Egon Erwin Kisch
Die Abenteuer in Prag
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V
Aus dem Prager Pitaval

Der Räuberhauptmann Babinsky

»Es war während einer finsteren Nacht des Jahres 18**. Ein schrecklicher Sturm kündigte sich durch schwarzes Gewölke an. Immer näher grollte der nahe Donner und einzelne fahle Blitze beleuchteten auf kurze Augenblicke mit ihrem schauerlichen Lichte die wilde Gegend des böhmischen Gebirges bei ** mit ihren wildzackigen Felsen, unheimlich dichten Wäldern, reißenden Bächen und schrecklichen Abgründen. Die steilen Felsen erzitterten unter mächtigen Donnerschlägen, die dunklen Waldströme rauschten eilends von Fels zu Fels, riesige entwurzelte Baumstämme stürzten mit ungeheurem Gekrache hinunter, Regentropfen von nie gesehener Größe fielen hernieder und die zackigen Blitze folgten einander Schlag auf Schlag. Beim Widerscheine eines der Blitze konnte man inmitten der wildesten Gegend die Gestalt eines starken Mannes von riesenhafter Größe gewahren. In einen schwarzen Mantel eingehüllt, warf er sich neben einen zerklüfteten, steilen Felsen nachlässig zur Erde hin. Den Kopf auf den Ellenbogen stützend, schien er ruhig (obgleich mit unheimlich funkelndem Auge!) das schreckenerregende Wüten der aufrührerischen Elemente zu betrachten. Unter einem breiten Hute wallte sein schwarzes, volles Lockenhaar auf die breiten Schultern hernieder. Da enthüllte ein plötzlicher Windstoß einen Teil seines wallenden Mantels und darunter erglänzten zwei im goldgestickten und mit Edelsteinen besetzten Gürtel eingesteckte spitzige Dolche und drei große Pistolen. Augenscheinlich konnte er kein gewöhnlicher Landmann sein, sondern vielmehr – wie es der scharfsichtige unter unseren Lesern vielleicht schon erraten hat – kein Geringerer als der große Babinsky, der edelmütige Hauptmann jener 414 ruchlosen Räuberbande, die an der äußersten böhmischen Grenze furchtlos ihr schändliches Handwerk betrieb.

Das ist das Entree . . . die typische »Grausnacht«, ein ins Umgekehrte gedrehtes: »Ei, ei, wer tommt denn da? – der Babinsky!« Der ganze Fundus instructus an Phrasenschwall, Hintertreppenromantik und Kulissenkitsch ist zur Einführung des Helden aufgeboten, keine Schmiere könnte sich für eine »Fra Diavolo«-Aufführung ein Mehr an Schund leisten, als das Buch, dem diese blödsinnigen, schwulstigen und vulgären Sätze entnommen sind.

Man verzeihe mir die Schimpfworte und die Aufregung, die meiner sonstigen Wesensart, der Wesensart eines leidenschaftslosen, ernsten, nur aufs Sachliche gerichteten und in nüchterner Forschung ergrauten Gelehrten widerspricht. Man wird es dem Forscher gewiß zugute halten, wenn er sich von miserablen Schreiblingen um Jahre wissenschaftlicher Arbeit, um den Traum eines Lebenswerkes betrogen sieht.

Seit beinahe einem Menschenalter bin ich einzig und allein von dem flammenden Ehrgeiz beseelt gewesen, eine großangelegte Biographie des Räubers Wenzel Babinsky zu schreiben, der zu seiner Zeit gleichermaßen als Rinaldo Rinaldini Böhmens und als Sherlock Holmes der Sechzigerjahre unglaublich populär war, so zwar, daß sein Porträt in der Festung Spielberg zu Brünn neben jenem des doch der Literaturgeschichte angehörigen Dichters Sylvio Pellico (1789– 1854) und jenem des doch der Weltgeschichte angehörigen Pandurenobristen Franz Freiherrn von Trenk (1711–1749) aufgehängt wurde, und daß jener Teil der Prachower Sandsteinfelsen bei Jitschin, in welchem die Preußen den Oesterreichern und Sachsen am 29. Juni 1866 in blutigem Treffen gegenüberstanden, keineswegs nach dieser Schlacht oder einem ihrer Helden benannt wurde, sondern bis auf den heutigen Tag den Namen »Babinsky-Wald« führt, nach jenem Räuber, der allerdings in der Gegend der Jitschiner Karthause, 415 wo – ich glaube, ich werde diesen Satz vorzeitig abbrechen müssen, da ich ja nicht für eine Gemeinde von Gelehrten in einer wissenschaftlichen Zeitung, sondern hier bloß für Laienpublikum zu schreiben gezwungen bin, weil leider meine Nachforschungen keine derartigen Ergebnisse – – nein, Schlußpunkt.

Mühselig habe ich Bibliotheken, Antiquariate, Sammlungen, Gerichtsarchive und Akten durchwühlt, um für die Arbeit Material zu erlangen, und es gelang meinem Spürsinn sogar der seltensten, nicht einmal in den großen Bibliotheken Wiens und Prags befindlichen Stücke der Literatur über Babinsky habhaft zu werden. So besitze ich unter anderem die Werke:

Die gedruckte Literatur lag mir also vollständig vor. Mit liebevollen Schnörkeln malte ich den Titel meines künftigen Werkes, das ein Substrat aus allen diesen Büchern und mehr sein sollte, auf einen Faszikeldeckel. 417 »Biographie und Delikte des böhmischen Räubers Wenzel Babinsky mit besonderer Berücksichtigung der ein solches Treiben ermöglichenden Sozialverhältnisse der sogenannten patriarchalischen Aera in Oesterreich, der Gründe für die häufige Verwendung von Gebieten Böhmens als Schauplatz romantischer Schilderungen in der Literatur, der Sympathie, die die zu Zeiten der Patrimonialjustiz gegen jede Obrigkeit und jeden Grundherrn verbitterte Landbevölkerung besonders in Böhmen für jeden Feind der Machthaber empfand, sowie des Einflusses der Ritter-, Räuber- und Abenteuer-Romane auf die Mentalität der Zeit. Von Prof. Dr. . .« Welch ein Werk sollte das werden! Ein literarhistorisches Standwerk für die zukünftige Kriminalgeschichte Böhmens, die uns leider noch immer fehlt, trotzdem sich selbst die ältesten Landesbeschreibungen, geflügelte Worte und moderne Kriminalgelehrte mit mancherlei Vorfällen aus der Verbrecherwelt in unserer Heimat befassen, trotzdem Mythos und Geschichte Böhmens reicher als die eines jeden anderen Landes krimineller Verfolgung, an politischen und unpolitischen Prozessen ist. An Mordbeschuldigungen, Morden, Justizmorden, Rechtsbeugungen, gerichtlichen Vergewaltigungen, Hinrichtungen, – beinahe selbst eine erlittene Kriminalgeschichte, von der Mordtat Boleslavs an, über die Ermordungen Swatopluks und Wenzels III., über Johann von Nepomuk, Johannes Hus, Hieronymus von Prag, den blutigen Landtag von 1517, den Alchemistenschwindel, den Fenstersturz, die Massenhinrichtung nach der Schlacht auf dem Weißen Berg (Jessenius!), Wallensteins Tod, dann weiter über die Handschriftenfälschung, die Deportation Havličeks, die Omladina, den Ritualmordprozeß gegen Hilsner, der Verrat des Generalstabchefs Redl, Kestranek-Prozeß, die k. u. k. steckbriefliche Verfolgung Masaryks während des Krieges, die Todesurteile gegen Kramm und Rašin, die vollstreckten Todesurteile gegen viele Tschechen durch die österreichisch-ungarische Feldjustiz im Weltkrieg, bis zur aktuellsten 418 Gegenwart, zur Einkerkerung des Kommunisten Alois Muna.

Die Dichter und Memoirenschreiber hat manche romantische Begebenheit solcher Art gelockt. Johannes Butzbach befaßt sich in seinem wundervollen Wanderbüchlein mit Scholarenkniffen, mit Räuberunwesen und Kinderraub in der Hussitenzeit. In seinen »Vierzig Jahre aus dem Leben eines Toten« erzählt Friedrich von den gelungenen Gaunereien unseres Landsmannes Peche. Grimmelshausens Biographie der Prachatitzer »Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche« ist unsterblich. Karl Moor, der mit Roller, Spiegelberg. Schufterle und den anderen aus Leipzig vertriebenen Libertinern in der Schenke an der Grenze Kursachsens die Lostrennung von der bürgerlichen Gesellschaftsmoral vollzieht, hat es nicht weit in die böhmischen Wälder, dort zwei Akte von Schillers Räubern zu spielen. M. Gabrielli, dessen »Ivo, der böhmische Tiger, berüchtigter Häuptling einer Räuberbande, oder der Blutturm im Fichtelgebirge« noch vor sechzig Jahren neu aufgelegt wurde, wäre gewiß der reichste Filmautor unserer Zeit; in seinen Werken werden sogar ermordete Kinder wieder lebendig. Dem Dichter Heinrich Kuno, Verfasser der »Räuber von Chlum« hat Goethe sogar ein freundliches Gedicht gewidmet.

Die geistige Ahnfrau von Grillparzers »Ahnfrau« ist »Die Blutende Gestalt mit Dolch und Lampe, oder die Beschwöhrung im Schlosse Stern bey Prag«, ein Ritter- und Räuberroman, 1799 bei Franz Haas in Wien und in Prag erschienen; darin ist Berthas Verließ und die Höhle einer Räuberbande aus dem englischen Roman »Ambrosio« von Lewis in das von Erzherzog Ferdinand von Tirol erbaute Libotzer Lustschloß verlegt, beziehungsweise in die angrenzenden Ruinen und Katakomben, – die dort nie vorhanden waren. Machar hat in einem Gedicht seines Zyklus »Apostel« geschildert, wie der Scharfrichter Mydlař nach heißer Arbeit an den böhmischen Verschwörern Feierabend macht und 419 seinem Weib von den Szenen und Helden der Richtstätte vor dem Altstädter Rathause erzählt; Svátek gibt einen ganzen Roman des Mydlařschen Henkergeschlechtes. Gustav Freytag befaßt sich in den »Bildern aus der deutschen Vergangenheit« mit dem Blutbeschuldiger Simon Abeles, E. T. A. Hoffmann mit phantasie-entnommenen Erlebnissen zweier Brüder auf einem böhmischen Schlosse, Karoline Pichler und Baron Schönholz mit Hansjörg Grasel, der seine Räuberfahrten von Wien aus nicht nur nach Südböhmen, sondern einmal sogar bis Prag ausdehnte und hier allen verzweifelten Ausforschungsversuchen des Stadthauptmannes Czech von Czechenherz spottete, der Schwiegervater Ferdinand Raimunds, Alois Gleich, hat unter dem Namen »Dellarosa« auch den Roman des »Schleiferhias Mathias Ebner, genannt der Budweiser Grasel« geschrieben.

Die Krönung dieser literaturgefeierten Räuber sollte aber in meinem Buche die aus den Romanen herausgeschälte, wahrheitsgemäße Charakterstudie des Meistbesungenen sein: Wenzels Babinsky!

Die Vollendung meines Buches über B., mein Ruhm schien gesichert. Was war denn noch viel zu tun? Ich hatte bloß die so mühselig erlangten Bücher über B. methodisch durchzustudieren, die Ergebnisse der vergleichenden Lektüre auf Zetteln zu notieren, und diese in meiner Kartothek zu ordnen, den biographischen Hinweisen der Fußnoten nachzugehen.

Papperlapap! Hat sich was mit methodischem Durchstudieren, mit Zetteln und Hinweisen! Hat sich was mit Biographien und Delikten!

In all den dickleibigen Romanen findet sich für den ernsten Forscher keine verwertbare Zeile, statt der Jahreszahlen liest man bloß Sternchen, nirgends ein Hinweis auf Akten- oder Tatsachenmaterial, statt kartographischer Beilagen oder genauer Ortsbezeichnungen nur Phrasen wie: »in dem lieblichen Orte N.« und von Fußnoten, die doch das Um und Auf jedes Buches sind, sozusagen die Füße der Darstellung, fand 420 ich bloß eine einzige, und diese erklärte das Wort »Farm« (Meierhof in amerikanischen Steppen).

Da auch weder im tschechischen Konversationslexikon noch in der Biographie Böhmens der Name B.'s genannt ist, trotzdem er doch als Titelheld einer ganzen Literatur und als Träger der autochthonen Brigantenverehrung zumindest eine Erwähnung verdient hätte, da sich kein Pitaval und kein Avé-Lallement für Böhmens Räubertum fand, da ferner alle meine Nachforschungen in Gerichtsarchiven keinerlei Akten zutage gefördert haben und da sich schließlich die in Meyrinks »Golem« gegebene Darstellung von den durch B. begangenen Frauenmorden in Krtsch bei näherer Nachforschung als der Versuch eines leichtfertigen Romanschriftstellers entpuppte, die exakte Kriminalforschung irrezuführen, war ich auf eigene Recherchen und Feststellungen nach mündlicher Ueberlieferung angewiesen. Für werktätige Hilfeleistung bei meinen Nachforschungen habe ich insbesondere Kerkermeister Babinskys, dem trockenen, bartlosen Herrn Pohl in Jitschin zu danken, der bis zum Ausbruch des Krieges (unter »Krieg« versteht man in Jitschin natürlich nur den von 1866) Gefängnisaufseher in Karthaus-Walditz gewesen war. Am 29. Mai 1855 war das Spielberger Staatsgefängnis in Brünn aufgehoben und das Gebäude von Militär bezogen worden, die weiblichen Sträflinge wurden in die neuerrichtete Strafanstalt zu Wallachisch-Meseritsch, die männlichen in Wallensteins Tusculum in »die Karthause, die er selbst begründet bei Gitschin« (Schiller: »Die beiden Piccolomini«, II. Akt) gebracht. Unter ihnen Babinsky, der 14 Jahre in der Zelle Nr. 14 des Josefinischen Traktes gewesen war, zunächst angeschmiedet, später tagsüber als Krankenpfleger im Anstaltsspital verwendet.

