Egon Erwin Kisch
Aus Prager Gassen und Nächten
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Chef der Prager Detektivs

Der alte Lederer«, der Chef der Prager Polizeidetektivs, hat gestern, am 30. März 1909, im Sicherheitsdepartement sein Pensionierungsgesuch geschrieben, heute übergibt er es und morgen macht er schon keinen Dienst mehr. Zum erstenmale seit 38 Jahren. (Von den Krankheitszeiten abgesehen, die er im letzten Jahre zu bestehen hatte.) Nun hat er ausgedient und geht in den Ruhestand. Die Kunde wird bei allen, die ihn kennen – und die Zahl derer, die ihn kennen, ist immens – Interesse erwecken; mit Bedauern sehen ihn wohl nur wenige aus dem Amte scheiden. Er war bestgehaßt. Ein Bann, analog jenem, der vor Jahrhunderten den Henker umsponnen, hat auch ihn, den »Spitzel«, den »Spion«, den »Schnüffler« umgeben. Dergleichen Charakterisierungsworte gebrauchte man immer, wenn man in der Nacht einen Begleiter auf den alten Lederer aufmerksam machte, wenn dieser, Stock und Hände auf dem Rücken haltend, mit gebückter Haltung und patrouillierenden Augen über das Trottoir wandelte. In den Spelunken hatte man ärgere Namen für ihn. Aber noch keiner hat es gewagt, sie ihm ins Gesicht zu schleudern. Man hatte vor dem Alten Respekt.

Revertenten und berufsmäßige Nachtwandlerinnen verschwanden, sobald sie ihn von der Ferne sahen, mit größtmöglicher Akzeleration um die Ecke. Und wenn er so gegen vier oder fünf Uhr früh in die Schenke »Zum Kranz«, »Bei den 3 Sternchen«, im »Goldenen Zweier«, »Zur Schokolade«, »Beim Frosch« oder »Beim Banzett« erschien, dann sprangen die auf den Tischen, auf den Bänken oder auf dem Fußboden schlafenden Stammgäste beiderlei Geschlechtes flugs auf, als ob der kommandierende General eine Wachmannschaft beim Kartenspiel erwischt hätte. Die schlaftrunkenen Augen der Nächtlinge blickten scheu auf den Gefürchteten und mit heuchlerischer Devotion scholl ihm allerseits ein »Ruku líbam, milostpane« (Küss' die Hand, 36 gnä' Herr) entgegen. Alle kannten ihn. Aber auch er kannte alle. Sein Blick durchschnitt das rauchgeschwängerte Lokal. Schon hat er einen erspäht, der aus Prag für immer ausgewiesen ist. Er winkt ihm und ohne ein Wort der Widerrede zu dulden, nimmt er den Liebhaber Prags bis zum nächsten Wachposten mit. Oder er schaut jemanden an, den er nie zuvor gesehen: »Sie sind der R. S.!« Aus den Worten eines Steckbriefes hat er sich das Bild des R. S. konstruiert und nun den Gesuchten erkannt. Das war seine Spezialität, Spürsinn oder Routine?

