Egon Erwin Kisch
Die Abenteuer in Prag
Egon Erwin Kisch

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III
Der Lokalreporter

Besuch bei den toten Sträflingen

Von dem dreiteiligen Gebäude, das im Norden des Strafanstaltskomplexes steht, bis zu dem kleinen Häuschen an der Ecke der Mauern mißt der militärische Wachposten 94 Schritte. 94 Schritte. Nicht einen mehr, nicht einen weniger. Der Soldat hat, sich langweilend, die Schrittzahl dieser Strecke, die ihm als Bewegungsraum zugemessen ist, nachgezählt: 94 Schritte. Das ist keine große Entfernung. Wenn in Sommernächten in dem dreiteiligen Gebäude, dem Anstaltsspital, die vergitterten Fenster offen stehen, dann konnte man in dem kleinen Häuschen das Husten und Hüsteln der Kranken hören. Aber in dem kleinen Häuschen ist niemand, der es hören könnte. Es ist die Totenkapelle. Für den, den man die 94 Schritte trug, gibt es keine Hoffnung auf Entlassung mehr, keine Hoffnung auf Flucht. Auch ihm öffnen sich die Türen der Anstalt nicht. In Mannshöhe ist in der Mauer ein kleines Loch sichtbar, verschlossen durch einen Deckel aus starkem Eisenblech. Durch dieses Loch schiebt man um sechs Uhr früh den schwarzen Holzsarg, auf den ein weißes Kreuz gemalt ist, ins Freie.

Draußen stehen sieben Sträflinge, von vier Justizsoldaten – auf den geladenen Gewehren sind Bajonette aufgepflanzt – bewacht. Man lädt den Sarg auf die Tragbahre. Die Klappe des Mauerloches wird mit einem Schlüssel versperrt. Der Kondukt rangiert sich. Ein Sträfling mit einem Kreuz voran, die sechs anderen tragen den Sarg. Die Bajonette, die geladenen Gewehre gehen neben und hinter dem Leichenzug. Ueber eine Viertelstunde lang bewegt sich der traurige Zug auf Feldwegen vorwärts, bis man den Anstaltsfriedhof erreicht hat. Dort verscharrt man den Toten, steckt ein Kreuz (zwei Holzlatten) an die Kopfseite des Hügels, 154 man läutet die Totenglocke in dem kleinen Turm und verläßt dann den Kirchhof, den niemand betreten darf, der nicht aus der Anstalt kommt. Es ist der einsamste Friedhof der Stadt.

In seiner Nähe liegt der große katholische Kirchhof von Pankratz, auf der Ebene »Grüner Fuchs«, zwischen Ober-Krtsch und Ober-Pankratz. Man geht seine Mauer entlang. Telegraphenstangen stehen an der Straße, rechts breiten sich Felder mit Düngerhaufen, auf denen sich hundert Spatzen gütlich tun, ein sorgsam mit Wachsleinwand überzogener Leierkasten spielt Gassenhauer. Plötzlich hört der Gottesacker auf, seine zementierte, gepflegte und gerippte, braune Wand. Eine andere Mauer flankiert den Weg – zerbröckelt, verwahrlost, ungepflegt. Ein Holztor zwischen zwei schmucklosen, viereckigen Pfeilern, deren obere Ecken abgebrochen sind, unterbricht das Mauerwerk. Wie das Tor eines Gehöftes sieht es aus, kein Kreuz, keine fromme Inschrift, kein Zierat belehrt vom Gegenteil. Sonst hätte wohl niemand an das Tor jene schweinischen Zeichnungen gekratzt, wie man sie gemeiniglich an den Wänden der Gasthausaborte findet, niemand Plakate geklebt: Biograph Jandacek lädt zum Besuch des neuesten Films. Am 27. Juli findet im Restaurant »Am Bahnhof« in Krtsch zu Ehren aller Annen eine große Garten-, Konzert- und Tanzunterhaltung statt. Von anderen Plakaten flackern nur Fetzen im Wind, und unter ihnen sind rhombische, obszöne Palimpseste sichtbar.

»Das ist der Friedhof der Sträflinge«. Ein Mann sagt das, der bezecht den Weg entlangtorkelt.

»Ich danke vielmals, ich wußte es schon.«

»Du wußtest es? Also bin ich ein Vieh, weil ich es gesagt habe.«

»Oh, nein. Sie konnten ja nicht wissen, daß ich den Friedhof kenne.«

»Nein, nein. Ich bin ein Vieh.« Dem Betrunkenen gefällt es, sich wegen seiner überflüssigen Mitteilung zu 155 beschimpfen, sich dadurch zu geißeln, daß er hartnäckig und weinerlich betont: »Ich bin ein Vieh.« Dann schwankt er von dannen.

Es wäre nicht unwichtig, den Friedhof anzusehen und zu beschreiben, den kein Bädeker, keine Chronika schildert, es wäre nicht unwichtig zu wissen, wie der Staat für die in seiner Obhut Gestorbenen sorgt, ob das Ausgestoßensein auch über den Tod hinaus dauert. Aber gerade dem Journalisten, der solches zu erfahren wünscht, hat es das Justizministerium in einem eigenen Erlasse verboten. Und die Oberstaatsanwaltschaft hat es ihm heute mitgeteilt. Und der Bescheid ist in des Journalisten Tasche. Und ist eine rekommandierte Dienstsache, schwarzgelb versiegelt:

Nr. 10231/11 G. W.

k. k. Oberstaatsanwaltschaft in Prag

An Herrn . . . ., Redakteur in Prag.

Zufolge Erlasses des k. k. Justizministeriums vom 7. März 1911, Z. 5974/11, kann Ihrem an dasselbe gestellten Ansuchen um Erteilung der Erlaubnis zum Besuche der k. k. Männerstrafanstalt Pankratz, beziehungsweise des Anstaltsfriedhofes keine Folge gegeben werden, da nach der Justizministerialverordnung vom 17. August 1887, Nr. 28, V. Bl., im Interesse des ungestörten Dienstganges in den Strafanstalten und zur Wahrung des Ernstes der Strafe die Besichtigung in der Regel nur zu wissenschaftlichen oder dienstlichen Zwecken gestattet werden kann.

Prag, am 15. März 1911.

Merhaut, m. p.

Das sieht der Adressat gewiß ein: den ungestörten Dienstgang im Sträflingsfriedhof darf er nicht stören. Und wenn er's auch nicht einsehen würde: kann jemand, 156 der die Obrigkeit ehrfürchtig achtet, ein so präzis an ihn gerichtetes Verbot des Justizministeriums und der Oberstaatsanwaltschaft mißachten? Nein, das kann er nicht, auch wenn er ein aus Berufspflicht neugieriger Journalist ist.

Ueberdies ist die Mauer zwei Meter hoch. Mit einem Sprung kann man allerdings die Hände an ihren Rand festkrallen. Aber ob man sich hinaufziehen kann, ist fraglich. Zum Glück ist diese kleine Rille in der Mauer ein Stützpunkt für den rechten Fuß. Oben wäre man. Ein Sprung – nur zwei Meter tief! – und man wäre drinnen. Der Erlaß . . .? Ach was! Schon ist der Zeitungsschreiber drüben.

Kein Personal ist da, keine Grabgäste, kein Friedhofswärter, kein Totengräber, kein Totenglöckner, kein Küster. Mutterseelenallein geht ein Lebender durch Totenzeilen.

Da liegen die Gräber, in Reihen zu zwanzig, alle gleich. Nur unten, in den rückwärtigsten Reihen, sind die Holzkreuze dunkelgrau und verwittert, in der letzten (noch unvollständigen) Gräberreihe zeigen die zwei ungehobelten, unlackierten Latten, die das Kreuz bilden, das Gelb von Kistenbrettern. Keine Blume schmückt ein Grab. Nur staubiges Gras wuchert spärlich auf Hügelchen. Nesseln, Disteln, Huflattich, Löwenzahn und allerhand anderes Unkraut freuen sich hier des Lebens. Hier und da wächst ein pietätvolles Gänseblümchen über einem der Gräber. Dort liegt sogar ein Kranz zu Füßen des Kreuzes. Ein alter, seit Jahren verwelkter Kranz. Und doch ist er einst grün gewesen. War von Treue geflochten, die weiterlebte, als jener zum zweiten Male starb, dem sie galt. Nun ist der Kranz braun, verwelkt, zerzaust, spröde.

