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Siebentes Kapitel

Der Ameisenjäger – Der Rachelsee – Die Übeltäter von Babylon und ihre Strafe – Ein Leichenfeld – Der Oktobersturm von 1870

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Siehst du, lieber Leser, wie weit diese Kriegsgeschichte uns fortgebracht hat aus unserem traulichen Rachelhaus, wo wir unser friedliches Hauptquartier aufgeschlagen haben. Es ist Zeit, dass wir dahin zurückkehren, sonst wird man uns vermissen und vielleicht gar in Wald und Sumpf suchen. Wir finden heute Gesellschaft, und das trifft sich ja nicht alle Tage.

»Grüß Gott, Ferdl!« hat eben der eine Holzhauer gesagt, als ein sonderbar aussehender Patron in die Stube getreten war, eine wetterbraune Gestalt, in Hauswollstoff von dunkelgrauer Farbe gekleidet, voll blauer und schwarzer Stofflecke, die seinem Rock das Aussehen eines verschrobenen Schachbrettes gaben. Über den Rücken trug er einen mächtigen Sack. Sowie er eintrat, erfüllte die Stube ein durchdringender, aber durchaus nicht unangenehmer Geruch nach Ameisensäure.

»Das ist ja der Umoißferdl (Ameisenferdl)«, sagte das Weib, das am Herd »geröst'te« Nudeln bereitete. »Setzt Euch nieder, Mann. Wie geht's« Und der Mann erzählte, was ihm so täglich vorkam, mit welchen Leuten er gesprochen, was es im Walde Neues gab und dergleichen mehr. Und wie er da saß auf der Ofenbank, das Haar triefend von Nässe, mit den dichten, bereits weißlichen Stoppeln im Gesicht und die blauen Augen so ehrlich und fragend auf mich gerichtet, den sonderbaren Gast in dieser Öde, da dacht ich so bei mir: Das ist auch einer von jenen armen Kämpfern ums tägliche Brot, die im Schweiße ihres Angesichts um ihr Dasein ringen.

Und so ist es auch. Der arme Ferdl durchstreift die Wälder nach Ameisenhaufen und trägt die erbeuteten Eier oder richtiger Puppen weit fort ins Land hinein, nach Bergreichenstein und Winterberg und nach Bayern hinaus. Was soll er auch tun? Er war früher Holzhauer, da hat ein fallender Stamm seine Rechte zerschmettert, und der verstümmelte fingerlose Stump der Hand vermag nicht mehr die Axt zu führen. – Er lag noch krank darnieder auf seinem ärmlichen Lager, da kam die Ruhr, der böse Gast, der manchmal im Hochsommer unser Gebirge aufsucht, und raffte sein Weib und seine beiden Kinder dahin. Er konnte ihnen keinen Arzt holen, und als die Nachbarn dies taten, war es schon zu spät. Eins nach dem andern trugen sie fort, und er konnte ihnen nicht einmal das letzte Geleite geben, so schwach war er von dem Wundfieber und vom Blutverlust.

So steht er denn da, allein in der Welt, und geht seinen stillen Weg mit Sack und Schaufel und klagt, dass auch seine Ernte mit jedem Jahre geringer wird, in dem Maße, als die Wälder abgetrieben werden. Er arbeitet jedoch unverzagt und meint, Gott werde es ihm ja doch verzeihen, dass er den armen Tieren ihre Brut wegnehme, es würden ihrer ja doch zu viele werden; er gebe ja Obacht, dass er den Tieren selbst nicht weh tue.

Du brauchst dir nichts daraus zu machen, lieber Leser, dass der Ferdl heute unser Strohlager teilt; er ist ein braver Mann, und wenn du tausend Gulden im Walde verlörest und er fände sie, ich wette, er brächte dir das Geld. Er ist mehr wert als mancher, der in prächtigen Equipagen herumfährt; an seinem Kreuzerverdienst klebt kein Schweiß bestohlener Mitmenschen.

