Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Egon Erwin Kisch

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Fünfzehntes Kapitel

Karl Duschnitz's Gedanken sind zwanzig Jahre lang eine wollüstig zergrübelnde Vergegenwärtigung der furchtbaren Katastrophe gewesen. Diese ewig gleichen Gedanken, durch die seit zwanzig Jahren sein Leben ein Sterben war, wurden in den letzten Monaten von einem anderen Gefühle zurückgedrängt, von der Angst vor dem Tod. Er hatte sich vorgenommen, seine Wohnung zu wechseln und das alte Stammhaus der Familie zu verlassen. Es war ihm unangenehm, daran zu denken, daß er in diesen Mauern sterben sollte, die er so genau kannte. Manchmal bildete er sich ein, sein Ende würde weiter hinausgerückt werden, wenn er in irgend eine fremde Gegend ziehen würde, wo ihn niemand kannte. Aber dann wieder graute es ihn, auch nur den Fuß vor die Schwelle zu setzen. Tagelang saß 201 er schon jetzt, im Herbst, vor dem Ofen, seinen grauen abgeschabten Schlafrock um sich, auf dem Flecke von Speiseresten waren. Seit Wochen war er unrasiert. Obgleich beim Zähnebürsten und beim Kauen sein Zahnfleisch blutete, fiel ihm nicht ein, zum Zahnarzt zu gehen. Nur in das Kaffeehaus huschte er jeden Nachmittag mit vorgeneigtem Kopf und aufgeschlagenem Rockkragen zur Schachpartie. Auf diesem Wege hatte er nur bei der Bergmannsgasse die Fahrbahn zu überschreiten: er tat dies, indem er zunächst vorsichtig nach rechts und links schaute, ob weit und breit kein Wagen komme; dann rannte er wie gehetzt auf das jenseitige Trottoir. Er hatte Angst starken Kaffee zu trinken und bestellte daher im Kaffeehause nichts. Das war bekannt und wurde als Knauserei eines reichen Sonderlings bespöttelt. Er behalf sich in seinem Hause noch immer mit der alten Bedienerin, obwohl sie ihn bestahl und betrog und tyrannisierte; er hatte Angst vor fremden Gesichtern . . . Manchmal hielt er zu Hause den Atem an, um seine Lunge zu schonen. Er wußte, daß dies unsinnig war, aber ebenso unsinnig erschien es ihm, daß ein Mensch wie er, solange er noch denken konnte und noch leben wollte, getötet werden könne.

Nicht vor dem Sterben oder vor der Qual des 202 Sterbens war ihm bange. Ihn graute nur vor dem Gefühle, daß nichts von ihm übrig bleiben werde, wenn er sterbe. Manchmal dachte er daran sich einäschern zu lassen, manchmal phantasierten seine Gedanken davon, daß seine Leiche einbalsamiert werden sollte. Er wäre glücklich gewesen, wenn wenigstens etwas von ihm, eine Hand oder ein Auge, den Tod hätte überdauern können, er wollte nie an den Tod denken und dachte doch immer daran. Er las jeden Tag die Zeitung und zwar die ganze Zeitung vom Leitartikel bis zu den Annoncen. Nur die Todesanzeigen überschlug er und war unwillig, wenn er auf der Rückseite der Schachprobleme, die er seit Jahren studierte und sogar aus den Zeitungen ausschnitt, eine Parte gedruckt sah.

Oft fiel ihm sein Sohn von der Insel Kampa ein. Er begnügte sich damit, sich ihn als siebenjährigen Knaben vorzustellen, im blauen Matrosenanzug, einen Handschar in der Hand. Er wollte keinen erwachsenen Sohn haben, fünfzig Kronen im Monat waren genug als Alimente für ein Kind. Er wünschte den Sohn nicht zu sehen. Früher hatte er es nicht gewollt, weil er nicht an lockende Augen eines dirnenhaften Flößerweibes gemahnt sein wollte und später, um sich die Illusion nicht zu zerstören, daß sein Sohn noch ein Kind sei. 203

Und nun las er in der Zeitung eine kurze Notiz: Eine Kellnerin, deren Namen noch ordinärer klang als Chrapot, war verurteilt worden, weil sie in ihrer Wohnung, die sie mit dem zwanzig Jahre alten Kellner Jaroslaw Chrapot inne hatte, Liebespaaren Unterschlupf gewährt hatte.

