; um ihre Köpfe knatterte es gleich einem platzenden Schrapnell. Es war ein wahres Wunder, dass keiner verletzt wurde. Die aber, die oben so mutwillig die Gefahr über sie beschworen, flohen entsetzt, als sie sahen, was sie angerichtet.

Die durch den wunderbaren Schutz der Vorsehung Geretteten richteten das erwähnte Kreuz unter dem Felsen auf, das lange Jahre da stand, bis es endlich morsch wurde und zerfiel; ein kaum noch bemerkbarer Holzstumpf ist das einzige, was davon übriggeblieben. Die es aufgestellt, sind alle schon dahingeschieden, und die Epigonen haben darauf vergessen.

Das Annamirl (Anna Maria) war ein bildsauberes Kind, drall und rot, schwarzäugig und lustig wie nur ein echtes Gebirgskind. Dem schlanken Sepp aus den Talhäusern, der eigentlich ein armer Teufel war, aber arbeiten konnte wie nicht leicht ein zweiter, hatte sie's angetan, denn er liebte sie rein zum Rasendwerden. Und sie? Nun, sie liebte ihn eigentlich auch, aber sie wusste es nicht so recht, denn sie war eine rechte Evastochter, der es wohltat, wenn zwanzig Männer schier verrückt hinter ihr drein waren, eine veritable Dorf-Celímene nach Molieres Schlag. Nur war der Sepp kein Misanthropentypus, der sich gegen die Extravaganzen seiner angebeteten Schönen aufgelehnt hätte, sondern, so unbändig und tollkühn er sonst sein mochte, ihr gegenüber ein willenloser Sklave, der imstande gewesen wäre, ihr die Anbeter selbst zuzuführen, nur um durch ein freundliches Lächeln des Dankes belohnt zu werden.

Wer konnte sagen, was für Gedanken und Träume durch das Köpfchen der kleinen Waldkokette zogen; so viel jedoch ist gewiss, dass ihr eine Art Größenwahn die Sinne verrückte. Försterin am Antigel, in Pürstling oder sonstwo zu werden, das schien ihr ein königliches Glück, dem sie sogar den Sepp geopfert hätte. Und warum sollte so eine Herrlichkeit nicht zu erreichen sein? Berichteten nicht die vielen Märchen, welche die alte Nal (Großmutter) am Spinnrad erzählte, von Bauerndirnen, die Königinnen geworden waren? Warum sollte sie nicht Försterin werden? Sauber genug war sie ja! Und da kam einer, der sie wohl so hoch erheben konnte, ein Jägerbursch aus dem Fürstlichen; der sagte ihr allerhand Schönheiten, und schmuck war er auch. Wenn er auch noch einige Zeit warten musste, es konnte doch nicht fehlen. Und prüde war das Annamirl auch nicht; blieb er einmal aus, so wusste sie, wo er zu finden war, und sie fand ihn auch. Der Sepp aber, der schlich nach; er dachte so bei sich, dass die Sache vielleicht übel enden könnte, denn er traute einmal den Jägern nicht, und gar dem! Der gerade hatte einmal auf einen Burschen geschossen, der nichts getan, als dass er eine Fichte anpechelte (anhieb, um das herauslaufende Pech zu sammeln). Wegen einer Fichte! Die faulten damals zu Hunderttausenden im Walde!

Da wurde der Jägerbursch wirklich Förster, freilich irgendwo drinnen in m Wald, weit von jeder menschlichen Gesellschaft. Förster im Wald – das heißt, acht Monate des Jahres ein förmlicher Arrestant. Doch Förster wurde er, und das Annamirl hatte es kaum erfahren, als sie ihm entgegeneilte. Die Zeit war gekommen, wo er seine feierlichen Schwüre einlösen sollte. Er löste sie sonderbar ein, indem er das arme Annamirl buchstäblich fortjagte. Gebrochen an Leib und Gemüt eilte sie hinab in die Schachtelei. »Die Schand! Die Schand!« – jammernd rang sie die Hände. Das Wasser rauschte, es war tief, tief, es verdeckte die Schande und schwemmte sie fort. »Heilige Maria, du liebe Frau!« – es brauste auf, und die schönen schwarzen Haare tauchten empor über den silbernen Wirbeln. – Da sprang eine dunkle Gestalt mit mächtigem Satz auf einen gewaltigen Block mitten im Wasser und bückte sich tief hinab. Und es gelang. Der treue Sepp hatte der Wydra ihr Opfer entrissen, ehe der schäumende Strudel es forttrug. Mit Lebensgefahr brachte er die Ohnmächtige an sicheren Stand und gab sie dem Leben zurück.