Im »Spielberger Stammbuch«, dem Aufnahmeprotokoll des Brünner Staatsgefängnishauses, lautet die Eintragung über den am 16. Juni 1841 dorthin eingelieferten, wegen Raub, Diebstahl, öffentlicher 421 Gewalttätigkeit und Mitschuld am Verbrechen des Betruges zu 20jährigem schweren Kerker verurteilten Sträfling: »Wenzel Babinsky, insgemein Wenz von Pokratitz oder Pokratitzer Wenz genannt, auch Josef Schmidt, Franz Mally, Anton Müller und Fischer. Aus Pokratitz, zur Stadt Leitmeritz in Böhmen gehörig, 45 Jahre alt, katholisch, verheiratet, ohne Profession, hat früher als Gemeiner beim Infanterie-Regimente Wellington gedient. Derselbe hat sich vom Jahre 1830 an in Pokratitz aufgehalten, entfloh 1832 aus dem Prager Kriminalverhaft und heiratete in Looz, in Russisch-Polen, von wo er ausgeliefert wurde. Als Mitschuldige werden angeführt: Bartholomäus Klopschitz, Franz Anton Vater, Apollonia Hofmann, Michael Latner und Ignaz Bittner.« In der Rubrik »Körperliche und sittliche Beschaffenheit« des Sträflingsstammbuches heißt es: »Gesund, übrigens ein äußerst verwegener, verstockter, der allgemeinen öffentlichen Sicherheit sehr gefährlicher Mann. Derselbe war mit einer ausgebreiteten Raub- und Diebsbande in Verbindung, ist sehr schlau und unternehmend, hat zweimal auf eine höchst verwegene, mit Lebensgefahr verbundene Art durch Einbrüche aus großen Höhen die Flucht aus dem Verhafte ausgeführt und andere mit verleitet.«

Soweit die Aufzeichnungen der Sträflingsprotokolle. Dem in Prag 1888 bei Alois Hynek erschienenen Buche »Podzemní žaláře na brnenském Špilberku a osudy nejzajímavějších věznů.« (»Die unterirdischen Verließe des Brünner Spielberges und die Schicksale der interessantesten Häftlinge«) von Gymnasialprofessor Franz Bauer ist zu entnehmen, daß Babinskys Vater ein vermögender Schmiedemeister in Pokratitz war, daß der begabte, junge Wenzel die Prima des Leitmeritzer Gymnasiums besucht hat und daß er nach Jahren verwegenen Räubertums durch Verrat seiner Geliebten, die die hohe Belohnung lockte, in der einsamen Mühle bei Ottersdorf an der schlesischen Grenze ausgeforscht und nach Belagerung durch Militär schließlich auf dem 422 Dache angeschossen, überwältigt und dem Kreisgerichte in Leitmeritz eingeliefert wurde. Ein Jahr lang stellte er, sowohl gegenüber dem Untersuchungsrichter als auch zu seinen Zellengenossen in Abrede, daß er Babinsky sei, und verleugnete sogar bei der Konfrontation seinen Vater. Schließlich widerstand er aber der Verlockung nicht, eine Prise Schnupftabak zu erhalten, und gestand dafür seinen wahren Namen. Jedoch wird in dem Buche »Der Brünner Spielberg, insbesondere die Kasematten und merkwürdigsten Gefangenen desselben nach historischen Quellen verfaßt von Anton Rossetti, Edlen von Rossanegg, k. k. Major des Genie-Stabes und Militärbau-Direktor in Brünn,« (Druck und Kommissions-Verlag von Carl Winiker, Brünn 1880) erklärt, daß Babinsky nach einer Messe, die er von seinem ersparten Gelde für seinen Vater lesen ließ, dem Beichtvater das Geständnis abgelegt habe. Auch sonst soll er fromm und gottesfürchtig gelebt und während seiner Haft in Brünn stets einen Rosenkranz bei sich getragen und ununterbrochen gebetet haben.

In Karthaus war Babinsky bei den Barmherzigen Schwestern, die für das Heil von Seele und Leib der Gefangenen zu sorgen hatten, so beliebt, daß ihm die besondere Gunst zuteil wurde, ohne Ketten nach Jitschin gehen zu dürfen. Diese Auszeichnung hatte er sich teils durch seine Berühmtheit und die romantischen Sagen erworben, die über ihn in Mengen in Umlauf waren, mehr aber noch durch seine Kunst als Gärtner, von der Herr Pohl mit eigenen Augen im Anstaltsgarten die schönsten Proben gesehen hat, z. B. fünf verschiedenfarbige Rosen an ein und demselben Strauch.

Die auf die Schönheit der Karthauser Aebtissin eifersüchtigen Klatschbasen von Jitschin munkelten allerdings von anderen Gründen für die Beliebtheit Babinskys und bemühten sich, ihm ähnliche Beziehungen zu den Karthäuserinnen nachzusagen, wie sie der leichtfertige Boccaccio in seiner 21. Decamerone-Erzählung dem vermeintlich taubstummen Klostergärtner Masetto 423 aus Lamporecchio andichtet. Herr Pohl setzt dieser Behauptung ein höchst mattes, amtliches Dementi entgegen, fügt aber hinzu, daß die Nonnen tatsächlich wegen dieser Gerüchte 1861 die Männerstrafanstalt verließen und – – ihren treuen Gärtner Babinsky in ihre neue Wirkungsstätte mitnahmen, in die Weiberstrafanstalt Řepy bei Prag, damit er auch dort ihren Garten wohl bestellte. Wirklich hat er auch dort seine dendrologische Tätigkeit mit Eifer fortgesetzt. Gräfin Anna Marie Coudenhove, die in den Jahren 1866 und 1872 einige Wochen im Kloster von Řepy zum Besuche ihrer Schwester, der Nonne Charitas (geb. Gräfin Coudenhove) weilte, hat die Biographie dieser hochwürdigen Schwester niedergeschrieben und erwähnt darin auch ihre Begegnung mit dem emeritierten Räuberhauptmann Babinsky, der sich bitter über die Schlechtigkeit der Welt beklagte: »Jeden Tag werden mir Blumen und Erdbeeren aus dem Garten gestohlen!«

Aus Řepy kam Babinsky sehr oft nach Prag. Obschon er den Namen »Adam Müller« angenommen hat, lüftete er gerne sein Inkognito, und sowohl das Wirtshaus »Zum großen Hof« auf dem Pohořeletz (s. Bauer), als auch das Einkehrhaus »Zum goldenen Schiff« an der Ecke der Belvederegasse und der Lausitzer Gasse (Nr. 118–III, s. Ruth, »Kronika«) waren voll von Leuten, die den berühmten Mann sehen und ihn selbst von seinen Taten erzählen hören wollten. Er sah wie ein friesischer Senator aus, ein Backenbart umrahmte sein volles Gesicht, die Stirne war gewölbt. Sein Anzug war schwarz, um den Vatermörder trug er eine schwarzseidene Biedermeierbinde, und es war seltsam, ihn in salbungsvollem Ton erzählen zu hören, wie er reisende Wucherer im Walde überfallen und beraubt hatte, – oder was er sonst wo in den Romanen über sich gelesen hatte.

Am 1. August 1879 ist er in Řepy ergeben in den Willen Gottes, im Alter von 83 Jahren gestorben, und auf dem Friedhof oberhalb Motols liegt er begraben. 424

Der Babinsky-Kultus war enorm groß. Im Privatmuseum des Fürsten Metternich in Königswart befindet sich ein chromoplastisches Selbstporträt Babinskys, eine Büste, die der »letzte Karl Moor« während seiner Spielberger Haft aus gekauftem Brot modelliert und dann koloriert hatte. Auch eine von ihm aus Brotkrumen geknetete Uhr ist in dem fürstlichen Privatmuseum. Lange Jahre hindurch war es ein Prager Sprichwort: »Besser ein Babinsky, als ein Schmidinger«, womit man den ehrlichen Verbrecher in Kontrast zum verbrecherischen Verbrecher setzen wollte. (Schmidinger war Polizeikommissär in Prag gewesen, hatte unter Mißbrauch seiner Amtsgewalt eine polnische Gräfin in Marienbad beraubt und in die Landesirrenanstalt bringen lassen.) Schmidinger hat auch nie einen literarischen Verteidiger gefunden, die Hefte mit den Taten Babinskys wurden in vielen Tausenden von Exemplaren verschlungen.

Die Eigenart der Babinsky-Literatur ist es, daß es nicht Richtbeil oder Henkerschlinge waren, die ihrem Helden zu seiner Glorifizierung in den Augen des Volkes verhalfen, sondern daß alle Märchen über ihn zu seinen Lebzeiten gedruckt und kolportiert wurden, daß er Zeitgenosse seiner Entrücktheit ins Sagenhafte war und sich selbst als Mythos erlebte und überlebte. Die Verfasser der Romane über ihn haben also – so müßte ich als Gelehrter kalkulieren – bei Abfassung ihrer Romane doch wohl die Tatsache, daß die Erinnerung an die Berichte über die wirklichen Taten noch so frisch sei, in Betracht ziehen und ihre Erfindung auf diese faktischen Tatsachen stützen müssen. So notierte ich alle jene Stellen, die sich gleichzeitig in mehreren der Babinsky-Bücher vorfanden, weil ich in der mehrfachen Erwähnung desselben Vorganges gewissermaßen eine gegenseitige Bestätigung seiner Richtigkeit annehmen zu dürfen glaubte.

Es ergab sich: Als Soldat liebte Babinsky eine unschuldige Näherin Lydi, die in Not geraten war und deshalb mit ihrer totkranken Mutter auf die Straße 425 gesetzt werden sollte, wenn sie sich den Nachstellungen des lüsternen Hausherrn widersetzte; nur sie zu retten, raubte Infanterist Babinsky die Kompagniekasse aus und brachte seiner Lydi die Beute zur Bezahlung der Miete. Zu spät! Das Mädchen saß weinend am Bettrand . . . Nun schwor Babinsky allen Reichen Rache und allen Armen Heil und Hilfe. Er flüchtete in die Wälder, und fand in einer Mühle Unterschlupf, in der sich ein armer Müller für seinen reichen Grundherrn abrackern mußte. In einer Nacht drangen Räuber durch einen unterirdischen Gang in die Mühle ein, Babinsky stellte sich ihnen entgegen und zwang sie, das Privateigentum des armen Pächters zu schonen. Von soviel Mut und Edelmut entzückt, wählten ihn die Räuber zu ihrem Hauptmann. Von seinen Großtaten ist insbesondere der Ueberfall auf den wucherischen Bankier Wallenfeld bemerkenswert, den er zwang, von der geplanten Heirat mit der schönen Josefine abzustehen und sie ihrem mittellosen, aber wackeren Geliebten Adolf von J. zur Frau zu geben. Babinsky selbst liebte eine Müllerstochter namens Elisabeth, und als diese in seiner Abwesenheit von dem Spiegelberg seiner Bande, einem gewissen Kratky geschändet wurde, stürzte der Räuberhauptmann nach seiner Rückkehr den rohen Gesellen in einen Wildbach, sagte sich von seiner Bande los und stellte sich den Gendarmen. In seinen Kerker schleicht sich der treue Freund Slawik als Kapuziner verkleidet und versucht ihn – vergeblich! – zur Flucht zu überreden.

Diese Angaben schienen mir durch ihre Wiederholung beglaubigt. Als ich aber im Laufe der Jahre, die ich mit meiner Arbeit zubrachte, zu Vergleichszwecken auch andere Räuberromane durcharbeitete, mußte ich konstatieren, daß sich auch in den Lebensbeschreibungen des Schinderhannes, Caleb Williams, Abbälino, Lipps Tullian, Cartouche, Rinaldo, Grasel, Jack Sheppard, bayerischen Hiasl und anderen genau dieselbe Tat, ja sogar mit ähnlichen Namen vorfanden. Schwindel! 426

In allen Babinsky-Werken findet sich dagegen eine Stelle, die sonst in keinem der Wälzer zu finden ist, und der ich daher hier Raum geben will. Sie handelt vom Tode des geflüchteten Slawik und lautet: »Nachdem er nämlich in einer sandigen Wüste im fernen Arabien, wo weit und breit kein Tropfen Wasser aufzufinden war, und er keine Menschenseele zu erblicken vermocht hatte, zu Boden sank, da gedachte er der strafenden Gerechtigkeit Gottes, die, wenn auch spät, so doch sicher, ihn im fernen Lande zu erreichen wußte, und mit dem Rufe ›Babinsky!‹ hauchte er sein Leben aus.«

Das dürfte beglaubigt sein. 427

 

Der Prozeß Hanka gegen Kuh

Ein halbes Jahrhundert war die literarische Welt voll Bewunderung für die böhmische Handschrift gewesen und fast ein halbes Jahrhundert hat es dann gebraucht, bevor der Kampf zwischen den Gelehrten aller Zungen entschieden und der kostbar bewertete Fund als Fälschung entlarvt war.

Am 16. September 1817 hatte der junge Wenzel Hanka, einer der hoffnungsvollsten Kenner der altslawischen Literatur, im Kirchturm des Elbstädtchens Königinhof unter Hussitenpfeilen ein altes Manuskript aufgestöbert; zwölf Blätter und zwei Pergamentstreifen. Es waren lyrische, epische und lyrisch-epische Dichtungen in tschechischer Sprache darauf, und in einem freudestrahlenden Brief berichtete er seinem Gönner, dem gelehrten Abbé Dobrovsky von seinem Fund. Der war nicht minder glückselig erregt. Und auch die an Kunst und Wissenschaft bislang nicht sehr interessierten Nationalisten wurden es, als bald darauf Dobrovsky, Hanka und Palacky den gehobenen Schatz kritisch, ergänzt und folgernd edierten, die Entstehung der Schrift auf die Zeit zwischen 1280 und 1290 und die geschilderten Ereignisse auf die Zeit um 830 festsetzten. War doch Hankas Fund ein »nationales Erbstück und verläßlicher Zeuge der Altertümlichkeit und Bildung der tschechischen Sprache«, hatte man doch plötzlich die fast ein Jahrtausend alte Tradition eines kampfesfreudigen Nationalismus vor sich, Nibelungenlied und Wolfram von Eschenbachs Bedeutung waren verblaßt, vor Jaroslaw, Csestmir und Zaboj mußten sich Siegfried, Tristan und Parzifal verstecken, Torquato Tasso war ein schwacher Nachfahr des unbekannten Königinhofer Dichters, denn vieles im »Befreiten Jerusalem« ähnelte verdächtig einigen Stellen des neu gefundenen Manuskriptes. 428

Das Aufsehen war auch außerhalb Böhmens ungeheuer groß. Herder hatte in seinen »Humanistenbriefen«, in seinen »Stimmen der Völker in Liedern« und vornehmlich im »Ossian und die Lieder der alten Völker« den Boden gepflügt, die neuen alten Dichtungen waren nur die Saat, deren man sehnsüchtig harrte. Goethe begrüßte den Fund und hat die deutsche Uebersetzung des lyrischen Gedichtes »Das Sträußchen« in sechszeiligen Strophen umgestellt, Grimm und Chateaubriand veröffentlichten begeisterte Mitteilungen, La Motte-Fouqué verfaßte ein Huldigungsgedicht an den Finder, die Literarhistoriker aller Universitäten und Welt entdeckten neue Wichtigkeiten und Schönheiten in den Königinhofer Blättern, in Berlin und Rom gab es Leute, die tschechisch lernten, um das Epos von Jaroslaw im Urtext zu lesen.

Naturgemäß mußte der Fund von entscheidendem Einfluß auf Wissenschaft, Kunst und nationales Leben in Böhmen sein. Die Gelehrten rektifizierten auf Grund der neuaufgefundenen Angaben ihre Lebenswerke, es entstand eine neue militante nationale Tendenzdichtung, aber auch eine tiefe neue Lyrik in tschechischer Sprache, im Volke griff nicht bloß eine begeisterte Verehrung für die nachahmenswerten kriegerischen Recken statt, von denen man durch die Pergamente Kenntnis erhalten hatte, sondern auch die Liebe zur Sprache. – Der Großteil der rapiden Entwicklung, die das politische und völkische Leben bei den Tschechen genommen und die sich bei keinem zweiten Volk je in dieser erfolgreich energischen Weise vollzogen hat, gründete sich auf die neuentdeckte Vergangenheit, auf die Königinhofer Handschrift. Und es war eine selbstverständliche Pflicht der Dankbarkeit, daß am fünfzigsten Jahrestage der Auffindung die Literaten und Dichter unter Führung Nerudas zur Huldigung vor Hanka erschienen, der durch seine Entdeckung die tschechische Kunst aus ihrem vielhundertjährigen Schlaf zu neuem Wachen erweckt hatte. Und Hanka, der inzwischen längst zu den höchsten 429 Ehrenstellen ausgestiegen war, hatte sich nicht mit der Entdeckung begnügt, sondern viele Ergebnisse eifriger Sprachenforschungen ediert und auch in den Bibliothekssammlungen sieben andere alttschechische Schriften entdeckt, in den lateinischen Urtext eingefügte Uebersetzungsfragmente aus dem Evangelium Johanni (10. Jahrhundert) und der Psalme 109 und 145, tschechische Glossen in einem Exemplar des Mater Verborum, das Lied auf dem Wyschehrad, die Prophezeiung Libuschas und eine ihm aus Grünberg eingesandte Handschrift. Er war also aller Ehren wert.