»Lebt wohl, Ferdl, möge der Winter Euch gnädig sein und Ihr auskommen mit dem Geld, das Ihr Euch im Sommer erspart!« So sagt' ich am Morgen, und der Ferdl sah mich treuherzig an und sprach: »Gott geb's, Herr!«

Folge mir nun, lieber Leser, zum Rachelsee; wir wollen versuchen, ob es uns gelingt, von der böhmischen Seite zu diesem einsamsten und düstersten aller Böhmerwaldseen vorzudringen; gewöhnlich unternimmt man jetzt diese Partie von Bayern aus, da von St. Oswald ein anständiger Weg dahin führt, der auch Fuhrwerken keine nennenswerten Schwierigkeiten bietet. Ich will's dir nur gestehen, ich war in letzterer Zeit nicht dort, wohl aber einigemal in meiner Jugend; und Erinnerungen aus jener verklungenen Zeit sind es, die ich dir zu bieten vermag. Wie du übrigens von der Rachelspitze bemerken konntest, ist der See jetzt eingedämmt und kann sein schwarzes Wasser zur Holzschwemme abgelassen werden, wie dies ja auch bei den übrigen Seen geschieht. An seinem tieftraurigen Ufer erhebt sich eine unlängst erbaute blockhausähnliche Hütte, die einem Heger zur Wohnung dient; du kannst hier, wie mich die Böhmerwaldbücher belehrt haben, ein Glas bayerischen Bieres und etwas zum Essen bekommen. Der Abfluss des Sees ist ein starker Bach, der, mit anderen vereinigt, die große Ohe bildet, die wiederum der Ilz tributpflichtig ist. Du siehst, wir sind nicht mehr im Stromgebiet der Elbe, wohl aber in demjenigen der Donau, welche die Ilz in Passau aufnimmt.

Wie es heute in den Wäldern unmittelbar um den See herum aussieht, darüber vermag ich, wie schon gesagt, aus eigenem Augenschein nichts zu berichten; schon der Weg, der hier angelegt wurde und wovon in meiner Jugend keine Spur vorhanden war, deutet darauf hin, dass die Axt mitgespielt hat in dem vielaktigen Trauerspiel, dessen unterliegender Held, der majestätische, altersgraue Urwald, so mächtig zu unserem Herzen spricht. Als Jüngling wagte ich den Abstieg zum See von der Kuppe des Rachel aus und schaudere fast, wenn ich heute an dieses Wagnis denke, wobei ein abrollender Stein, ein losgerissener Strauch, an den die Hände sich klammerten, mich mehrere hundert Fuß tief von der Seewand herab geschleudert hätten. Wir hatten damals den Abstieg ziemlich spät am Nachmittag begonnen – mein Begleiter war ein Holzhauerbursche in meinem Alter –, und es dämmerte bereits, als wir am See anlangten. Tintenschwarz lag das stille Gewässer vor uns da, erfüllt von den modernden Baumstämmen, die im Laufe der Jahre, durch Stürme entwurzelt oder vom eigenen Alter überwältigt, im See ihr Grab gefunden – tot in der toten Flut. Denn tot ist der düstere Wassertümpel im wahrsten Sinne des Wortes. Kein Vogel belebt seine Ufer, kein Insekt summt um das Ohr des Neugierigen, der bis zu diesem entlegenen Fleckchen Erde dringt – eine beängstigende Einsamkeit. Tot ist auch das Wasser, von keinem Fisch, keinem Wassertiere belebt, als hinge über ihm der Fluch des Ewigen, wie über dem Toten Meere, dessen bleischwere Wogen über die schuldvollen Städte Sodom und Gomorrha seit unerdenklichen Zeiten dahinrollen, vergiftet von der Sünde der Einwohner. Ich kann's nicht leugnen, die Öde schnürte mir die Brust zusammen, und doch hatte sie mir's mit mächtigem Zauber angetan: ich konnte mich von diesem Orte nicht trennen und schlug vor, da es ohnehin schon zu spät sei, die Nacht hier zu verbringen.