Keine Inschrift ist auf den Gräbern, nicht einmal der Namen des Beerdigten. Warum? Ist es Zartgefühl, daß man dem Namen des im Kerker Verstorbenen keine Schande mehr bereiten will? Ist es die Befürchtung, daß sich Neugierde, Haß oder 157 Blutrache noch gegen das Grab des Verbrechers kehren könnte? Oder aber soll jener, der als Nummer lebte, und als Nummer starb, auch nur als Nummer beerdigt sein? Denn nur Ziffern, mit einer Schablone aufgezeichnet, sind auf den Kreuzen. Es sind nicht dieselben Nummern, mit denen man den Sträfling zu seinen Lebzeiten drüben im hochummauerten Totenhaus rief. Der Tod hat eine andere Reihenfolge eingeführt: Die Zellen in der Erde sind so numeriert, wie sie nebeneinander liegen. Unten das graueste, verwittertste Kreuz in der Ecke rechts vom Eingang trägt einen Einser an der Stelle, wo sich die Latten kreuzen. Auf dem letzten Grab hebt sich der Nagel, mit dem die zwei schmalen Bretter zur Kreuzesform zusammengefügt sind, vom Gelb des Holzes ab und kein Gras beglückt noch den Hügel: das ist Nummer 380.

Alle ruhen sie nun, die namenlos Unglücklichen namenlos nebeneneinander, so wie sie der Tod zur Gerichtsverhandlung rief, die Lebenslänglichen und die Sechsmonatigen, die alten Diebe und die Fanatiker ihrer Weltanschauung, die Jugendlichen und die Gewohnheitsverbrecher, die Raubmörder neben jenen, die besinnungslos ein Messer zückten, als sie sich von der Liebsten betrogen sahen. Alle nebeneinander. Der Tod, letzter Nachrichter, kennt keinen Unterschied zwischen schwerem Kerker und Arrest, zwischen Einzelzelle und Jugendlichenhaft, er hebt die Unterschiede auf, – nein, er hebt sie nicht auf. Unten an der Eingangsmauer gibt es einen Winkel, in dem sechs Gräber, räumlich weit von den anderen getrennt, gegraben und aufgeschüttet sind. Sind es die letzten Wohnstätten jener, die den geistlichen Trost vor dem Tode abgelehnt haben, sind es die Totenzellen der ruchlosesten, reuelosen Mörder, denen man nicht einmal auf diesem Armensünderfriedhof das »ehrliche« Begräbnis gewährte, nicht einmal der Totenruhe neben anderen würdig fand? Wer sind die sechs Verfehmten, für die unter den anderen Verfehmten kein Platz ist? Es sind die Selbstmörder, sind 158 die, die mit ihrem Handwerkzeug unbemerkt ihre Bettdecke zu einem Streifen zu zerschneiden vermochten, um sich auf dem Gitterwerk des Fensterwerks aufzuhängen, es sind die, die mit eigener, frevelhafter und unberufener Hand die Haft verkürzten, die ein unfehlbarer, weiser Gerichtshof über sie verhängt hat, es sind die, die eine Strafe an sich vollstreckten, die das Gesetz für ihr Verbrechen nicht vorschreibt und zu deren Vollzug es der kaiserlichen Bestätigung bedarf. Nun müssen sie abseits liegen, zur Strafe für ihre letzte Tat auf Erden, zum abschreckenden Beispiel für die anderen. Aber wer kann wissen, ob der Blick, mit dem manchmal die schaufelnden und begrabenden Sträflinge den Selbstmörderwinkel streifen, nicht doch ein neidvoller, ein sehnsüchtiger ist, und einen Wunsch birgt?

Zwei Gräber weisen einen anderen Schmuck auf, als das Holzkreuz. Das eine, Nummer 79, ist mit einem von Wind und Wetter so arg mitgenommenen Bronze-Kruzifix geschmückt, daß man nicht einmal mehr erkennen kann, ob die Aufschrift im Laufe der Jahre unleserlich geworden ist, oder ob es überhaupt nie eine Aufschrift getragen hat; an dem kleinen Grabmal schlingt sich Efeu empor. Das andere Grab aber hat eine breite Gruftplatte und ein schön ziseliertes, großes Kruzifix, zu dessen Füßen zwei Engel knien, und eine Gedenktafel. Aber gerade vor die Tafel hat die verschämte Verwandtschaft eine dichte Föhre gepflanzt, durch deren Gezweig man sich quetschen muß, um zu entziffern, daß hier Josef O. ruhe, der am 20. Februar 1896 im 39. Lebensjahre starb. »Heilige Maria, Mutter Gottes, gebe ihm ein feierliches Auferstehen im Heiland Jesus Christus!« Das ist die einzige Inschrift, der einzige fromme Spruch auf dem ganzen Kirchhof.

Vom Eingang des Friedhofes führt ein Weg, der den Kirchhof in die Hälfte teilt, zum gegenüberliegenden Teil der Mauer. Dort steht ein winziges Häuschen mit einem etwa drei Meter hohen, filigranen Türmchen, das wie ein Miniatur-Minaret aussieht. Es ist der 159 Glockenturm, zu dem unten eine von Rost feuerrote Blechtüre führt. Oben hängt die Glocke. Sie ist Armesünderglöckchen und Totenglöckchen zugleich.

Auf dem unteren Teil des Weges, der den Kirchhof teilt, sind sechs Tannenbäume gepflanzt. Die links vom Wege gelegene, an den katholischen Friedhof angrenzende Hälfte des Sträflingsfriedhofes ist spärlich mit Grasbüscheln bewachsen und noch frei von Gräbern. Beim Glockentürmchen liegt ein zerbrochener, verrosteter Blechkrug, nicht weit davon die zwei Hälften eines morschen Sarges. Sonst ist hier nichts zu sehen.

Der unberufene Besucher des Friedhofes klettert also »de profundis« wieder über die Mauer. Arbeiter, Teller und Schüsseln in Tüchern eingepackt, kommen des Weges und schauen lange erstaunt, verdächtigend und unwillig dem Manne nach, der sich eben, sichtlich bewegt, über die Mauer des Armesünderfriedhofes geschwungen hat. 160

 

Als Hopfenpflücker ins Saazer Land

In der städtischen Arbeitsvermittlungsanstalt in der Bethlehemgasse drängte ich mich lange mit Beschäftigungslosen, bis ich scheu, schäbig, devot um Arbeit als Hopfenpflücker bat. Doch sagte mir der Beamte stolz:

»Damit befassen wir uns nicht.«

»Wo ich mich erkundigen dürfe?« wagte ich schüchtern weiter zu fragen.

In der Landesanstalt, Thomasgasse 26, werde ich Auskunft bekommen. Also schlich ich auf die Kleinseite. In dem schönen Haus neben »Schnell«, wo die prächtige Hubertusgruppe das Portal ziert, ging ich in den ersten Stock. Ich klopfte unterhalb der Tafel »Landeszentralanstalt für unentgeltliche Arbeits- und Stellenvermittlung« an die Tür. Ein Diener kam heraus und fragte mich auf dem Gange nach meinem Begehr. Ich wolle Hopfen pflücken gehen. »Ich werde fragen,« wurde mir zur Antwort, und der dienstbare Geist verschwand. Bald war er wieder da:

»Da müssen Sie in die städtische Anstalt gehen, in die Bethlehemgasse.«

»Dort war ich eben, und man hat mich hergeschickt.«

»Ich werde fragen.«

Wieder verschwand der Diener, aber es dauerte diesmal beträchtlich länger, bevor ich ihn wiedersah. Ich setzte mich auf die steile Holzstiege und wartete. Nach geraumer Zeit kam der Diener wieder. Ich solle nur nochmals in die städtische Anstalt gehen, man habe eben hintelephoniert. Also ging ich in das Amt zurück, in dem man sich »nicht damit befaßt«.

»Die Herren von der Kleinseite schicken mich wieder her. Ich möchte zur Hopfenpflücke gehen.«

»Das ist zu spät, da hätten Sie vor dem 13. Juli kommen müssen.« 161

Dazu hatte man mich von der Kleinseite hergeschickt? Hätten sie diese Ausrede nicht gleich beim telephonischen Gespräch in der Landesanstalt erwähnen können? Denn daß dies eine Ausrede war, lag klar auf der Hand. Am 13. Juli braucht man keine Hopfenpflücker aufzunehmen, und außerdem hätte man mir den wirklichen Ablauf einer Aufnahmefrist schon beim ersten Besuch mitgeteilt. Ich schloß, daß sich nur wenige Leute aus Prag zur Hopfenpflücke zu melden pflegen. Ich irrte mich, wie ich später erkannte. Der Zuzug aus Prag ist enorm, nur liegt hier die Vermittlung größtenteils in privaten Händen, woraus sich mannigfache Uebelstände ergeben.

