Egon Erwin Kisch
Die Abenteuer in Prag
Egon Erwin Kisch

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VI
Reportergänge vergangenheitwärts

Die Agnoszierung einer Goethereliquie

Unter den reichen Sammlungen des Anatomischen Institutes der Prager deutschen Universität mag ein Schädel das wertvollste Exemplar sein – ganz abgesehen davon, daß eine Tradition, der nachzugehen verlockend schien, ihn als einen Studienbehelf Goethes bezeichnet.

Schon hundert Jahre ist dieses Stück im Besitze des Prager Anatomischen Museums. Professor Johann Ilg, der von 1809 bis 1837 die seit Jessenius berühmte Lehrkanzel innehatte und dem das Institut u. a. die berühmte Sammlung der von ihm aufgemeißelten Gehörorgane verdankt (sogar Postamente und Kästchen hat er eigenhändig geschnitzt!) ist in den Besitz des Unikums von Schädel gelangt. Er hat 1821 eine Publikation darüber herausgegeben: »Einige anatomische Beobachtungen enthaltend: eine Berichtigung der zeitherigen Lehre vom Bau der Schnecke des menschlichen Gehörorganes nebst einer anatomischen Beschreibung und Abbildung eines durch außerordentliche Knochenwucherung sehr merkwürdigen menschlichen Schädels. Mit drei lithographischen Tafeln. Von Dr. Johann Georg Ilg, k. k. Professor der Anatomie an der Universität zu Prag. – Als Programm bei Eröffnung der anatomischen Kollegien des Schuljahres 1821 bis 1822. – Prag 1821, gedruckt in der Sommerschen Buchdruckerey.« Von den 22 Seiten, die die Broschüre ohne diesen langen Titel zählt, ist die Hälfte der Beschreibung des in der Tat »sehr merkwürdigen menschlichen Schädels« und seiner einstigen Trägerin gewidmet.

Es ist ein Monstrum von Schädel, und alle anderen in der Vitrine nehmen sich daneben wie die von Mikrocephalen aus, obwohl seine Nachbarschaft gleichfalls 476 abnormal gewachsene Köpfe sind, und die Kleinschädel gegenüber, in einem anderen Schranke, in Reih und Glied angeordnet liegen. Und wenn heute Prof. Großer dem wißbegierigen Besucher das Stück freundlich in die Hand gibt, so fühlt man viel weniger den Schauer darüber, daß einst Goethes Hände forschend über die gleiche Substanz tasteten, als das Gewicht der Masse. Wie konnte ein Mensch diesen Trumm von Kopf sein Leblang erschleppen?

Schon vor Ilg hatten Ribelt, Jadelot und andere Anatomen abnorm verdickte Schädel aufgefunden und deren Maße und Gewichte publiziert, und auch nachher ist mancher in Gelehrtenhand gekommen. Allein es ist kein Fall von so allgemeiner Hyperostose bekannt, wie bei dem Prager Exemplar, bei dem die Knochen dies ganzen Kopfes, beide Tafeln – auf Unkosten der Schädelhöhle, der Höhlen zur Aufnahme der Sinnorgane, der Durchgangsöffnungen fürs Rückenmark, Nerven und Gefäße, der Diploe und der äußeren Gestalt – im ganzen Umfange aufgeschwollen erscheinen. Sein Gewicht beträgt – mit Ausschluß des Unterkiefers, der nach Ausgrabung unwiderruflich verloren ging – zehn Pfund Medizinalgewicht oder 120 Unzen, enthält also siebenmal so viel Masse als der gewöhnliche Schädel eines Erwachsenen. Der Riesenschädel jener 45jährigen, den Ribelt beschrieb, und jener, den Jadelot bei Ausgrabungen nächst Reims fünfzehn Meter tief unter der Erde fand, und von dem Goethe Notiz nahm, wiegen ohne Unterkiefer etwa fünf Pfund, also bloß die Hälfte. Die Dicke der Hirnschale beträgt bis zu zwei Zoll, während sie bei normalen Schädeln von einer halben bis zu fünf oder sechs Linien abwechselt. Die Substanz aller Knochen ist so dicht, daß sie der eines Walroßzahnes gleicht.

Wer aber war der Mensch gewesen, dem dieser stärkste aller Köpfe bei Lebzeiten zugehört hatte? Professor Ilg gibt den Namen an: es war ein Mädchen namens Barbara Rudolph aus Jungbunzlau, drittes 477 Kind eines tauben Kupferschmiedes und dessen ehelicher Gemahlin, die im 45. Lebensjahre starb; die kleine Barbara, die später zu posthumen Ehrungen im Reiche der pathologischen Anatomie gekommen und sogar mit dem Dichterfürsten in Beziehung gebracht werden sollte, hatte schon in ihrer Jugend das, was man in Laienkreisen einen »guten Kopf« nennt, denn sie lernte gut und war wegen ihres Witzes sehr bewundert; auch rühmt eine ihrer Schwestern, die Ilgs Gewährsmännin war, ihr nach, daß sie als Kind sehr hübsch gewesen sei. Im zehnten Lebensjahre wurde sie aber von schwarzen Blattern befallen, begleitet von epileptischen Anfällen, nach denen Kopfschmerz mit Delirium durch Monate anhielt. Auch ein Rotlauf folgte jedem der konvulsivischen Anfälle. Im 16. Lebensjahre wurde sie auf beiden Ohren taub. Seit dieser Zeit bemerkten die Eltern eine zunehmende Größe und Schwere des Kopfes; Barbara klagte über das Unvermögen, den Kopf aufrecht halten zu können, und blieb anhaltend zu Bett. Siebenundzwanzig Jahre alt, starb sie an den Folgen eines Rotlaufes.

Wann sie aber geboren wurde, wo und wann sie starb und begraben wurde, wann und weshalb die Exhumierung erfolgte und wie das unterkieferlose Knochengerüst des Schädels zu Prof. Ilg kam – darüber verrät er nichts, obwohl diese Angaben für die Wissenschaft ebensoviel oder ebensowenig Bedeutung haben mögen, wie die Mitteilung ihres Namens und Herkunftsortes. Ilg begnügt sich bloß mit der Bemerkung, daß der wahrhaft staunenswürdige Kopf »etliche Jahre nach der Beerdigung der Person ausgegraben und später mir übermittelt wurde, ohne Aussicht, des übrigen Skeletts habhaft zu werden.«

Dieses unbestimmte Zeitwort »später« wäre besser zu präzisieren gewesen. Vielleicht ließe sich dann sicherstellen, wie der Jungbunzlauer Kopf in Weimarer Hände gelangt und von dort nach Böhmen zurückgekehrt sein sollte. Darüber liest man nirgends eine Bemerkung. 478 In Goethes kranologischen und osteologischen Schriften: »Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der oberen Kinnlade zuzuschreiben«, »Specimen anatomico-pathologicum«, »Das Schädelgerüst aus sechs Wirbelknochen auferbaut« und »Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie« findet sich ebensowenig wie in den »Annalen oder Tages- und Jahresheften«, wo er doch anläßlich der Debatten mit Voigt und Riemer, bei Besprechung der Vorlesungen Galls (1805) und über die nach der Entfernung des Loderischen Kabinetts gemeinsam mit Professor Ackermann in Angriff genommene Einrichtung eines anatomischen Museums erzählt, eine Erwähnung von Elefantiasis der Schädelknochen oder gar des Prager Kopfes. In dem Jubiläumswerke »Die deutsche Karl Ferdinands-Universität in Prag« (Calve, 1899) erzählt Prof. Rabl sehr ausführlich die Entstehungsgeschichte des Anatomischen Museums, aber über den Rudolphschen Schädel verliert er kein Wort, geschweige denn ist von einer Beziehung zu Goethe die Rede.

Aber ein Zeitungsschreiber, dem solche Dinge keine Ruhe lassen, wandte sich an die Verwaltung des Goethe-Nationalmuseums in Weimar, und erhielt nun überraschende Aufklärungen: Tatsächlich befindet sich der Abguß des Prager Schädels unter Goethes uns erhaltenen Sammlungen in Weimar, und man hatte dort bisher nicht gewußt, wo sich das Original des Schädels befinde. Der Brief lautet:

Goethe-Nationalmuseum.