»Ach, Sepp! ach, Sepp! hättest du mich sterben lassen. Er hat mich verführt!«

Und der Sepp drückte die Gerettete an sein Herz. »Dir soll deine Ehre wiedergegeben werden. Werde mein Weib! Wir bringen uns redlich durch.«

Sie aber wurde sein Weib, und sechs Söhne und ebenso viele Töchter entsprangen dieser Ehe. Als sie herangewachsen, halfen sie alle dem Vater bei der Arbeit, und die vielen Kinder wurden ihm zum Segen. Alle halfen verdienen, und Sepp, der arme Holzhauer, kaufte den schönsten Bauernhof in der Gemeinde. Annamirl aber blieb ihm ein treues Weib. Jetzt sind beide schon tot, und die Söhne und Töchter prozessieren um das Erbteil, zerstückeln es so viel als möglich und genießen die Segnungen der Freiteilbarkeit der Bauerngüter.

Erinnere dich dieser Geschichten, lieber Leser, wenn du einmal in die Schachtelei kommst; sie sind wahr. Versäume aber ja nicht, dieses Tal zu besuchen; im Sommer läufst du keine Gefahr. Nur lass die Heidel- und Preiselbeeren lieber in Ruhe, das rate ich dir, denn hier gibt es ziemlich viel Kreuzottern, und alle Jahre kommen Unglücksfälle vor. Die betreffen aber nur beerensuchende Weiber und Kinder, und wenn auch eins davon manchmal gebissen wird, darum sinken oder steigen die Preise an der Preiselbörse zu Hartmanitz noch nicht.

Ich kann, lieber Leser, die Schachtelei mit dir noch nicht verlassen, ohne einige allgemeine Bemerkungen daran zu knüpfen. Dies ganze Tal ist völlig unbewohnt, ebenso die Hänge, ein Bild weiter, herrlicher Einsamkeit, in feierliche Ruhe gehüllt, die nur das Brausen des Flusses, das Zwitschern einzelner Vögel und das ferne Läuten des weidenden Viehes unterbricht.

Ob's wohl immer so war?

Ich vermag's dir nicht zu künden, lieber Leser; ich weiß bloß, dass diese Gegenden vor 20 und mehr Jahren noch viel öder waren, dass die Fichten höher und dichter standen und dass noch weit weniger Leute sich hierher verirrten. Keine Überlieferung, nicht einmal eine Sage gibt Kunde, dass einst Menschen hier wohnten.

Vor einigen Jahren nun wurde hier irgendwo gegraben, und da kam man auf auffallend zahlreiche Knochenreste; man fand auch Waffenstücke, Sporen u. dgl. Ich habe nichts von allem dem gesehen, vermag also nicht einmal Vermutungen aufzustellen.

Nach der Beschreibung der Leute scheinen jedoch die gefundenen Gegenstände dem 17. Jahrhunderte anzugehören. Ich bemerke hier bloß, dass es ja eine bekannte Tatsache ist, dass nach der Schlacht am Weißen Berge, respektive nach der blutigen Einnahme von Pisek und Prachatitz, das evangelische Bekenntnis sich am längsten in der Schüttenhofner Gegend erhalten hat; um es hier gänzlich auszurotten, wurde eben das Kapuzinerkloster in Schüttenhofen gegründet. Wäre es nicht möglich, dass die Ausrottung dieses Glaubensbekenntnisses auch hier nicht ohne Kämpfe bewerkstelligt wurde? Wer sagt uns, ob nicht vielleicht die Reste der Flüchtigen, die sich in die stillen Urwälder an der Wydra zurückgezogen, hier von ihrem Schicksal ereilt und niedergehauen worden oder durch ein Naturereignis ums Leben gekommen sind? Wie schauerlich die entfesselten Kräfte der Natur hier im Gebirge oft hausen, dessen habe ich bei Erwähnung der Borkenkäferkalamität schon gedacht. Ich will an dieser Stelle noch von einem anderen Ereignis berichten, das sich tief meinem Gedächtnisse eingeprägt hat.