Aber die Unbeliebtheit in den Verbrecherkreisen hätte ihm in den Kreisen der gesetzmäßig lebenden Bürgerschaft Sympathie gesichert, wenn sich der Detektivinspektor Lederer nicht aus beruflicher Pflicht auch in ein Gebiet hätte einmischen müssen, in welches eine Einmengung spürender Behörden mit vielem Rechte von der Allgemeinheit sehr angefeindet wird: Das Gebiet der Politik. Für diese Idiosynkrasie gegen »Spitzeltum« in der Politik hat der alte Lederer am meisten leiden müssen. Erst während der letzten Grabenkrawalle ist er in der Nähe des Spinka von einer Gruppe tschechisch-nationaler Sozialisten erkannt und bedroht worden, die Sozialdemokraten haben gegen ihn Gerichtsprozesse angestrengt und sogar von deutscher Seite ist der eifrige Geheimpolizist einmal weidlich durchgeprügelt worden. Noch dazu auf reichsdeutschem Boden. Das war am Sonntag, den 12. Juli 1897. Die österreichischen Behörden hatten den Egerer Volkstag verboten, aber damit nichts erreicht. Denn die Teilnehmer zogen in hellen Scharen nach dem nahen bayrischen Städtchen Waldsassen, um hier – von keinem »landesfürstlichen Kommissär« gehört und gestört – zu beraten und zu beschließen. Aber man hatte »oben« um so größeres Interesse an der Versammlung jenseits der schwarzgelben Grenzpfähle und – so zog Herr Lederer mit einer Kornblume im Knopfloch, als unentwegter Alldeutscher gleichfalls nach Waldsassen. Aber er wurde erkannt, und er, der was erfahren wollte, hat nur Schlimmes erfahren. Auch sonst hat er zahlreiche Reisen in politischer Spürmission unternommen, aber er muß hiebei von einem Mißgeschick à la Waldsassen verschont geblieben sein, denn nur der eine tragikomische Fall ist bekannt geworden. U. a. hat Inspektor Lederer bei Kaiserreisen in der ganzen Österreichisch-ungarischen Monarchie als Auge des Gesetzes fungiert und ist spähend auf den 37 Spuren Wilhelm des Redseligen, King Edwards und Milans des weiland Lebenslustigen gewandelt. Sogar ein Sonnen- oder Löwenorden wurde ihm verliehen, zum Dank dafür, daß er den Beherrscher des Perserreiches vor eventuellem Mißgeschick behütete.

Bei der Ausmittlung von Verbrechern hat er gute Dienste geleistet. Freilich von moderner Kriminalistik, von Daktyloskopie und Anthropometrie, von Kopfzirkeln, Meßkreuzen, Narbenmaßen und dem übrigen Instrumentarium der beiden Bertillons verstand er ebensowenig wie seine Klienten von Ehrlichkeit. Aber er erkannte seine Prager, Weinberger und Žižkower Einbrecher an der Art, wie der Einbruch ausgeführt war. Und verstand sie zu finden. Besonders in der Josefstadt, die vor ihrer Assanation das Heim der Prager Kamorra gewesen war, kannte sich Lederer – er war dort jahrelang Polizei-Wachkommandant gewesen – in jedem Schlupfwinkel aus und jeden einzelnen Bewohner und jede einzelne Bewohnerin der zahllosen Beisel mit Namen.

Aber auch in besserem Milieu ließ den Detektivinspektor sein Spürsinn nicht im Stich. Da ließ er sich auch durch Eleganz und weltmännisches Auftreten nicht blüffen. So hat er aufs Geratewohl einmal im Kaffeehaus einen gutgekleideten Herrn nur deshalb festgenommen, weil er champagnisierte und freizahlte. Der Herr protestierte. Aber der alte Lederer ließ sich nicht irre machen. Im Sicherheitsdepartement wollte man ihn schon ausschimpfen, daß er jemanden grundlos festgenommen habe. Man forschte aber nach der Provenienz des Geldes und da stellte sich heraus, daß der Arretierte ein eigenes Telegraphenamt in Nusle inszeniert, aus diesem Geld angewiesen hatte und beheben ließ. Der Name dieses Mannes ist seither in der Geschichte des Postbetruges Europas geläufig: Plocek.

»Ich hab' gleich gesehen, daß der das Geld nicht schwer verdient hat,« sagte der alte Lederer, als er die Prämie für seinen Fang ausbezahlt erhielt.

Er war bei allen Morden der letzten Jahre zur Stelle: beim Mord am Omladinisten Mrwa, an der Juwelierin Gollerstepper, an den Mädchen Hruza und Klima im Polnaer Walde, am Hotelier Wolf, am Liebespaar Takacz-Hanzely zu Krtsch, am Schulmädchen Smrček, am Portier des Gewerbemuseums Schaněl, 38 am Gefangenaufseher Kaucky und an der neuvermählten Frau Novotny in der Böhmerwaldgasse. Immer machte er sich als einer der ersten auf die Suche. Manchmal mit Glück, manchmal mit Unglück. Sein Name war in den Berichten über Prager Kriminalfälle stereotyp. Darum geziemt es sich, das heutige Datum als das des Tages zu registrieren, da der alte Lederer aufhört, seines Amtes zu walten. 39



 << zurück weiter >>