Ich dauerte den Beamten der Stellenvermittlungsanstalt; denn ich hatte tschechisch gesprochen und sah schäbig, scheu, devot aus.

»Warum gehen Sie nicht als Diener oder als Bote? Wollen Sie nicht?«

Ich schüttelte schmerzlich verneinend den Kopf.

Die beiden Beamten schauten sich verständnisinnig an; es war klar, daß ich ein Dieb sei, der wohl wisse, in Prag kein Wohlverhaltungszeugnis und deshalb auch keinen Posten zu finden. Entlarvt und beschämt verließ ich die Anstalt.

Natürlich gab ich den Plan nicht auf und bereitete mich vor, mich im Saazer Land direkt bei einem Produzenten anwerben zu lassen. Im Magistratsgebäude bewarb ich mich um einen Heimatsschein. »Ich bin Handlungsdiener,« log ich auf die Frage nach meinem Beruf. »Wo angestellt?« – »Stellungslos.« Also nur eine Dreißigheller-Stempelmarke. Die holte ich. In den Büchern schaute man nur nach, ob die Angaben über meine Eltern und mein Geburtsdatum stimmten. So bekam ich einen prachtvollen Heimatschein (Nr. 1119), auf dem Bürgermeisterstellvertreter Kafalicky und Stadtverordneter Vavrovsky bescheinigen, daß ich stellungsloser Handlungsdiener bin. 162

Ich trug einen formlosen Schlapphut, der in allen Farben spielte, ein blaues Hemd mit einer koketten Quaste um den Hals, ein Paar Zugstiefel mit großen Lederflicken auf der Oberseite, einen zerrissenen, grauen Rock, zerfranste, bis zu den Knöcheln reichende, einst blau gewesene Hosen, eine zerschliffene schwarze Weste, lange Unterhosen, deren gelbe Bandel über die roten Socken gebunden waren, und einen Knotenstock, der durch eine Lederschlinge sinnreich zum Baumeln am Unterarm hergerichtet war. Ein wachsleinenes Felleisen mit etwas Reservewäsche trug ich um den Leib. Was mir fehlte, war die Erfahrung, daß man auch einen Mantel und ein Paar bequeme Hausschuhe für Scheuer und Hopfengarten mithaben müsse. Außerdem hatte ich keinen Litertopf für Milch und keine Flasche zum Mitnehmen aufs Feld. Für diese beiden Dinge mußte ich später draußen fünf Kreuzer bezahlen, die einzige Ausgabe, die ich während meiner Tätigkeit als Feldarbeiter und Hopfenpflücker hatte.

Früh drückte ich mich am Staatsbahnhofe in die Ecke des Wartesaales. Drüben, wo die Einfahrtshalle an die Havlicekgasse grenzt, drängten sich Männer und Frauen mit riesigen Ballen, Körben und Polstern. Die meisten saßen auf diesem Gepäck.

»Sind das Hopfenpflücker?« fragte ich den Kondukteur.

Er nickte nur unmerklich mit dem Kopfe, voll Geringschätzung gegen den Fragesteller.

»Kann ich nicht auch hinausgehen? Hier meine Fahrkarte.«

Er stieß mich unsanft zurück. »Warten Sie nur, bis aufgerufen wird!«

Man würde gar nicht glauben, wie unangenehm es ist, wenn man am eigenen Leibe die nur wenigen bekannte Erfahrung spürt, daß Kleider Leute machen.

An den »8 Uhr 30 Min.-Personenzug« werden von der zweiten Augustwoche ab Waggons für die Hopfenpflücker angehängt. In dem Waggon, in den ich mich 163 setzte, drängte sich ein Dorf aus dem Taborer Kreise: Greise, Mütter, Säuglinge, Burschen mit Tabakspfeifen und Mädel mit geblümten Kopftüchern. Ungeheure Ranzen wölbten sich von einem Gepäcknetz zum andern. Drohend hing ein Damokles-Federbett über meinem Haupt. Mir gegenüber saßen zwei Weiber aus Michle, wie man ihren Reden schnell entnehmen konnte. Sonst gehörten alle zu dem einen Dorf.

Die Dorfbuben wollten am Fenster sitzen, rauften sich um die Plätze und kriegten von resoluten Frauen Ohrfeigen.

»Hee, Tramway – seht, die Tramway,« rief einer der sie erspäht hatte. Alles stürzte zum Fenster. Wirklich, sie fährt ohne Pferde. »Siehst du, wie sie sich bewegt, ohne Pferde?« fragt ein Vater seinen Buben, und der Bub nickt, weniger erstaunt, als sein Vater, der hinunterstarrt. Sollte es wirklich noch Dörfer geben, die kein Pneumatikreifen der Automobile passiert hat?

Ich denke gespannt nach, seit wann wir die Elektrische haben. Ich glaube seit zwanzig Jahren.

Dickbäuchige Krüge, die vertikal mit ungelenken, grünen und blauen Pinselstrichen »bemalt« sind, kreisen in der Runde. Kalter Kaffee ist darin. Auch gegessen wird tüchtig, runde, mit Powidl geschmierte Kuchen, Fleischerwürste und Mohnbuchten werden ausgepackt, die Tabakspfeifen immer von neuem gestopft.

Der Ausstellungsplatz wird sichtbar. Wieder will alles einen Blick von jener Herrlichkeit erhaschen, von der Wunderdinge bis ins letzte Dorf gedrungen sind.

Im Tunnel zwischen Baumgarten und Bruskabahnhof kreischen die Kinder, die Weiber hänseln einander laut. »Gib acht, Horak Anna, daß dir dein Mann nicht untreu wird.« Die Burschen brüllen noch lauter. Die Dunkelheit weicht dem Grau, dann wird es hell und ein bißchen ruhiger.

Die beiden Weiber aus Michle machen sich mit lauten Glossen und brutalen Scherzen über die »Dorfkracher aus Balikov« lustig. Sie sind anscheinend 164 ungemein stolz darauf, daß sie zum Prager Polizeirayon gehören oder – wie sie sich ausdrücken – »daß für sie der grüne Anton bei der Schubfahrt vor der Marienstatue am Altstädter Ring Hall machen müßte«. Die beiden sprechen auch von ihren eigenen Angelegenheiten. Eine ist Strohwitwe, aber nach drei Monaten kehrt ihr Mann wieder zurück. Kein anderer hat ihn verraten, wie der Vanek; aber der wird's schon bekommen, bis mein Alter wieder draußen ist.

Die zweite erzählt von ihren ehelichen Freuden. Gestern hat ihr Mann im Rausche in der Wohnung das ganze Geschirr zerschlagen. Mindestens um vierzig Kreuzer Töpfe! Darauf ist sie weggelaufen und früh zur Hopfenpflücke gefahren. –»Er wird mich schon suchen, der besoffene Schweinkerl.« –»Mir gefällt mein Mann gerade, wenn er besoffen ist,« beteuert die Strohwitwe, »wenn er nicht besoffen ist, traut er sich nicht ins Geschäft.« Sie meint wohl in ein fremdes Geschäft . . .

Die Strafanstalt Repy wird sichtbar. »Die Sykora ist wieder dort,« erzählt die eine der Michlerinnen.

Die Bauern sprechen inzwischen vom Hopfen. Einer sagt zu seinem Jungen: »Früher ist man nicht so schön mit der Bahn zum Pflücken gefahren, zu Fuß mußte man gehen.« – »Achtundzwanzig Jahre bin ich zu Fuß zum Hopfenzupfen gegangen,« bekräftigt eine grauhaarige Frau, »und wie der alte Rudka beim Pflücken in Trnowan gestorben ist, da haben wir die Leiche sechs Tage lang zu Fuß nach Hause getragen.«

Andere Reminiszenzen werden aufgefrischt: vom Pfarrer in Rossow, der immer mit auf die Pflücke gezogen ist, wie einmal in Rakova Lhata das ganze Dorf abgebrannt ist, weil fast alle Leute aus der Gegend zur Hopfenpflücke fort waren und niemand zum Löschen da war, von einem Landsmann, dem bei Loboritz in der Scheuer achtzig Bestätigungsmarken für gepflückten Hopfen gestohlen wurden. Und dergleichen. 165

In Kladno kauft man Trinkwasser von einem Weibe, das den Zug entlang geht. Ein fünfzehnjähriger Dorfbursche aber möchte gerne ein Glas Bier trinken. Die Mutter lehnt es ihm ab. Auf der Rückfahrt da gibt's Geld, da kannst du trinken. Ein Aelterer nimmt sich doch ein Bier. Zwölf Kreuzer muß er bezahlen. »Zwölf Kreuzer für den Tropfen Bier,« entsetzt ruft es die Bäuerin. »Da wird wohl das Glas auch mitgerechnet sein,« tröstet einer. Ein Hoffnungsschimmer belebt das Gesicht der Hausfrau: »Schau nach, ob der Kellner auf das Glas wartet,« weist sie ihren Buben an. Welches Glück, der Kellner wartet nicht! Das geleerte Glas geht nun kritisch gemustert von Hand zu Hand, dann wird es sorgsam verpackt.