Wenn du, lieber Leser, bei der großen Holzsäge des Herrn Bubenicek, genannt Vincenzsäge, die Wydra überschreitest, so gelangst du nach Erklimmen der Höhen am rechten Ufer des Flusses in die Häusergruppe Hirschenstein, die wieder einen Bestandteil der großen, aus zerstreuten Ortschaften bestehenden Gemeinde Ziegenruck bildet. Die Insassen derselben waren nicht mehr »künisch«, sondern Untertänige der Stadt Bergreichenstein.

Einzelne Ortschaften dieser Gemeinde nun waren während eines strengen Winters zu Anfang der fünfziger Jahre – ich weiß nicht mehr genau, in welchem Jahre dies gerade war – der Schauplatz entsetzensvoller Begebenheiten.

Auf einen milden, ausnahmsweise lang dauernden Herbst hatte plötzlich ein unerhört schneereicher Winter eingesetzt. Es war, als wäre des Schneefalls kein Ende; bald kam's herab, ruhig, unheimlich, geräuschlos, in mächtigen Flocken, »in Leintüchern«, sagten die Bauern, endlos fort, die Bäume mit ungeheurer Last bedeckend, so dass die Äste brachen; dann erhoben sich wieder arge Stürme, die den lockeren Schnee klafterhoch zusammenstöberten. Dann taute es, fror von neuem, schneite wieder, endlos, als fiele der ganze Himmel, in ein einziges großes Leichentuch verwandelt, herab, die tote Erde zu verhüllen.

So wurden einzelne Ortschaften buchstäblich eingeschneit; die Leute mussten mit unendlicher Mühe förmliche Tunnels graben, um nur zu den Brunnen und zu den Ställen zu gelangen.

Eingeschneit! Denke darüber nach, lieber Leser. Ein Kind wird krank. Keine Möglichkeit, einen Arzt, eine Arznei zu holen! Ein alter Mann stirbt: die Tröstungen der Religion mussten ihm versagt bleiben; drei – vier Wochen liegt die Leiche im Hause! Wo ist der Weg, nach Unterreichenstein zum Pfarrer zu gelangen? Unmöglich! Klafterhoch liegt der Schnee; Wände von Schnee türmten sich auf; tiefe Schlünde sind verschüttet, und betritt sie der eilende Fuß, so sinkt er hinab mit der trügerischen Decke in ein kaltes, taubes Grab!

Und wo Brot hernehmen? Es sei bemerkt, dass die Bauern hier oben lange nicht genug Getreide für ihren Bedarf haben. So war's auch in jenem Jahr in Ziegenruck. Als das vorrätige Korn zu Ende ging, griff man zum Hafer und dann zu verschiedenem Hintergetreide voll Lolch und Raden. Ein giftiges Brot!

So ging's drei lange, lange Monate hindurch. Keine Seele war während dieser Zeit aus den verschneiten Ortschaften herausgekommen, ebenso wenig fand ein Fremder Zutritt. Da kam endlich im Feber das Tauwetter, und unendliche Fluten schmutzigen Wassers stürzten herab vom Gebirge, die Wotawa füllend und weiter unten im flachen Land verheerend und zerstörend.

Und zugleich mit den Fluten des Hochwassers kamen erst unbestimmte, dann immer greifbarere Nachrichten von einer schrecklichen Epidemie oben in den Bergen, von Hungersnot und Wahnsinn.

Eine ärztliche Kommission begab sich hinauf.

Hohläugige Gesichter starrten aus den Fenstern und Türen, zu Skeletten abgemagerte Gestalten schwankten wie Phantome der Kommission entgegen. Und was die Häuser und Hütten in ihrem Schoße bargen, das zu sehen ließ selbst den abgehärtetesten Ärzten die Haare zu Berge steigen.

Da war keine Wohnung ohne Leiche; in mancher lagen drei, vier. Man müsste die Feder Edmondo de Amicis haben, um dieses namenlose Entsetzen zu schildern.