Aber ein Jahr nach dem feierlichen Jubiläum platzte eine Bombe in den Taumel: In einer Feuilletonreihe des heute längst nicht mehr bestehenden »Tagesboten aus Böhmen« wurde an Hand einer Fülle sachlicher Details, offenkundig auf Grund der Untersuchung eines Fachmannes, nichts Geringeres als der Verdacht ausgesprochen, daß die große Königinhofer Handschrift eine Fälschung und der große Wenzel Hanka ein Fälscher sei. Welch ein Kampf entbrannte nun! Es war kein reiner Kampf um wissenschaftliche Wahrheit, denn nicht mit Unrecht fühlte man, daß vor allem politische, antitschechische Motive, eine gewisse Schadenfreude die Hand David Kuhs geführt hatte, des Herausgebers des »Tagesboten« und Wortführers der Deutschen, und genau so stand auch drüben bei vielen Motiv vor Wahrheit. »Right or wrong, my country!« Es war kein wissenschaftlicher Kampf mehr, es war ein Politikum. Palacky stellte sich auf die Rostra der Tagespresse, griff in der »Bohemia« die Artikel des »Tagesboten« heftig an und mußte sich selbst eine journalistische Duplik des Titels »Herr Palacky und der kategorische Imperativ seiner paläographischen Moral« gefallen lassen. Hanka selbst, der die fünf Artikel »Handschriftliche Lügen und paläographische Wahrheiten« vornehm ignorieren wollte, mußte unter dem Druck der Oeffentlichkeit doch die Klage überreichen. 430

Das Prager Landesgericht hat am 25. August 1859 den Angeklagten David Kuh des im § 498, Strafgesetz, bezeichneten Deliktes gegen die Sicherheit der Ehre, begangen durch die Presse, schuldig gesprochen, und deshalb mit Arrest in der Dauer von zwei Monaten mit Fasten am 1. und 3. jedes Strafmonates und mit dem Verfall des Kautionsbetrages per hundert Gulden Oe. W. bestraft, sowie zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt. In der Begründung des Urteils wurde erklärt, daß die Artikel »keine andere Deutung zulassen, als daß W. Hanka solange den Schimpf eines literarischen Betrügers auf sich haben werde, solange er sich nicht gereinigt habe, und daß er, da die paläographische Praxis bisher nicht stattfand, jetzt noch ein Betrüger sei.«

Das Oberlandesgericht von Prag, das am 26. September 1859 dieses Urteil bestätigte, hat noch mehr in den Artikeln des »Tagesboten« gesehen: die Beschuldigung, daß »Hanka das Publikum wissentlich irregeführt und getäuscht habe. Daß aber eine solche Beschuldigung den Vorwurf einer unehrenhaften Handlung in sich schließe, kann nach Ansicht des Oberlandesgerichtes nicht bezweifelt werden.«

Der Oberste Gerichtshof, an den nun der Prozeß weiterging, teilte die Auffassung der beiden niederen Instanzen nicht. Er hat das Urteil abzuändern und zu erkennen befunden, daß David Kuh von dem ihm angeschuldeten Vergehen losgesprochen und schuldlos erkannt, auch von den Kosten des Verfahrens losgezählt werde. »Die Entscheidung der Frage, ob einige und welche von den entdeckten altböhmischen Manuskripten wirklich echt oder Produkte der neueren Zeit seien . . . steht dem Strafgericht nicht zu, weil diese Schriftstücke keine Urkunden sind, aus welchen Privatrechte abgeleitet werden, (!) sondern deren Inhalt bloß dem Gebiete der Literatur angehört (!) . . . Uebrigens hat der Inhalt der Königinhofer Handschrift einen so allgemein anerkannten inneren literarischen Wert, daß dieselbe, 431 wie Hanka selbst angibt, in sieben Sprachen übersetzt worden ist. Wenn daher einem noch Lebenden die Verfassung derselben angeschuldigt würde, so wäre diese angedichtete Verfassung offenbar keine so unehrenhafte Handlung, welche denselben in der öffentlichen Meinung verächtlich machen oder herabsetzen würde, sondern es würde vielmehr die Gewißheit, daß er der Verfasser sei, wahrscheinlich seinen literarischen Ruf begründen und erhöhen (!), wie dies z. B. bei Macpherson der Fall war.« (Oberstgerichtl. Entschdg. vom 12. April 1860, Z. 3166.)

Schon während die Artikelserie im »Tagesboten« erschienen war, schon während der Gerichtsprozesse hatte sich alles gefragt, wer die Artikel inspiriert hatte, wessen wissenschaftliche Ergebnisse es waren, die David Kuh hier journalistisch instrumentiert hatte. Aber die Gegner, Palacky, die Brüder Jirecek und die empörte Menge, konnten es nicht erfahren, wer zum erstenmale vor der heimischen Oeffentlichkeit den großen Verdacht (den Kopitar, Fejfalik und Šafařik kaum vor sich selber auszusprechen wagten), geäußert hatte. Vermutung Numero eins: der Bibliothekar Wenzel Nebesky war es, Nebesky aber stellte am 20. Dezember 1860 öffentlich fest, daß er nicht bloß an den Veröffentlichungen keinen Anteil hatte, sondern erklärte auch, daß ein solcher Anteil »eine abscheuliche Perfidie« gewesen wäre, und sprach sich entschieden für die Echtheit der K. H. aus. Zweite Kalkulation: Dr. Legis-Glückselig, der Biograph Hankas, sei der Autor; auch dies stellte sich als falsch heraus. Jeder Mensch fragte David Kuh nach seinem wissenschaftlichen Hintermann. Aber selbst auf die Fragen seiner intimsten Freunde zuckte er nur die Achseln.

Bald nach dem Prozeß starb Hanka. Sein Begräbnis war das eines Monarchen. Prag war schwarz beflaggt, alle Glocken läuteten, Hunderte von Fackelträgern, Hunderte von Laternenträgern, Sänger, die Kapuziner, die Franziskaner, die Domherren, der Adel, 432 die Professoren, der Stadtrat, Delegierte aus Bulgarien, Serbien, Kroatien, Vertreter fremder Akademien, die Vereine, 12.000 Männer schritten im Zuge, Franz Palacky, Fürst Thurn-Taxis, Ladislaus Rieger, Wenzel W. Tomek, Wenzig, Brauner und Frič hielten das Bahrtuch, Mitglieder des Lesevereines trugen Hankas Orden und Graf Kaunitz die mit Lorbeer umkränzte Königinhofer Handschrift.

Zwanzig Jahre gingen ins Land. Jetzt war es ein Gelehrter und Konnationaler, der Wiener Tscheche Professor Schembera, der es wieder wagte, an der Echtheit des Königinhofer Fundes zu zweifeln. Aber auch er begegnete einer Einheitsfront der Abwehr, wurde als Verräter in Bann getan, und selbst das letzte tschechische Winkelblatt verweigerte ihm Aufnahme einer Berichtigung von zwei Zeilen. Dennoch nahmen nach weiteren zehn Jahren die Gelehrten Gebauer, Goll und Masaryk den Kampf von neuem auf, einen Kampf, der politische Parteien gegeneinander hetzte und die Straße ergriff. Wissenschaftlicher Führer jener, die die Echtheit verteidigten, war der Archäologe Professor Josef Ladislaus Pič. Schließlich erkannte wohl auch er, daß sein Lebenswerk von irriger Auffassung ausgegangen, die Handschrift gefälscht sei: am 19. Dezember 1911 tötete er sich. Die philologischen, literarhistorischen, historischen, linguistischen und paläographischen Untersuchungen haben einwandfrei erwiesen, daß Hanka mit Hilfe seiner Freunde, des sprachkundigen Bohemiens Linda, des Historikers Svoboda von Navarov und des Malers Horčička, die Königinhofer Handschrift selbst gefälscht habe und die sieben anderen auch. Es gibt keinen Streit um die Königinhofer Handschrift mehr.

Eingeleitet aber hatten den Kampf jene anonymen Artikel. Auch Johann Herben, der journalistische Führer im Kampfe der Wahrheit gegen die Handschriftenfälschung, spricht schon im ersten Absatz seiner geschichtlichen Darlegung »Boj o podvržené rukopisy« von den Feuilletons im »Tagesboten«. Wer aber war 433 der Verfasser gewesen? Es schien, daß die Frage nie mehr beantwortet werden würde, denn David Kuh, der einzige Mitwisser, war schon lange tot. Da starb im Jänner 1913 ein alter Bibliotheksbeamter in Prag, Regierungsrat Anton Zeidler, neunzig Jahre alt. Und nun trat der Sohn David Kuhs mit der ihm vom Vater anvertrauten Mitteilung hervor, daß es Zeidler gewesen war, der vor fünfundzwanzig Jahren die Materialien zu den Artikeln geliefert hatte.

Also ein kleiner, 35jähriger Bibliotheksbeamter, ein Deutscher, der nichts von den ängstlich gehüteten Zweifeln der großen slawischen Slawisten wissen konnte und höchstens im Gespräch mit dem Bibliothekar Nebesky auf eine solche Möglichkeit aufmerksam gemacht worden war, hatte mit Gelehrtenfleiß, mit kritischem Blick verstohlen die Handschrift überprüft und festgestellt, daß das große, von der ganzen Welt bewunderte Werk nichts weiter sei, denn ein Falsum. Tausend Zweifel, tausend Skrupel jagten ihm durch die Brust, bevor er den Weg wagte, den er vorher und nachher in seinem neunzigjährigen Leben nicht mehr gegangen war: den Weg in die Oeffentlichkeit. Auch diesmal schlich er ungesehen. Er wahrte die Anonymität, vielleicht weil er Staatsbeamter war, vielleicht weil er verhüten wollte, daß der Brand, der einmal entfacht, furchtbar aufflammen werde, seine Gelehrtenstube ergreife.

Aber Jahrzehnte später, als der von ihm begonnene Krieg siegreich geendet war, als schon den mutigen Enthüllern beinahe die gleichen Ehrungen zuteil geworden waren, wie einst dem Fälscher, hätte sich Zeidler nicht mehr fürchten müssen. Jetzt war er nicht Staatsbeamter mehr, jetzt war die Wahrheit seiner Untersuchungen und seiner Deduktion vollkommen erwiesen, und jene Männer der tschechischen Nation, die Masaryk und Gebauer nicht bloß um ihres nationalen Mutes willen, sondern auch um der wissenschaftlichen Grundlagen ihrer Beweise bewunderten, die hätten in ihrem Innern nun auch tausendmal mehr den Deutschen 434 wohl oder übel bewundern müssen, der schon siebenundzwanzig Jahre vor jenen das Werk in Angriff genommen, den Zweifel an etwas bis dahin Anerkannten ausgesprochen und nicht bloß eine bloße Prüfung von Für und Wider vorgenommen hatte.

Jedoch Zeidler schwieg noch immer . . . eine Gelehrten-, aber keine Kämpfernatur . . . kein Mutiger, aber auch kein Ehrgeiziger . . . blieb unbekannt, ungenannt . . . Am Komenskyplatz war seine Wohnung, ebenerdig, gleich hinter dem Bierausschank. Auf der Straße überfahren, konnte er das Zimmer nicht verlassen, aber schon früh ließ er sich täglich aus dem Bett heben und las in spanischen, englischen und mittelhochdeutschen Werken oder er schrieb. Nur selten empfing der alte Junggeselle Besuch. Sein bester Freund, der berühmte Aesthet Josef Bayer, war schon längst nach Wien übersiedelt und ist dort gestorben. In der Vorrede zu Bayers letztem Buch steht: »Weiter in meinem Lebensgange zurückblickend, drängt es mich aber, meinen besten und ältesten Freund, den Regierungsrat und em. Vorstand der Prager Universitätsbibliothek Anton Zeidler zum Schlusse in diesem Vorworte persönlich anzusprechen: Einen brüderlichen Gruß des Greises an den lieben, mir so teuren Greis. Lasse es mich vor aller Welt dir sagen, wie gar so viel ich dir von meinen frühen Jahren bis in unser hohes Alter zu danken habe. Mit deiner umfassenden Gelehrsamkeit und tiefgegründeten Bildung bist du mir oft tief einsichtsvoller Ratgeber, liebreich besonnener Beurteiler gewesen, wie du denn vom ersten Federzuge an, mit treuestem Freundesblick wachtest. Hier sind nun einige der letzten Federzüge: Möge in der Stille dein Segen ihnen nicht entgehen.«

In den letzten Jahren kamen nur noch die Schwester des verstorbenen Orientalisten Hofrates Ludwig, Virgil Grohmann und Ottomar Keindl häufiger zu ihm zu Besuch. »Zu Herrn Keindl habe ich noch kurz vor 435 dem Tode einen Brief vom Herrn Regierungsrat getragen,« erzählt die alte Wirtschafterin.

Bei Ottomar Keindl ist aber Zeidlers letzter Brief, ein neues Dokument von einer seltsamen Bescheidenheit: »An meinen lieben, guten, edlen Freund Herrn Ottomar Keindl! Es wäre vergeblich, nach meinen zwei Schriften »Der Mammon in der Weltgeschichte« und »Ein Humanistenkreis in den Vogesen« zu suchen. Seit fünf Jahren verhindert, an diesen beiden Schriften zu arbeiten, habe ich die für niemand brauchbaren Fragmente vernichtet. Ueber meine Entdeckung eines Nibelungenbruchstückes in dem lateinischen Werke der k. k. Universitätsbibliothek »Sermiones Pomerii fratis Pelbarti de Themesvar. Hagei naw per Henricum, Gran 1500, 7. die Juni (fol.)« findet sich einiges in Pfeifers »Germania« vom Jahre 1862. Mit herzlichen Grüßen A. Zeidler«

Von der Prager Stefanskirche aus trug man Anton Zeidler zu Grabe. Seinem Sarge folgten sieben Menschen.