Hinter Krupa und Kaunowa beginnt das Aussteigen der Pflücker. Bald verläßt auch das Dorf den Waggon. »Da haben Sie etwas vergessen,« schreien ihnen die zwei Weiber aus Michle nach. Einige Dörfler kehren erschreckt in den Waggon zurück, wo die beiden Weiber auf mein Felleisen deuten. »Das gehört nicht uns,« erklären die Dörfler treuherzig. »Schade,« erwiderten die beiden Weiber und lachen sich halb tot. In Trnowan steigen auch sie aus.

Auf der Landstraße zieht eine Zigeunerfamilie ihren Wagen ins Hopfenlandl.

In Saaz vor dem Bahnhofe scharten sich fragwürdige Gestalten zu einer Gruppe. Ihr Gepäck war auf dem Platze hochaufgeschichtet: eine Frau sprach mit dem Verwalter der Saazer Stellenvermittlungsanstalt, Burschen, Frauen, Männer, Mädel standen um sie herum. Daß es Hopfenpflücker waren, lag klar auf der Hand. Ich schlängelte mich an einen Jüngling heran, der unschwer als Landsmann zu erkennen war.

»Menschenkind, kann ich mich zu Eurer Partie hinzuaddieren?« fragte ich in der blumigen Redeweise des wilden Westens von Prag.

»Da mußt du die Frau Mracek fragen, die dort mit dem blauen Kopftüchel, das ist unsere Pantafirka.« 166

Frau Mracek hatte eben ihr Gespräch mit dem Verwalter beendet und verkündete die Lohnbedingungen: Zwanzig Heller für den Viertelhektoliter gepflückten Hopfens, außerdem für die Erwachsenen täglich einen halben Liter Milch und einen Liter Kartoffeln; vom Lohn werde allabendlich ein Vorschuß von 16 Hellern für jeden gepflückten Viertelhektoliter gewährt. Die ersten Tage würden wir Arbeiten auf den Feldern leisten müssen zum Lohn von zwei Kronen für jeden Mann und 1 Krone 40 Heller für jede Frau; außerdem das erwähnte Quantum von Milch und Erdäpfeln.

Die Verkündigung war zu Ende. Ich trat auf Frau Mracek zu, bot mich an und wurde – da ohnedies bloß achtzig statt vierundachtzig bestellter Leute gekommen waren – engagiert. Sie nahm mir meinen Heimatschein ab. Ich sollte nur gleich aufsteigen, bis der Leiterwagen komme.

Inzwischen standen wir in Gruppen. Nachdem ich verschiedene Fragen, Verhöre, Verdächtigungen und intensives Bedauern über mich hatte ergehen lassen müssen, wußte ich die Genesis der Platte. Frau Mracek aus Nusle hatte inseriert, daß sich Hopfenpflücker bei ihr melden könnten und war nun mit achtzig»Arbeitslustigen« zu halbem Fahrpreis nach Saaz gefahren, von wo es im Fuhrwerk zu dem Gute gehen sollte, das sich die Arbeitskräfte verschrieben hatte.

Die Gesellschaft war ziemlich gemischt. Man bemerkte unter den Anwesenden: Strolche aus Wrschowitz, einen Handelsmann aus Zizkow, dem vor kaum Monatsfrist unmittelbar nach dem Einbruch bei Professor Mach das Geschäft von der Polizei ruiniert worden war, einen Herrn mit schwarzgerändertem Zwicker, einem wenn auch schmutzigen Stehkragen und hochtrabender Ausdrucksweise, in der er jedem erzählte, daß er Medizin studiert habe, dann Beamter des Böhmischen Fremdenverkehrsverbandes und zuletzt provisorischer Beamter einer Bank gewesen sei, weiters zwei englisch angezogene Handlungsgehilfen, die sich 167 Geld für eine Fahrt nach Dresden verdienen wollten, Fabriksmädel aus der »gelben Republik« auf der Holleschowitzer Heide, einen sozialdemokratischen Geschäftsdiener mit Frau und Kind, einen Schulmeister, der am 1. August delogiert und dessen Möbel in den Gemeindehof gebracht worden waren, einen Reitknecht, dem die Mütze auf der Fahrt aus dem Kupeefenster geflogen war, und der nun in einem bunten, um den Kopf gebundenen Tuch komisch aussah, einen lahmen Hausierer, der in Gasthäusern Zwiebeln, Häringe, Rollmöpse und Ungeziefer umherträgt, und eine bekannte Trinkerin, mit schwermütig-schmutzigen Gesichtszügen. Die Mehrzahl der fröhlichen Hopfenbrüderschaft waren Ehepaare, insbesondere die Holleschowitzer Burschen und Mädel waren verheiratet. Sehr viele Kinder liefen umher.

Endlich kam ein Steirerwagerl, auf das das Gepäck geschlichtet wurde, und bald darauf auch ein Leiterwagen und ein Fuhrwerk für die Neuangekommenen. Auf dem Lastkarren finden dreißig Personen Platz, Riesenhengste können kaum vom Platz, man kann sich vorstellen, wie zusammengepfercht wir sind. Windschief stehen, balancieren und hängen die Pflücker im Wagen, die Gliedmaßen sind verfitzt, kreuz und quer schwirren Zurufe und Gespräche, gelangen an falsche Adressen, werden mißverständlich aufgefaßt und an unrichtige Absender zurückgegeben, Witze und Spässe und Verspottungen durchzucken den Lärm, Gelächter, ironische Beifallsbezeigungen, aufreizende Anfeuerungen hervorrufend. »Achtung auf Gusta, der macht seine Hochzeitsreise.« – »Natürlich,« lacht Gusta, »wir werden doch nicht zu Hause bleiben, wo unser Dienstmädchen zuschaut, wenn wir uns küssen!«

»Der Franz sitzt bequem, der ist halt gewohnt, im Fiaker zu fahren.«

»Na, nicht so wie du,« erwiderte Franz, »du fährst immer in der grünen Equipage und hast vorn und rückwärts einen Lakaien in Uniform mit Federbusch.« 168

Ueber die Egerbrücke geht es, über den Spittelplatz, wo man Gurken kauft, durch die Lastenstraße weiter. Ueberall mustern uns Blicke. Eine Saazer Bürgerin ruft uns zu:

»Geht's e weng runner vun Wogn, es kummt e Berg, die Pfer' kennen's net erziehe.«

So unverständlich den Passagieren die Worte des Saazer Dialektes sind, sie verstehen doch gut, was die Frau will. Der Lärm, der nun losgeht! Die ganze Blütenlese des Argots von Podskal und Frantischek wird gegen sie losgelassen, kein Schimpfwort, kein Fluch, keine duftende Phrase, mit dem die Tierfreundin nicht bedacht würde, die natürlich zu ihrem Glücke von all dem gegen sie gerichteten Kreuzfeuer kein Sterbenswörtchen versteht.

Links blickt vom Berge die Stadt Saaz in das Egertal. Schwarze Türme von robustem Bau, wuchtige Wälle, gegen die einst die Mauerbrecher der Hussiten angerannt sind, und hohe Kuppeln drohen in das Land. Dunkel getönte Entschlossenheit ist auf diesem Gemälde aus der Ritterszeit, und da sich bei der Weiterfahrt zwischen den Beschauern und die gebieterische Burglandschaft die dünnen Stämme der Hopfengärten in schnurgerader Reihe stellen, sieht es aus, als ob ein ungeheures Heer von Reisigen mit ihren Lanzen in Reih und Glied unten vor der Feste stünde. Bald schwindet das historisch-kriegerische Gemälde, die Landschaft wird sonnig und friedlich, grüne Rübenfelder, weites Kornland, und auf den Kuppen der Berge schwelgt der August. Nun sehen auch die Hopfengärten nicht mehr so feindselig aus, sie sind jetzt schwermütige Parkanlagen geworden, die Lenotres Gartenmesser kunstvoll gerade geschnitten.