Diese Zumutung erfüllte meinen Begleiter mit Entsetzen und Grauen; es kostete mich viele Mühe, ihn endlich meinem Vorhaben günstig zu stimmen. Mit der Miene eines dem Tode Geweihten trug er dürres Holz zusammen, und als die Sonne unterging, loderte ein gewaltiges Feuer empor, dessen tanzender Schein Wald und Flut unheimlich beleuchtete.

Sonderbar! Sonst lockt die nächtlich züngelnde Flamme ein flatternd Geschlecht von Motten, Faltern und Mücken an, die, geblendet durch den schimmernden Lichtschein, lieber dem Tod zur Beute fallen, als dass sie dem Zauber, den der Glanz des Feuers auf sie ausübt, widerstünden: hier nichts von allem dem; bloß eine kleine Fledermaus ließ sich hie und da sehen, um rasch wieder zu verschwinden in den gigantischen Schatten der moosbedeckten Urwaldfichten. Kein Hauch bewegte die Luft, nicht einmal die Verbrennung vermochte einen Zug zu erzeugen, und der harzige Geruch der brennenden Nadeln konnte den Moderduft der faulenden Holzmassen nicht zurückdrängen.

Als wir dann dalagen, im Bereiche des Wärme ausstrahlenden Gluthaufens – es war kühl da am Wasser –, erzählte mir mein Begleiter eine phantastische Sage, welche mir sein Grauen erklären sollte; ich habe sie behalten trotz der langen Reihe von Jahren, die seit damals vorübergerauscht sind, und will versuchen, sie mitzuteilen.

Da lebte – vor mehr als hundert Jahren wohl –ein Ehepaar in einem zur künischen Gemeinde Stadeln gehörigen Weiler, der den ehrwürdigen Namen Babylon führt – »Pablohna« nennen's die Leute im Dialekt. Dieses Ehepaar hatte sich abgewandt von dem Pfade der Tugend und Rechtlichkeit; es gab keine Sünde, die es nicht begangen, sogar an Mord und Totschlag war es beteiligt gewesen. Das Blut der im Walde Gemordeten schrie um Rache empor zum Himmel; doch Gott in seiner unendlichen Langmut wartete zu, um den ruchlosen Sündern Gelegenheit zu geben, Buße zu tun. Zeichen geschahen am Himmel und auf der Erde, um sie zu schrecken und ihnen des Ewigen Zorn zu bekunden. Auch das war vergeblich. Kühn geworden durch die Erfolge seines Frevels, forderte das Paar frech den Himmel heraus und verstieg sich zu einer grausen Tat, die an teuflischer Bosheit alles Bisherige übertraf. Das Weib brach nächtlicher Zeit ein in die Kirche zu Gutwasser und raubte die Monstranz samt dem Leibe des Herrn. Zu Hause angekommen, bestimmte sie ihren Mann, dem vor dieser Tat doch grauen mochte, den Leib des Herrn einer Kuh zu geben, um sich zu überzeugen, ob das Brot wirklich Christus sei.

Als das Tier das Brot verzehrt hatte, fiel es in die Knie und sprach mit menschlicher Stimme schreckliche Worte. Alle, die es hörten, fasste namenloses Entsetzen, das Ehepaar jedoch stach die Kuh nieder; später fand sich die Hostie ganz und unversehrt in ihrem Magen und konnte ihrer heiligen Bestimmung wieder zugeführt werden.

Das Maß war voll. Gottes Strafgericht brach herein, und ein plötzlicher, schmerzvoller Tod befreite die Erde von diesen Scheusalen. Als aber die Mitternachtsstunde kam, zeigte es sich, dass ihre Seelen keine Ruhe gefunden. In der Gestalt von zwei schwarzen Zicklein kehrten sie in ihre Behausung zurück; laut ertönte das Meckern durch das stille Dorf. Man bestattete die beiden Toten, doch ihre Seelen fanden keine Ruhe; in derselben Gestalt kehrten sie allnächtlich wieder und blieben bis zum Hahnruf.