Weimar, den 14. November 1917.

Sehr geehrter Herr Kisch, über den Schädel der Barbara Rudolph hat Goethe m. W. nicht geschrieben; ich kenne nur eine Notiz von ihm (Weimarsche Ausgabe: II. Abth., Bd. 13, S. 263) aus der 1755 erschienenen Schrift »l'Histoire naturelle éclarcie par l'oryctologie«, in der ein kolossal verdickter Schädel aus Sacy bei Rheims dargestellt wird. 479

Dagegen befindet sich in Goethes naturwissenschaftlicher Sammlung (zoologisch-botanisches Zimmer, Schrank 3) der gelbgefärbte Abguß eines Schädels mit auffallender Exostose, ohne Kinnlade. Ueber diesen Abguß ist hier gar nichts bekannt.

Es wäre mir sehr interessant zu erfahren, ob der Schädel in der Prager Sammlung vielleicht dem hier befindlichen Abguß zugrunde liegt. Ich werde deshalb an die Verwaltung des anatomischen Museums schreiben.

Hochachtungsvoll

Dr. W. v. Oettingen, Direktor.

Wie bald darauf deutsche Blätter (»Berliner Börsencourier« vom 15. Dezember 1917, »Neue Freie Presse«, Abendausgabe vom 20. Dezember 1917 &c.) meldeten, hat der durch meine Anfrage inaugirierte Briefwechsel zwischen dem Direktor des Goethe-Museums in Weimar und dem Vorstande des deutschen anatomischen Instituts in Prag die vollkommene Gewißheit ergeben, daß der Abguß des unterkieferlosen Riesenschädels in Goethes Sammlungen zu Weimar, dessen Original und Herkunft trotz aller Bemühungen bisher nicht festzustellen gewesen war, von dem mit Leontiasis ossia behafteten Schädel der Barbara Rudolph aus Jungbunzlau abgenommen ist. Durch diese Feststellung ist das Goethe-Nationalmuseum um die Aufklärung eines bisher nicht agnoszierten Sammlungsobjektes, das deutsche anatomische Museum in Prag aber um die Gewißheit bereichert worden, daß eines seiner schönsten Stücke durch eine Beziehung zum größten Deutschen geheiligt ist. –

Nach dieser Konstatierung des Originals ist auch das Rätsel von der Herkunft des Gipsabgusses leicht zu lösen: Goethe, so lebhaft an allen phrenologischen, kephalographischen und osteologischen Forschungen interessiert, mußte die im Jahre 1821 erschienene Beschreibung des Schädelgerüstes umsomehr gelesen haben, als Ilg dann (zu Vergleichszwecken) auch genaue 480 Angaben über den sogenannten »Jadelotschen Schädel« macht, von dem Goethes Notiz aus der Schrift »L'Histoire naturelle éclaircie par l'oryctologie« handelt. Die kranioskoptische Literatur war damals so arm, daß dem Interessenten eine Veröffentlichung, wie es die Ilgsche war, unmöglich entgehen konnte. Nach der Lektüre hat Goethe wohl einfach von Ilg einen Abguß erbeten und erhalten, möglicherweise durch einen seiner gelehrten Prager Freunde, durch Grafen Kaspar Sternberg oder J. E. Purkinje.

Einer Weimarer Ueberlieferung zufolge soll Goethe, wie mir Oettingen später schrieb, das Monstrum zu seinen Gästen als »böhmischen Dickschädel« bezeichnet haben.

In Goethes Bücherei befindet sich die Schrift Ilgs nicht, und auch keiner der Biographen Ilgs (Rahl, Wurzbach usw.) tut von einer Beziehung dieses bedeutenden Anatomen zu Goethe Erwähnung. 481

 

». . . die in Prag geschehenen Vorschritte . . .«

(Die letzte Anerkennung Goethes.)

Als der Egerer Magistrats- und Kriminalrat Johann Sebastian Grüner am 20. Jänner 1832 dem Dichter, wie oft, eine Sammlung von Mineralien sandte, hatte er auch einen fremden Wunsch zu übermitteln: Goethe möge huldreich das Exemplar einer eben erschienenen Doktordissertation annehmen und dies schriftlich aussprechen. Der Autor der Schrift wagte es nicht einmal, sie Goethe zu übersenden, geschweige denn selbst die Bitte um ein Wort der Annahme auszusprechen. So wandte er sich denn um Vermittlung an Professor Doktor Anton Dittrich, der damals als Nachfolger Jungmanns am akademischen Gymnasium zu Prag lehrte und wohl der Lehrer des neugebackenen Doktors gewesen sein mag; der Ostrauer Zisterzienser Dr. Dittrich hatte 1813, als er noch Professor in Komotan war, Goethe in Teplitz kennen zu lernen und diesem so gut zu gefallen vermocht, daß ihn Goethe in den »Annalen« unter die vorzüglichsten Männer einreiht, mit denen er zusammengetroffen ist. Aber Dittrich hatte Goethe seit dem Karlsbader Sommer von 1819 nicht mehr gesprochen und wollte sich nicht unterfangen, ihm mit einer (wenn auch noch so bescheidenen und zugunsten eines anderen auszusprechenden) Bitte zu behelligen. So ging denn Dittrich den Polizeirat Grüner um Vermittlung an, dessen regelmäßiger wissenschaftlicher und persönlicher Verkehr mit Goethe vornehmlich in Böhmen wohlbekannt war. Grüner leitete die aus Prag erhaltene Arbeit nach Weimar mit folgender Einleitung weiter:

Inzwischen hat mir Herr Professor der Humanitätsklassen zu Prag Anton Dietrich das anliegende Werkchen 482 des Med. Doktor Hermann Lövy Israeliten in Prag mit der Bitte zugesendet, es an E. Exc. gütigst mit der gehorsamsten Bitte einzusenden, daß es ihm, als den Verfasser zur besonderen Ehre gereichen würde, wenn E. Excellenz ein schriftliches Wort der Genehmigung auszusprechen die Güte haben möchten. Dieser Anton Dietrich ehemaliger Professor in Comothau Priester des Zisterzienser-Stifts Osseg bei Töplitz führt an, daß er das Glück hatte, früher im Jahre 1819 das letzte mal persönlich E. Exc. zu verehren, und daß diese tiefe Verehrung immer tiefere Wurzeln geschlagen habe.

Da Euer Excellenz abermals die veranlassende Ursache zu diesem Werkchen waren, so dürfte es umso angenehmer sein, als daraus ersichtlich wird, daß die Farbenlehre, ohngeachtet der vielen Widersacher, in Prag schon lange Eingang gefunden habe.

Ueberhaupt habe in Prag, gelegentlich als ich meine beiden Söhne in die Hörsäle der Philosophie führte, abermals in so vielen schönen Zirkeln mit innigstem Vergnügen wahrgenommen, daß Euer Excellenz als ein außerordentlich unvergänglich leitender Stern glänzen

Es hätte des doppelten Umweges der Widmung nicht bedurft und nicht der schmeichelnden Einkleidung zu der Bitte, um eine wenigstens formelle, freundliche Empfangsbestätigung zu erlangen. Die Broschüre war für Goethe wichtig genug, betraf sie doch sein Schmerzenskind, die Farbenlehre, wurde sie doch dieser in höchster wissenschaftlicher Anerkennung gerecht, und setzte sie sich doch mit dem Begriff der Polarität in der Naturwissenschaft, besonders aber dem Gegensatz von Licht und Finsternis gleichen Sinnes auseinander, wie sich Goethe gegen Jean Baptist Biot polemisierend in den Annalen von 1817 und 1820 geäußert hatte. Diese Polemik und Stellungnahme Goethes, in der er Biot heftig bekämpft und erklärt hatte, von dergleichen Theorien physisch krank zu werden, waren dem Verfasser der Broschüre unbekannt, der sich da so wissenschaftlich gerüstet an Goethes Seite stellte, und daher für den Meister umso erfreulicher. 483