Der Lärm im Leiterwagen dauert fort. Bekanntschaften werden angeknüpft. Keiner will nur des Geldes willen herausgefahren sein. Alle nur zum Jux. »Man muß doch ein bisserl auf die Sommerfrische.« 169

»In der Zeltnergasse ist ein Herr, der hat vier Häuser und fährt jedes Jahr auf die Hopfenpflücke,« erzählt eine Frau.

»Na, ja. Das ist ganz begreiflich.« Alle bestätigen gern den Unsinn vom hopfenpflückenden Hausherrn.

Mir gegenüber lehnt an einem Sparren des Wagens ein Fabriksmädel, das gewaschen vielleicht noch häßlicher wäre. Sie hat mich gemustert und fragt mich dann ungeniert und mit eindeutigem Interesse: »Hast du ein Mädel mit?« Nein, ich habe keines mit. Mehr erwiderte ich nicht, obwohl der gute Ton die Antwort erheischen würde. »Ich werde mir mit dir eine Bekanntschaft machen.« Sie läßt sich durch das Ausbleiben dieses Angebotes nicht irre machen und wird noch deutlicher: »Ich habe auch keinen Burschen mit.«

»So, so.«

»Wie heißt du?« fragt sie weiter.

»Eman« Weniger um meinen wirklichen Namen zu verheimlichen, als um nicht durch dessen Ungewöhnlichkeit Verdacht zu erregen, wähle ich diesen Nom de guerre.

»Ich heiße Wiltscha.« Dann erfahre ich noch von ihr, daß sie in Holleschowitz in der Hutfabrik arbeitet und daß sie großartig tanze und daß die Burschen »auf sie ganz hrr sind.« Ich bin aber gar nicht »hrr« auf sie. Trotzdem kommt ein Gespräch zustande.

Endlich hält der Wagen. Wir werden in ein einstöckiges Gesindehaus gewiesen, das am schmutzigen Ententeich steht. Es besteht aus vier quadratischen Zimmerchen zu ebener Erde, aus vier quadratischen Zimmerchen im ersten Stockwerk, zu dem eine Hühnerstiege führt. Zwei von den Räumen sind schon von Bauernfamilien, die zur Pflücke kamen. belegt. Die Wände sind kahl und weiß, der Fußboden spärlich mit Stroh belegt. Kein Einrichtungsstück, nur in einigen Räumen sind Oefen. Hier werden Familien einquartiert, die verheirateten Leute, – aber nach einem Trauschein wird nicht gefragt. Auch die ganz ledigen Mädel 170 finden in diesem Zimmer Unterkunft. Die mädchenlosen Burschen, zwanzig an der Zahl, werden in einem Zimmerchen von je zweieinhalb Meter Länge und Breite untergebracht, acht liegen auf jeder Seite und in der Mitte beim Fenster gegenüber der Tür auch zwei. Man male sich aus, wie wir zusammengepfercht sind. Jeder hat einen Schlafraum von 31 Zentimeter Breite zur Verfügung. Die Burschen ziehen Nägel aus den Taschen, schlagen sie mit Stöcken in die Wand und an die Dachbalken und hängen Ranzen, Mäntel und Stöcke daran auf.

»Ein eleganter Kleiderrechen ist zu vergeben, fünf Kronen zum ersten, zum zweiten – gibt niemand mehr? – und zum drittenmal!«

»Hier hängt mein Mantel! Anton, wenn du mit ihm Bruderschaft trinken wolltest, so zieh' ich dir die Haut herunter und lasse mir daraus einen englischen Ueberzieher nähen.«

Einer tut so, als hätte er auf dem Fußboden Ungeziefer erspäht. »Hallo, da kriecht eine.« Er schlägt mit der Mütze auf das imaginäre Ziel. Der Schneidergehilfe, der neben mir liegt, ruft erschrocken »Wirklich eine Wanze?« Ein Tapezierer, der seit neun Jahren arbeitslos ist, will ihm an ästhetischem Empfinden nicht nachstehen, und fügt hinzu: »Das wäre sehr unangenehm.« Die meisten aber brummen gleichmütig: Af si – meinetwegen!«

Zwei raufen sich wegen des Platzes an der Wand, zwei andere wegen der Strohunterlage. Auch in den anderen Zimmern gibt es Wohnungsstreitigkeiten, man hört wütendes Gekreisch von Weibern, Frau Mracek, die Partieführerin, hat die Einteilung vorgenommen und sucht die Streitigkeiten zu schlichten, so gut das eben geht.

In unseren Junggesellensalon kommt sie immer, um mit witzelnden Bemerkungen die Mädel hinauszudrängen. 171

Auch Wiltscha ist fortwährend da. Sie kränkt sich sichtlich, daß ich unter die ledigen Leut' gezogen bin . . .

Es war drei Uhr nachmittags, also nicht mehr daran zu denken, daß wir an diesem Tage noch die Arbeit aufnehmen würden.

Als Frau Mracek am Bahnhof die Lohnbedingungen verkündigt hatte, waren alle einverstanden gewesen. Jetzt, da sich die Leute in dem Orte zu Gruppen ballten, kam es zu Erörterungen, zu Erwägungen, zu Unzufriedenheiten, zu Befürchtungen, zu Vorschlägen. Besonders jene, die im Leiterwagen nicht genug hatten beteuern können, daß sie nur spasseshalber hinausgefahren seien, waren für Erhöhung des Lohnes um zwei Heller. Einer hat die Befürchtung ausgesprochen, daß die vier Hopfengärten des Gutes schon binnen drei Wochen abgepflückt sein könnten, während in anderen Hopfenplantagen mindestens vier Wochen lang gearbeitet wird; man werde dann in der letzten Woche nicht anderswo wieder Arbeit finden können.

Der Exmediziner mit Zwicker und dem Stehkragen hat das Bedürfnis, mit seiner Intelligenz zu protzen, und richtet von Zeit zu Zeit mit erhobener Stimme Phrasen an die Versammelten: »Wir werden klug erwägen, wie die Verhältnisse liegen und werden uns danach richten.«

Bravo, bravo! Man beschließt, zur Gutsverwaltung zu ziehen und dort die Forderungen vorzubringen. Alle müssen mit. Die Dörflerfamilien werden herbeigeholt, auch Frau Mracek wird gerufen. Die ist nichts weniger als sympathisch berührt von der Bewegung, die da entstanden ist. Sie bekommt für jeden Hopfenpflücker, den sie brachte, und für jeden Tag, den ihre Partie bleibt, von der Gutsverwaltung eine beträchtliche Vermittlungsgebühr.

In geschlossenem Zuge geht es zum Verwaltungsgebäude, die umhertollenden Kinder eröffnen, die friedlichen Dörfler beschließen den Zug. 172

»Der Johann soll unterhandeln,« wollen die Leute. Aber der Handlungsdiener lehnt diese Mission ab. »Warum soll ich mir den Mund verbrennen? Soll nur Frau Mracek hineingehen, sie ist Pantafirka, sie weiß, was wir wollen und soll unsere Wünsche vortragen. Wir werden sehen, was sie ausrichtet, und werden dann beschließen!«

Bravo, bravo! Frau Mracek soll hineingehen (die Republik mit dem Großherzog an der Spitze). So ging die Partieführerin zum Verwalter hinein. Wir warteten draußen. Als sie herauskam, verkündete sie das Resultat ihrer Intervention: Der Lohn und das Kartoffelrelutum bleibe so, wie es war. Aber das Milchdeputat werde von einem halben Liter auf einen Liter erhöht. Das Messen des gepflückten Hopfens werde tolerant ausgeübt werden; man könne ziemlich lange Stengel an den Dolden lassen, auch werde beim Messen nur locker aufgeschüttet und nicht gepreßt. Und Arbeit sei ausreichend für vier Wochen, sollte aber die Hopfenflur vor Ablauf dieser Zeit abgepflückt sein, werde man für den Rest der Zeit eine andere Arbeit zugewiesen bekommen.

»Das kennen wir! Man wird uns einfach fortschicken.« Solche und ähnliche Einwendungen wurden laut. Schließlich aber gab man sich zufrieden, die Menge zerstreute sich.

Auf dem Platz bei der Pumpe kam man bald wieder zusammen. Setzte sich auf die Erde und führte friedliche Gespräche. Wie gerne wäre man in den Dorfkrug eingekehrt, wie gerne hätte man im Kaufmannsladen ein Gläschen Korn eingenommen! Aber niemand hatte Geld. Einer steckte sich halbe »Ungarische« in den Mund, und bat seinen Nachbarn um ein Zündholz. Mit der rhetorischen Frage, »Stehl' ich?« wies ihn dieser ab.