Die Bauern hier oben scheinen das Fenster für eine Art Tor zum Janustempel zu halten, das unter keiner Bedingung geöffnet werden darf, so dass im Winter eine Bauernstube hier oben dem Innern einer Eskimohütte gleicht, voll Unreinlichkeit, voll Dampf, die Temperatur eines Schwitzbades!

Das alles, die schlechte Nahrung, die Unmöglichkeit ins Freie zu gelangen, hatte eine Art Hungertyphus erzeugt, ein bösartiges, exanthematisches Fieber fauligen Charakters, das Opfer um Opfer verlangte. Der Überlebenden hatte sich eine Art Stumpfsinn bemächtigt; sie nahmen sich oft nicht einmal die Mühe, die Leichen aus dem Zimmer zu schaffen, wo sie dann in dieser Treibhausatmosphäre ihrer Zersetzung verfielen! In anderen Fällen hatte man sich damit begnügt, die Verstorbenen vor oder hinter das Haus zu tragen, soweit der Schnee es gestattete, und dort ließ man sie liegen.

Lieber Leser, du erinnerst dich vielleicht eines Bildes, welches eine Szene aus der Pestepoche in Wetljanka an der Wolga veranschaulicht, wie Kosaken mit verbundenem Mund Häuser und Gerätschaften verbrennen, um der Ansteckung Einhalt zu tun. Ähnliches musste hier geschehen. Fast alle Einrichtung, namentlich Betten und Strohsäcke, wurde verbrannt, die Häuser mussten in- und auswendig neu getüncht werden.

Die Ärzte taten, was in ihren Kräften stand. Kollekten wurden überall eingeleitet, und ganze Wagenladungen frischer Lebensmittel wurden heraufgeschafft. Die Stadt Schüttenhofen und die Gutsbesitzer der Umgebung erschöpften sich in Wohltaten. Möge hier, nach langen Jahren, dankbar des Guten gedacht werden.

Doch fort, lieber Leser, mit diesen grausigen Bildern; kehre mit mir zurück zur goldtragenden Wydra und folge mir talab. An dem Punkte, etwa dreiviertel Stunden unterhalb der Schachtelei, wo die Wydra mit dem von Nordwest kommenden Kieslinger sich vereinigt, steht die bereits erwähnte große Brettsäge des Herrn Vincenz Bubenicek. Der alte, freundliche Herr, der jedem seine Tür gastlich öffnete, ist tot! Ich will hier von meinen persönlichen Gefühlen des Dankes für alles Liebe, was ich hier genossen, nicht weiter reden, kann jedoch nicht umhin, ganz objektiv einige Worte über die Bedeutung und Geschichte dieses Industrialetablissements, das leider heute stillsteht, einzufügen.

Herr Bubenicek war mit dem einstigen Smichower Bürgermeister Herrn Fischer der erste, der einen direkten Holzhandel aus dem Böhmerwalde mit Hamburg ins Leben rief. Er war es, der die seither so bedeutende Holzflößerei auf der Wotawa in Schwung brachte, zu welchem Zwecke er den Fluss zwischen seiner Säge bis Unterreichenstein hin regulieren ließ, eine Leistung, von deren Schwierigkeit man sich nur dann einen Begriff machen kann, wenn man den Fluss vor derselben gesehen hat. Dieselben gewaltigen Felsenmassen erfüllten ihn einst, die wir bereits in der Schachtelei kennengelernt haben. Jetzt ist er für Flöße befahrbar, muss jedoch bei niedrigem Wasserstande durch Schwellen gespeist werden. Gefahr- und mühelos ist freilich die Fahrt keineswegs.

Wer in Prag den Bubenicekschen Holzgarten kennt, wird sich eine Idee machen können von der einstigen Ausdehnung und Bedeutung dieses Geschäftes. Hunderte von Menschen fanden hier oben in diesen armen Gegenden direkt oder indirekt Beschäftigung und Erwerb.

Seit einer langen Reihe von Jahren pflegte der alte Herr den Sommer mit seiner Familie hier zuzubringen, und da fehlte es an fröhlichen Gästen nicht. Er selbst aber war geehrt und geachtet wie ein Vater von der ganzen Bevölkerung an beiden Ufern des Flusses bis weit hinein ins Land.