Goethe nahm Lövys Abhandlung sofort gründlich vor. Sub 2. Februar 1832 notiert er in sein Tagebuch: »Mineralien von Rath Grüner mit einer bedeutenden Prager Disputation über Polarität . . . Die Prager Disputation über Polarität. Ernste Betrachtungen darüber . . . setzte meine Betrachtungen über Zusammenhang der allgemeinen Phänomene dort.« Und am 3. Februar: »Die Prager Dissertation weiter gebracht. Abends Hofrat Riemer . . . Die Prager Dissertation besprochen. Wird Gelegenheit zu wichtigen Betrachtungen geben über die vorteilhaftere Stellung der katholischen Naturforscher, welches genau auszumitteln und auszusprechen ist.«

Den ausdrücklichen Hinweis des Polizeirates Grüner auf die Religionszugehörigkeit des Autors scheint Goethe also nicht beachtet und den Doktor Lövy für einen Katholiken gehalten zu haben oder zumindest dessen Arbeit durch die größere Lehrfreiheit der katholischen Länder gefördert. In der Antwort an Grüner, dem letzten Brief an den Egerer Freund, schreibt Goethe, 15. März 1832, in der Woche seines Todes:

». . . Zuvörderst will ich den großen Dank H. E. Professor Dietrich abstatten für die übersendete Dissertation, worin ich die Einführung meiner Farbenlehre in die Reihe der übrigen physikalischen Capitel auf das Freundlichste anzuerkennen hatte. Es ist dies ganz in meinem Sinne und meinem älteren Wunsche nach bequem; denn die Natur wird allein verständlich, wenn man die verschiedensten isoliert scheinenden Phänomene in methodischer Folge darzustellen bemüht ist. Da man denn wohl begreifen lernt, daß es kein Erstes und Letztes gibt, sondern daß alles, in einem lebendigen Kreis eingeschlossen, anstatt sich zu widersprechen, sich aufklärt und die zartesten Bezüge dem forschenden Geist darlegt. Möge mir ein solcher Anteil auch bey Ihnen und den werten Geistverwandten Männern immerfort lebendig und wirksam verbleiben.

Denn allerdings muß es mich höchlich freuen, wenn ich meine Arbeit, mit der ich es so ernst wie mit jeder 484 anderen viele Jahre genommen, mitten in einem catholischen Lande anerkannt und an die rechte Stelle gesetzt finde, mittlerweile die protestantischen Universitäten und Academien, welche sich so großer Liberalität und Preßfreiheit rühmen, mein Werk in Verruf getan, weil es ihren Beschränktheiten widerspricht, und solches dergestalt auf alle Weise beseitigt, daß, gleich einem verbotenen Buche ein Exemplar nirgends vorgewiesen werden darf, und freyeren jüngeren Geistern jede Aussicht versperrt, und dadurch gar manche praktisch-nützliche Kenntnis verhindert wird. Dieses weiter auszuführen trage Bedenken, und sage nur soviel, um zu zeigen, wie sehr ich Ursache habe, jene in Prag geschehenen Vorschritte zu schätzen und anzuerkennen.«

In all den Worten des Dankes und des Lobes, mit denen Goethe die Abhandlung in seinem Tagebuch und in diesem Briefe bedenkt, ist der Name ihres Autors nicht genannt. Schon bei der Einsendung hatte Grüner (im Stile des Polizeibeamten) nur über Prof. Dittrich ausgesagt und diesen in Goethes Erinnerung gebracht, die einzige Angabe, die er über Lövy gemacht hatte, – die konfessionelle – hatte der Adressat übersehen, und Goethes Dank gilt wieder nominell nur dem Prof. Dittrich. Wer weiß, ob der Autor der sich so sehr um ein freundliches Wort bemüht und vielleicht ein Handschreiben erhofft hat, von dritter Seite davon erfährt, daß seine Arbeit noch knapp vor des großen Meisters Tode in dessen Hand gelangt ist?

Solcherart ist der Namen des jungen Pragers, dessen Buch Goethes letzte Anerkennung und letztes Studium war, nicht in die Literaturgeschichte gekommen. In Professor Dr. Ernst Kraus' Werk »Goethe a Čechy« zum Beispiel, das jeder von Goethe erwähnten Person aus Böhmen ein eigenes Kapitel oder Kapitelchen widmet, hat Lövy keine Notiz; unter dem Titel »Prof. Dittrich« aber steht, daß Dittrich es war, der Goethe die letzte Freude bereitet hat, indem er ihm eine Schrift über 485 Polarität von – Dr. Lory (!) übersandte.Ich darf diesen Fehler dem Prof. Ernst Kraus nicht durchgehen lassen, obwohl ich Ursache habe, ihm dafür herzlich dankbar zu sein, daß er mich als Kronzeuge für die Prager Mädel gegen meinen Bruder und gegen – Friedrich Hebbel angerufen hat. Mein Bruder hatte nämlich in seinem Buche »Hebbel und die Tschechen« einen Brief Hebbels ans Tageslicht gezogen, der sich in wirklich höchst geschmackloser Weise über tschechische Huldinnen aus dem Wiener Graben lustig macht. Prof. Kraus erwiderte ihm (»Hebbel und wir«, »Union«, Nr. 201 bis 244, Jahrg. 1913) mit Recht: »Jede Großstadt ist eine Menschensaugerin und Menschenaussaugerin, jede ist ein Babylon, das sich seine Jungfrauenopfer aus seinem eigenen Umkreis holt, und Böhmen gehört leider teilweise in den Umkreis der Phäakenstadt. Nach Hamburg wandern die Holsteinerinnen und Dithmarscherinnen, die Friesenmädchen, die jeder Leser Liliencrons kennt. Aber niemand hat ihnen je höhnisch vorgerückt, welchen Platz sie in Hamburg ausfüllen und wie dankbar sie und ihre Verwandten daheim dafür sein sollten . . . Daß nicht wenigstens der Verfasser des Buches das empfunden hat! Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, »sozial« lautet jedes zweite Wort, und er druckt den Artikel mit solchem Behagen ab. Man sollte es dem Bruder des Journalisten Egon Erwin Kisch nicht zutrauen!« Aber auch Prof. August Sauer, dem wir über Goethes Beziehungen zu Böhmen alle Aufschlüsse zu danken haben, geht über Lövy kurz hinweg.

Wenn sich Goethe anläßlich der Uebersendung von Lövys Buch »Ueber Polarität« so anerkennend über die Lernfreiheit in katholischen Ländern verbreitet, begeht er eine Verallgemeinerung, mit der er dem hauptbeteiligten Einzelnen viel zu wenig und dem damaligen Kurs viel zu viel Ehre antut. Genauere Kenner von Ort und Zeit wissen anders auszusagen. Nach der Zeugenaussage Charles Sealsfields, des entschlüpften Prager Kreuzherren: ». . . . läßt die Regierung die Werke Schillers und Goethes in Prag nicht einmal in der sonst in Oesterreich üblichen, arg verstümmelten Form aufführen; der Kaiser fürchtet offenbar, daß die 486 Böhmen dadurch zu klug werden könnten,« und Anton Springer erwähnt in seinen Memoiren auch einen konfessionellen Unterschied im Verhalten zu Goethe, aber anders als im letzten Goethe-Brief steht: »Es bestand in Prag gegen Goethe ein tiefes Vorurteil, er galt für gefährlich, Glaube und Sitte lockernd; ich glaube überhaupt nicht, daß man in den Bibliotheken Prags mehr als zwei Dutzend Exemplare seiner Werke zusammengebracht hätte. Wer sie besaß, einzelne jüdische Literarfreunde, Advokaten und ältere Beamte hüteten ängstlich den Schatz.«

Keinesfalls kann die Doktorarbeit des Hermann Lövy als Pegel für das allgemeine Niveau des Studienfortschrittes dienen, denn nicht bald ein anderer konnte die Universalität dieses Sub auspiciis-Doktoranden der Heilkunde haben, der am 2. Juli 1831 in der Aula des Carolinums neunzehn landläufige Thesen über Kuhpockenimpfung, Hämorrhoiden, Scabies &c. zu verteidigen hatte. Hatte doch dieser Mediziner Kepler, Giordano Bruno, Spinoza, Laplace, Schelling, Hegel, Lichtenberg und Humboldt in sich aufgenommen, bekämpfte er doch Newtons Ansicht von der mechanischen Bewegung der Weltkörper, Kants Annahme vom Vorhandensein einer Anziehungs- und Abstoßungskraft und Kestners Definition von einander entgegengesetzten Größen, sogar seines Meisters Georg Friedrich Pohl bahnbrechende Entdeckungen schränkt er ein, es ablehnend, die Kristallisation als chemisch-polaren Prozeß zu betrachten und den dreifachen Blätterdurchgang von ternären Verbindungen abhängig zu machen, und polemisiert er doch gegen Schellings Behauptung von der Identität von Zentripetal- und Zentrifugalkraft.