Um sechs Uhr holen wir uns im Stall die Milch. Der Wirtschaftsadjunkt notiert die Namen jedes, der die Milch abholen kommt. Die Kartoffel für die Ledigen 173 holt Frau Mracek und kocht damit gegen Bezahlung von sechs Hellern Suppe.

Mit den Milchtöpfen setzen wir uns vor das Wohngebäude. Die Zusammenkunft wird fröhlich. Drei Männer haben Mundharmonikas mit und konzertieren. Paare beginnen sich in schlürfenden Tänzen zu drehen. Zwei Burschen veranstalten ein Wettlaufen auf den Händen.

Gegen acht Uhr sind wir im Quartier. Aber ans Schlafen ist nicht zu denken. Man liegt in Kleidern und Stiefeln. Die Enge des Raumes bedingt, daß sich einer an den anderen quetschen muß, das Stroh sticht und raschelt, die Flöhe springen prassend umher, die Luft ist dick zum Schneiden und gegen das Oeffnen des Fensters wehren sich die meisten.

Auch die Zulässigkeit des Rauchens erweckt Debatten. Die, die aus Gründen der Feuergefahr dagegen sind, behalten die Oberhand. Wenn einer aufsteht, tritt er im Dunkeln den anderen auf Waden und Schenkel. Flüche und Drohungen von Unbekannten an Unbekannte sausen durch die Finsternis. Draußen hört man werbendes Flüstern . . . Nach und nach macht man sich notgedrungen mit dem Gedanken vertraut, daß von Schlaf keine Rede sein könne.

So unterhält man sich. Geschichten und Abenteuer werden erzählt, beileibe nichts Zweideutiges, alles höchst eindeutig. Man ist froh, um fünf Uhr früh aufzustehen. Niemand wechselt die Wäsche, niemand wäscht sich, nur die Burschen frisieren sich mit Pomadestangen. In dem grauen Ententeich werden einige Kinder gewaschen und Windeln gespült.

In jeder Nacht wird es ärger im Massenquartier. Schon am zweiten Abend kam der Arbeiter Veverka spät nach Hause, und seine Frau, schwarzgescheitelt, trotz Magerkeit gütig aussehend, zwischen ihren beiden Kindern liegend, einem Buben von etwa drei und einem Mädchen von zwei Jahren, macht ihm einen Krawall, er versaufe alles. Würden wir nicht gebieterisch Ruhe 174 verlangen, die Szene dauerte bis früh. Am nächsten Tag kommt Veverka noch später.

»Wenn du nicht kuschst, gehe ich gleich ins Gasthaus zurück,« droht er der Frau.

Aber die keift weiter. Er geht entschlossen zur Türe zurück, will ihr, will uns zeigen, daß er der Herr ist, die Drohung ernst war.

Sie schreit ihm nach: »Wenn du weggehst, rufe ich gleich einen Burschen zu mir, und mache dir öffentlich Schande.«

Alle kichern, Veverka schlägt von außen die Türe zu.

»Havlena, pojd' sem,« schreit die Frau hysterisch auf.

Ein Bursch, man hat ihn schon beim Hopfenpflücken tagsüber neben den Veverkas sitzen gesehen, tappt über unsere Beine. Witze, Bemerkungen, zustimmende Kritik, Kichern, Wünsche quirlen in dem Zimmer . . .

Das war meine letzte Nacht im Gemeinschaftsbett. Tags darauf geriet ich auf der Landstraße mit zwei Riesen ins Gespräch. Sie kamen eben von der Flußregulierung bei Pilsen und waren schon seit Jahren auf der Walz. Gepäck hatten sie nicht, nur ein Spiel Karten. Ihren Stiefeln fehlten die Spitzen, dementsprechend sahen die Kleider aus. Die beiden waren einen Tag vor der »Parta Mracek« am Gute eingetroffen. Sie fragten mich, wie ich geschlafen habe, worauf ich ihnen das Elend schilderte. Sie berieten sich einen Moment und dann forderten sie mich auf, mit ihnen zu schlafen, sie hätten vor dem Dorf draußen ein Gesindezimmer mit viel Stroh für sich allein. So übersiedelte ich nun zu ihnen und lag bequem. Aber als die beiden Riesen am Abend volltrunken und wortlos die Türe verriegelten, wurde mir im Dunkeln doch unheimlich zu Mute. Ich entkleidete mich, und legte meine Hose als Unterlage für meinen Kopf aufs Stroh, den Rock knöpfte ich über meine Füße, damit ich nicht friere. Das Portemonnaie band ich mit der Quastenschnur am Halse fest. Mein Mißtrauen war begründet gewesen: Als ich am nächsten Abend von der Arbeit nach Hause 175 kam, war mein Felleisen leer. Socken und Hemden und Taschentücher und Handtuch waren fort, auch mein prächtiger Knotenstock fehlte. Am Stroh lagen die zerfetzten Hemden der beiden Vagabunden. Nur die Seife hatten sie mir zurückgelassen, die brauchten sie nicht. Sie waren mittags fortgewandert, der eine mit meinem Stecken in der Hand. Ich gebe hiemit den schamlosen Dieb der öffentlichen Verachtung preis: Er heißt Karl Kölbel und stammt aus Wallern.

Im Hof des Bauerngutes nahmen alle um halb sechs Uhr früh Aufstellung. Der Schaffer zählte zwölf Burschen und acht Mädel ab, hieß sie seitwärts stellen und Mistgabeln holen, da wir Schober zusammenstellen sollten. Ich war unter den zwölf Burschen und Wiltscha tauschte mit einem der acht Mädel, um mit mir in einer Gruppe sein zu können. Auch andere Burschen und Mädel richteten es sich so ein, um an der Seite der oder des Geliebten arbeiten zu können.

Einzelne Partien arbeiteten in den Scheuern, die unserige wurde auf den Acker beordert. Am ersten Tage standen wir am Schober und reichten die Garben auf die Dampfdreschmaschine, auf deren ratterndem, knatterndem und zuckendem Dach sich die Arbeiterinnen bewegten, wie die Gäste im Narrenpalast des Lunaparkes. In den nächsten Tagen war uns das Wenden von Schwaden auf den Feldern zugewiesen, oder aber waren wir damit betraut, riesige Schober zu bauen. Die Mannerln wurden auf Leiterwagen aufgeladen, an eine Stelle gefahren, hier wieder vom Wagen genommen und zu dem hohen Bau aufgeschichtet, an den dann wieder die Dreschmaschine heranfuhr. Ein starker Arbeitseifer hatte alle erfaßt und wenn auch einige hundert Garben im Scherz als Wurfgeschosse gegen die Arbeitsgenossen verwendet wurden und diese unter dem Hagel der von allen Seiten auf sie niederprasselnden Aehrenbündel verschüttet auf dem Schober niedersanken, – der Schober wuchs doch mächtig in die Höhe. Die ungewohnte Arbeit im Freien erfüllte alle mit einer 176 freudigen Stimmung. Ich begann die Begeisterung zu verstehen, in der das Gesicht des alten Phlegmatikers Edison erstrahlt hatte, als er mir von der Feldarbeit der amerikanischen Studenten erzählt hatte.

Nicht so bewegungsreich und abwechslungsvoll war das Hopfenpflücken, das in wenigen Tagen begann. Schon am Vorabend des ersten Pflücktages war Fett und Butter und Schnaps eingekauft worden, denn nun gab es keine Mittagspause mehr, in der man hätte ins Dorf gehen können. Jetzt wäre es ja auf Kosten jedes Einzelnen gegangen, Zeit ist Lohn, wenn man Akkordarbeit leistet.

Schon gegen fünf Uhr abends standen wir im Meierhof, und wurden zu einem Schupfen geführt, aus dem wir die Schemeln holen sollten. Die Türe des Schupfens war schmal, die ersten, die hineinschlüpfen konnten, waren die Kinder, und als sich dann auch die Erwachsenen hineingedrängt hatten, waren die meisten der aus drei Brettern ungelenk gezimmerten Stühle vergriffen. Die wenigen, die noch so glücklich gewesen waren, einen zu erhaschen, taten sich groß mit ihrem Besitz: »Ich hab' einen polierten Sessel bekommen.« – »Und ich ein Fauteuil.«

Aber die anderen fluchten. Sie würden nicht vier Wochen lang auf der Erde sitzen, während die Kinder Stühle hätten.