Ein Nekrolog war der Dank für seine Tat. Und auch der blieb nicht unwidersprochen. Im ersten Februarheft 1913 der Revue »Středa« veröffentlichte der Dozent für Slawistik an der tschechischen Universität Dr. Hysek einen Artikel, der mit den Worten schloß: »Redakteur E. E. Kisch hat hierauf in der »Bohemia« die Bescheidenheit Zeidlers gefeiert, mit der dieser dem Ruhm für seine Artikel entsagt hat. Ich glaube, daß die Mitteilung über Zeidlers Autorschaft nicht vollständig ist. Aber entschieden kann ich nicht mit der übertriebenen Bewunderung Kisch's übereinstimmen: größer als die verdächtige Bescheidenheit Zeidlers war sicher die männliche Heldenhaftigkeit Julius Fejfaliks, der aufrichtig aufzutreten verstand und ehrlich das zu ertragen wußte, was ihm sein offenes Auftreten eintrug: Verachtung in Böhmen und das Brandmal des unwissenschaftlichen Chauvins. Unsere Bewunderung verdient er nicht bloß 436 hiefür, sondern auch für seine glanzvollen Ausführungen.«

Der Ansicht, daß die Mitteilung über die Autorschaft Zeidlers nicht vollständig sei, die Vermutung, daß auch er noch einen Berater hinter sich gehabt haben müsse, wurde von Prof. Vlcek, Prof. Spina und Oskar Kuh widerlegt, die alle dartaten, daß nunmehr Zeidler wohl als der alleinige Verfasser der wissenschaftlichen Angaben anzusprechen und auch durch seine Kenntnis der alten Kultur, Literatur, Schriften u. dgl. hiezu befähigt gewesen sei.

Mutiger als Zeidler war der Deutschmährer Fejsalik gewesen. Aber der hatte zur Zeit vor den »Tagesboten«-Artikeln bloß dafür plädiert, »jene Gedichtsammlung kritisch in eingehender Weise zu untersuchen; solche Untersuchungen sind auch dankbar und werden auch oft ungeahnte Resultate bringen.« Erst in dem Jahre aber, in dem der Oberste Gerichtshof im Prozeß Hanka gegen Kuh den Angeklagten freigesprochen hatte, trat er mit diesen »ungeahnten Resultaten« hervor und begründete in der Schrift »Ueber die Königinhofer Handschrift« (Wien, Verlag Gerold, 1860), deren Unechtheit wissenschaftlich. Bald darauf starb er, ein Märtyrer. Ein Märtyrer war Zeidler nicht, aber er war auch nicht ruhmsüchtig. Er hatte vorher geschwiegen, als er angegriffen worden wäre, so schwieg er auch nachher, als er geehrt worden wäre. Ob solche Bescheidenheit gerade das Epitheton »verdächtig« verdient . . .?

Die letzte Episode im Handschriftenkrieg spielte sich im Nachhange zur hundertjährigen Geburtstagsfeier des Königinhofer Findelkindes ab. Mein Bruder Paul hat unter dem Titel »Der Kampf um die Königinhofer Handschrift« (Verlag des Vereins zur Verbr. gemeinnütziger Kenntnisse) ein Buch herausgegeben, welches sehr viel Material enthält, aber leider vollständig von nationalistischem »Geist« erfüllt ist. Gerade im Handschriftenstreit hat die nationale Tendenz die Feststellung der Wahrheit um Jahrzehnte verzögert und auch ein 437 Vorabdruck des Buches, den mein Bruder am Jahrhunderttage in einem Prager Blatt veröffentlichte, mußte wieder dem Widerspruche begegnen. Er schrieb, daß trotz des Beschlusses der Museumsverwaltung, die Handschrift noch unter den mittelalterlichen Skripten im Landesmuseum aufbewahrt werde. Am selben Tage aber hatte ich, fern von Prag, im Wiener »Fremdenblatt« gleichfalls einen Jahrhundertartikel geschrieben, in dem folgende Ungenauigkeit stand: »Und vor etwa drei Jahren tat eine kurze unscheinbare Notiz im Jahresbericht der Museumsgesellschaft kund, daß Nummer so und so viel aus dem Saale des 13. Jahrhundert in den des 19. Jahrhunderts überführt worden sei.« (Statt: »werden solle«.) Diese Ungenauigkeit, die ich begangen hatte, wurde von zwei tschechischen Blättern als Zeugnis für die erfolgte Ueberführung der Handschrift angeführt, und der »Verleumdung« meines Bruders gegenübergestellt. Sogar die »Narodni listy« hoben in einem langen, gegen meinen Bruder gerichteten Artikel (20. September 1917) lobend hervor, ich hätte im »Fremdenblatt« konstatiert, »wie und wann diese Ueberführung der Handschrift aus dem mittelalterlichen in den neuzeitlichen Sammlungsrayon erfolgt sei.« Statt dieser Gegenüberstellung und Polemik wäre es einfacher gewesen, ins Museum hinüberzugehen, und sich von der Sachlage zu überzeugen.

Aber dieser harmlose »Bruderzwist« war die letzte Episode des großen Prozesses Hanka gegen Kuh, der mit der Verurteilung des Angeklagten begonnen hat und mit der Verurteilung des Klägers geendet, nur ein harmloses Nachspiel des großes Spuks von der gefundenen und wieder verlorenen Handschrift. 438

 

Die Zwangsarbeiteranstalt

Das rote Riesenhaus, das neben dem Garnisonsfilialspital breitspurig dasteht und die Lorettogasse verstellt, beherbergt gar seltsames Volk. In der Zwangsarbeitsanstalt wohnen nur Individuen, deren Strafliste ganz beträchtliche Dimensionen angenommen hat. Quantität der Strafen, nicht Qualität entscheidet. Manche der Zwänglinge haben über hundert Strafen aufzuweisen, und wenn einer oder der andere auch ein mehrfach vorbestrafter Dieb oder Mörder ist, so ist er das nur nebenbei, und diese Bagatelle hat mit seiner Detention im Arbeitshause gar nichts oder nur wenig zu tun.

Die dreihundertdreißig braungekleideten Bewohner der Landeszwangsarbeitsanstalt sind aus harmloseren Gründen hier. Die Reichsgesetzblätter Nr. 89 und 90 vom Jahre 1885 haben die Errichtung der Zwangsarbeitsanstalten bloß zur Vermeidung von Vagabundage und Bettelei verfügt. Die Anstalten sollen einerseits ein Prohibitivmittel gegen das Landstreichertum, gegen die Belästigung durch Vagabunden und für die Verhütung von Verbrechen sein, anderseits sollen auch die hierher kommenden arbeitsscheuen Individuen »gebessert«, durch Zwang zur Arbeit erzogen werden. Damit ist es nichts. Siebzig Prozent bleiben »ungebessert«. Und die restlichen dreißig Prozent sind auch zum Teile als dubios zu buchen, denn wenn auch keine Mitteilung von einer Gerichtsstrafe eines oder des anderen Entlassenen eintrifft, – wer bürgt dafür, daß nicht der biedere Landstreicher in der Zelle irgend eines Bezirksgerichtes unter falschem Namen Obdach gefunden hat? In den Besserungsanstalten für Jugendliche sollen günstigere Ergebnis aufzuweisen sein. Aber in die Prager Anstalt kommen nur Leute im Alter von 439 achtzehn bis fünfzig Jahren und die können sich an seßhafte Lebensweise nicht mehr gewöhnen. Der Staub der Landstraße ist ihnen Lebenselement geworden . . . die Mühen der Fußwanderung und die Schikanen der Gendarmen fechten sie nicht mehr an . . . ein wilder Reisewahn hat sie gepackt, sie wandern von Ort zu Ort . . . der Schubwagen ist ihnen eine Reisegelegenheit, Arrest ein Obdach. Arbeiten – wozu? Nicht jeden muß es locken, ewig der Sklave von Müßiggängern und deren Familien zu sein. Doch es gibt kein Entrinnen aus der Zwangsarbeit dieser Gesellschaftsordnung . . .

Gar mancher von ihnen hat Haus und Hof verlassen, um arm durch die Welt zu flanieren, viele haben den Lohn in den Händen ihres Arbeitsgebers zurückgelassen, sie schlichen sich – vom Reisefieber plötzlich gepackt – bei Nacht und Nebel aus dem Hof und wanderten auf Straßen und Feldrainen geldlos ins Weite. Was man braucht, kann man erbetteln, kann man stehlen. Gelegenheit zum Diebstahl ist immer da, Häuser, Ställe und Scheuern stehen offen. Und dennoch: Die Zahl derer, die in ihren hundertzwanzig Vorstrafen kein einziges Diebstahlsdelikt aufzuweisen haben, ist nicht gering. Ihre Liste ist einförmig. Immer kehren nur die §§ 1 und 2 des Vagabundagegesetzes wieder. Ehrliche Vagabunden. Sie sind auch durch die wiederholte Detention in Zwangsarbeitsanstalten nicht zu bessern und – nicht zu verderben.

Denn »Zuchthäuser sind die Hochschulen des Verbrechens«,wie Kropotkin sagt, und auch in den Zwangsarbeitsanstalten sind die ehrlichen Vagabunden mit wiederholt bestraften Schwerverbrechern beisammen.

Während der Zeit ihrer Internierung sind freilich alle Zwänglinge fleißig und folgsam. Sie arbeiten an den Handwebstühlen, an der Erzeugung von Papiersäcken, in den Tapezierer-, Schuster-, Schlosser- und Tischlerwerkstätten, in der Korbflechterei und im Anstaltsgarten, in der Küche und auf den Gängen, als Leibeigene in den Arbeitskolonien auf den Feldern und 440 Stallungen der kaiserlichen Güter in Litowitz, Hostiwitz, Rot-Aujezd und Tachlowitz, der Privatgüter zu Dubetsch, Kletzan, Biechowitz und Radigau, sie planieren und regulieren den Erdboden beim Bau der Landesirrenanstalt in Bohnitz und verrichten in der Kadettenschule, in der Strakaschen Akademie, im Palais Towskana und in der Landesfindelanstalt verschiedene Handlangerdienste. Sie arbeiten, weil sie von den anderen abgesondert werden würden, wenn sie das nicht täten.

Müßig und streng stehen die Aufseher dabei, achten darauf, daß jeder schufte, daß keiner entfliehe, denn die Zwänglinge tragen nicht mehr »Ketten an dem einen oder an beiden Füßen, je nachdem ihre Haftzeit länger oder kürzer ist«, wie der große Gefängnisreformator und Philanthrop John Howard anläßlich seiner Prager Studien von 1782 in seinem »Account« notierte.

Am Lohn dürfen die, die die Arbeit leisten, nur partizipieren. Die Zwänglinge sind in drei Lohnkategorien eingeteilt. Acht Monate bleiben sie in der dritten, der letzten Gehaltsklasse, in der sie zwanzig Prozent von ihrem Verdienst erhalten; der Rest fließt dem Anstaltsfonde zu. Nach Ablauf der acht Monate rücken sie in die zweite Klasse vor, in der sie fünfundzwanzig Prozent behalten dürfen, nach weiteren acht Monaten in die erste Klasse, in der dreißig Prozent ihres Arbeitserträges ihr eigen sind. Einen Teil dieser Dienstprämie darf der Zwängling zur Aufbesserung seiner Kost verwenden. Das Nachtmahl ist wohlweislich schon so frugal bemessen, daß es einer solchen Aufbesserung dringend bedarf, – ein Ansporn zur Arbeit. Der Rest der Verdienstprämie wird dem Korrigenden aufbewahrt. Ganz ernsthaft anerkennend sagt mir der Direktor, daß mancher Korrigend oft nach Ablauf der Internierung (diese währt mindestens zwei und höchstens drei Jahre) einen ersparten Betrag von – hundert Kronen ausgehändigt erhält. Hundert Kronen Ersparnisse nach einer ununterbrochenen Fron von drei Jahren, in denen man sich kein Sondervergnügen gestattet hat! Und dabei leisten 441 sie nicht bloß als willenlose Sklaven, sondern auch als gezwungene Lohndrücker dem Kapitalismus guten Dienst.

Die Hoffnung auf die Aushändigung des Verdienstes kann nicht vor dem Entweichen abhalten. Aus dem Anstaltsgebäude selbst kann wohl niemand flüchten, denn die Gittertüren auf den Korridoren und die dichtgekreuzten Eisenstäbe in den Fenstern haben aus dem alten Palast der Trautmannsdorffs, aus diesem stillen Kleinseitner Patriziergebäude, in dessen Garten vor drei Jahrhunderten Tycho de Brahe seine erste Sternwarte errichtet hatte, einen Käfig gemacht. Aber draußen in den Arbeitskolonien, wo die Sonne zur Wanderschaft lädt, wo ein rotes Wirtshausschild freundlich zum langentbehrten Schnapsgenuß auffordert, wo ein Hügel dem Zwängling zeigt, daß kein Aufseher in der Nähe und die Welt so groß ist und allen gehört, da packt den Vagabunden die alte Leidenschaft, da vergißt er, daß ihn seine Kleidung stigmatisiert, da vergißt er, daß ihm die Flucht arg bekommen wird, da vergißt er, daß er für jede Strafe zwei Monate länger in der verhaßten Anstalt bleiben muß, da vergißt er, daß in der Zwangsarbeitsanstalt auch Pfähle sind, an die man strafweise angebunden wird, weil man . . . die Freiheit wollte . . .

Dort in der Ecke der Korbflechterwerkstätte sitzt ein solcher Bursche, der erst vor kurzem entwichen und wieder eingebracht worden ist. Der Direktor geht vorbei und fragt auch ihn, wieviel er heute gearbeitet habe. Die Antwort wird in kaum verständlichem Tone geknurrt. Und aus den Augen des Gefragten kommt ein wilder Blick des Hasses, eine Botschaft jener Gefühle, die einmal den roten Hahn auf das Dach der Zwangsarbeitsanstalt setzen werden, die Welt heißt. 442

 

Theatervorstellung der Korrigenden

Im Hofe waren die Zwänglinge. Aber nur wenige promenierten, nur wenige vergnügten sich am Kegelspiel. Die meisten drängten sich vor dem breiten Tor, das sich nun bald öffnen sollte, um die Theaterbesucher in das Hauptgebäude zu lassen.

Gespielt wurde im Korbflechtersaale. Der war sorgfältig adaptiert. An der einen Breitseite stand festgezimmert die Bühne.

Vor Jahren wurden aus dem Dekorationsmagazine des Deutschen Landestheaters der Zwangsarbeitsanstalt mehrere Flächen kassierter Kulissenleinwand überwiesen. Aus einem dieser Stücke war der Vorhang geschnitten und mit Lyra, Lorbeer und Maske bemalt worden. Oben das Landeswappen und einige naive Landschaften. Irgend eines Korrigenden Werk. Vor der Bühne brennen zwei halbverdeckte Gaslampen – die einzige Beleuchtung des langen Saales. So nimmt sich der Zuschauerraum gar seltsam aus. An zweihundert Zuschauer mit dumpfen Gesichtern und scharfen Blicken. Einige haben die braunen Flanelljacken anbehalten, andere sitzen in den schmutzigweißen Zwilchkleidern auf den Bänken. Das sind fast die einzigen Toilettenunterschiede im Publikum. An der Wand stehen die Aufseher in Uniformen als Logenschließer. Vor die Bankreihen, aus denen die Korrigenden sitzen, sind zwei Reihen von Stühlen gestellt, die sonst in den Wachzimmern verteilt sind; die Fauteuils für die Gäste. Denn auch Gäste sind da. Einige Frauen und Kinder von Aufsehern, sowie von Landwehrfeldwebeln und Oberfeuerwerkern aus der Nachbarschaft. Vor den Fauteuilreihen bedecken ausrangierte Bettdecken aus den Schlafsälen die Steinfliesen – Teppiche. 443

Heute ist deutsche Theatervorstellung, »Deutsches Landestheater« wie die Zwänglinge sagen. Das »Tschechische Nationaltheater« hat eine Woche vorher gespielt. Aber das Publikum ist zweisprachig. Wenn auch mancher kein Wort von dem versteht, was da oben auf der Bühne gesprochen wird, so freut er sich doch der Kleider und des Gehabens seiner deutschen Kollegen auf dem Podium.

