Egon Erwin Kisch
Aus Prager Gassen und Nächten
Egon Erwin Kisch

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Die Zwangsarbeitsanstalt auf dem Hradschin

Das rote Riesenhaus, das neben dem Garnisonsfilialspital breitspurig dasteht und die Lorettogasse verstellt, beherbergt gar seltsames Volk. Die Häftlinge der Strafanstalten sind unschuldige Waisenknaben gegen die Gäste dieser Anstalt, welche – ausdrücklich wird das hervorgehoben – durchaus keinen Strafzweck verfolgt. In den Strafhäusern gibt es Diebe, Betrüger, Raubmörder aus Not, Raubmörder aus Überlegung, Affektsverbrecher, die vielleicht ein zweites- oder ein drittesmal das Verbrechen nicht mehr verüben würden. In der Zwangsarbeitsanstalt wohnen nur Individuen, deren Strafliste ganz beträchtliche Dimensionen angenommen hat. Die Quantität der Strafen, nicht die Qualität entscheidet. Manche der Zwänglinge haben über hundert Strafen aufzuweisen, und wenn einer oder der andere auch ein mehrfach vorbestrafter Dieb oder Mörder ist, so ist er das nur nebenbei, und diese Bagatelle hat mit seiner Detention im Arbeitshause gar nichts oder nur wenig zu tun.

Die dreihundertdreißig braungekleideten Bewohner der Landeszwangsarbeitsanstalt sind aus harmloseren Gründen hier. Die Reichsgesetzblätter Nr. 89 und 90 vom Jahre 1885 haben die Errichtung der Zwangsarbeitsanstalten bloß zur Vermeidung von Vagabundage und Bettelei verfügt. Die Anstalten sollen einerseits ein Prohibitivmittel gegen das Landstreichertum, gegen die Belästigung durch Vagabunden und für die Verhütung von Verbrechen sein – ein Zweck, der wohl erfüllt wird. Aber andererseits sollen auch die hierher kommenden arbeitsscheuen Individuen gebessert, zur Arbeit erzogen werden. Damit ist es nichts. Siebzig Prozent bleiben ungebessert. Und die restlichen dreißig Prozent sind auch zum Teile als dubios zu buchen, denn wenn auch keine Mitteilung von einer Gerichtsstrafe eines oder des anderen Entlassenen eintrifft, wer bürgt dafür, daß nicht der biedere Landstreicher in der Zelle irgend eines Bezirksgerichtes unter falschem Namen Obdach gefunden hat? In den 72 Besserungsanstalten für Jugendliche sind gute Resultate aufzuweisen. Aber in die Prager Anstalt kommen nur Leute im Alter von achtzehn bis fünfzig Jahren und die können sich an seßhafte Lebensweise nicht mehr gewöhnen. Der Staub der Landstraße ist ihnen Lebenselement geworden, die Mühen der Fußwanderung und die Chikanen der Gendarmen fechten sie nicht mehr an, ein wilder Reisewahn hat sie gepackt, sie wandern von Ort zu Ort, der Schubwagen ist ihnen eine feine Reisegelegenheit, das Arrest ein famoses, warmes Obdach. Arbeiten – wozu? Wer weiß, ob sie nicht recht haben.

Gar mancher von ihnen hat Haus und Hof verlassen, um arm durch die Welt zu flanieren, viele lassen den Lohn in den Händen ihres Arbeitsgebers zurück, sie schleichen sich – vom Reisefieber plötzlich gepackt – bei Nacht und Nebel aus dem Hof und wandern auf Straßen und Feldrainen geldlos ins Weite. Was man braucht, kann man erbetteln, kann man stehlen. Gelegenheit zum Diebstahl ist immer da, Häuser, Ställe und Scheuern stehen offen. Und doch: Die Zahl derer, die in ihren hundertzwanzig Vorstrafen kein einziges Diebstahlsdelikt aufzuweisen haben, ist nicht gering. Ihre Liste ist einförmig. Immer kehren nur die §§ 1 und 2 des Vagabundagegesetzes wieder. Ehrliche Vagabunden. Sie sind auch durch die wiederholte Detention in Zwangsarbeitsanstalten nicht zu bessern und – nicht zu verderben.

Denn auch die Gefahr des schlechten Einflusses ist nicht ausgeschaltet, da in den Zwangsarbeitsanstalten die ehrlichen Vagabunden mit wiederholt bestraften Schwerverbrechern beisammen sind. Wünschenswert wäre, wenn für die Gewohnheitsverbrecher eigene Arbeitshäuser errichtet werden würden, oder wenn man sie deportieren würde.