Ein Leiterwagen fuhr heran, mit Körben beladen. Wir sollten auch die Sessel aufladen, hieß es. Aber man fürchtete für die Beute, und die Mehrzahl zog es vor, sich mit dem Schemel zu schleppen. Andere kratzten ihre Namen auf das Brett des Stuhles und luden diesen dann auf, andere legten ihre Sessel gleichfalls auf und setzten zu deren Schutz die Kinder auf den Wagen.

Der Weg zur Hopfenflur verging mit Fluchen. Wir werden den Kindern die Stühle nicht lassen, drohten die Besitzlosen. Es lag etwas in der Luft, das sich bald entladen sollte. Knapp vor dem Garten kam der Sohn 177 des Zizkower Kaufmannes, weinend, mit geschwollenem Gesicht zu seinem Vater gelaufen, der vorausgegangen war: Der Jaroslaus (ein vor kurzem wegen Disziplinlosigkeit entlassener Feuerwehrmann) habe ihm den Sessel weggenommen, und als sich der Bub das nicht gefallen lassen wollte, habe ihn der Jaroslaus noch verprügelt.

Der grauhaarige Vater rennt zurück, packt den Jaroslaus beim Hals und will ihn würgen. Der Bursche zieht das Messer, der Alte will es fassen und im Nu rieseln aus seiner Handfläche Ströme von Blut auf die Erde. Die Leute reißen die Kämpfenden auseinander. Aber der Streit dauert weiter. Die Partei des Alten ergreifen die, die im Besitz von Sesseln sind. Jaroslaus hat die meisten übrigen auf seiner Seite. Erst der Beginn der Arbeit macht dem Sesselkrieg ein Ende.

Der Wagen hat halt gemacht, und die Körbe werden ausgeteilt. Die, welche keinen Schemel bekommen haben, setzten sich auf den umgestülpten Korb oder auf drei zusammengebundene Pflöcke, die durch Auflegen von Hopfenlaub zu einem Gartensessel umgestaltet werden.

Am Rande des Hopfenfeldes bauen die Knechte ein Zelt für den Hopfenweiner, der die gepflückten Fruchtzapfen entgegennimmt, ihr Quantum mißt und sie in die Leinwandsäcke (Jutesäcke sind im Hopfenhandel verpönt) schüttet.

Es ist ein Hopfengarten mit Drahtbau, in dem wir pflücken. Die Stangenanlagen kommen später daran. An jeder Pflanzenreihe – deren Intervalle betragen anderthalb Meter – nimmt ein Hopfenpflücker Platz, die Kinder arbeiten mit Vater oder Mutter in der gleichen Reihe. In der Zeile neben mir sitzt Wiltscha; sie ist noch immer nicht sauberer geworden.

Durch einen starken Ruck werden die von Hopfenlaub umschlungenen, etwa 7 Meter langen Drähte, die in den Reihen in einer Distanz von einem Meter von einander entfernt stehen, herabgerissen, der Pflücker 178 zieht den unteren Teil der Ranke an sich und beginnt nun die teils traubenförmig, teils einzeln an dem Stengel stehenden zapfenartigen Kätzchen mit der Hand abzupflücken. Die Fruchtzapfen, die Dolden, sind etwa zweieinhalb Zentimeter lang, eiförmig, ein bißchen spitz zulaufend, von gelblich grüner Farbe; sie enthalten einen goldgelben Staub an den Blättchen: das Hopfenmehl (Lupulin), den wertvollsten Bestandteil des Hopfens.

Wiltscha nimmt schon zum zweitenmal an der Hopfenpflücke teil und ist eifrig bemüht, mich in die Geheimnisse der Technik einzuweihen. (Die Frage, ob es pädagogischer Eifer oder Liebe zu mir ist, bewegt mein Gemüt.) Sie weist mich an, wie man zuerst alle Blättchen abpflücken und dann mit den Fingernägeln die Stengel entlang fahren muß, so daß die Blüten von selbst in den Korb fallen. Sie zeigt mir auch, wie man sitzen und wohin man den Korb stellen muß, damit der Wind die abgerissenen Blätter nicht in den Korb weht. Wehe, wenn der Hopfenweiner unter den Trollen ein Blättchen finden würde! Der Betroffene würde unnachsichtlich zurückgeschickt werden.

Wenn gute Reden sie begleiten, so fließt die Arbeit munter fort. Ein Auszug aus dem Gespräch:

»Was, Anton, du gehst lieber zum verarbeiteten Hopfen?«

»Nein, wirklich; wir sollen das Bier billiger haben, wir liefern ja das Hauptmaterial.«

»In Spalt,« erzählt eine alte Hopfenpflückerin, »da kriegen die Hopfenpflücker statt Milch täglich zwei Maß bayerischen Bieres und statt der Erdpäsel eine Blutwurst.«

»Das ist was für uns! Nächstes Jahr gehen wir nach Bayern Hopfen pflücken.«

Die Alte warnt: »Dort verdient man aber kaum die Hälfte, die Zäpfchen sind ganz klein.«

»Heuer ist schöner Hopfen. So große Dolden und die Ranken so dicht bewachsen.« 179

Eine Frau, die mit sechs Kindern pflückt, fängt bitterlich zu weinen an: »Wenn mein Mann den schönen Hopfen nur erlebt hätte; was hat er voriges Jahr geschimpft, weil der Hopfen so klein und spärlich war!«

Der kleine Mracek, der Dauphin der »Parta«, kommt zu seiner Mutter gelaufen: »Schau, was ich gefunden hab'! Schau', wie das funkelt!« Frau Mracek betrachtet die Schmetterlingspuppe, die der Bub' gebracht hat, sachverständigen Blickes: »Das bringt Gold, das Hopfenmannerl hat goldene Knöpfe.« Und da sich Leute herandrängen, um das gute Omen zu betrachten, erklärt sie jedem, daß die drei goldenen Knöpfe auf der Bauchseite der Puppe Gold bedeuten und ein günstiges Jahr. Im vorigen Jahre habe man nur Mannerln mit silbernen Pünktchen gefunden und das sei das ganze Unglück gewesen. Aber 1908 da blitzten die Ranken geradezu von goldenen Punkten, und wirklich war damals Vollernte, eine Viertelmillion Zentner zu 50 Kilogramm erntete man damals im Saazer Landl.

Man steckt nun schon einmal im Erinnern. Frau Mracek erzählt von den Späßen, die es beim Hopfenkranz, dem Winzerfest der Hopfenpflücker, in früheren Jahren gegeben. Wie man den Leiterwagen mit Hopfenlaub und Girlanden und Fähnchen geschmückt in das Dorf gefahren und getrunken und getanzt habe. Einer habe den ganzen Erlös seiner vierwöchentlichen Arbeit versoffen. Nur bei den Bauern gebe es noch solche Schlußfeste, hier, am Großgute, nicht mehr. Schade.

Ein Lied wird angestimmt. Ich setze es im tschechischen Originaltext hierher, damit es gefunden werde, falls sich auch die Literatur einmal mit dem jährlichen Brotgang Zehntausender befassen sollte:

Na chmel pujdem
Česat budem
Sesfák za věrtele
Holku do postele
180

Pak litr mlika
Pro Pepíka
A čtvrtku bramboru
To já se nažeru.

Linguistisch bemerkenswert ist, daß das Wort »věrtel« (Viertel) sogar in die tschechische Schriftsprache gedrungen ist.

Auch andere Lieder werden gesungen. Gassenhauer und Volkslieder von schwermütiger Erotik.

Aber bald verstummt der Gesang und auch die Gespräche. Die Pflückenden kommen auseinander, die Erfahrenen sind den Rekruten weit voraus, besonders jene, denen ihre Kinder behilflich sind, haben schon viele Drähte losreißen und abpflücken, und ihre Sitzplätze vorwärts schieben können. Ein Wettrennen hat platzgegriffen, die Anfänger bleiben um Pferdelängen zurück, und man muß schreien, will man einen Freund oder eine Freundin mit einer geistvollen Bemerkung erfreuen. Nur Wiltscha sitzt noch an meiner Seite. Sie ist zwar schon um sechs Drähte vor mir voraus, aber sie rückt nicht vor, sondern läßt ihren Schemel in einer Reihe mit meinem stehen und trägt die Ranken immer zu diesem Platz zurück – nicht achtend, daß man sie für eine langsame Anfängerin halten könnte. Es muß doch Liebe sein!