Ich weiß mich aus meiner Jugend auf den ehemaligen Kompagnon des Herrn Bubenicek, Herrn Löw, zu erinnern. Der hatte einst einen polnischen Burschen, einen gar drolligen Kauz, dessen sonderbares böhmisch-polnisches Sprachkonglomerat uns mitunter zu unbändiger Heiterkeit stimmte. Einst war ich Zeuge von folgendem Gespräch zwischen Herrn und Diener, das gegen 7 Uhr Abend an der Türe des Pferdestalles geführt wurde.

Der Herr: Dal jsi kňům obrok?

Der Diener: Co jest obrok, wielmožny pane?

H.: Zrát

D.: Žraé? Barka niemluwi obrok, kiedy dawa prosiçntom –

H.: To se říká jen u koňů. Dal jsi jim tedy žrát?

D.: Co bych dal? Kiedy kohut zaspiewa, jakwielmožny pan kazal. Ješèe niezapiel do teraz.

H.: I ty zpropadený hlupáku! Ráno máš konì krmit, když kohout zazpívá a ted je sedm hodin vecer.

D.: Tak, tak, to jen ráno. A večer, to nietrzeba čekač?

H.: Ty jsi ukrutný osel!

D. (mit tiefer, demütiger Verbeugung): Tak jest, wielmožny panie!

Der Herr: Hast du den Pferden obrok gegeben?

Der Diener: Was ist »obrok«, sehr geehrter Herr?

H.: Fressen

D.: Fressen? Barka sagt nie obrok, wenn sie den Schweinen was gibt.

H.: Das sagt man nur bei Pferden. Hast du ihnen also zu fressen gegeben?

D.: Warum denn? Wenn der Hahn kräht, wie der gnädige Herr befohlen hat. Noch hat er nicht gekräht.

H.: Du verfluchter Dummkopf! Morgens sollst du die Pferde füttern, wenn der Hahn kräht, jetzt ist es sieben Uhr abends.

D.: So so, nur morgens. Und am Abend nicht warten?

H.: Du bist ein großer Esel!

D. (mit tiefer, demütiger Verbeugung): Ja, gnädiger Herr.

Es muss sich aber niemand denken, dass der betreffende Scapin ein beschränkter Mensch war. Im Gegenteil, er war ein sehr aufgeweckter Bursche und treu und ehrlich; er hatte aber eine förmliche Manie, unter allen Umständen die sonderbarsten Ausreden bei den Haaren herbeizuziehen, wenn er bei irgendeiner Vernachlässigung betroffen wurde.

Doch weiter, lieber Leser. Wenn wir schon bei der Vincenzsäge sind, so wollen wir einen kleinen Abstecher nach Unterreichenstein machen. Das Wotawatal ist reizend und höchst romantisch. Die obere Partie führt den nicht sehr einladenden Namen »Schelmergasse«; ich konnte nicht dahinterkommen, woher dieser Name hergeleitet ist. Die Bezirksstraße, die uns jetzt bequem weiterbefördert, führt uns an interessanten, ruinenhaft geformten Felsenwänden vorüber; die Herstellung der erwähnten Straße war eine zwingende Notwendigkeit für den immer reger werdenden Verkehr, da der Weg unten im Tal geradezu gefährlich war.

So geschah es vor etwa 20 Jahren, dass ein Bauer aus Rehberg, der mit seinem ziemlich schwer beladenen Wagen des Weges daherfuhr, von einer plötzlich hereinbrechenden Überflutung erfasst wurde. Mit großer Not gelang es ihm, sich und das eine Pferd zu retten, das andere ertrank und wurde samt dem Wagen von den rasenden Wellen fortgeschwemmt.

Unterreichenstein liegt ungemein reizend tief unten im Tale am rechten Flussufer: links erhebt sich die große Glasfabrik Klostermühle. Es waren hier auch schönere Zeiten, solange die alte Frau Gerstner, verwitwete Lötz, noch waltete. Eine brave, energische und dabei einfache Dame, welche die umfangreiche Fabrik allein mit seltener Umsicht leitete. Drei hoffnungsvolle Söhne waren ihr erblüht: sie alle starben dahin im besten Mannesalter, und einsam blieb die alte Frau zurück, die jeder segnet, der sie gekannt. Im hohen Alter zog sie sich zurück und übergab das Geschäft ihrem Enkel. Heute deckt sie die Erde. Herr v. Spaun, der heutige Besitzer, macht uns Ehre. Auf der Pariser Weltausstellung machten seine Erzeugnisse geradezu Furore. Er ist wohl der erste in unserem Waldgebirge, dessen Brust der Orden der Ehrenlegion schmückt.