In einer Nische neben der Bühne sitzt das Orchester. Vier Mann. Die Musikanten dirigieren selbst. Primgeiger ist ein alter, gebückter Mann mit Brille, der krampfhaft in sein Notenblatt blickt. Der zweite Violinist hat blondes, aufwärts gekämmtes Haar und stattlichen Schnauzbart: er ist ein ehemaliger Musikfeldwebel, von Stufe zu Stufe gesunken, nicht zum erstenmal dem Orchesterpersonale der Hradschiner Zwangsarbeitsanstalt angehörig. Neben ihm spielt ein etwa vierzigjähriger Mann die Flöte; sein schwarzes, gescheiteltes Haar ist tief in die Stirne gekämmt – der Typ des »šumař«, des böhmischen Dorfmusikanten. Der vierte und letzte in dieser Kapelle ist der Harfenist. Sein Instrument hat er sich während seiner Detention, in den Mußestunden, die ihm nach seinen Taglöhnerarbeiten beim Bau der Bohnitzer Landesirrenanstalt geblieben sind, selbst angefertigt, und er beherrscht das Instrument ganz famos, trotzdem er nie Harfespielen gelernt hat. Sie sind Tausendsassas, diese »Gegner der Arbeit«, und sie würden gerne arbeiten, wenn sie eine Arbeit leisten dürften, die sie freut!

Gegenüber an der Wand lehnt ein Feuerwehrmann. Bei näherer Betrachtung merkt man aber, daß es gar kein Feuerwehrmann ist, sondern ein Korrigend, der den Feuerwehrmann spielt, weil eben ein solcher zu jeder anständigen Theatervorstellung gehört. Der Mann hat blankgeputzte Röhrenstiefel, einen sauber gewaschenen Zwilchanzug, einen Feuerwehrhelm – aus Pappendeckel und einen Gürtel aus dem gleichen feuersicheren Material. Er ist von seiner Rolle ganz 444 durchdrungen und sein Blick schweift fortwährend durch den Saal, inspizierend und Bewunderung heischend.

Man spielt heute, laut dem autographierten Programm, das auch die Namen der Darsteller nennt, drei Einakter. Zunächst »Das Versprechen hinterm Herd«. Hinter der Bühne wird geläutet, die Musik bricht jäh ab, der Souffleur kriecht coram publico in einen in der Korbflechterei hergestellten Strandkorb, dessen offene Seite der Bühne zugewendet ist. Der Vorhang hebt sich bis etwa zur halben Bühnenhöhe. Dann kann er nicht weiter. Aber der Darsteller des »Freiherrn von Strietzow« legt selbst Hand an, ein Ruck und der Vorhang ist ganz oben. Die Erwartungen, die man nach dieser vielversprechenden Leistung des »Baron Strietzow« an diesen knüpft, werden leider nicht erfüllt. Dieser Schauspieler hat kein Gefühl für das Parodistische, das in dieser Rolle des Berliner Salontirolers liegt. Er redet nicht »berlinerisch«, sondern den Dialekt, den man in seinem Heimatsorte Georgswalde bei Schluckenau spricht. Sein Kostüm ist schon aus technischen Gründen kein karikiertes, kein gigerlhaftes, und so maßt er sich auch nicht das Recht an, anders zu sein, als die übrigen Darsteller, die echte Tiroler sein sollen. Sogar wenn er aus seinem Notizbuch einen verstümmelten »Nationalgesang« vorträgt, singt er ihn wie ein Schnadahüpfel. Er trägt ihn vor, so gut er eben kann, und würde es unverständlich finden, daß ein Schauspieler absichtlich patzen soll.

Grandios ist der Darsteller des Wirtes und Wilddiebes Quantner. Sein Lob wäre nur in Superlativen zu singen. Wenn er sich räuspert, wenn er sich schneuzt, wenn er sich seine Pfeife ansteckt, wenn er sich nach herzhaftem Trunk mit der Zunge den Bart reinigt, wie er sein Versprechen, daß alles, was hinterm Herde liegt, des Dirndls Eigentum sein soll, langsam und schwerfällig auf das Papier kritzelt, ist er von einer Echtheit, wie sie kein Berufsschauspieler aufzubringen vermag. Und wie er dann mit geballter Faust auf seinen 445 unfolgsamen Sohn zustürzt, – das kann kein Mime kopieren, das muß von klein auf gelernt sein. Da sich die Biographie dieses vortrefflichen Schauspielers in keinem Bühnenlexikon vorfindet, sei erwähnt, daß »Quantner«, ein etwa fünfzigjähriger Mann, schon zum viertenmal im hiesigen Arbeitshaus deteniert ist. Nach seiner Freilassung treibt es ihn immer wieder in die Alpen, wo er im Sommer und Winter umhervagiert. Aber auch auf den Bergen, wo angeblich die Freiheit wohnt, gibt es Gendarmen, und die bewirken es, daß er immer wieder nach Prag zurück muß, auf die Galeere. Nach der Ueberzeugungstreue, mit der er den Wilddieb auf der Bühne verkörpert, könnte man schließen, daß er dieses Handwerk auch außerhalb der Bühne auszuüben gewohnt ist. Wie dem auch sei: Erwischt wurde er wegen dieses Deliktes noch nicht, denn unter seinen achtzehn Vorstrafen finden sich nur solche wegen Landstreicherei, Diebstahls, Vagabundage u. dgl.

Das »Nandl«, die brave Bauerndirn, spielt ein jüngerer Korrigend. Er sieht ganz reizend aus und beherrscht seine Rolle. Den Sohn des Quantner und Geliebten der Nandl gibt gleichfalls ein junger Bursch. Er war noch vor kurzem in der Arbeitsanstalt für Jugendliche in Grulich interniert, hat sich aber nicht dauernd gebessert. Gleich nach seiner Entlassung hatte er seine Kleider verkauft und sich einer umherziehenden Zigeunertruppe angeschlossen. Aus der Hradschiner Anstalt, in die er dann gebracht worden ist, ist er entwichen, als er zur Arbeitsleistung in die Findelanstalt beordert worden ist. Sein Spiel ist gedrückt. Er geht fast fortwährend im Hintergrund der Bühne auf und ab und bringt seine Sätze halb zaghaft, halb mürrisch hervor. Das wirkt sehr gut, denn er gibt ja einen unglücklichen Liebhaber.

Das Stück ist aus. Das Publikum klatscht stürmisch und die Darsteller machen ungelenke Komplimente. Der Vorhang fällt. Ich gehe auf die Bühne. Man stellt die Kulissen zum nächsten Stücke auf. 446

Der Protagonist, der »Quantner«, hockt auf der Schulter des »Feuerwehrmannes« und schlägt oben auf der Kulisse zwei Nägel ein. Auch »Fräulein Nandel« zimmert eifrig, und keiner von den Akteuren ist müßig.

Die Anordnungen schwirren durcheinander: einen Regisseur scheint es nicht zu geben, und ein Aufseher darf nicht hierher. Die Künstler achten streng auf die Wahrung ihrer Autonomie, und deshalb geht alles gut.

Auf einem Tisch liegt ein dickes Heft, auf dem von ungeschickter Hand mit Bleistift unorthographische Sätze gekritzelt sind: Die Rolle.

Das zweite Lustspiel beginnt. Es heißt »Ein Zwiegespräch« und der Witz besteht darin, daß ein alter Sonderling einen Besucher für den Aspiranten auf die Wärterstelle bei seiner Katze hält, während sich der Fremde um die Hauslehrerstelle bei der Tochter des Privatiers bewirbt. Den Hauslehrer spielt ein junger Bursch, ein wiederholt vorbestrafter Einbrecher, ganz gut. Aber den größten Beifall hatte er, als er, wie unversehens, an seinen Partner anstieß, und in einem prächtigen Purzelbaum zu Boden stürzte. Ebenso bildete es im nächsten Stücke, dem Lustspiel »Er muß taub sein«, den Höhepunkt der Handlung, als der von seiner Taubheit geheilte Hausherr plötzlich die Beschimpfungen seines Dieners vernimmt, und diesem einen Fußtritt in den Rücken versetzt, der entschieden an anderer Stelle nach § 421 StG. geahndet worden wäre. (Stürmischer Beifall.) In diesem letzten Stücke spielt übrigens auch ein ehemaliger Bauzeichner, der sich ganz als Gentleman benimmt und seine Mahlzeit in einer Weise verzehrt, die auch den höchsten Anforderungen des guten Tones entspricht.

Zum Schluß der Vorstellung singen die Darsteller aller Stücke ein weihevolles Abschiedslied »Gute Nacht«. Es ist ganz rührend und unheimlich, wie diese wetterharten Feinde der menschlichen Gesellschaft den feierlichen, kindlichen Choral anstimmen. (Bis sie wieder 447 draußen auf der Heide sind, denkt mancher von ihnen ingrimmig lächelnd an diese Affenposse, und der Wind bläst »Gute Nacht« in rauherem Choral . . .)

Alles ergießt sich in den Hof, um sich draußen die Tabakspfeife anzuzünden. Nur die Akteure müssen hier bleiben. Sie haben die Kostüme abzulegen und einzupacken, damit sie morgen der Maskenleihanstalt wieder rückerstattet werden können, von der sie um den Preis von drei Kronen ausgeliehen worden sind. Dies sind die ganzen Barauslagen: sie werden aus den Zinsen des Depositenfonds gedeckt. Dann muß die Bühne abgenommen, die Kulissen, der Vorhang und der geflochtene Souffleurkasten wieder ins Magazin getragen werden.

Jetzt hört für die Schauspieler das Benefizium auf, am Abend eine Stunde länger aufbleibend und die Rollen lernen und das arbeiten zu dürfen, was sie freute; in dem Saal, in dem sie heute akklamierte Künstler waren, müssen sie morgen auf den Steinfliesen sitzen und Weidenruten zu Körben flechten. 448

 

Gerichtsgefängnis

Dieweil wir, begabend und selbst beschenkt, unter wippenden Kerzen glückselig waren, saßen dort, unter dem Turme auf dem Karlsplatz, verdüsterte Menschen einsam. In der Untersuchungshäftlinge Sinn, der mach Ausreden für die bevorstehende Gerichtsverhandlung auf der Suche ist, in die trotzige Dumpfheit der schon Verurteilten huscht Christkind durch die gesicherte Türe der Zelle: Der Gedanke, daß heute Weihnachtsabend ist.

Es hat leere Hände, dieses Christkind im leeren Raum. Nur ein Stück Weihnachtskuchen, aus Menageersparnissen bezahlt, liegt auf dem Tisch oder schon im Magen. Mag der Zyniker mit einer verächtlichen Gebärde der Unterlippe den »Gefühlsdusel« zurückzuweisen versuchen, – nicht vor sich selbst, nicht vor dem Zellengenossen gelingt ihm dies ganz. Der Landstreicher in der Arrestzelle des Bezirksgerichtes, die im Parterre des Gerichtes untergebracht ist, denkt neidvoll, wütend oder resigniert an Glanz und Gaben und Wärme anderer, denen es das Erbrecht gab; er aber wurde im Roten Hause geboren. Den kleinen Taschendieben in den Jugendlichenzellen im ersten Stock entlaufen Tränen bis zum Kinn, wo sie der Rockärmel dämmt. In sich zusammengesunken denkt der Wechselfälscher an das Dreirad und die Zinnsoldaten, die ihm die ersten Weihnachtsabende zuhause brachten, dann an den schönen Sofapolster, den ihm seine Tanzstundenliebste unter den Baum gesandt, an das Vorjahr, da die Witwe Cliquot immer wieder schnalzend das Tempo des Amusements beschleunigte, da Brillanten Reflexe verschwendeten, und es von der Portiere her nach Ideal-Houbigant duftete, und dann denkt er – an das Jetzt. Das kalte Jetzt einer Pritsche. Wie wird's nächstes Jahr zu Weihnachten sein? 449

In den Frauenzellen im zweiten Stock gibt es Beten und Weinen. Der Gefängniswächter, der am Ende des Korridors den mit einer Kette an die Wand geschmiedeten Stechschlüssel in seine Kontrolluhr drückt, wartet nervöser als sonst auf seine Ablösung. er möchte sich schon gerne darüber freuen, wie sich sein Töchterchen an der Puppenküche freut. Verfluchter Dienst.

Es ist kein glücklicher Abend, der heilige Abend im Gefängnis des Strafgerichtes.

Morgen ist den Häftlingen in der Anstaltskapelle ein Christbaum geputzt, groß, mit blauen und gelben und roten Kerzen, mit Glaskörperchen, Papierketten, bunten Papierblumen, und talmisilbernen Fäden und pseudogoldenem Stern.

In langer Reihe, zu zwei und zwei werden sie in die Kapelle geführt, die der Länge nach durch Milchglas in zwei Teile geteilt ist. In dem von der Türe entfernteren nehmen die Sträflinge Platz. Dann erst kommen die Frauen, für die die andere Hälfte des Saales bestimmt ist. Männer und Frauen kriegen einander nicht zu Gesicht.

Alles starrt auf den Baum, der zu Füßen des Altars steht, und der Geruch der Nadeln eilt durch die Bänke.

Vorne sitzen die Kinder. Rechts die Knaben, in der Männerabteilung, links die Mädchen in der Frauenabteilung. Auch sie sehen einander nicht, aber sie wissen voneinander und das Schicksal wird sie schon draußen zusammenführen, die männlichen und die weiblichen Opfer der Gesellschaft, denn wenn man Anstaltskollege war, findet man leicht zueinander als Partner und Partnerin. Das Strafgericht umfaßt auch den Eros.

Trotz der Gleichförmigkeit der graubraunen Sträflingskleidung kann man schnell unterscheiden. In der vordersten Bank ein großer Kreditschwindler, der viel Geld besaß und sicherlich nicht mehr besitzt, denn sonst säße er nicht hier, säße er draußen an angesehener Stelle. Der hinter ihm ist ein Bekannter aus dem Militärarrest, er hat sechs Jahre wegen versuchten 450 Meuchelmordes abgebüßt, und ist jetzt wieder hier. Jedenfalls ist er aber auf dem Wege der »Besserung«, denn er trägt schon die Sträflingshaft, ist also kein Untersuchungshäftling mehr, und hat demnach nur eine kleine Haft zu verbüßen. Denn wer zu mehr als sechs Monaten verurteilt ist, kommt in der Regel in die Strafanstalt und länger als ein Jahr darf kein Verurteilter im Gerichtshofgefängnis bleiben.

Ein Glockenläuten bringt Ruhe in die Körper, die gegen den Baum zu vorgeneigt sind, damit ihren Blicken nichts vom Belang verloren gehe. Ein junger Geistlicher kommt im Ornate in die Kapelle, von einem Ministranten gefolgt, und die Orgel klingt in den Raum. Der Meuchelmörder ist über sein Gebetbuch geneigt und seine Lippen murmeln. Die kleinen Burschen, deren glatte Scheitel an der Schläfe Schneckengewinde sind, hängen mit ihren Augen fromm an dem Priester – oder aber an dem goldenen Kelch an seiner Seite? Ernst und laut singen die Kleinen, die sich sonst der Ueberlistung von Polizisten rühmen, die Chorlieder mit. Das wird sie gewiß nicht hindern, sich weiter der Ueberlistung von Polizisten zu rühmen und genau zu wissen, daß es gut wäre, wenn man den Kelch rauben könnte, der niemandem nützt. Da der Schwachsinnige, der die Ministrantendienste leistet, über die Altarstufe stolpert, lachen sie laut und herzlich. Es sind Kinder.