Lövy scheidet den Begriff der Polarität streng von anderen Gegensätzen. Sieben von seinen fünfzehn Kapiteln sind dieser Scheinpolarität gewidmet, dem räumlichen (»oben und unten«, »vorne und hinten«, »rechts und links«) und dem zeitlichen (»vor und nach«) Gegensatz, dem logischen (»Bewegung und Ruhe«, »Leben und 487 Tod«, »Sein und Nichtsein«), dem metaphysischen (»Inneres und Aeußeres«, »Ideelles und Reelles«), dem mechanisch-hypothetischen (»Anziehung der Weltkörper und Gravitation«) und dem algebraischen Gegensatz (»Gewinn und Verlust«, »Positive und negative Zahlen«, »Addition und Subtraktion). In genauer Detailforschung wird in diesen Kapiteln dasselbe widerlegt, was Goethe in seinen Tages- und Jahresheften von 1817 und 1820 bei Erinnerung an Biot und dessen Streit mit Arago so heftig bekämpft hatte: die Anwendung einer falschen Analogie des Magnetstabes auf alle möglichen Zweige der Naturwissenschaft.

Vom Kapitel 8 an kommt Lövy auf die Polarität im eigentlichen Sinne zu sprechen, vornehmlich an Hand des 1826 erschienenen und Alexander v. Humboldt gewidmeten Werkes von Georg Friedrich Pohl über den Prozeß der galvanischen Kette, in dem das alte chemische Grundgesetz »Corpora non agunt, ni si fluida« auf den charakteristischen Unterschied zwischen der Erregungstätigkeit der Metalle und jener der Flüssigkeit zurückgeführt wird. Von den Experimenten und den daraus abgeleiteten Theorien Pohls kommt Lövy auf die doppelte Form des Polaritätsgesetzes zu sprechen. Die eine ist die, in der der Gegensatz vor uns entsteht, wie beim Magnetismus, die andere, in der er bereits vorhanden ist, wie bei der Elektrizität. Dort besteht der Gegensatz an einem und demselben Individuum, hier an zwei getrennten Individuen. Dort sind beide Tätigkeiten entgegengesetzt, aber gleich, wie Nord- und Südpolarität (die unterscheiden sich außer dem Gegensatz durch nichts), hier zeigen sich beide nicht nur entgegengesetzt, sondern von verschiedener Stärke. Will man sich daher der Ausdrücke »positiv« und »negativ« bildlich bedienen, so ist es beim Magnetismus gleich, ob man Nordpol »positiv« und Südpol »negativ« nennt oder umgekehrt. Bei der Elektrizität ist eine von beiden entgegengesetzten Tätigkeiten stärker, vordringender, die andere schwächer, minder 488 vordringend, man nennt also jene mit mehr Recht immer positiv, diese negativ.

Ueber das Wesen und die Bedeutung der Polarität formuliert der Verfasser zwei Gesetze. 1. das Gesetz von der gegenseitigen Verstärkung sich nähernder entgegengesetzter Pole; so bedient sich die Natur der Polarität als eines Mittels zur Steigerung der Kräfte und so vermag auch die Kunst durch Vereinigung entgegengesetzter Pole eine wunderbare Erhöhung der Individuen zu bewirken. 2. Das Gesetz von der Umkehrung der Pole, das oft durch die geringfügigsten Bedingungen herbeigeführt wird, was beweist, daß ein solcher Gegensatz auf innerer Gleichheit, Identität beruhe; dieses »principium coincidentiae oppositorum«, das sich hier auf dem Gebiete der Physik dartut, darf aber nicht auf das Gebiet der Logik und Metaphysik angewendet werden, wo das principium contradictionis unerschütterlich weiter gilt. – Seltsam genug schließt der junge Naturphilosoph, aus dessen Arbeit Goethe (obzwar dieser nicht lange vorher zu seinem Staunen auf einem eigenen mineralogischen Manuskript den Zensurstempel der Prager Statthalterei gefunden hatte) den Geist im Lande Böhmen als so freiheitlich und vorgeschritten zu erkennen vermeinte, das Kapitel mit den Worten: »Erschrickt nicht jedes fromme Gemüt über das Identifizieren der heiligen Antithese, Gott und Natur? – und ist nicht eben dieser Schrecken eine hinreichende Widerlegung solcher Metaphysik?«

Die Anwendung des Begriffes »Polarität« auf die Zentripetal- und Zentrifugalkraft bezeichnet Lövy als denkbarst unglücklich und falsch und mit Beziehung darauf setzt er dem darauffolgenden Kapitel (12) den Titel voran:

»Goethes Farbenlehre, im Gegenteil eine zu wenig beachtete Ergänzung der Theorie der Polarität.«

Man lese, wie begeistert der junge Prager Forscher in diesem Teil seiner Abhandlung, in dem er eine 489 Uebersicht von Goethes Farbenlehre gibt, für die Anerkennung dieses Werkes wirbt.

»Obgleich manche Theoretiker geneigt sind, die Lehre von der Polarität über Himmel und Erde, über die ganze organische und unorganische Welt auszubreiten, so bleibt dennoch eine große Lücke in der genannten Theorie, so lange nicht Goethes Farbenlehre, die ebenfalls auf der Idee der Polarität, nur freilich in einem dem Gegenstande eigentümlichen Sinne, beruht, eine allgemeinere Anerkennung findet, als bisher. Es wird der unsterbliche Ruhm eines Newton dadurch nicht verdunkelt, wenn man zugibt, daß er in diesem Punkte geirrt. Schon läßt sich hie und da eine Stimme vernehmen, daß die alte Lehre, welche die Farben aus dem einfachen Lichte herleitet, nicht haltbar sei; aber man will dem allgemein anerkannten, verehrten Dichtergenius nicht auch Genialität in der Naturforschung zutrauen, man erwägt nicht, daß auch dieses, fremd scheinende Streben aus der Tiefe seiner Individualität quelle, und daß mit seinem Denken, wie mit seinem Dichten stets die unbefangenste, himmelklare Anschauung aufs innigste verknüpft ist. Da aber seine Leistungen in der Morphologie und anderen Zweigen der Naturwissenschaft bei den bedeutendsten Männern, von denen ich bloß einen Alexander v. Humboldt und einen Loder nenne, bereits gerechte Anerkennung gefunden, so scheint bei vielen die Hintansetzung der gerade am sorgfältigsten bearbeiteten, obwohl noch der Vervollständigung bedürftigen Farbenlehre nur auf dem Vorurteil zu beruhen, daß sie der Mathematik nicht entbehren könne. Die komplizierte mechanisch-hypothetische Theorie der Franzosen, unter welchen sich bereits ein sie zum Teil wieder zerstörender Streit erhoben, könnten die Deutschen füglich entbehren, und mit der in wenigen Blättern enthaltenen, naturgemäßen, einfach genialen Lehre Goethes zufrieden sein. Es wäre sogar nicht unmöglich, daß gerade dieser Gegenstand eine Aussöhnung der Physiker mit dem hohen Greise herbeiführte, und 490 daß man sich endlich freute, das ehrwürdige Haupt des vielseitigen Lehrers seiner und der kommenden Zeit neben so vielen unverwelklichen Kränzen auch mit dem der Naturforschung zu umwinden.«

Die Jugend grüßt huldigend den sterbenden Cäsar. Die Fanfare klingt in sein beglücktes Ohr. Kein schmeichelnder Musikant ist es, der ihm da aus Böhmen ein Lied bringt, es ist ein Komponist, ein kritisches, alle Register beherrschendes Genie. Und Goethe kann froh seinen letzten großen Brief schreiben, wird ja auch die Farbenlehre, sein Schmerzenskind, leben, von verständnisvollen Menschen behütet . . .