Die Dorfbewohner wandten sich an den Pfarrer in Unterreichenstein, damit er die unreinen Geister »verspreche«. Der Geistliche kam in vollem Ornat, besprengte die Zicklein mit Weihwasser und sprach die vorgeschriebenen Formeln des Exorzismus. Doch diese wichen nicht und warfen dem Pfarrer sogar mannigfache Sünden vor, die er sich hatte zuschulden kommen lassen. Einem zweiter und dritten Geistlichen ging es nicht besser, und schließlich wollte sich keiner mehr zum Besprechen hergeben, weil die Welt die geheimen Sünden fast sämtlicher Geistlichen der Umgebung durch die indiskreten Zicklein erfahren hatte.

Die durch den unheimlichen Geisterspuk aufs höchste beunruhigten Dorfbewohner wandten sich in ihrer Not schließlich an einen jungen Neomisten, den Pater Weishäupl aus Innergefild Diesem wusste der Teufel, der aus den Zicklein sprach, keine andere Sünde entgegenzuhalten, als dass er einst in der Jugend seiner Mutter drei Eier gestohlen habe, und auch diesen Vorwurf parierte der Mann, indem er nachwies, dass er jene Eier wohl genommen und einem Kranken gegeben, die mütterliche Genehmigung jedoch nachträglich eingeholt habe. Der böse Geist gab sich überwunden, und pater Weishäupl verwünschte das ruhelose Ehepaar an den einsamsten Ort der Erde, und als solcher erwies sich der Rachelsee. Pater Weishäupl galt von nun an für einen heiligen Mann, die unreinen Seelen am Babylon jedoch spuken fort in und am Sec, und mancher Holzhauer, Jäger und Schwärzer hat in dunkler Mitternachtsstunde ihr klagendes Meckern gehört, eine ernste Warnung an die Sünder.

Den See selbst hat Gott verflucht, und alle Fische, von denen er früher wimmelte, starben, sowie die unreinen Seelen einfuhren. Ein alter Mann hat die Zicklein einst gesehen und bemerkt, dass das Böcklein einen kleinen weißen Fleck an der Brust habe, welcher der Geiß fehlte. Daraus schloss er, dass der Mann noch erlöst werden könne. Bisher hat es aber niemand versucht.

Am Morgen des anderen Tages verließen wir den einsamen Ort und schlugen uns durch den Wald zum Rachelhause durch, ein mühseliger Marsch und nur in trockenen Sommern auszuführen, da sonst ungangbare Filze jedes Vordringen unmöglich machen. Du, lieber Leser, gehe lieber über St. Oswald nach Zwiesel in Bayern, von wo du dann weiter hineingehen magst ins gute bayerische Land, zur Rusel, einem mäßig hohen Berg, von dem man jedoch eine prachtvolle Aussicht ins Land hinein genießt. Wenn du dort ins Wirtshaus kommst, so magst du dich nach den alten Fremdenbüchern erkundigen, du findest vielleicht manchen lieben Bekannten, denn die Rusel ist fashionable geworden in den letzten Jahren. Ich muss gestehen, ich durchblätterte sie ehemals gern, die alten Fremdenbücher; sie waren so harmlos und enthielten so manche interessante Bemerkung, so manchen Vers, der entweder von der hohen Begeisterung seines Verfassers oder von dessen göttlicher Naivität Zeugnis abgab. Jetzt ist das anders geworden; jetzt glaubt jeder Wicht, der da kommt, dass die Welt auf die blöden Ergüsse seines Hasses warte, die er, in Ermangelung anderer Ablagerungsstätten, in die Fremdenbücher leitet.