Karl Duschnitz starrte lange auf diesen knappen Relativsatz, der ihm so viel Botschaft über seinen Sohn brachte. ». . . in ihrer Wohnung, die sie mit dem 20 Jahre alten Kellner Jaroslaw Chrapot inne hatte . . .« Also sein Kind war kein Kind mehr. Und Kellner ist der Sohn des reichen Duschnitz geworden! Und lebt mit einer Kupplerin im Konkubinat und hilft ihr beim Gewerbe. Aber Duschnitz überraschte sich dabei, daß er gar nicht empört war. Und dann kam es wie ein kärgliches Lachen über ihn. Die Auflösung dieser Problemaufgabe hätte er eigentlich selbst finden können. Es hatte ja so kommen müssen: Im Sohne hatte einfach die Sehnsucht des Vaters nach dem Weibe Erfüllung gefunden, so stark, daß die Frauen seine Sklavinnen waren, die er verkaufen konnte. Der ließ sich nicht matt machen von einer Königin. Es war des Vaters Wunsch in ihm, bereichert um die Tat. Ein Erbe jener Stunde, in der einmal, lange ist es vorbei, auch über Karl Duschnitz eine Tat gekommen war und 204 eine Frau. Freilich, um des Gelderwerbes willen hätte sein Sohn sein Verfügungsrecht über die Frauen nicht ausüben sollen. Das sollte anders sein. Aber was hätte der Junge tun sollen, wenn ihm sein eigner Vater kein Geld gegeben, ihn sichtlich ungern gesehen und ihn mit lächerlich kleinen Alimenten abgespeist hatte, wenn er überhaupt nicht vorgelassen wurde?

Warum hatte er seinen Sohn eigentlich gehaßt und gefürchtet? Gehaßt, weil in ihm die Stunde leben sollte, da sich Karl Duschnitz selbst seine Lebenshoffnung vernichtet und beispiellosen Undank gesät hatte, gefürchtet, weil er von ihm die Zerstörung des Eheglücks der Chrapot und eine Rache erwartet hatte. All das war falsch gewesen.

In dem Sohne lebte nur das Zugreifen, zu dem sich sein wirklicher Vater damals aufgerafft hatte, lebte der Leichtsinn der Mutter, die sich dem Fremden von Ungefähr hingegeben hatte. Und mit dem Kinde des Zufalls war gewiß das Glück bei den Flößersleuten eingekehrt. Selbstverständlich. Wäre der Junge in seiner Knabenzeit mißhandelt und eingeschüchtert worden, so hätte er nicht mit zwanzig Jahren die Lebenskraft, sich aus eigenen Mitteln mit der Geliebten eine Wohnung zu nehmen, Männer und Frauen zum Stelldichein zu organisieren. Weshalb hatte Karl 205 Duschnitz die Rache fürchten sollen? Sie alle konnten ihm nur dankbar sein, Vater, Mutter, Sohn. Diese gemeine Flößersfrau hat einfach gelogen, als sie sagte, ihr Mann könne das Kind nicht leiden. Die würde das nicht einmal beachten, wenn es wahr wäre. Und ich habe ihr das zwanzig Jahre geglaubt, dieser Lügnerin und Dirne. Wahrscheinlich ist der Junge ihr nachgeraten. Nein. Er haßt sie gewiß. Sie hat ihn gewiß von zu Hause fortgetrieben. Und deshalb ist er zu einer Kellnerin gezogen, einer Dvorak, einer Kellnerin, einer Kupplerin.

Und plötzlich tat sein Sohn ihm leid. Was wäre sein Sohn geworden mit einer anderen Mutter! Sein Sohn hätte bei der Kavallerie dienen müssen, und die Kellner wären um ihn gekrochen und hätten ihm die Schuhe geputzt. Sein Sohn hätte bei ihm gesessen und hätte mit ihm Schach gespielt. Im Grunde war sein Sohn ein eben solcher Feigling wie er selbst. Er kam, klopfte an, und die Haushälterin warf ihn hinaus. Und er selbst, der Karl Duschnitz, bestellte sich eben bei derselben Haushälterin Mohnbuchten, und sie kochte sie ihm nicht, weil sie ihr zu ordinär waren. Aber er würde das jetzt ganz anders anfangen! Noch war er nicht bei dem alten Eisen, noch stand er nicht auf der vorletzten Seite der Zeitung mit einer 206 schwarzumränderten Todesanzeige. Er brauchte seine Leiche nicht einbalsamieren zu lassen, sein Auge und seine Hand brauchten ihn nicht zu überleben, keineswegs war er der letzte Duschnitz. Er hatte noch einen Sohn.

Er stand auf und wollte fortgehen. Zu seinem Kind. Er hatte sich zwar lange Zeit gelassen, aber das Kind sollte nichts an ihm verlieren. Er wollte schon alles gut machen. Er wollte ihn zum Universalerben einsetzen, ihn adoptieren, ihn gleich zu sich nehmen.