Aber: es dauert noch lange, lange, bevor die Farbenlehre als etwas anderes gewertet wird, denn als Marotte eines der Vielwisserei verfallenen Dichtergreises. Es ist fraglich, ob die Offizin »M. J. Landau, Prag, Lange Gasse Nr. 922« (im Hause »zum Stempelamt«) viele Exemplare der Schrift »Ueber Polarität« gedruckt hat und es ist fraglich, ob die Buchhandlung »Borrosch & André«, die sie in Kommission hatte, viel davon verschleißt hat. Jedenfalls war das Exemplar in der Wiener Hofbibliothek, anhand dessen die vorliegende Besprechung verfaßt ist, in den neunzig Jahren noch nicht aufgeschnitten worden . . .

Dem ersten Blatt ist zu entnehmen, daß mit dieser Inauguraldissertation »Hermannus Lövy, Bohemus Pragensis, pro suprema Doctoratud medic Laurea Candatus« unter den Auspizien des Fürsterzbischofs von Prag Grafen Alois Josef Kolowrat, unter dem Rektorate des Professors Julius Vinzenz Krombholz, unter dem Studiendirektor Gubernialrate Prof. M. U. Dr. Ignaz Nadherny und unter dem Dekanate Prof. Franz Alexander Wünsch am 2. Juli 1831 um zehn Uhr vormittags in der Aula Carolina feierlich promovierte. Gewidmet ist die Abhandlung dem kaiserl. königl. Bibliothekar und em. Universitätsprofessor der italienischen Sprache Dr. Anton Spirk »als ein geringer Beweis der reinsten Achtung und Liebe«. 491

Wer aber war der junge, universale Philosoph und Apostel Goethes, Lövy, wie war sein ferneres Leben, die Fortsetzung seiner so verheißungsvoll aufgeklungenen Wirkung, sein Tod? Er ist verschollen, und niemand hat jemals seiner gedacht. 492

 

Der verdächtige Diamant

Edelsteine sind, wie schon der Namen sagt, die Edelleute der Gesteinswelt, und die Diamanten sind sozusagen das Königsgeschlecht. Und doch ist einem echten, wasserklaren Sprossen dieses Königshauses das Mißgeschick widerfahren, daß man ihn als Hochstapler behandelte, in eine entwürdigende Untersuchung verwickelte und schließlich als lästigen Ausländer internierte.

Die Geschichte liegt schon fast ein halbes Jahrhundert zurück; so viel Staub sie auch seinerzeit aufgewirbelt hat, heute ist sie wohl schon vergessen. Der steinerne Königssohn hatte nämlich sein Mißgeschick einem vorher aufgetretenen Hochstapler zu danken, der durch fünfzig Jahre getäuscht, dem man durch fünfzig Jahre Huldigung entgegengejubelt hatte, und gegen dessen Vollblütigkeit sich eben ernste Zweifel zu regen begannen, als unser armer Held auftauchte. Jener falsche Demetrius war die »Königinhofer Handschrift«, und wenn er auch noch nicht entthront war, so war dies hauptsächlich deshalb, weil man sich einen liebgewordenen Irrtum nicht gerne aus dem Herzen reißt. Um so ablehnender, so skeptischer war man gegen jede neue Zumutung, und so warf man das falsche Juwel zwar nicht fort, hob aber auch das echte Juwel nicht auf. Die Geschichte der böhmischen Handschrift und die des böhmischen Diamanten weisen mancherlei verblüffende Analogien auf, geheimnisvolle Auffindung, großartige Hoffnungen, feierliche Echtheitsuntersuchungen, Polemiken und Zweifel.

1869 gelangte in die Granatschleifereien des Grafen Erwin Schönborn im Dorfe Dlaschkowitz bei Trebnitz mit einer Menge Pyropschotter aus den gräflichen Granatgruben von Chraschtan-Podseditz auch ein 493 durchsichtiges Steinchen von hellem Gelb. Man wollte das hübsche Mineral schleifen, denn Gräfin Christiane, eine geborene Gräfin Brühl, liebte es, ihren aus Deutschland auf Besuch kommenden Verwandten als besondere Erinnerungsstücke an Böhmen Schmucksachen zu schenken, die aus heimischen Halbedelsteinen hergestellt werden, aus Turmalinen, Korunden, Opalen oder ähnlichen, im Bereiche des Glücks morganatisch geborenen Mineralien. Besagter gelber Stein spottete aber aller Anstrengungen der Schmirgelscheibe. Sie vermochte ihn nicht einmal zu zerkratzen; je energischer sie sich an ihm zu reiben versuchte, desto stärkere Schwielen trug sie davon. Was war denn das? Eine solche Unbotmäßigkeit war der braven Schleifscheibe noch nicht vorgekommen, und auch den Dlaschkowitzer Granitschleifern nicht, die schon allerhand buntere und schönere Steine für die Gräfin fassetiert, poliert und sogar gewölbt hatten, ohne daß jemals auch nur ein einziger solche Geschichten gemacht hätte, wie dieses freche, widerspenstige Glasstück da. Sie hatten nicht üble Lust, es unter die Abfälle zu werfen (wie das in Schule, Amt und Leben oft vorkommt).

Zum Glück hieß einer der Schleifer Preißler, und der sah die Hartnäckigkeit des Steines nicht als Ausfluß purer Bosheit an, sondern er glaubte eher, in ihr die besondere Charakterfestigkeit einer nobleren Natur erblicken zu dürfen. Freilich: so leicht faßt man über seinen Nächsten nicht eine gute Meinung, und auch Herr Preißler nahm sich zunächst den ungebärdigen Gesellen zu einer gar strengen Prüfung vor. Bei der hieß es biegen oder brechen. Er nahm den in der Werkstätte verwendeten Bohrdiamanten und wollte den Stein damit ritzen. Ja, Kuchen! Zum Ritzen gehören bekanntlich zwei: Einer, der ritzt, und einer, der sich ritzen läßt. Der wackere Stein ließ sich aber nicht ritzen. Der Schleifer trug ihn nun zum herrschaftlichen Hauptkassier, Herrn Maschek, und damit war die Dlaschkowitzer Karriere unseres Helden beendet. 494

Herr Maschek schickte ihn nach Prag an die Universität. Professor Krejči solle ihn auf seine Fähigkeit prüfen. Professor Krejči hatte keine Zeit und betraute den Professor Šafařik mit dem Examen. Šafařik nahm die Untersuchung am 13. Jänner 1870 vor und stellte fest: hier liegt ein Diamant vor. Er publizierte diese Tatsache vom Funde des »ersten böhmischen Diamanten«, aus der Fachliteratur drang die Sensation schnell in die Oeffentlichkeit, und schon sah diese in Böhmen ein anderes Kapland erstehen, Diamantgruben wie in Brasilien, Diamantseifen wie in Südwales, Diamantwäschereien wie in Arizonem, und ganz Böhmen von Diamantsuchern bevölkert. So kam es, daß auch in unsere biedere Zone das Diamantfieber drang. Man suchte, fand aber keinen zweiten mehr. Das tschechische Konversationslexikon tut die ganze Affäre von der Auffindung des böhmischen Diamanten in einem einzigen Satze ab, der aber von vergeblicher Mühe und noch nicht ganz geschwundener Hoffnung zeugt: »In Böhmen fand sich 1869 bei Dlaschkowitz ein Diamant unter Pyropen, aber bisher wurde trotz eifrigen Suchens kein zweites Exemplar gefunden.«

Wieso kam das? Diamanten pflegen doch in der Welt nicht einzeln aufzutreten! War – er – vielleicht – doch – nicht – echt? Vielleicht bloß ein blasser Zyklon? Der ersten Untersuchung folgte auf mehrfach geäußertes Verlangen (u. a. erhob der große Geologe Joachim von Barrande den Wunsch nach Revision) eine zweite, eine chemische. Feierlich und in atemloser Spannung wurde im Beisein eines halben Dutzend Gelehrter einige Splitterchen von dem Steine abgesprengt, unter Zeremonien in eine Retorte mit kohlensäurefreiem Sauerstoff gesteckt und verbrannt, und hierauf ein solennes Protokoll aufgenommen. Resultat: Diamant.

