Egon Erwin Kisch
Aus Prager Gassen und Nächten
Egon Erwin Kisch

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Prags Erwachen

Schon wieder ist's Tag geworden.« Man registriert dieses Faktum, wenn man die Türe schließt und auf die Straße tritt. Da drinnen spielen die Zigeuner den Rakoszy-Marsch zum Abschied, aber die aufpeitschenden Zimbaltöne dringen nur gedämpft heraus und haben in der Morgenluft ihre faszinierende Wirkung eingebüßt. Man knöpft sich fröstelnd den Rock zu, entzündet die letzte »Prinzesas« und ist der Sonne gram, die schon wieder einmal über dem Wysotschaner Firmament aufgestiegen ist, bevor man noch zu Hause im Bette liegt. Man flucht über das teuflische Raffinement der Nachtlokalbesitzer, die in den sonst so verschwenderisch ausgestatteten Räumen keine Uhr anbringen. Man flucht auf Wein, Gesang und Weib. Man verflucht sich selbst.

Beim »Spinka« bleibt man stehen. Die ersten Elektrischen fahren auf, immer in einer Richtung von der Remise kommend, so schnell, daß man denken könnte, man wäre in Berlin oder sonst in einer Großstadt. Aber bekanntlich wird das Tempo immer langsamer und erst um Elfe abends, auf dem Wege zur Remise, erlangen die Waggons wieder Schnelligkeit. Vom oberen Wenzelsplatz kündigen große Staubwolken das Herannahen der Hygieia an, den stattlichen Zug Prager Straßenkehrer mit dem Zeichen ihrer Macht, dem Kehrbesen. Sonst ist der Platz menschenleer, auf den sich die Prager sonst so viel einbilden, weil er die einzige Stelle ist, auf der sich hie und da das Großstadtgetriebe ent- und abwickelt, und weil er einen Inselperron hat wie der Potsdamerplatz. Auch das Kandelaber-Grandcafé fehlt schon beim »Spinka«. Die Cafétiere ist Punkt 4 Uhr mit ihrem geräderten Teehaus zur städtischen Sparkassa übersiedelt, wo sie den Marktweibern, den Fuhrleuten, deren Helfershelfern und den mächtigen Marktpolizisten einen heißen Morgentrunk kredenzt. Auch der Standplatz der Droschken ist verwaist. Nur der Polizist steht Tag und Nacht da, mißmutig wartet er mit heißem Sehnen auf den Missetäter oder mit noch viel heißerem auf die Ablösung. Höflich salutierend legt er die Hand an seinen Chanteclerhut, aber mit dieser Höflichkeit kontrastiert ein 176 unterdrücktes Lächeln, das zu sagen scheint: »Du unverbesserlicher Flamender! Unsereiner wäre glücklich, schlafen zu können und muß Nächte aufbleiben, der da könnte schlafen und will nicht.« Ich muß ihm doch wenigstens zeigen, daß ich nüchtern bin.

»Na, was war los während der Nacht?«

»Nichts, Besonderes gar nichts. Am Leonhardiplatz haben's einen beinahe erstochen. Wie er heißt, weiß ich nicht, 712 war dort. Dann war eine Rauferei beim »Silbernen Dreier« und dann haben wir eine »Dame« wegen schlechter Buchführung verhaftet.«

»Guten Morgen.«

Weiter geht der einsame Weg. Aus den Nachtlokalen tönt noch Musik, ersterbend. Mehreremale muß Halt gemacht werden, denn alle Leute, die man trifft, sind Bekannte. Da begrüßt einem der alte Fiala in seinem alten, abgetragenen Havelock, der nächtliche Wetterprophet. Um zwei Kreuzer prophezeit er den Gästen das schönste Wetter, um drei Kreuzer gibt er es sogar schriftlich, sein Stolz ist, daß er den Zusammenstoß des Halleyschen Kometen mit der Erde und ihren Untergang mit derselben Bestimmtheit vorausgesagt hatte, wie die Sternwarte der Harward-Universität. Die alte Frau da mit der alten Seidenmantille, die wohl auch einstens bessere Tage gesehen, spielt den Gästen in einer Weinstube auf der oberen Neustadt bis früh zum Tanz auf, sie hat eine Familie zu ernähren und weiß nicht, ob der Erlös der Nacht ausreichen wird, aber sie darf sich ihre Besorgnis nicht anmerken lassen und muß das belebende Lied von den »Honey boys« immer wieder mit Lust und Verve spielen, muß immer wieder ihre Zündhölzchenkunststücke zum Besten geben und muß immer wieder den Pommery trinken, den ihr splendide Gäste widmen. Dort kommt mir mit militärischer Pünktlichkeit im Laufschritt ein Einjährig-Freiwilliger entgegen. Vor drei Stunden da habe ich ihn noch tanzend in einem vornehmen Etablissement gesehen. Aber welch eine Metamorphose hat er durchgemacht! Mitten in all dem Glanz und Flitter da hatte er blitzende Lackschuhe, elegante hellblaue Kammgarnhosen mit Strupfen, einen tiefdunklen Waffenrock mit hohem Kragen und strahlenden Silbersternen und eine Mütze – die Vorschriftswidrigkeit selber. Jetzt aber ist der Glanz der Sterne verblichen, der der Schuhe verblaßt, der Kragen zusammengeschrumpft, die Mütze die Vorschrift selber, die Uniform hat 177 ihre Buntheit eingebüßt und ist grau und fad wie der Morgennebel und wie der Staub, der in dichten Schwaden aus dem Besen der Straßenkehrer emporwächst. Und der Blick des Marsjüngers, der um zwei Uhr nachts so stolz und sieghaft war, ist jetzt müde und neidisch, wie eben der Blick eines Soldaten sein kann, der nach durchjubelter Nacht zum Exerzieren auf den Sandberg eilt und einen Zechkumpan trifft, der jetzt ruhig schlafen geht. Dort kommt ein anderer Bekannter. Ein alter Detektivinspektor, schon lange im Ruhestande. Aber er kann nicht schlafen. An vierzig Jahre hat er gefahndet und inspiziert – nun kann er das Nachtwachen nicht mehr lassen und geht die ganze Nacht spazieren. Ein Gummiradler kommt vorüber. Die Direktrice der »Roten Mühle« fährt nach Hause. Gleich hinter dem Gummilutscher rollt ein schweres Gefährt durch die Gasse: Die Kanalräumer haben ihr nächtliches Tagewerk beendet.