Wo sollte er ihn finden? Auf der Kampa, in jener elenden feuchten Bude, die nie austrocknete, auf deren Balkonen sich rote Bettwäsche herumtrieb, wo Duschnitz selbst die große Katastrophe seines Lebens erfahren hatte? Übrigens wohnte sein Sohn gar nicht mehr dort. Er hatte mit einer verurteilten Kupplerin eine Wohnung inne. Das stand sogar in der Zeitung.

Sein Name mußte bei der Polizei zu erfahren sein. Freilich, dort wohl. Aber er, Karl Duschnitz, konnte sich doch nicht bei der Kriminalpolizei nach der Adresse seines Sohnes erkundigen, nach der Adresse eines Menschen, der mit einer Kupplerin wohnte . . . Und schließlich hatte es Zeit. Das nächste Mal wird ihn die Haushälterin nicht hinauswerfen, ich werde ihr schon zeigen! Bin ich der Herr? 207

Und jetzt, seit dieser Zeitungsnotiz dachte Duschnitz nicht mehr an den Tod. Er dachte nur daran, daß sein Sohn jetzt kommen werde. Er war davon überzeugt, daß sein Sohn jetzt kommen werde, daß die Notiz nur eine Ankündigung dessen sei. Wird er ganze Stiefel an den Füßen haben, wird er zu Mittag gegessen haben? Duschnitz ließ durch die Haushälterin etwas vom Mittagessen aufheben. Aber am Abend des vierten Tages kam die Haushälterin und fragte, wozu sie immer das Essen aufheben solle. Und da begann Duschnitz zu zweifeln, ob sein Sohn überhaupt kommen werde . . .

»Der Mensch ist wieder da.«

Die Haushälterin sieht, wie Karl Duschnitz blaß wird. Er hätte sich doch eigentlich auf den Besuch vorbereiten, sich klarmachen sollen, was er seinem Sohne zu sagen habe. Was will der Sohn der Flößerstochter eigentlich hier in dem Patrizierhaus? Hier in dem Zimmer, wo schon jahrzehntelang kein Fremder eingetreten ist, bei Duschnitz, der überhaupt kein fremdes Gesicht zu ertragen vermag. Ja, es ist doch kein Fremder, es ist doch sein Sohn, den er so sehnlich herbeiwünscht.

Die Haushälterin wartet auf seine Antwort.

»Lassen Sie ihn hereinkommen, den Herrn.«

»Guten Tag.« 208

Jarda ist bei der Türe stehen geblieben. Er sieht den Herrn, der so verwahrlost und alt geworden in der Mitte des Zimmers steht und sein Vater ist. Wie er ihn anschaut, wie einen Eindringling, wie einen Mörder! So entsetzt hat er ihn schon einmal angeschaut, als er, ein ganz kleines Kind, ein stumpfes Papiermesser in der Hand schwang. Warum hat der solche Angst vor ihm, warum ist der solch ein Feigling?

Auch Karl Duschnitz denkt daran, daß dieser Mensch, der da plötzlich in seine Einsamkeit dringt, schon als Kind hier einen Handschar drohend in der Hand schwang. Und er ist mit diesem Menschen, der mit den Gerichten in Konflikt war, allein in seinem Zimmer. Mit der Mutter dieses Burschen, mit dieser berechnenden Dirne ist er auch einmal allein in einem Zimmer gewesen, und es war unheilvoll.

Duschnitz schaut auf die Stiefel des Eingetretenen. Es sind Halbschuhe mit Lackspitzen, stark zersprungen, aber es sind Lackschuhe. Wenn er lieber anständige Stiefel trüge, der Bursch da.

Dem Jarda fällt ein, daß der Herr, der ihn seit Kindertagen nicht gesehen hat und so scheu mustert, gar nicht wisse, wer er ist.

»Ich bin Jaroslaw . . .«

Herr Duschnitz hat abgewinkt. Er wisse schon. 209 »Ich habe auch von Ihnen gelesen, in der Zeitung war etwas über Sie.«

Jarda erschrickt. Also auch sein Vater weiß schon, was er für ein Mensch ist. Und der erste Satz, den er in seinem Leben zum Sohne spricht, ist ein Vorwurf. Nun ja, er weiß ja sonst nichts über den Sohn. Jarda sagt sich, daß er das nicht übelnehmen dürfe.

»Ich war aber nicht bei Gericht. Ich hatte nichts mit der Sache zu tun. Ich war immer in Stellung.«

»Sie waren? Also sind Sie nicht mehr?«

»Jetzt nicht. Ich . . .« Jarda denkt nach, wie er das motivieren solle.