Blieb nur noch ein zweiter Zweifel: War der Stein wirklich böhmischen Ursprunges, war er nicht unterschoben, oder wenigstens zufällig in die Schleiferei 495 geraten? Einige heimische und auswärtige Mineralogen (Hintze, Zepharovich, Stelaner und Kaiser) traten gegen die Möglichkeit einer böhmischen Provenienz auf, Šafařrik, Kunz, Oelmicher und Ježek verteidigten diese, indem sie hauptsächlich auf die Unähnlichkeit der Kristallform mit jener der anderswo gefundenen Diamanten hinwiesen.

Wie dem auch sei, jedenfalls ist kein zweiter so edler Stein mehr bei uns gefunden und Böhmen kein Klondyke geworden. Den Dlaschkowitzer Diamant hat Graf Schönborn dem Landesmuseum in Prag geschenkt und wer ihn sehen will, findet ihn in der Kollektion der böhmischen Minerale. 496

 

Les aventures de Bassompierre à Prague

Nur vierundzwanzig Lebensjahre lagen hinter Herrn François de Bassompierre, als er nach Prag kam. Seine bisherigen Lebensschicksale, – so genau er sich auch jeder Kleinigkeit und jeden Datums bis in sein spätes Alter entsann und so ausführlich er auch alles in der Bastille niederschrieb – füllten kaum hundert Seiten seiner dickleibigen Memoirenbände, die erst nach seinem Tode publik wurden, und noch heute bloß im altfranzösischen Original existieren. Nur von seiner Begegnung mit der pestkranken Krämerin wird den Deutschen in den »Auswanderer-Unterhaltungen« erzählt, und von Goethe hat Hofmannsthal den Stoff in das Buch »Das Märchen der 672. Nacht« übernommen.

Man schrieb den 22. Jänner 1604, als die Postkutsche den jungen Bassompierre durch die Stadttore Prags rollte. Er kam von der Front. In Ungarn hatte er mit solcher Bravour gegen die Türken gefochten, daß sich General Hermann Freiherr von Rußwurm ihn, den Sohn seines Todfeindes, zum Freund erkoren hatte, und nun in Prag erwartete; im Hause »zum Schlüssel« auf dem Kleinseitner Ring, bei dem Historiographen Kocin hatte er für Bassompierre Quartier machen lassen. Schon am nächsten Tage fuhr Rußwurm zeitig früh in seiner Karosse bei seinem jungen Kriegskameraden vor, ihn in die Hofburg zu bringen und im Wladislawschen Saal, in dem sich das Treiben eines Luxusbasars mit dem Korso der höfischen Welt vereinigte, mit den Räten Kaiser Rudolfs bekannt zu machen.

Dann nahm ihn Rußwurm zu einem Diner beim Burggrafen von Karlstein, Herrn Johann von Vřesovic, mit, dessen Namen Bassompierre bei Niederschrift seiner Memoiren in »Perchtoris« oder wortspielend in »Prechesessoims« französiert; überhaupt grenzt seine 497 Schreibweise der Eigennamen schon an Diskretion, – hätte uns Palacký nicht den Schematismus der damaligen Hofbeamten erschlossen, wir könnten Namen und Orte nicht enträtseln, würden glauben, daß er Prag mit einer anderen Stadt verwechsle oder frei erfinde. Rußwurm, der alte Frauenjäger, wußte genau, warum er von vielen Einladungen gerade die des Burggrafen angenommen hatte; er stellte Anna Sybilla nach, der jüngsten von den vier Töchtern des Herrn von Vřesovic. Darüber, daß er die Einladung auch auf den jungen Bassompierre ausdehnen dürfe, war er sich klar. Bassompierre hatte ja während des Türkenkrieges mit dem jüngeren der beiden Söhne des Burggrafen, mit Wolf Vřesovic, Freundschaft geschlossen.

Und wirklich muß der schlanke lothringische Edelmann, der schon für Frankreich gegen Savoyen und für Oesterreich gegen die Muselmanen gekämpft hatte, der am Hofe des ersten Bourbonen ein Liebling gewesen war, und in dem sich der künftige Klassiker der Galanterie kaum verleugnete, wohl empfangen worden sein. Vřesovic saß mit seinen sechs Kindern beim Diner. Der ältere seiner beiden Söhne war Großfalconiere des Kaisers; der jüngere, der im Vorjahre an Bassompierres Seite unter dem Befehl Rußwurms bei Ofen und Gran gekämpft hatte, bewarb sich eben um das Kommando eines vom Königreich Böhmen nach Ungarn zu entsendenden Kavallerieregimentes und war daher eifrig bemüht, sich Gunst und Protektion des Generals Rußwurm zu sichern. Die älteste der Töchter war Gräfin Millesimo, die zweite war mit dem Obersten Karl Kollowitz (mit dessen Bruder Siegfried Kollowitz im vorigen Jahre Bassompierre in Wien »brouderchaffte« getrunken hatte) vermählt, die dritte hieß Anna Esther, zählte 18 Jahre und war bereits Witwe: vor sechs Monaten war ihr Gatte, ein Edelmann namens Brichind, nach kaum einjähriger Ehe gestorben; auf die jüngste, das Kind Anna Sybilla, hat der Herr General es abgesehen. 498

Aber nur einer, der Anna Esther, rühmt Chevalier von Bassompierre exzellente Schönheit nach, und als es nach dem Essen zum Tanze kommt, verliebt er sich vollends in des Burggrafen drittes Töchterlein. Auch die blutjunge Wittib findet den fremden Edelmann nicht übel, und als sie einen Augenblick mit ihm allein im Zimmer ist, und er ihr in leidenschaftlichen Komplimenten seine Gefühle offenbart, antwortet sie ihm, indem sie ihm die Möglichkeit gibt, ihr zu schreiben, und die Plätze verrät, wo er sie begegnen könnte.

Aufs höchste verliebt, verläßt er das Gastmahl, aber das hindert ihn nicht, sich noch am selben Abend in ein zweites Liebesabenteuer, ein solches gemeiner Art und schimpflichen Ausganges, einzulassen. Allerdings trifft ihn nicht die Hauptschuld. Die trägt Marschall Rußwurm, wohl ein tapferer Haudegen, aber im Hinterland immer anrüchige Dinge anzettelnd, die ihn – wie wir aus der Weltgeschichte und aus dem »Bruderzwist« wissen – schon im nächsten Jahr den Kragen kosten sollen; 1605 wird er in Prag hingerichtet, weil er den Obersten Belgioso bei einem Renkontre in der Wälschen Gasse getötet und »mit dem kaiserlichen Frauenzimmer Ungebühr getrieben« hat. Einstweilen aber genießt er noch sein Leben in intensivster Art.

Da er mit Bassompierre von der Tafel des Vřesovic fährt, erzählt er seinem jungen Freund von einer Vereinbarung, die er mit einem Wirt auf der Neustadt getroffen habe; sie werde zweihundert Dukaten kosten aber eine gute Unterhaltung verbürgen. Daß der Wirt bei Abschluß dieses Kontraktes jedenfalls betrunken war, verschweigt Rußwurm seinem Begleiter, aber der soll es bald erfahren. Zweihundert Schritte vom Gasthause lassen sie ihre Kalesche halten und ziehen mit einem böhmischen Pagen, der ihnen als Dolmetsch dienen soll, in das Gasthaus. In der Wohnstube finden sie den Wirt und dessen zwei jungfräuliche Töchter, beide sittsam mit Handarbeiten beschäftigt, und erstaunt, die beiden fremden Herren so ungeniert eintreten zu sehen. 499 Als es sich diese aber recht gemütlich machen wollen, und Rußwurm auf seine Vereinbarung pocht, springt der Alte entsetzt auf, beteuert, daß er niemals dergleichen zugesagt habe, reißt das Fenster auf und schreit nach Leibeskräften: »Mörder! Mörder!«

Nun spielt sich eine brutale Szene ab, die Bassompierre in unverblümten Worten schildert, wenn er auch beteuert, mit innerem Widerstreben teilgenommen zu haben. Abwechselnd setzen beide dem Wirt den Dolch an die Kehle, abwechselnd versuchen sie die Mädeln zu umarmen . . . Aber die Nachbarschaft hat sich auf die Hilferufe des Bürgers hin zusammengerottet, man hört die Menge herankommen und General und Kapitän müssen loslassen.