Dann spricht der Geistliche. Vom Weihnachtsfest und vom Glück der Familie, die sich hoffend um den geschmückten Raum schart. Schluchzen geht durch die Frauenabteilung und aus den Augen tropft es in die Kinnschlinge der Kopftücher. Auch jenseits der Milchglaswand neigen sich erinnernde Männerköpfe tiefer über die Bank. Der Prediger tröstet. Nie sei es zu spät zur Rückkehr, auch euch leuchtet ein Christbaum. Und er weiß zu sagen, daß die Gaben, die in den Zweigen des Tannenbäumchens sind, nichts anderes seien, als ein Sinnbild. Wie aber, Priester, wenn einer deiner Hörer auf den Gedanken kommt, daß sie ein Sinnbild 451 dafür seien, daß man sich nichts für all den Flitter und Tand kaufen kann, daß der Christbaumschmuck wieder abgeräumt und verpackt wird, während anderswo anderen kostbare Gaben als Eigentum auf den Zweigen hängen?

Wieder tönt, von den tiefen Klängen der Orgelpfeifen geleitet, ein Weihnachtslied durch den Raum, an dreißig der Häftlinge empfangen kniend aus der Hand des Priesters das heilige Abendmahl. Eine der weiblichen Sträflinge tritt aus den Bankreihen vor und dankt mit Tränen der Aufregung dem Verwalter, daß er für die Häftlinge des Strafgerichtes einen Weihnachtsbaum schmücken ließ. Sie sind bescheiden, die Menschen im Käfig, und die Herren Verwalter lassen sich noch danken für ihre Gnade.

Mit einem Vaterunser schließt die Messe. »Vergib uns unsere Schuld . . . und erlöse uns von dem Uebel . . .«

Zuerst entfernen sich die Weiber, dann die Männer. Zwei Sträflinge löschen die Lichter aus und packen den Baumschmuck sorgsam in eine Kiste, – für ihre Nachfolger im nächsten Jahr.

Nur ein geschmückter Zweig wird abgebrochen und ins Anstaltshospital hinausgeschickt, in eine Zelle, deren Nummer rot ist; das Zeichen für Tuberkulose. Dort liegt in der Zelle, die etwas lichter ist und sich eines Kachelofens erfreut, ein fahler Bursch von fünfzehn Jahren auf dem Bett. Man sieht auf den ersten Blick, daß es hier des Gitterwerkes im Fenster nicht bedürfte, – die Krankheit hält ihn fester in die Zelle geschnallt. Geschirr und Zahnbürste sind rot bezeichnet. Das Warnungszeichen für andere. Die Zweiteilung der Patienten ist nach den beiden großen Gruppen durchgeführt, die hier vorherrschen, der Krankheit der Not und der Krankheit des Lasters: Tuberkulose und Syphilis, den beiden großen Epidemien, denen man leichter als der Pest und der Cholera begegnen könnte, wenn man wollte. Aber Pest und Cholera können jeden treffen, 452 gegen Tbc. und Lues kann sich der Reiche eher schützen. Das matte Auge des Kranken kommt in frohes Glühen, da man ihm den Tannengruß der Weihnacht auf den Nachttisch legt. Aber gleich rechts die zweite Zelle am Ende des Korridors, die ohne Aufschrift, ist die Totenkammer. Auch sie ist vergittert.

Die anderen sind in ihre Zellen geführt worden. Feiertag ist, die Arbeit ruht. Sie lesen und plaudern und schauen, irgend etwas denkend, in den Hof hinunter, wo sechs kahle Ahornbäume stehen. Die beiden großen Steine im Pflaster können ausgehoben werden, damit man die Maste des Galgens einrammen kann, der jetzt untätig in der Bodenkammer liegt.

Die Zellen der zu schwerem Kerker Verurteilten, der mit einfachem Arrest und mit Arrest Bestraften sind völlig gleich, die Sträflinge wissen auch, wenn sie aus der Verhandlung kommen, nur die Dauer der Strafhaft, niemals die Art. Für die mit schwerem Kerker Bestraften ist das Tragen der Sträflingskleider Pflicht; aber auch dies wird von manchen mit Recht eher als Begünstigung empfunden, denn sie schonen ihre eigenen Kleider, und draußen in der Freiheit, wenn sie nicht mehr die braungraue Montur tragen, erkennt sie nicht jeder Zellengenosse. Aber alles ist individuell: Ein Hochstapler, der als Inquisit den ganzen Tag in Lackschuhen und mit manikürten Händen in der Separation saß, hegte vor der Verhandlung bloß eine Angst: »Wenn ich nur keine Anstaltskleidung werde tragen müssen; lieber ein paar Monate mehr.«

Die Werkstätten und die Schule für jugendliche Sträflinge sind heute leer. Die Schustersockel stehen in einer Reihe. Sonst wird hier eifrig am Schuhwerk für alle Gerichte Böhmens gearbeitet – um 73.000 Kronen im Jahr. (Der Kalikostoff für Häftlinge wird in den Strafanstalten von Gradiska und Capodistria, das Arrestantentuch im Strafhaus zu Stanislau, das Blechgeschirr in Pankratz, die Bürstenwaren in Stein hergestellt.) Auch in der Waschküche, in der Schneiderei, 453 in den vielen Räumen, in denen Papiersäcke und Kuverts geklebt werden, in der Lithographie, in der die Sträflinge selbst die Anklageschriften vervielfältigen, ist heute niemand im Hause beschäftigt. Auch im großen Magazin, das prächtige Wölbungen mit Sandsteinrippen aufweist und einst dem Neustädter Rathause gehörte, weilt heute niemand. An der Wand sagt eine Steintafel, daß hier Christian Doppler lebte, der große Astrophysiker, der das Dopplersche Prinzip ausgesprochen hat. Die Tafel war einst außen am Hause, im Lazarusgäßchen, jetzt wurde sie hierher gebracht. Das große Magazin war vor Jahrhunderten die Neustädter Fleischbank, wie noch das Wappen an der Wölbung zeigt, ein Messer und ein Beil gekreuzt. Das könnte auch heute noch das Symbol des Hauses sein.

Unten in der Kanzlei liegen Karten und Briefe, die gelesen werden müssen, bevor sie die Adressaten in die Zellen bekommen. Heute sind es meist Weihnachtswünsche mit bedauernden Worten und Hoffnungen auf ein Wiedersehen. Schon die Adressen sind bemerkenswert. Meistens devot, als ob man dem armen Häftling damit nützen wollte. »An die hochlöbliche Gefängnisverwaltung, die die Gnade haben möge, diesen Brief dem Sträfling X. Y. gütigst zu übermitteln.« Nur der Hochstapler ist der Alte geblieben und hat nicht verraten, wo er ist. Auf der Adresse der an ihn gerichteten Künstlerkarte steht ganz unverdächtig: »Hochwohlgeboren Herrn N. N. in Prag II.–2.« Und der Inhalt ist: »Schade, daß du nicht über die Feiertage hier bist, das wäre fesch gewesen. Hast du wirklich nicht abkommen können? Na, viele Weihnachtsgrüße und Pussis von deiner Froschi.« 454

 

Brief des Revertenten, naturgemäß etwas sentimental

Verehrter Herr Oberkommissär! Bitte, lesen Sie diesen Brief nicht im Amt.

Nicht weil ich Ihr ehemaliger Studienkollege bin, richte ich dieses Schreiben an Sie, das ist lange vorbei. Sie sind ein Mann in Amt und Würden und ich bin ein Verbrecher und ein Landstreicher. Aber ich komme als Mensch zum Menschen – denn noch glaube ich, ein Mensch zu sein.

Sie wissen, wie es kam, daß ich gesunken bin. Mein Verbrechen läßt sich ja in einem Satze erschöpfen: »Er hat beim Postamt Kladno Geld unterschlagen und es mit einer Kellnerin verjubelt.« Viel mehr stand auch damals nicht in der Anklageschrift, als über meine Existenz das Todesurteil gesprochen wurde. Wenn ich's Ihnen heute erzähle, wie es war, werden Sie mir vielleicht glauben. Ich war in die Karoline Rabas verliebt, die Sie wohl seither schon im Amte kennen gelernt haben. Damals war sie Kellnerin in Kladno. Jede Nacht um 12 Uhr wartete ich auf sie und begleitete sie nach Hause. Einmal eröffnete sie mir: »Franz, komme morgen nicht mehr, ich will nicht mehr mit dir gehen.« Ich war entsetzt, bestürzt, ich weinte und drang mit Fragen in sie, warum sie mir den Laufpaß gebe. »Ich habe einen anderen, einen Fabrikanten.« Und um mir den Abschied nicht schwer zu machen, fügte sie hinzu, daß sie ihn gar nicht gerne habe. Aber er habe Geld und werde ihr einen Brillantring kaufen. Da versprach ich ihr auch einen. Bald trug sie wirklich am Finger einen Brillantring, den ich ihr gekauft, und um den Hals einen Pelzkragen, in den Händen einen teueren Muff, – alles von mir, und ich begleitete sie weiter allnächtlich nach Hause. Bis ich eines Morgens 455 ins Amt kam, und mich dort der Kommissär für verhaftet erklärte.

Als ich aus der Strafanstalt kam, aus Pankratz, wollte ich mir Arbeit suchen. Wenn auch meine drei Staatsprüfungen für null und nichtig erklärt worden waren, das, was ich für sie gelernt hatte, reichte noch immer reichlich für jede Stelle in einer Kanzlei. Ich suchte, fand nichts und wollte weiter suchen. Da traf ich die Karoline, an die ich die ganze Zeit hindurch in meiner Zelle gedacht hatte. Sie erzählte mir, daß sie in Prag in einem Nachtcafé als Kellnerin angestellt sei. Was ich treibe? Ich suche Stellung und könne keine finden, und mit meinem Gelde sei es auch schon zu Ende. Da bot sie mir an, ich solle einstweilen als Portier in das Kaffeehaus gehen, bei Tag hätte ich Zeit und könne ungehindert eine Stellung suchen. Ich ging, denn ich war noch immer verliebt in sie. So stand ich als Portier auf der Straße und grüßte die Schwengel, die in Lebemannslaune ins Nachtcafé kamen, bis auf die Erde. Von Zeit zu Zeit kam die Karoline zu mir heraus, und brachte mir ein Glas »Törley«-Sekt aus dem Separé oder eine halbe Flasche Wein oder Zigaretten. Und wenn sie keiner von den Gästen nach Hause begleitete, durfte ich mit ihr gehen. Am nächsten Tage mußte ich dann freilich Briefe für sie schreiben, in denen sie sich Rendezvous mit Herren bestimmte, und mußte die Briefe selbst den Galans zutragen. So weit war es mit mir gekommen. Meine Einwendungen hatte ich bald aufgegeben. Sie wurden ja von Karoline immer achselzuckend abgelehnt: »Du kannst ja fortgehen.« Nein, ich konnte nicht fortgehen.

Eines war gut: Wenigstens wußte niemand, daß ich ein Dieb sei, ein Zuchthäusler. Aber auch das dauerte nicht ewig. Einmal im Rausch stritt sich die Karoline mit den anderen Kellnerinnen, jede brüstete sich mit ihren Erfolgen bei Liebhabern und warf den anderen Mißerfolge vor. Da spielte Karoline ihren Trumpf aus; sie rief mich ins Lokal und schrie siegessicher: »Da 456 schaut's her, das ist ein Doktor gewesen, der hat um meinetwillen gestohlen und ist ins Kriminal gekommen.« Nun war es aus mit mir.

Willenlos und kraftlos trieb ich mich in Prag umher. Zweimal wurde ich ertappt, als ich in den Belvedereanlagen nächtigte – ich war nicht frech genug. um mir das Geld für ein Nachtlager zu erbetteln – und wurde arretiert. Man sandte mich per Schub nach Hause und gab mir die Verwarnung: Das nächstemal werde ich »Prag bekommen«, das Verbot des Aufenthaltes. In den Akten wurde es vermerkt. Zurückgekehrt, schrieb ich in einer Spelunke auf dem Kleinen Ring für einige Stammgäste Bettelbriefe an ihre Verwandten und verdiente mir so viel, daß ich im Stall des Einkehrhauses »Na kuklíku« schlafen konnte. Damit war aber bald Schluß und vierzehn Tage nach meiner letzten Abschaffung konnte ich auch die acht Kreuzer nicht mehr zusammenbringen, und war ganz verzweifelt. Da traf ich in Smichow den Dr. Leo Marek, der mein bester Freund im Gymnasium und auf der Universität gewesen war. Er erkannte mich nicht, ich ging ihm nach, faßte mir schließlich Mut und bat ihn um acht Kreuzer. Er zog aus der Brieftasche eine Zwanzig-Kronennote und schüttelte sein ganzes Bargeld aus dem Portemonnaie in die Hand. Das wollte er mir geben. Ich aber lehnte es ab und nahm nur acht Kreuzer. Dagegen war ich überglücklich, daß er mir versprach, ich könne für die oppositionellen Flugblätter zur Stadtverordnetenwahl die Adressen schreiben; am nächsten Tage solle ich mir einige Kleider aus seiner Wohnung abholen. Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich hatte kein Brückengeld und ging deshalb über die Karlsbrücke und dann über die Insel Kampa, damit ich in meinem zerfetzten Anzug dem sonntäglich gekleideten Publikum nicht auffalle. Ich freute mich aber: Nachmittags werde auch ich wieder anständig aussehen. Hinter der Odkolekschen Mühle traf ich einen Polizisten, der schaute mich zu meinem Schrecken scharf an und 457 ging weiter. Dann drehte er sich um und als er sah, daß auch ich mich umwandte, rief er mich an: »Sie haben Prag!« »Nein.« »Gut, kommen Sie mit mir zur Wachstube, es ist nur ein paar Schritte; wenn Sie nicht aus Prag ausgewiesen sind, so entlassen wir Sie gleich.« So ging ich mit, man suchte im Revertentenverzeichnis, fand meinen Namen nicht, entließ mich aber doch nicht. Was tun wir denn mit ihm? Geben wir ihn ins Sicherheitsbureau, dort sollen sie mit ihm machen, was sie wollen. Ich dachte an die Warnung und war vor Schrecken wie gelähmt: Zum drittenmal angehalten – das ist die Ausweisung! Meine Einwendungen waren vergeblich, ich konnte nicht nachweisen, daß ich eine Wohnung habe und wurde auf Grund des Kleinseitner Polizeirapportes wegen Vagabundage verurteilt. »Aus Prag für fünf Jahre ausgewiesen.« Ich vermochte mich kaum zu unterschreiben. Sie können, geehrter Herr Kommissär, das Urteil in den Akten nachsehen und erkennen, daß meine Unterschrift unleserlich ist.