Immerhin wäre es ungerecht, wenn man nicht konstatieren wollte, daß auch unter den gegebenen ungünstigen Verhältnissen jährlich eine ganz respektable Zahl von Gebesserten die Anstalt verläßt. So zum Beispiel ein lichtscheues Individuum, das vor Jahren an einem Raubmord in Prag beteiligt gewesen war. Der Gerichtshof hatte ihm eine mehrjährige Kerkerstrafe zuerkannt und sich außerdem für die Zulässigkeit seiner Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt ausgesprochen. Die »gemischte Landeskommission« bei der Statthalterei, welche die Aufnahme in die 73 Arbeitsanstalten verfügt, entschied sich für den Antrag des Gerichtes, und so kam der Bursche nach längerer Haft in Pankratz in die Zwangsarbeitsanstalt auf dem Hradschin. Hier benahm er sich so korrekt, daß man nach einem Jahre zu seiner bedingten Entlassung schritt, d. h. ihm eine Anstellung besorgte und ihn außerhalb der Anstalt wohnen läßt, trotzdem er noch in deren Stand gehört, und von dieser, wenn er sich nicht bewähren würde, jederzeit eingezogen werden kann. Aber er bewährt sich. In der Schneiderwerkstätte, in der er als Lehrling arbeitet, hat nur der Meister, nicht aber auch seine »älteren«, aber halb so alten Arbeitskollegen eine Ahnung von seinem Vorleben. Der Verein zum Wohle entlassener Sträflinge zahlt ihm die Wohnung, Kleidung und einen Zuschuß von wöchentlich zwei Kronen für Wäsche und Nachtmahl gibt ihm die Anstalt, die übrige Kost erhält er von seinem Meister. Er arbeitet überaus strebsam, und der einstige Raubmörder freut sich schon darauf, bald Geselle werden und sich sein Brot ehrlich selbst verdienen zu können.

Mag sein, daß man sich irrt, und daß der Bursche wieder zur alten Lebensweise zurückkehrt, wenn er dem Auge der Anstaltsleiter entrückt ist. Denn eigentlich sind alle Zwänglinge während der Zeit ihrer Internierung fleißig und folgsam. Sie arbeiten an den Handwebstühlen, an der Erzeugung von Papiersäcken, in den Tapezierer-, Schuster-, Schlosser- und Tischlerwerkstätten, in der Korbflechterei und im Anstaltsgarten, in der Küche und auf den Gängen, in den Arbeitskolonien auf den Feldern und Stallungen der kaiserlichen Güter in Litowitz, Hostiwitz, Rot-Aujezd und Tachlawitz, der Privatgüter zu Dubetsch, Kletzan, Biechowitz und Radigau, sie planieren und regulieren den Erdboden beim Bau der Landesirrenanstalt in Bohnitz und verrichten in der Kadettenschule, in der Strakaschen Akademie, im Palais Toskana und in der Landesfindelanstalt verschiedene Handlangerdienste. Sie arbeiten, weil sie von den anderen abgesondert werden würden, wenn sie das nicht täten. Strafen oder ein anderer Zwang zur Arbeit werden in der Zwangsarbeitsanstalt nicht angewendet. Dessen bedarf es umso weniger, als die Zwänglinge am Lohn ihrer Arbeit partizipieren. Sie sind in drei Klassen eingeteilt. Acht Monate bleiben sie in der dritten, der letzten Gehaltsklasse, in der sie zwanzig Prozent von ihrem 74 Verdienst erhalten, der Rest fließt dem Anstaltsfonde zu. Nach Ablauf der acht Monate rücken sie in die zweite Klasse vor, in der sie fünfundzwanzig Prozent behalten dürfen, nach weiteren acht Monaten in die erste Klasse, in der dreißig Prozent ihres Arbeitsertrages ihr eigen sind. Einen Teil dieser Dienstprämie darf der Zwängling zur Aufbesserung seiner Kost verwenden. Das Nachtmahl ist wohlweislich schon so frugal bemessen, daß es einer solchen Aufbesserung dringend bedarf – ein Ansporn zur Arbeit. Der Rest der Verdienstesprämie wird dem Korrigenden aufbewahrt und oft erhält dieser nach Ablauf seiner Internierung – diese währt mindestens zwei und höchstens drei Jahre – einen ersparten Betrag von hundert Kronen ausgehändigt.

Die Hoffnung auf die Aushändigung des Verdienstes kann manchen nicht vor dem Entweichen abhalten. Aus dem Anstaltsgebäude selbst kann wohl niemand flüchten, denn die Gittertüren auf den Korridoren und die dichtgekreuzten Eisenstäbe in den Fenstern haben aus dem alten Palast der Trauttmansdorffs, aus diesem stillen Kleinseitner Patriziergebäude, in dessen Garten vor drei Jahrhunderten Tycho de Brahe seine erste Sternwarte errichtet hatte, einen Käfig gemacht. Aber draußen in den Arbeitskolonien, wo die Sonne zur Wanderschaft lädt, wo das rote Wirtshausschild so freundlich zum langentbehrten Schnapsgenuß auffordert, wo ein Hügel dem Zwängling zeigt, daß kein Aufseher in der Nähe und die Welt so groß ist, da packt den Vagabunden die alte Leidenschaft, da vergißt er, daß ihn seine Kleidung stigmatisiert, da vergißt er, daß ihm die Flucht arg bekommen wird, da vergißt er, daß er für jede Strafe zwei Monate länger in der verhaßten Anstalt bleiben muß, da vergißt er, daß in der Zwangsarbeitsanstalt auch Pfähle sind, an die man strafweise angebunden wird.

Dort in der Ecke der Korbflechterwerkstätte sitzt so ein Bursche, der erst vor kurzem entwichen und wieder eingebracht worden ist. Direktor Tilšer geht vorbei und fragt auch ihn, wieviel er heute gearbeitet habe. Die Antwort wird in kaum verständlichem Tone geknurrt. Und aus den Augen des Gefragten kommt ein wilder Blick des Hasses, eine Botschaft jener Gefühle, die vor kurzem die Revolte der Korrigenden in Bohnitz entfacht und ein Menschenleben gekostet haben. 75



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