Rußwurm (zum Wirt): »Wenn Sie nicht dafür sorgen, daß wir der Menge entkommen, so töte ich Sie!«

Um der Drohung mehr Nachdruck zu geben, drücken Rußwurm und Bassompierre die Spitzen ihrer Dolchmesser unter dem breiten Mantel des Bürgers, also für die Menge unsichtbar, an dessen Rippen. So verlassen die drei, scheinbar in bester Eintracht, das umlagerte Haus und der eingeschüchterte Mann in der Mitte beteuert immerfort der Menge, daß nur ein Mißverständnis vorgelegen sei. Schließlich lassen die beiden Abenteurer den Alten los, und wollen ihre Schritte beschleunigen, aber kaum fühlt der sich frei, als er von neuem aus Leibeskräften zu schreien beginnt: »Morterioh! Mörder! Mörder!«

Die Menge beginnt daraufhin den Fremden nachzurennen und sie mit einem Hagel von Steinen zu überschütten.

»Bruder, jetzt darf jeder nur an sich denken,« ruft der fliehende Marschall, »laufe! Wenn du hinfällst, – ich werde dich nicht aufheben!«

Sie laufen, während die Steine auf sie niederprasseln. Rußwurm wird von einem wuchtigen Steinwurf in die Niere getroffen. Bassompierre hebt ihn auf, stützt ihn und hilft ihm, sich zwanzig Schritte 500 weiterzuschleppen. Dort steht die Karosse. Sie werfen sich hinein, und der Kutscher schlägt wie wütend auf die Pferde los. Sie jagen der Altstadt zu. Dort sind die beiden Kavaliere in Sicherheit . . . »den Klauen von mehr als vierhundert Personen entronnen,« bemerkte Bassompierre, in der Bastille an dieses Abenteuer zurückdenkend, das er mehr als drei Jahrzehnte vorher in Prag erlebt hatte.

Die nächsten der Prager Tage Bassompierres sind von Zusammenkünften mit Anna Esther, vom Ballspiel mit Adam von Wallenstein (der Kaiser schaut dem Spiele aus seinem Fenster zu), von einer in spanischer Sprache geführten Audienz bei Rudolf II. und von Interventionen und Audienzen zugunsten seines Vetters, des Rheingrafen, ausgefüllt, der den Baron von Siray getötet hatte. Auch ließ Kaiser Rudolf durch den Grafen Fürstenberg dem jungen Bassompierre den Antrag stellen, als Obrist in seinen Diensten zu verbleiben und ein aus drei neuen Kavallerieschwadronen und aus zwei Karabinier-Kompagnien bestehendes Regiment zu übernehmen. Franz von Bassompierre erklärte sich im Hinblick auf den Frieden in Frankreich und die daraus für ihn erwachsende Untätigkeit gerne dazu bereit, mehr aber noch, um länger in der Nähe seiner angebeteten Anna Esther bleiben zu können.

Diese und ihre von Rußwurm umschwärmte Schwester hatten ihren beiden Verehrern zugesagt, den Fasching in Prag zu verbringen; aber dieses Versprechen kann, zum höchsten Leidwesen beider Teile, nicht eingehalten werden. Der alte Burggraf erkrankt, und, was hilft's, die Burgfräulein müssen bei ihm in Karlstein bleiben.

Trotzdem verläuft der Karneval voll übermütiger Fröhlichkeit, voll Festlichkeiten, Maskenaufzügen, Duellaffären, Hochzeitsmählern, Balletten, Kartenspiel mit Gewinsten und Verlusten von zweitausend bis dreitausend Talern. Bei einer solchen Quinola-Partie kommt es zwischen Adam Gallus Popel von Lobkowitz 501 und Grafen Wenzel Kinsky zu einem Streit, am nächsten Tage schlagen sie sich, und Popel Lobkowitz wird am Fuße verwundet. An seinem Krankenbett kommt es zu einer drolligen Affäre: der Großprior der Maltheser Theobald Matthäus von Lobkowitz (derselbe, der einige Jahre später im letzten Augenblick dem Schicksal entrinnt, mit Martinitz und Slavata aus dem Fenster der Prager Landstube gestürzt zu werden) pries in einem Gespräch mit dem venezianischen Gesandten den heiligen Johannes höher als St. Marcus, während der Andere den venezianischen Schutzpatron über alle anderen Heiligen stellte und sich sogar dazu hinreißen ließ, dem Johanniter gegenüber den heiligen Johannes zu beschimpfen. Das gibt zu einem regelrechten Ehrenhandel wegen zweier Aposteln Anlaß, was bei Hofe nicht wenig belacht wird.

Ernster und empörender in seinen Folgen ist ein Zusammenstoß auf dem Altstädter Ring zwischen acht anmaßenden Aristokraten und zweihundert Mann der Polizeiwache. Der kaiserliche Oberststallmeister Ulrich Desiderius Pruskovsky von Pruskow heiratet nach kurzer Witwenschaft zum zweitenmal, Frau Johanna Kapliřka von Sulewitz, Witwe nach Ulrich Hran von Harasow. Vier Tage währen die Hochzeitsfeierlichkeiten, und im Verlaufe eines Maskenballes kommen Rußwurm, Bassompierre, Adam Waldstein d. J., genannt »Longo«, Wenzel Kinsky, Hermann Czernin von Chudenitz, je ein Graf Harrach, Wolff von Mansfeld und Schomberg auf die Idee, in ihren Kostümen maskiert einen Ritt durch die Stadt zu unternehmen. Sie reiten paarweise, voran Rußwurm und Bassompierre.

»Als wir am Rathause der Altstadt vorüberkamen, kamen einige Wachleute auf uns zu und sagten in slawischer Sprache zu Rußwurm und mir, daß der Kaiser Maskenzüge in der Stadt verboten habe. Darauf gaben wir keine andere Antwort, als daß wir das Slawische nicht verstünden. Man ließ uns passieren. Aber als wir zurückkehrten, begannen sie alle Zufahrtsstraßen zum 502 Rathausplatz mit Ketten abzusperren, mit Ausnahme jener, in die wir einritten. Als wir sie passiert hatten, spannten sie auch hier vor uns und hinter uns je eine Kette, und beim letzten Paar beginnend – ergriffen sie den Zügel der Pferde des Grafen Mansfeld und Schombergs, und führten unsere beiden Freunde ins Gefängnis. Dann nahmen sie auch v. Harrach, v. Charmin (Czernin), v. Waldstein und v. Kinsky, welche, unwillig unter diesem Schimpfe leidend, keine Schwerter hatten, ihn zu verhindern. Rußwurm bemächtigte sich seines Degens und ich des meinen, die unsere Lakaien getragen hatten, und ohne sie aus der Scheide zu ziehen, achteten wir nur darauf, daß man den Zaum unserer Pferde nicht erfasse. Als ein Sergeant dies bei meinem Pferde versuchte, versetzte ihm Rußwurm mit seinem in der Scheide steckenden Degen einen solchen Hieb über die Hand, daß die Scheide sprang, und der Mann ziemlich stark an der Hand verwundet wurde.