Es ist die Stunde des Schichtwechsels. Ein Teil der Stadt geht schlafen, ein Teil der Stadt erwacht. Noch ist nicht Frühstückszeit und schon leiht die Sorge um den Mittagstisch den Gassen das Gepräge. Eine lange Kette von Landwagen – die Retterinnen des Kapitols sind ihre Passagiere –, Hundegespanne mit Gurkenladung, riesige Streifwagen mit Kohlköpfen und Salat, die weißen Wagen der Dampfmolkereien, Bauersleute mit gemüsebeladenen Schubkarren, alte Weiber mit Schwämmen, Erdbeeren und anderen Waldfrüchten eilen der Altstadt zu. Sie bringen dem »Bauche von Prag« ihre Opfergaben. Die Weiber, die seit dem Abend unter den Lauben des Kohlmarktes auf dem Straßenpflaster zusammengekauert oder lang ausgestreckt geschlafen haben, stellen sich längs des Trottoirs hinter ihren Körben auf, in denen Obst und Pilze sind. Sie suchen die Ware in der Zeit von 4 Uhr bis 7 Uhr früh loszuwerden, da sie innerhalb dieses Zeitraumes noch keine Marktgebühr zu entrichten haben. Deshalb ist in diesen drei Stunden die Ware billiger und die armen Leute, die Gemüsegroßhändler und die Zwischenhändler decken schon jetzt ihren Bedarf.

Auf dem Altstädter Ring ist um diese Zeit Markt. Rings um die Marienstatue scheint die Wagenburg eines Hussitenlagers errichtet zu sein. An hundert Gemüsewagen stehen hier mit vorgespannten Pferden und lassen drei Straßen frei, in denen 178 sich das Kaufgetriebe abspielt. Es sind fast durchwegs Gemüsehändler, die einkaufen. Nur an der letzten Wagenreihe, die der Teinkirche am nächsten ist, drängen sich auch Frauen. Hier werden Kartoffeln feilgeboten und die Frauen des Volkes müssen einkaufen, bevor in den Preis die Marktgebühr einbezogen wird. Punkt 7 Uhr rollen die letzten Wagen davon, der Platz wird gefegt und die Prager, die erst jetzt erwachen und über den Ring gehen, haben jahraus, jahrein keine Ahnung, daß hier vor kurzem Jahrmarktstreiben herrschte.

Um diese Zeit neigt sich auch das wogende Leben, das von 3 Uhr morgens ab in den Kaffeehäusern und Suppenstuben der Galligasse und der Rittergasse herrschte, seinem Ende zu. Hier sitzen die Damen der Halle im Lokale, in dessen Mitte, ganz wie im Orient, der Herd steht, und besprechen bei einer Tasse Kaffee, die 20 Heller kostet, und bei einer Buchte um 6 Heller die österreichische Agrarpolitik und ihre Einwirkung auf die Fleischteuerung. Vergleichsziffern aus alten, besseren Zeiten illustrieren diese politischen und wirtschaftlichen Enunziationen. Manchmal ißt man vielleicht auch eine »drštková polévka« dazu, was laut Ranks Wörterbuch deutsch »Kuttelflecksuppe« heißt. Na ja, Ranks Wörterbuch ist eben kein Kochbuch, und so kann darin nicht verzeichnet sein, welche Fülle geheimnisvoller Ingredienzien eine kommune Kuttelflecksuppe zu einer Prager »drštková« stempelt. Die Schnapsbutiken sind voll von Leuten, die sich aus den zahllosen Fäßchen Arzneien gegen Mattigkeit und Nervosität kredenzen lassen. Die Gassen beleben sich immer mehr. Bäckerjungen, Fleischergehilfen, die auf dem Rade aus der Holleschowitzer Zentralschlachtbank in den Laden fahren, Nachtwächter, Plakatankleber und Zeitungsausträgerinnen sind die Passanten.

Schon wird der Posten eingezogen, der während der Nacht im »Alten Gericht« die Kasse des Steueramtes bewacht hatte. Wenige Minuten später ziehe ich die Glocke meines Hauses. Während der Hausmeister herbeikommt, um sein letztes Sperrsechserl einzuheimsen und dann das Haustor schon offen zu lassen, zieht der in Phantasieuniform gekleidete Bedienstete der »Wach- und Schließ-Gesellschaft« seine Uhr und richtet sie. Er weiß: Wenn ich nach Hause gehe, ist's Punkt 6 Uhr. Und da gibt es noch Menschen, die behaupten, ich führe keinen regelmäßigen Lebenswandel! 179



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