Dies Unterreichenstein liegt so geschützt von allen Seiten, dass kein kalter Wind es berühren kann. Es ist merkwürdig, was für herrliches Obst hier gedeiht, selbst Weintrauben kommen zur Reife, ganz im Gegensatz zu dem kaum drei Kilometer entfernten Bergreichenstein, dessen einziges und edelstes Obst – wie böse Zungen behaupten – Vogelbeeren sein sollen.

Als ich vor Jahren einst in Sachsen reiste, fragte mich ein biederer Bewohner dieses höflichen Landes, wo ich wohl zu Hause sei. »Im südlichen Böhmen«, antwortete ich. »Nu, erlauben Sie mal, da muss ja schon ein warmes Land sein; da reifen wohl schon die Apfelsinen im Freien?« 0 Apfelsinen des Böhmerwaldes, ihr harzreichen Fichtenzapfen, auch die Papageien fehlen euch nicht, die zur Staffage dieses südlichen Bildes gehören, die grünen und roten Kreuzschnäbel, die im Dezember brüten.

Hier unten im Tale tritt auch eine Erscheinung auf, die man oben in den Bergen fast ganz vermisst: der Kretinismus, oder doch wenigstens die entschiedene Neigung zum Blähhals, eine Erscheinung, die uns so ernüchternd entgegentritt in der herrlichen, majestätischen Alpennatur Salzburgs und der Steiermark. Wie grausam werden da die bezaubernden Bilder von lieblichen, gesundheitsstrotzenden Sennerinnen vernichtet! Du lieber Gott, Poesie und Wirklichkeit! Böse Zungen gibt es überall; die der umliegenden Gebirgsortschaften spotten der braven Reichensteiner, indem sie behaupten, dass etwa alle zehn Jahre hier ein Freudenfest abgehalten wird, wenn nämlich wieder einmal ein Unterreichensteiner Stadtkind den Rock des Kaisers anzieht; doch sei dies unter zehn Fällen neunmal der Sohn eines Zugewanderten.

Mein lieber, guter Pfarrer Cimrhanzl, auch dich deckt bereits die Erde, mein treuer Freund, den das Schicksal hierher schlug! Geschmäht haben sie dich und verfolgt, weil sie dein goldenes Herz nicht kannten. Drei, vier Stunden weit musste er gehen, wenn ein Sterbender ihn rief, in Sonnenbrand und tiefem Schnee, in peitschendem Regen und heulendem Wind, bis seine armen Füße erlahmten und ihn nicht mehr trugen. Möge unsere Erde dir leicht sein und deine Pfarrkinder deiner in Liebe gedenken, wie ich es hier tue.

Doch lang wollen wir ja nicht hier bleiben, lieber Leser; besieh dir die Glasfabrik in Klostermühle, und du wirst unsere Industrie achten lernen, dann aber lass uns umkehren ins Gebirge, nach Rehberg, von wo aus wir noch manchen interessanten Ausflug machen können. Es gibt ja hier nicht viel zu sehen, und die Halden an den Berglehnen, die dir kahl entgegenblicken, sind taubes Gestein, das kein Gold mehr enthält, wie in früheren Jahrhunderten, wo es lebhafter hier zugehen mochte als heutzutage, gleichwie in dem benachbarten Bergreichenstein, das einst König Johann dem Luxemburger 500 bewaffnete Bergknappen zur Verfügung stellen konnte.

Wirf noch einen Blick hinauf aufs »Klapperl« – so heißt der hohe Berg im Nordost – und komm. Links von der Straße, die du gegen Rehberg hin einschlägst, steht auf hoher Steinwand ein hölzernes Kreuz. Diese Wand lenkte einst ein furchtbares Gewitter von der Stadt ab auf sich, und Schlag auf Schlag fuhren die Blitze daran hinunter. Zum Andenken an dieses Gewitter stellte man dort dieses Kreuz auf.


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