Am Lande konnte ich mich nirgends erhalten, trotzdem ich – wie Ihnen viele Leute bezeugen könnten – den besten Willen an den Tag legte. Jeder vierzehnjährige Dorfbursche war angeblich kräftiger und geschickter bei der Arbeit, nicht nur auf dem Felde, sondern auch beim Handwerk. Ich hatte kein Obdach, betteln kann ich nicht. So mußte ich oft im strömenden Regen, manchmal auch in Schnee und Frost, in meinen sommerlichen Fetzen auf den Feldern nächtigen. Mir blieb nichts übrig, als die Rückkehr nach Prag. Mein Aufenthalt dauerte höchstens eine Woche. Immer dasselbe: Arretiert, wegen Reversion bestraft und im Schubwege nach Hause geschickt. Wie mir war, wenn mich der Wachmann durch mein Heimatsdorf führte, das einmal auf mich stolz gewesen war, als ich nach Prag auf die Universität gefahren war, das kann sich niemand vorstellen. Jetzt schauten sie anders auf mich: »Seht, schon wieder hat er etwas angestellt. Gestohlen, sich betrunken, gerauft, gemordet, – Gott weiß, was 458 alles; vielleicht ist er sogar ein Brandstifter!« Alles wich mir in weitem Bogen aus.

An diese Empfänge dachte ich in der Separationszelle, als ich vor fünf Monaten in Prag arretiert worden war, und war fest entschlossen, daß es diesmal das letztemal sein sollte, daß man mich als Schübling in meine Heimat bringe. Ein Sprung ins Wasser. Schlußpunkt.

Um 1 Uhr mittags standen wir im Vorraum zur Aufnahmskanzlei des Polizeigefangenhauses zum Einteigen in den »grünen Anton« bereit. Rechts die Frauen, links die Männer. Die Frauen wurden zuerst aufgerufen und nahmen vom Gefängnisaufseher ihre Sachen in Empfang. Ich kannte die Prozedur schon lange und lehnte apathisch an der Wand. Da plötzlich fuhr ich auf. Der Name »Rabas Karoline« war gerufen worden. Und schon händigte Herr Kutschera der Karoline ihr Kopftuch, ihren Gürtel und ein Paket ein. Gott, wie sah meine Karla aus! Ich trat auf sie zu und wollte mit ihr sprechen, aber Herr Kutschera verwies mich schroff wieder in die Reihe. Im Schubwagen aber verständigten wir uns doch durch die Wand, die das Männerabteil vom Frauenabteil scheidet. Sie sagte mir, daß sie ihr bisheriges Leben satt habe und vom ersten des nächsten Monats an in einer Waschanstalt auf der Neustadt eine Stelle antreten werde; ich möge ihr nach Prag zu einer Freundin Briefe senden. Ich habe ihr nun lange Briefe geschrieben, ohne eine Antwort oder irgend eine Gewähr dafür beanspruchen zu können, daß sie die Briefe wirklich erhalten habe, – konnte ich doch meine eigene Adresse nicht angeben, weil ich heute nicht wußte, wo ich morgen sein werde.

Aber am 8. März bin ich hieher nach Beneschau ins Krankenhaus gebracht worden und hier habe ich auch Antwortschreiben von der Karoline erhalten. Sie hat sich von der Kontrolle abgemeldet, ist wirklich in der Waschanstalt angestellt, verdient ein paar Kronen wöchentlich, und will, daß ich zu ihr nach Prag 459 kommen soll. Sie weiß, daß es mir schlecht geht, möchte mich aber sehr gerne pflegen und ist einverstanden, daß wir heiraten. Sie war meine erste Liebe und ist es noch . . .

Ich fürchte mich aber vor der Rückkehr nach Prag, vor neuerlichem Arrest und neuerlichem Schub. Da komme ich denn mit meiner Bitte zu Ihnen, hochgeehrter Herr Kommissär, mich wieder nach Prag zu lassen. Oft habe ich an Sie, meinen einstigen Schulkameraden, mit der Bitte herantreten wollen, meine Freilassung aus dem Polizeiarrest zu erwirken, immer habe ich es dann doch unterlassen. Lieber Selbstmord, als Betteln! Nun aber komme ich doch zu Ihnen, weil es sich um mein Lebensglück handelt. »Mein Lebensglück!« Ich weiß, daß ich nur noch etwa drei Jahre zu leben habe. Schwindsucht und Entkräftung, chronischer Luftröhrenkatarrh, – kurzum, ganz kaput.

Ich weiß ganz gut, daß meine Bitte eine große ist. Die Rekursfrist gegen das Abschaffungserkenntnis beträgt ja nur drei Tage, sie ist längst abgelaufen, und überdies bin ich einer der rückfälligsten Revertenten. Aber, verehrter Herr Kommissär, vielleicht war die Schilderung meines Niederganges danach angetan, Ihr Mitleid wachzurufen, und ich wage vertrauensvoll zu hoffen, daß Sie sich die Mühe nicht verdrießen lassen werden, mir den Rückweg nach Prag zu ebnen. Ich würde ja ohnedies meine Wohnung gar nicht verlassen, so daß mich kein Wachmann und Detektiv in den Straßen Prags sehen würde. Ich verlasse am 30. d. M. das Spital und bitte Sie, hochverehrter Herr Kommissär, inständigst, mir bis zu diesem Zeitpunkt mitteilen zu wollen, ob Sie meine flehentliche Bitte, von der mein Leben abhängt, erfüllen wollen. Wenn Sie die Güte hätten, mir wirklich antworten zu wollen, so verwenden Sie zu Ihrem Schreiben kein amtliches Kuvert, – man kennt hier meine Vergangenheit nicht und hält mich für einen Arbeiter, der unschuldig in Elend geriet.

Mit Dank und Hochachtung bin ich Ihr ergebener . . . . . ., Beneschauer Krankenhaus, Zimmer Nr. 16. 460

 

Andenken an Kriminalfälle

Verwittert, zerfallen. Von Balken gestützt, hat der Turm im Hofe des Polizeigebäudes auf die Gestalten herabgeschaut, die – ihm ähnlich – auf ihren Krücken allmittäglich aus dem Arresthause in den städtischen Schubwagen humpelten. Trotz der Stützbalken schien es, daß der greise Turm jeden Augenblick zusammenstürzen könne. Man wollte ihn daher demolieren, aber Rücksichten auf die Erhaltung dieses Denkmals historischer Zeiten, in denen noch ein Wall die innere Stadt umgab, haben die Ausführung dieser Absicht verwehrt. So mußte man den Turm renovieren, und heute birgt der alte Bau das Polizeimuseum.

»Polizeimuseum«. Welch ein Oxymoron! Was hat die Polizei mit den Musen zu tun, mit den Beschützerinnen der Künste? Zwar stehen die neun Musen unter Kontrolle, die Sittenpolizei wacht drakonisch darüber, daß sie keinen Schritt vom Strich abweichen, der ihnen zugewiesen ist, sie haben belastende Vorakten, die Geheimprostituierten Klio, Thalia, Terpsichore und ihre Schwestern, aber ein Büchel haben sie nicht.

»Polizeimuseum!« Diese Zusammensetzung ist ebensowenig oder ebensosehr berechtigt, wie das Wort »Heeresmuseum«. So wie ein Heeresmuseum nur Erinnerung an Mord und Verbrechen und Beute enthält, so ist es auch hier im Polizeimuseum. Und auch der Feind hat seine Beute, wenn er sie auch nicht zur Schau stellen, sich ihrer nicht so rühmen darf, wie die hohe Polizei.

Vor dem Eingang merkt man noch nichts davon, welche Instrumente der Verbrecherwelt das Polizeimuseum birgt, denn über der Tür zum ersten Museumsraum sind Studentensäbel und Korbschläger in so dekorativer Weise angeordnet, daß man vermeinen würde, 461 in eine Studentenbude zu treten, wenn man nicht wüßte, es seien polizeilich konfiszierte Waffen. Immerhin eine freundliche Einführung für einen Raum, der vorwiegend der Tätigkeit der Einbrecher gewidmet ist.

Hier ist Papacostas Handwerkzeug untergebracht, – einstens der Clou des Prager Polizeimuseums. Denn Papacosta und seine Komplizen Afendakis, Maceo Stein und Perikles Stalio, waren die ersten internationalen Einbrecher, die mit »allem Komfort der Neuzeit ausgestattet«, Geldschränke knackten und nur in Prag wurde man ihres ganzen Instrumentariums habhaft. Allerdings durch den Racheakt eines benachteiligten Mitgliedes der Bande. Vom 6. April 1894 an, an welchem Tage sie sich durch einen Einbruch in das an das Polizeikommissariat Heuwagsplatz angrenzende Etablissement Franz Valenta ihre elektrischen Bedarfsartikel verschafften, hatten sie ein halbes Jahr lang in kurzen Intervallen große Einbruchsdiebstähle in Prag unternommen, ohne daß man eine Spur der Täter entdeckt hätte. Am 17. Dezember 1894 fand die Inhaberin des Bankgeschäftes Jg. S. Weiner, als sie am Morgen in das Geschäft kam, nicht nur Ladentüre und Kassen fast ganz aufgesprengt vor, sondern es waren auch unzählige Einbruchsgeräte auf dem Ladenpulte ausgebreitet: Die seither berühmte »Papacostasche Maulstange«, der große Zentralbohrer, die sinnreiche Blendlaterne, ein Oelfläschchen und etwa 40 Sperrhaken, – heute durchwegs Ausstellungsobjekte des Museums. Die Einbrecher hatten damals fluchtartig das Geschäft und auch am selben Tag Prag verlassen. Wie man einige Monate später vor Gericht erfuhr, hatte Stalio, der den Aufpasser vor der Ladentüre gemacht hatte, das Warnungssignal gegeben, aus Rache, weil er sich bei der Verteilung der Beute übervorteilt glaubte.

Heute sind die damals angestaunten Utensilien der Papacosta-Bande nicht mehr die Glanzstücke des Polizeimuseums. Diese bilden nunmehr die Instrumente einer anderen auswärtigen Verbrecherorganisation, die 462 in Prag ein blutiges Andenken hinterlassen hat, nämlich der Bande Wasinskis. Mit Staunen sieht man zum Beispiel die vier Meter lange Maulstange. Man hat sie bei dem pockennarbigen Giganten Adamski gefunden, der in der Weihnachtsnacht 1907 in der Heinrichsgasse festgenommen worden war, während sein Chef den Gefängnisaufseher Koncký, der ihn anhalten wollte, erschoß. Wie Adamski das vier Meter lange Instrument bei sich verbergen konnte? Er saß schon gefesselt in der Wachstube auf dem Heuwagsplatz, als ich – auf die Nachricht vom Morde aus dem Café gerufen – noch vor den Beamten des Sicherheitsbureaus dort eintrat.

Der gefesselte Riese gab auf keine Frage der Polizeiorgane eine Antwort, schien auch weder deutsch noch tschechisch zu verstehen. Ich stand hinter seinem Stuhl und sagte: »Adamski.«

Im selben Augenblick fuhr er so heftig herum, daß etwas schwer gegen die Stuhllehne klirrte. Natürlich stürzten sich die Wachleute auf den Gefesselten, und zogen nun unter seinem Rock vier Stangen aus Birminghamstahl von seinem Rücken hervor, – die ineinander fügbaren Teile des Hebels. Wieso aber hatte ich den Namen des Festgenommenen gewußt, wieso hatte ich am selben Tage die Tat der Wasinski-Bande für den Abend mit apodiktischer Sicherheit in der Zeitung ankündigen können, obwohl kein Mensch davon eine Ahnung hatte, daß die polnische Einbrecherbande seit Wochen in Prag sei? Meine Notiz hatte mit den Worten geschlossen: »Da Wasinski und seine Leute gewiß die Stille des Weihnachtsabends zur Ausübung eines großen Coups benützen und gegebenenfalls vor einer Bluttat nicht zurückschrecken werden, werden die Prager Detektivs heute keine Weihnachtsruhe halten können.« Mein Redaktionskollege Richard Rosenheim, heute Direktor des Königsberger Stadttheaters, konnte es sich nicht versagen, der Extraausgabe der »Bohemia« die Ueberschrift zu geben: »Die angekündigte Bluttat Wasinskis!«, den Schlußsatz meiner Notiz als Motto voranzusetzen, und 463 den Text mit den Worten zu beginnen: »Und wirklich haben die Prager Detektivs heute keine Weihnachtsruhe halten können . . .«

Jeder wollte wissen, von wannen mir diese Wissenschaft gekommen sei, besonders die Polizei. Olic verhörte mich fast eine Stunde. Aber man glaubte mir die Wahrheit nicht. Ich hatte ein paar Tage vorher im Fahndungsblatt den Steckbrief Wasinskis gelesen, der in Staatsämtern von Czernowitz, Teschen, Kaschau Millioneneinbrüche unternommen hatte, und mir aus den Lokalblättern dieser Städte die Fälle zu einem Artikel für die Weihnachtsnummer zusammengestellt, in der ich ja mit einem besonderen kriminellen Lokalfall vertreten sein mußte. »Lokalfall«? Waren denn die Einbrüche in die Steuerämter von Czernowitz und Kaschau ein Lokalfall? Eben nicht. Deshalb (und um den Anschein zu vermeiden, daß mein Artikel etwa einfach aus einer fremden Zeitung herausgeschnitten sei) mußte ich nachweisen, daß nach der Marschrichtung der Einbrechergesellschaft jetzt Prag daran kommen werde . . .

Ein Journalist hätte das gleich verstanden, der Polizeirat glaubte, daß ich mit den Verbrechern in intimem Verkehr stehe. Und als meine Zeitung nach dem Selbstmord des Generalstabschefs Redl seinen Verrat veröffentlichte, von dem wohl die Militärbehörden, nicht aber die Polizei bis dahin gewußt hatte,Man hatte ja Oberst Redl zum Selbstmord gezwungen, um die anläßlich eines Prozesses unvermeidlichen Zeitungsberichte zu vermeiden. wurde der Verdacht verstärkt. Und schließlich verbot man mir nach der Ermordung des Gastwirtes Jelinek in Smichow das Betreten der Polizeidirektion, weil ich die Entlassung aller wegen Mordverdachtes festgenommenen Personen verlangte, da Litera der Mörder sei: Damals richteten sogar zwei Blätter den Vorwurf der leichtfertigen Verleumdung gegen mich, aber am selben Tag noch legte Litera ein Geständnis ab und lieferte die Mordbeute 464 aus. Als Reporter aber habe ich seither das Sicherheitsdepartement nie mehr betreten . . .

Aber ich bin vom Thema abgewichen. Wir sprachen von der Maulstange. Die vier Teile, die Adamski am Rücken getragen hatte, können so fest aneinandergeschraubt werden, daß drei Männer mit aller Gewalt sich dagegen zu stemmen vermögen, wenn die Eisenplatte der »einbruchssicheren« Kassen entzweigeschnitten werden soll. Natürlich kann die Riesenschere erst dann eingesetzt werden, wenn die elektrische Handbohrmaschine »Progreß«, deren Spannung 35 Volt beträgt, ihre Wirkung getan hat.