Wenn ich das alles sehe, so wird mir immer weh ums Herz. Da lebten wir früher so ruhig beisammen, und niemandem fiel es ein, nach der Nationalität des anderen zu fragen; es wurde kein Mensch tschechisiert noch germanisiert. Ist denn keine Möglichkeit da, dass sie wiederkehre, die goldene alte Zeit, wo wir alle Brüder gewesen in guten und schlimmen Tagen? Lasse man doch jeden in Frieden und schreibe keine leitartikelartigen Aperrus und keine geharnischten Fehdebriefe in die armen Fremdenbücher, die wohl nur deswegen so zersetzt und schäbig aussehen. Ein Weißbuch für uns oben im grünen Wald und kein Gelbbuch giftigen Hasses; wir wollen uns ja alle freuen in Gottes schöner Natur, ob deutsch, ob slawisch – gehört uns doch der Böhmerwald allen, und kommt ein Franzose oder sonst wer, so kann er sich auch drüber freuen, wenn er es nicht vorzieht, blutige Tränen zu weinen über die traurigen Verwüstungen jüngst vergangener Jahre und über die kleinlichen Menschen, die, selbst wenn sie einmal der Natur herrlichstem Tempel einen Besuch abstatten, ihren Hass nicht daheim lassen können!

Doch, wohin bin ich geraten? So geht es einem, lieber Leser, wenn man zu weite Ausflüge macht; vom Rachelhaus zur Rusel, von da nach all den Orten, wo Fremdenbücher ausliegen, und retour zum Rachelhaus ist mehr, als ein Mensch an einem Tage zu leisten vermag. Doch da wir glücklich wieder dort sind und nicht einmal ein Fremdenbuch vorfinden, um darin Betrachtungen anstellen zu können, so wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als zum Fenster hinauszuschauen, das heißt, wenn die Fliegen, die seit einer Reihe von Jahren die Scheiben mit Beweisen ihres lebhaft vor sich gehenden Stoffwechsels bedacht haben, den Ausblick gestatten. Aufgemacht dürfen die Fenster beileibe nicht werden, so etwas vertrüge die ungemein zarte Konstitution der Holzhauer und ihrer auch im Winter barfüßig herumlaufenden Sprösslinge durchaus nicht. Es sind deshalb die Fensterrahmen mit mächtigen Nägeln an das Futter befestigt und würde das Öffnen nur mit Stemmeisen und Zange zu bewerkstelligen sein.

Wenn es uns also doch nicht verwehrt wird, hinauszublicken, so würdest du, lieber Leser, gegen Süden einen Wald sehen, der dir die weitere Fernsicht verwehrt. Ich kann heute unmöglich verlangen, dass du den Versuch wagest, diesen Wald in südöstlicher Richtung zu durchmessen, will dir aber erzählen, was ich dahinter gesehen habe.

Es erhebt sich daselbst ein ziemlich steiler Berg – die Generalstabskarte hat keinen Namen dafür, und ich weiß auch keinen –; dieser Berg ist nun ganz mit entwurzelten Bäumen bedeckt, die entrindet und weiß in der Sonne glänzen und im Mondlicht gespenstisch leuchten. Diese Stämme bilden stellenweise undurchdringliche Verhaue, deren Zwischenräume üppig wucherndes Himbeerkraut ausfüllt – Holpa, Holpirla heißen sie hier, Malinen im Winterbergischen –; es ist schier unmöglich, hier durchzukommen. Die Stämme liegen da seit dem großen Windbruch vom Jahre 1870, und keine menschliche Hand vermochte sie wegzuschaffen; das Ganze gleicht einem riesigen Schlachtfelde, wo die Leiber der gefallenen Recken zu Mumien verdorrt daliegen, wie die mähende Sense der Walküren der Wahlstatt sie niedergestreckt hatte. Mit ziemlicher Anstrengung ist es mir gelungen, ein wenig in dieses Gewirr einzudringen, und da sah mein Auge einige modernde Balken, die eine Menschenhand gebaut haben musste.

»War etwa da eine Holzhauerhütte gestanden?« fragte ich den mich begleitenden Holzhauer aus Kinitz-Tetau. »Jawohl, Herr«, ward mir zur Antwort – »und Gott und seine Engel haben auch hier gewaltet.« Der Mann erzählte mir nun wieder eines jener Ereignisse, die sich so häufig hier abspielen.