»Sie haben wohl Ihre Stellung verloren? Wegen dieser Affäre, nicht?« Karl Duschnitz möchte in diese Fragen ein Bedauern legen, ein wohlwollendes Interesse, aber er kann es nicht. Jarda kommt es vor, als wäre er wieder beim Kommissär und würde verhört.

»Nein, nein. Ich war krank, ein wenig krank.«

»Krank?« Mit beispiellosem Schrecken stößt es Duschnitz hervor, und sein Mund bleibt offen, als wäre das Wort zwischen den Lippen erstarrt. Alle Todesängste werden wieder wach in ihm. Vor ansteckenden Krankheiten hat es ihn immer geekelt, sie hat er gefürchtet wie nichts auf der Welt. Und nun steht ein 210 Mensch da, mitten in seinem eigenen Zimmer und ist krank. Plötzlich spürt Duschnitz, daß der Bursche gräßlich nach Jodoform stinkt.

»Sie kommen wohl erst aus der Behandlung?«

»Ja, aus dem Spital.«

»Was hat Ihnen gefehlt?«

»Zweites Stadium.«

»Das ist Syphilis, nicht?«

Jarda bejaht. Wie dieser alte Kren das Wort ›Syphilis‹ ausgesprochen hat, als ob er sich schon vom Aussprechen die Zunge anstecken könnte! Wie er von mir abrückt. Na, na! Wie verstört er ist, er fürchtet wahrscheinlich, daß seine Möbel morgen Ausschlag haben werden. Wie er mich ansieht! Hätte er mir fünfzig Kronen gegeben, hätte ich nicht zur Ilonka gehen müssen. Wie er mich ansieht, der alte Kracher! Er ekelt sich vor mir. Er soll sich seinen Schlafrock anschauen, ganz speckig ist der. Und seinen Bart. Der hat Geld wie Heu und nichts zu tun, der könnte doch wenigstens anständig aussehen.

Duschnitz fühlt, daß seiner Furcht und seinem Ekel der Haß des Burschen entgegentritt. Und ängstlich erregt schreit er:

»Was schauen Sie mich so an? Was wollen Sie eigentlich?« 211

»Was ich will? Geld will ich! Sie sollen mir etwas Geld geben.«

»Ich habe Ihnen doch in diesem Monat schon Geld geschickt.«

»Fünfzig Kronen! Davon soll die ganze Familie leben!«

»Arbeiten Sie, wie jeder anständige Mensch.«

»Ein kranker Mensch kann nicht arbeiten. Ich sage Ihnen doch, daß ich krank war.«

»Sie sind noch krank, diese Krankheit ist unheilbar. Sie sind verseucht. Ihnen ist nicht mehr zu helfen. Sie sind selbst schuld daran.«

»Natürlich, Sie haben das nicht notwendig gehabt. Mein Vater hat Sie nach Hause getragen, und Sie . . .«

Die Haushälterin ist ins Zimmer getreten. Sie ist gekommen, weil sie Streit gehört hat, aber sie hält die Abendzeitung in der Hand. Sie bleibt halb neugierig, halb entschlossen in der Tür stehen.

»Was wollen Sie?« fragt Duschnitz erregt und zerstreut die Frau.

»Das Abendblatt ist hier.«

»Geben Sie es her.« Zu Jarda: »Sie können jetzt gehen.«

In Jarda zuckt es. Er möchte diesem Schuften von Vater einen Faustschlag über das Gesicht versetzen. 212 Aber er wirft dem Alten nur einen haßerfüllten Blick zu und geht.

Karl Duschnitz schaut ihm blaß nach. Und da er den Schritt seines Sohnes nicht mehr hört, da er wieder allein in seinem Zimmer ist, erwacht wieder die Regung für diesen Sohn, für das Einzige, was ihn überleben soll.

Warum hat er ihn schlecht behandelt! Weil er krank ist? Tausende Menschen haben diese Krankheit. Hätte ich ihm früher geholfen, hätte er ein anderes Leben führen können und sich nicht das Blut vergiften müssen. Aber es ist noch nicht zu spät. Ich werde ihm helfen, ein neues Leben zu beginnen. Gleich morgen, werde ich an die Chrapot schreiben, daß sie ihren Sohn herschicken soll, daß ich ihm helfen will. Und wenn er herkommt, werde ich ihn fragen, was er anfangen wolle, und werde ihm Geld geben, soviel er zu einem neuen Berufe braucht; und ich werde ihm sagen, daß ihm nach meinem Tode alles gehört, was mir gehört. Und ich werde ihm die Hand reichen, trotzdem er krank ist, und werde ihm sagen: Mein Sohn!

Ja, ich werde morgen der Chrapot schreiben, ich schwöre es, daß ich ihr morgen schreiben werde. 213

 


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