In allen Ehren kann neben den Internationalen aus Griechenland und Galizien auch ein heimischer Aussteller bestehen: Eduard Linhart, der an einem Wintersonntag des Jahres 1908 den Kellerplafond der Karolinentaler Vorschußkasse durchbrach und den Fußboden zerschnitt. Für diesen mißglückten Einbruchsversuch hatte Linhart nicht weniger als acht Jahre hinter den schwedischen Gardinen von Pankratz zuzubringen, – eine harte Strafe, die wohl vor allem darauf zurückzuführen ist, daß die corpora delicti allzudeutlich von der Gefährlichkeit des Inkulpaten sprachen: Ein Zentralbohrer mit Schraube ohne Ende, mit Kraftübertragung durch Kurbeldrehung und einem Mundloch, den die »Goodel Pratt-Company« hergestellt hat, eine feine »Fuchsschwanz«-Säge, ein Riesenhammer und allerhand ähnliches.

Durch elegante Form fällt das Reisenecessaire auf, in welchem die Kirchenräuber Kankovsky und Brünner ihre Einbruchswerkzeuge angeordnet hatten. Man sieht den Gutaperchahandschuh, den ein Einbrecher angezogen hatte, um keine Fingerspuren zu hinterlassen und um an der elektrischen Leitung gefahrlos hantieren zu können. Man sieht Schlüssel mit auswechselbarem Bart, sieht Schlüssel, deren Stiel aus lauter Schlüsselbärten besteht. Man sieht Hohlschlüssel für Patentschlösser. Man sieht abgesägte amerikanische 465 Vorhängeschlösser, sieht, wie Stecher-Schlösser einfach aus der Kassa herausgenommen werden, sieht Brustgriffe für Bohrinstrumente, sieht Pechpflaster, mit den Resten der eingedrückten Fensterscheibe, an die sie angedrückt wurden, sieht Nagelstöcke zum Aufkratzen des Fensterkittes, sieht Strickleitern und stangenförmige hölzerne Kellerleitern mit Querleisten. Man sieht »Krähenaugen«, die Frucht von Paris quadrifolia, welche die Einbrecher den Wächterhunden vorwerfen, um diese zu vergiften. Auch eine photographische Darstellung des Einbruches, den die Kirchenräuber Wainar und Anton im Jahre 1904 in die Kapelle in Scharka unternahmen, ist hier ausgestellt, um zu zeigen, wie man damals mit Hilfe der Daktyloskopie bloß nach dem am Tatorte aufgefundenen Abdruck eines Handballens der Täter habhaft wurde.

Die Requisiten, welche bei Diebstählen in Anwendung kommen, sind gleichfalls in diesem Raum vorhanden. Sehr elegant ist ein Spazierstock, dem man es gar nicht ansieht, daß er zu einer Länge von drei Meter auseinandergezogen werden kann, zum Stehlen von Gegenständen, die noch so weit vom offenen Fenster entfernt liegen mögen. Diese Stöcke heißen im Rotwelsch »Disputierer«, weil in den Gefängnissen die Häftlinge auf Latten, die sie irgendwo im Hofe gestohlen haben, einander die »Kassiber«, die Verständigungsbriefe zustecken, also mittels eines ähnlichen Instrumentes »Disputieren«. – Das System der »Betthaken« ist ganz analog, winzige Angelhaken, deren drei scharfe Zacken ankerförmig angeordnet und an langer Schnur befestigt sind: durch ein offenes Fenster in einen Stall oder in eine Wohnung geschleudert, bohren sich die Zacken fest in eine Pferdedecke, ein Federbett, ein Kleidungsstück oder einen Sack ein, und dieses Objekt wird nun auf die Straße gezogen.

Bomben und andere Explosivkörper anderer Art, die John Most in seiner »Waffenkunde des Terrors« beschrieben hat, füllen in diesem Museumraum zwei ganze 466 Vitrinen. Ein respektables Exemplar ist die Bombe, die in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts im Flur der ehemaligen St. Wenzelsvorschußkasse in der Karlsgasse gefunden wurde und die damals fast so viel Aufsehen erregte, wie ein Jahrzehnt später die Enthüllungen über die Geschäftsgebarung in diesem Hause. Die Bombe bestand aus einer mit Pulver gefüllten Kugelflasche, die mit einem Gipsmantel umkleidet war. In dieser Gipshülle waren Eisennägel als Sprengstoffe eingeschmolzen, die ganze Bombe war mit Eisendraht und Fetzen umspannt.

Ferner befindet sich hier eine Höllenmaschine mit einem Wecker. Die Höllenmaschine war mit Pulver und Hackblei gefüllt. Von furchtbarer Wirkung wäre im Falle der Explosion ein oben und unten verkeiltes Gasrohr gewesen, das mit Pulver gefüllt war, und oben ein Zündloch und die Zündpfanne trug. Wer der Adressat dieses Geschenkes war, wird von den Kustoden des Polizeimuseums verschwiegen.

Eine Reminiszenz aus Prager Demonstrationstagen bildet der sogenannte »Kanonenschuß«, ein Ledersäckchen, das mit Pulver gefüllt und mit geleimtem Spagat zusammengebunden ist. Diese Apparate pflegen mit einem geradezu ungeheuren Krach zu explodieren, ohne aber besonders gefährlich zu sein. Auch gestohlene Militärsprengstoffe, Bomben in Tafelform, und »Frösche«, wie man sie in Prager bewegten Tagen den Pferden der berittenen Wachmannschaft unter die Füße zu werfen pflegte, fehlen in der Sammlung nicht.

Das Turmgemach im zweiten Stockwerke strotzt von Waffen. Am unauffälligsten nehmen sich unter diesen wohl die Schießwaffen aus, die zum Wilddiebstahl gedient haben. Da ist z. B. ein Spazierstock einfachster Form, der sich flugs in ein Zündnadelgewehr verwandeln läßt, dem nicht einmal der Kolben fehlt. Leimruten, Schlageisen für Rehe, Drahtschlingen für Rotwild, Strickschlingen für Hasen, Leimruten für Singvögel, Fangnetze für Rebhühner, die man teils in 467 Jagdrevieren – besonders in Konopischt! – abgenommen, teils bei Wilddieben vorgefunden hat, befinden sich gleichfalls im Polizeimuseum.

Streng verbotene Waffen, wie Dolche, Stilets und Stockdegen, füllten bis zum Kriegsausbruch eine große Vitrine, dann wurden diese Konfiskate konfisziert, sie hörten auf, verbotene Waffen zu sein, gingen an die Front, und für ihre Verwendung bekam man nicht mehr Arrest, sondern Auszeichnungen . . . Die übrigen Waffen, die hier zu sehen waren, stammen teils von Selbstmorden her, teils sind sie Reminiszenzen aus den Mordaffären der letzten Jahre. Vor dem simpelsten Mordinstrument bis zum modernsten fehlt keines. Hier ist der große Pflasterstein, mit dem am Josefitage des Jahres 1896 Pravda und Outrata die Juwelierin Gollerstepper in deren Laden in der Husgasse ermordet haben. Hier ist das Beil, mit welchem 1895 der Schuster Franz Cervenka seiner Frau die Schädeldecke zertrümmert hat. Große Blutflecken auf drei Steinen stammen aus der Nacht des 2. April 1902, in welcher die Trainsoldaten Čučko, Otcovsky und Velek auf dem Belvedere den homosexuellen Hotelier Wolf aus Franzensbad getötet haben, eine plastische Karte veranschaulicht den Tatort. Ein Tuch war das Mordinstrument, mit dem der Musikant Ježek und sein Freund Merta in Točna den Prager Werkelmann Janeček erwürgten.

Die Hacke ist auch da, eine Küchenhacke, mit der 1912 in der Korngasse der Koblic seine Mutter erschlug, worauf auf er die so erlangte Sturmfreiheit der Wohnung dazu benützte, im Nachbarbett eine Liebesnacht zu feiern, neben der Leiche. Acht Tage später erschoß sich in Duino ein junger Mensch ohne Papiere und man hat ihn nach der Handverkrüppelung und sonstigen Merkmalen als den Mörder agnosziert. Aber als ein Jahr später, im Balkankrieg die Türken die weißen Fahnen der Uebergabsbereitschaft auf den Zinnen des albanischen Skutari hißten, und ich mit einer Abteilung montenegrinischer 468 Soldaten in die lang genug belagerte Stadt kam, war unter diesen ein Prager Kriegsfreiwilliger, der »Blickob« heißen wollte.

Da ich daheim nie den Namen »Blitzkopf« gehört hatte, erst recht nicht in slawisierter Form, und da der montenegrinische Prager einen verstümmelten Finger hatte, schenkte ich seiner Beteuerung, sein Namen sei keine Silbenvertauschung, keinen Glauben. Wenn man mir einmal einen verkrüppelten Finger reicht, so will ich gleich die ganze Mörderhand, und niemand kann mich verhindern, zu glauben, daß sich der Muttermörder noch heute so sehr seines Lebens freut, wie alle Herren, die im Kriege fremden Müttern die Söhne ermordet haben.

Eine ganze Vitrine weist die Instrumente auf, mit denen das Ehepaar Valeš zu Krtsch das Liebespaar Takasz-Hanzely umgebracht hat: Ein Jagdgewehr, ein Strick, ein Revolver, ein Beil. Ein Revolver, der an der Wang hängt, war das Mordinstrument des Stadtbediensteten Wurm, der an dem Stadtrat Paružek Rache für seine Entlassung nahm. Mit einem Browning tötete Boček am Karsamstag 1908 den Detektiv Pétiletý und verletzte die Detektivs Lukeš, Binder und Hladik.

An Bočeks Bluttat erinnert überdies die Totenmaske seines Opfers, eine andere ist von dem im Nusler Tal von unbekannten Einbrechern erschossenen Polizisten Bartoš abgenommen worden.

Eine dritte Totenmaske ist die eines Anarchisten, der in Prag wegen Mordes justifiziert worden ist; an dem Gips ist die tiefe Strangulierungsfurche erkennbar. Ueber die Hinrichtung dieses Anarchisten, der Hofmann hieß, und in Kladno einen Ingenieur erschossen hat, ist nie etwas verlautbart worden, die letzten Worte, die er am Galgen sprach, wurden von Trommelwirbel übertönt. Ob er durch seine syndikalistische Tat nicht Hunderten von Bergmannsfamilien das Leben gerettet, weiß niemand. Sicher hat er aus Ueberzeugung 469 gehandelt, aller Gefahr zum Trotz. Aber du sollst nicht töten, sagten die, die ihn töteten . . .

Die älteste Mord-Reminiszenz, die sich im Polizeimuseum befindet, ist ein vergilbter Steckbrief der Prager Stadthauptmannschaft vom 1. Mai 1828. Er ist gegen zwei Fuhrleute aus der Umgebung Prags gerichtet gewesen, die im Vogtlande die Familie eines Landmannes töteten und beraubten. Der älteste Band des »Polizeianzeigers« – die amtliche Wochenschrift des Prager Sicherheitsdepartements – weist gleichfalls schon vergilbte Blätter auf; die Leute, deren Steckbrief in diesem Buche gedruckt sind, haben wohl schon längst ihre Strafen gebüßt. »Königl. Preußische Polizeidirektion in Prag.« Diese seltsame Inschrift trägt eine Stampiglie, die aus der Prager Preußenzeit des Jahres 1860 stammt. Nicht ausgestellt ist der Grubenhund, der in dem hochoffiziellen »Polizeianzeiger der k. k. Polizeidirektion Prag«, in die am 3. Juli 1902 erschienene Nummer dieser an alle Gendarmerie- und Polizeibehörden der Welt verschickten Fahndungsblätter, eingeschmuggelt worden war. Im Verzeichnis der steckbrieflich Verfolgten fand sich folgender Haftbefehl:

Kaiser Wilhelm (Sohn des in Charlottenburg bei Berlin internierten Kaiser Friedrich), der seinerzeit in der Irrenanstalt des Professors Buclow interniert war, ist vor einigen Wochen von dort entwichen und in Marienburg unter Anfällen von Redewut gesehen worden. Nach demselben ist eifrig zu fahnden und ein positives Resultat anher bekannt geben zu wollen.

K. k. Polizeidirektion Prag.

Das Amtsblatt mit dieser Majestätsbeleidigung war bereits an alle Aemter der Welt verschickt worden, als die vorgesetzte Behörde erfuhr, welches Mißgeschick ihr widerfahren war. Ein Urlaub des Leiters des Polizeianzeigers und ein Wechsel in der Leitung des Blattes waren die Folge, aber über die Person des Mystifikators wurde nicht einmal seinen nächsten Kollegen 470 etwas bekannt. Der Kaltblütigste aber von den die Affäre untersuchenden Beamten hätte sich nie die Möglichkeit träumen lassen, daß jener »Kaiser Wilhelm« wirklich einmal ein Flüchtiger sein werde, dessen Einlieferung und Stellung vor ein Gericht jemand zu verlangen wagen werde!

Verschiedenartig sind die Hilfsmittel der Betrüger. Wohl der genialste Schwindel, dessen Schauplatz Prag war, ist die lukrative Gründung des geheimen Telegraphenamtes durch Plocek und dessen Personal gewesen. Von Ploceks Hand stammen raffinierte Postanweisungsfälschungen. Nicht minder geschickt nachgeahmt sind Diplome, Totalisateur-Tickets und Dokumente, Stampiglien und Marken, Orden und Medaillen. Die ganze Einrichtung einer Münzfälscherwerkstätte und falsches Geld aller Sorten liegt zur Schau. An der Wand hängt ein Phantasiesäbel – der »amerikanische Oberstabsarzt Morocz« hat ihn 1899 in Prag getragen, bevor er verhaftet, als der langgesuchte Heiratsschwindler Theophil Lawczinski erkannt und an die Schweiz zur Bestrafung ausgeliefert wurde. Plombierte und verschlossene Pakete »russischen Tees«, die Sägespäne enthalten, magnetische Ringe, elektrische Stühle und anderes aus dem Warenlager großindustrieller Quacksalber, die präparierten »Glücks«-Spiele der Bauernfänger, die Schmucksachen der Ringwerfer, die reißend abgesetzten Kassetten der »Elektrischen Amalisations-Werke in Berlin SW«, welche einen Apparat zur Ersparung elektrischer Kraft enthalten sollten, aber in Wirklichkeit leer waren, und vielerlei ähnliches sieht man.

Es ist also recht reichhaltig, das »Museum« des Verbrechens, das der Turm des Polizeihofes einschließt. Vielleicht wäre es aber zu bereichern: Um Tabellen, welche den Jahresverdienst der Schundlektüreverleger zeigen. Um graphische Darstellungen, welche den Aufstieg von Fabriken diverser Sexual und Kriminalfilms sinnfällig machen. Um Steuerbögen der 471 Kupplerinnen und Bordellbesitzerinnen, und um die Verrechnung ihrer Dispositionsfonds. Um photographische Aufnahmen von Proletarierwohnungen, um Statistiken von Löhnen und Berufskrankheiten und hygienischen Verhältnissen in Betrieben. Um Darstellungen der chemischen und maschinellen Gefahren der Bergwerke und Fabriken, um die Sinnfälligmachung des Gesetzes von der kapitalistischen Akkumulation und ihrer Folgeerscheinung, des Pauperismus. Ueberhaupt um all das, was den Menschen zwingt, die Bahn der bürgerlichen Ordnung zu verlassen, sie zu hassen. Um all das, was ihn lockt, lieber ein Verbrecher zu sein, als ein unschuldig Ausgestoßener des Genusses, ein dem Tod geweihter Leibeigener.

Aber das gehört wahrscheinlich nicht hierher.

 


 << zurück weiter >>