Daraufhin warfen sich mehr als zweihundert Polizisten gegen uns, und wir zogen blank, um ihnen Paroli zu bieten. Aber bei jedem Ausfall, den wir machten, führten sie große Stöße mit dem Schafte ihrer Hellebarden gegen unsere Beine und Arme. Dies dauerte einige Zeit, als ein Justizchef aus dem Rathause heraus trat, seinen Stock, den man »Regimentsstock« nennt, erhob, worauf alle Schutzleute ihre Hellebarden auf die Erde setzten, und Rußwurm, den Gebrauch kennend, gleichfalls sein Schwert senkte, und auch mir zurief, daß ich schnell das gleiche tun möge. Das tat ich, – sonst wäre ich als Rebell gegen den Kaiser erklärt und als solcher gestraft worden.

Dann bat mich Rußwurm zu antworten, wenn der Stadtrichter etwas fragen sollte, damit man ihn nicht erkenne. Der Richter fragte mich, wer ich sei und als ich ihm dies offen sagte, richtete er an mich die Frage, wer mein Gefährte sei, darauf erklärte ich ihm, daß dies Marschall Rußwurm sei. Als er dies hörte, begann er große Entschuldigungen zu stammeln. Aber der 503 Rußwurm, der zuerst sehr ärgerlich darüber gewesen war, daß ich ihn verraten hatte, erkannte nun, daß ich nichts Besseres hätte tun können, er demaskierte sich wütend, bedrohte den Richter und die Wache, indem er erklärte, daß er sich beim Kaiser und beim Kanzler beschweren werde. Sie bemühten sich, so sehr sie es vermochten, ihn zu versöhnen, aber er war – ebenso wie ich – vielzusehr geschlagen worden, um sich mit Worten zufrieden zu geben . . . Man gab uns unsere sechs Genossen wieder. Dann kehrten wir, als ob nichts geschehen wäre, zu den Hochzeitsfeierlichkeiten zurück. Am nächsten Tage suchte Rußwurm den Kanzler des Königreiches, Zdenko Adalbert Popel von Lobkowitz, auf, zu welchem er sehr anmaßend sprach. Der Kanzler ließ, um uns Genugtuung zu geben, mehr als 150 Leute der Wache in Arrest setzen; ihre Frauen kamen tagtäglich vor die Türe meiner Wohnung, um Begnadigung zu erbitten und ich unterstützte diese Bitten bei Rußwurm sehr warm. Aber er war unerbittlich und ließ sie im Gefängnis 14 Tage während der strengen Winterkälte verbleiben, so daß zwei von ihnen starben. Endlich erwirkte ich mit großer Bemühung ihre Befreiung . . .«

Und als der Fasching zu Ende ist, ist er doch noch nicht zu Ende. Denn während in Prag bereits der Gregorianische Kalender in Geltung steht, bedient sich die hussitisch gesinnte Bevölkerung auf dem flachen Lande noch immer des alten julianischen Kalendariums. So ist es möglich, daß in der Landeshauptstadt schon der Faschingdienstag vorüber ist, während in der Provinz noch zehn volle Tage für fröhlichen Fastnachtsgenuß übrigbleiben . . . Da kommt es denn den tollen Gästen sehr zupaß, daß der Herr Burggraf von Karlstein sie einlädt, den ländlichen Nachfasching auf der Burg zu verbringen. Am Aschermittwoch streuen sich daher die Herren Rußwurm, Bassompierre, Kolowrat und Slawata keine Asche aufs Haupt, sondern setzen sich in eine Karosse, um in das Schloß der Juwelen zu fahren. Denn nicht nur Rußwurm und Bassompierre 504 haben ihre Auserwählten unter den burggräflichen Töchtern, sondern auch Herr von Kolowrat liebt seit langem die Gräfin Millesimo, und Slawata (der vierzehn Jahre später durch einen Sturz aus dem Fenster und dessen dreißigjährige Folgen berühmt werden soll) ist mit der Gemahlin des Kolowitz verbandelt.

Das Quartett ahnt gar nicht, wie sehr diese amouröse Wallfahrt nach der Burg Karlstein den Intentionen ihres Erbauers zuwiderläuft. Hatte sich doch Karl IV. die Feste als Sanctuarium gedacht, und strenge verboten, daß jemals irdische Liebe das Heiligtum entweihe: »Nec in turri Castri Carlsteiniensis, in quo Capella dominicae passionis cum aliqua muliere, etiam uxore legitima dormire seu jacere liceat.« Aber seither sind zwei und einhalbes Jahrhundert vergangen, und vieles hat sich gründlich geändert. Bassompierre konnte das strikte Verbot nicht kennen und von einer achtzehnjährigen, hübschen Wittib darf man die Einhaltung einer so drakonischen lateinischen Formel nicht verlangen!

In Karlstein ist große Gesellschaft, darunter über zwanzig schöne Damen, wie Bassompierre bemerkt. Die vier Neuankömmlinge werden herzlich begrüßt, besonders aber jeder von seiner Coeurdame. Zehn Tage verbleiben sie hier. »Ich war außerordentlich verliebt,« schreibt der alte Gesandte in verzückter Erinnerung nieder, »und ich kann sagen, daß ich niemals in meinem Leben zehn angenehmere Tage und elf Nächte besser ausgenützt hätte; es war ein ununterbrochenes Fest, man war fortwährend am gedeckten Tische, beim Tanzen oder bei einer anderen, noch schöneren Beschäftigung.«

Dann schließt auch dieser prolongierte Karneval. Anna Esther verspricht ihrem Freunde von neuem, recht bald in die Residenz zu kommen. Aber wieder wird ihr Vater krank und sie kann ihr Wort nicht halten. Zum Glück wissen liebende Frauen immer Rat: Sie läßt ihren Geliebten in einer Verkleidung nach Karlstein 505 kommen, und der verbringt hier in einer verborgenen Kammer fünf Tage und sechs Nächte.

Dann reist er beglückt nach Paris zurück, um vom Kaiser Urlaub nach Frankreich zu nehmen, und um nach – Karlstein fahren zu können, wo er offiziell vom Burggrafen von Vřesovic und dessen Familie Abschied zu nehmen hat. Am Donnerstag vor Palmsonntag verabschiedet er sich von Anna Esther, in der festen Hoffnung, nach beendeter Ausrüstung seines Regimentes an den Hof Rudolfs zurückzukehren, sie also bald wiederzusehen.

Seine Dienerschaft, in Prag erkrankt, zurücklassend, fährt er über Pilsen, Regensburg, München, Straßburg, und Zabern nach Hause nach Harrouel. Dorthin bringt man eben seinen Bruder Jean schwerverwundet aus Ostende. Er hatte sich mit Heinrich IV. wegen des Bassompierrischen Erbteils zerworfen, war in spanische Dienste getreten und nun bei der Eroberung von Porcespic so schwer verwundet worden, daß er fünf Tage nach seiner Heimkunft stirbt. König Heinrich, der vermutet, daß sich Franz von Bassompierre feldmäßig ausrüstete, um gleichfalls in den Dienst Philipp III. in Spanien zu treten, grollt ihm deshalb. Aber bald klärt sich das Mißverständnis auf, der König von Frankreich führt selbst seine Versöhnung mit Bassompierre herbei, verspricht ihm volle Befriedigung der Familienansprüche und fordert ihn auf, wieder in sein Heer einzutreten. Bassompierre kann nicht ablehnen.

Er entsendet einen Edelmann als Kurier an Rußwurm, dieser möge vor Kaiser Rudolf die Bitte um Enthebung von der übertragenen Mission begründen und vertreten. Der Kaiser gewährt sie in Gnaden und läßt mitteilen, wenn Bassompierre später einmal in österreichischen Dienst treten wolle, werde er willkommen sein. Der Chevalier sendet nun das zur Ausrüstung des Regimentes erhaltene Geld vollständig an den kaiserlichen Hof zurück, obwohl er schon einige Auslagen gehabt hatte. 506

Damit sind seine Beziehungen zu Prag gelöst.

Ueberreich bleibt er zeitlebens an Frauenbegegnungen aller Art. Aber niemals mehr kreuzt die Gestalt der Anna Esther von Vřesovic des Herrn von Bassompierres Lebensweg, der sich über viele fremde Wege wölbt.

 


 


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