Ein Holzhauer mit seinem Sohne war hier oben beschäftigt. Tag um Tag verging in der gewohnten Arbeit, bis der verhängnisvolle 28. Oktober des Jahres 1870 kam. An diesem Tage regnete es in Strömen; plötzlich, gegen Abend wurde es ungewöhnlich warm – eine drückende Schwüle lag bleischwer über den dampfenden Wäldern. Die beiden Holzhauer hatten bereits die schützende Hütte bezogen und schickten sich an, von ihrem Mooslager Gebrauch zu machen. Da machte der Sohn den Alten auf ein eigentümliches Heulen aufmerksam, das aus hoher Luft zu kommen schien. Beide traten vor die Hütte. Um sie herum war's ruhig, unheimlich still; man hörte bloß die schweren Wassertropfen, die von den durchnässten Zweigen rieselnd zu Boden fielen, und ein fernes heulendes Brausen. Plötzlich war's, als käme es näher, etwas Unsagbares, Entsetzliches – in hohen und tiefen Tönen pfiff es daher, ein Windstoß fuhr durch die Wipfel der hohen Fichten, die einen Sprühregen herabsandten und sich tief bogen, seufzend und stöhnend, als ahnten sie ihr nahes Ende.

Damit brach's los, mit einem Krachen, Prasseln und Poltern, als wären die Giganten erstanden aus den Schlünden des Tartarus und als schmetterten sie wuchtige Felsblöcke gegeneinander, als wollten sie die Erde zertrümmern und sie auflösen in ihr ursprüngliches Chaos.

Entsetzt flüchteten die beiden in die Hütte; hier jedoch war kein Bleiben. »Wir müssen fort!« schrie der Vater. »Hierher werden die Bäume fallen.« Hinaus also ging's in das Toben der Elemente; rabenschwarze Nacht umfing sie. Ringsherum schmetterten dröhnend die entwurzelten Stämme zu Boden. Ihr Schutzengel führte sie zu einer bereits niedergestreckten mächtigen Fichte, deren Wurzelgewirr, hoch in die Luft ragend, ihnen Schutz bot. Sie verkrochen sich bebend unter demselben, und Stamm auf Stamm polterte nieder, neben sie, über sie hinweg, sich in den Wurzeln und Ästen des gefallenen Baumes verfangend und das Schirmdach über ihnen vergrößernd und vervollständigend.

Die ganze Nacht tobte der rasende Orkan, und als es hell ward mit Sonnenaufgang, sahen sie, dass sie förmlich gefangen waren zwischen den niedergefegten Stämmen; bis gegen Abend erst durften sie daran denken, das Obdach, das der Sturm selbst ihnen gebaut, zu verlassen, was nicht ohne große Mühe geschehen konnte. Schrecklich war der Anblick, der sich ihnen bot: von dem ganzen Wald, der diese Lehne bedeckte, war auch nicht ein hoher Stamm stehengeblieben, sogar das Unterholz hatten die stürzenden Bäume zerknickt und zermalmt. Die Hütte aber, aus der sie entflohen, hatten fünf entwurzelte Fichten getroffen und sie dem Erdboden gleichgemacht. – Man kann sich denken, mit welchen Gefühlen die beiden heimkehrten.

Als am Vorabende der Sturm losgebrochen, da hatten ihre Lieben daheim, vom alten Großvater bis zum kleinsten Enkel, gebetet in der schönen Ecke mit den alten Heiligenbildern, und jeder neue Stoß der Windsbraut hatte ein Echo wachgerufen in der verzweifelten Brust der Geängstigten.

»Das ist der Untergang der Welt«, hatte der Großvater gesagt, »das sind die Zeichen und Wunder, die geschehen; wie sollt es auch anders sein? Ein König hat bereits zwei Kaiser überwunden: ist das nicht auch ein Zeichen?«

Und als die Geretteten heimkehrten, da wallfahrtete das Weib hin zur Hauswaldkapelle in Rehberg und brachte zwei Wachskerzen für die Mutter Gottes, und ihre zitternden Hände warfen zwei Kronentaler in die Opferbüchse.

Die Balkenreste jedoch, die ich gesehen, waren übriggeblieben von der zertrümmerten Hütte.


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