Der Wirtschaftsadjunkt geht von Mann zu Mann. Er schärft jedem ein, nicht mehr als drei Dolden dürfen an einem Stiel haften, der Stengel darf nicht zu lang sein, aber auch nicht ganz abgerissen werden, da sonst die Dolden auseinanderfallen. Wie wichtig die gute Durchführung der Pflücke ist, geht aus einem eigenen Aufrufe des Saazer Hopfenbau-Verbandes hervor, der überall angeschlagen ist:

»Mit Rücksicht auf die beginnende Hopfenpflücke wird an alle Herren Hopfenproduzenten die wohlgemeinte und dringende Bitte gerichtet, besonders heuer bei dem zu erwartenden großen Erntequantum einer tadellosen 181 Pflücke und Trocknung des Produktes die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Nur dadurch wird der begründete Weltruf unseres edlen Saazer Hopfens bei der starken Konkurrenz am Weltmarkt erhalten bleiben, denn außer der Qualität ist auch die Pflücke und Trocknung des Produktes beim Verkaufe mit maßgebend. Schlechtgepflückte Ware muß der Händler erst mit großen Kosten und unter Aufsicht der Halle nachpflücken lassen, um sie versandfähig herzustellen, während dies bei den Produzenten sofort bei der ersten Pflücke mit wenig Mühe und fast gar keinen Kosten verbunden ist. Hat man wirklich schlechte Pflücker, stelle man gleich 1–2 Personen zur Nachpflücke an, wie dies einige Herrschaften und größere Produzenten schon seit einigen Jahren mit bestem Erfolge pflegen. Gerade heuer wird ein schlechtgepflücktes und überdarrtes Produkt schwerer und nur zu viel niedrigerem Tagespreise verkäuflich sein.«

Die Dolden sind klein, die Körbe sind groß, es dauert fast eine Stunde, bevor man einen Korb gefüllt hat. Die erste Pflückerin, die ihren Korb zum Hopfenweiner trägt, bedeutet eine Sensation und neidvolle Zurufe grüßen sie: »Seht mal an, die Jindra geht schon schütten, die hat halt vier Hände. Die ist das Abknüpfen gewohnt.«

Noch schneller bewegen sich die Hände, man will nicht allzu sehr nachstehen. Bald ist das Zelt dicht von Pflückern mit gefüllten Körben umgeben. Ein hölzernes Faß, das einen Viertelhektoliter faßt, steht in einem großen Schaff. In das Maß schütten sie den Inhalt der Körbe. Der Hopfenweiner preßt die Dolden tüchtig in das Schaff, damit es möglichst viel fasse. Was dennoch über den Rand ins große Schaff fällt, kann sich der Pflücker wieder als Vorrat zurücknehmen. Für jedes abgelieferte Viertel bekommt man eine runde Blechmarke. Zwanzig Heller.

»Ich werde deinen Korb schütten gehen,« schlägt mir Wiltscha vor.

»Warum?« 182

»Weißt du, ich hab' mit dem Hopfenweiner voriges Jahr ein Verhältnis gehabt, da hab' ich Protektion. Mir preßt er die Dolden nie zusammen, auch wenn ich sie noch so locker in das Maß schütte. Fast die Hälfte läßt er mich wieder zurücktragen.«

Und Wiltscha geht nun für mich abliefern. So weit hab' ich's also schon gebracht.

Tag für Tag wird so gepflückt, ohne Mittagspause bis 6 Uhr abends und etwas darüber hinaus. Die Finger sind von den rauhen, mit Klimmhaaren besäten Stengeln ganz schwarz und zerschnitten. Der Hopfengarten hat sich schon gelichtet, so viele Drähte sind schon gefallen, und schon scheint es, als würden wir ihn bald abgepflückt sehen.

Inzwischen war jedoch Unzufriedenheit eingezogen, Gerüchte von fabelhaften Löhnen in anderen Fluren waren in unsere Reihen gedrungen und viele sprachen davon, den Dienst zu verlassen. Da kam ein Gußregentag: Heute ist keine Pflücke.

Die Frauen beschließen, in den Wald zu gehen, um Schwämme zu suchen, die Männer rotten sich auf dem Dorfplatz zusammen. Der Plan, nach Saaz zu ziehen und dort zu sondieren, wie es mit den Arbeitsbedingungen auf anderen Fluren beschaffen sei, taucht auf. So sieht die Landstraße ein Heer zerlumpter Figuren, Falstaffs Freunden gleich, durch Kotlachen und Regenströme ziehen. Anfangs will man nichts weiter, als den Informationsgang im Regen entschuldigen, wenn man auf die bisherigen Lohn- und Arbeitsverhältnisse schimpft. Aber man redet sich nach und nach in Wut hinein, und mit einem Male steht man vor der allgemeinen Meinung, daß es ganz unmöglich sei, im bisherigen Posten zu verbleiben. An dem Obelisk vorbei, der zum Andenken an die Aufhebung der Robott in Saaz errichtet wurde, geht's auf den Marktplatz. Dort wird man um ein beträchtliches kleinlauter. Vor der Arbeitsvermittlungsanstalt drängen sich hunderte von Misérables mit verzweifelten Gesichtern. Nicht alle 183 Familien, nicht alle Angehörigen eines Dorfes können gemeinsame Arbeit finden, und ängstlich und vorsichtig wird erwogen, in welcher Weise die Trennung vorgenommen werden soll. Unser Wortführer ist der Herr mit dem Zwicker, aber der Verwalter der Stellenvermittlungsanstalt lehnt es ab, uns anderswo unterzubringen. Wir hätten unsere Stellung, und er könne uns keine andere mehr vermitteln.

Unschlüssig stehen wir am Markte. Ein Bauernknecht kommt auf uns zu. Was wir suchen? Ob wir Arbeit brauchen? Ja. So beginnt er einen Panegyrikus auf ein Gut anzustimmen, das nur fünfviertel Stunden von Saaz entfernt sei, tausend Hopfenpflücker sechs volle Wochen lang beschäftigen wolle und einen Lohn von 22 Heller pro Viertel und außer Milch und Kartoffeln auch ein Kilogramm Brot täglich gewähre. Einigen scheint der Weg für Frauen und Kinder mit dem Gepäck zu weit. Aber der Knecht verspricht, mit Leiterwagen zu unserem bisherigen Arbeitsplatz zu kommen.

So ziehen wir heim, den Zurückgebliebenen den Beschluß unseres Exodus verkündend. Nicht alle sind bereit fortzuziehen. Einige Frauen, die sich schon häuslich eingerichtet haben und den Sprung ins Ungewisse fürchten, wissen ihre Männer zu veranlassen, zu bleiben. Frau Mracek ist zu einer Amazone geworden. Sie fürchtet den Entgang ihrer Stellenvermittlungsgebühr, sie hat vielen Leuten Geld für die Reise geborgt, einige haben umsonst in ihrer Wohnung geschlafen – und nun soll sie um alles kommen. Sie kämpft und droht und schimpft nach allen Seiten.

Ein Mädel läßt sich von drei Burschen überreden mitzuziehen. Die Tante aber will's nicht leiden: »Die Jindra muß dableiben, ihre Mutter hat mir aufgetragen, auf sie zu achten.« Es hilft nichts. Die Liebe ist stärker als der Tod, und Jindra zieht mit den Auswanderern.

Wirklich kommt der Leiterwagen; die Ausbeutungsmöglichkeit und Rechtlosigkeit der Hopfenpflücker 184 (arbeitendes Lumpenproletariat) ist so groß, daß ihnen gegenüber sogar der Kapitalismus seine Solidarität außeracht läßt, eine Gutsverwaltung der anderen deren Arbeitskräfte per Leiterwagen entführt. Ich fahre mit in das neue Land. Wiltscha setzt sich neben mich.

Vom neuen Tätigkeitsgebiet sind die Sezessionisten nichts weniger als erbaut. Drüben aus dem Wagenschupfen schauen braune, langhaarige und schmutzige Gestalten auf die Ankömmlinge: Zigeuner sind es. Entsetzt packen die Mütter ihrer Kinder und halten sie fest. In einem riesigen Schafstall müssen wir alle schlafen, alle zusammen. Es gibt keine Oefen, man wird auf Ziegelsteinen kochen müssen. Sehnsüchtig denkt man an Gestern. Ich werfe mein Felleisen aufs Stroh, Wiltscha legt ihr Bündel daneben. Da hebe ich meinen Ranzen wieder auf:

»Ich geh' den Heimatschein abgeben, halte mir Platz.«

»Warum läßt du das Packerl nicht hier?«

»Damit mir noch der Rest gestohlen wird, nicht?«

Und schon bin ich fort auf dem Weg nach Saaz, die Freundin in sehnsüchtigem Harren zurücklassend.

In Saaz kehre ich in ein kleines Gasthaus ein und lasse mir – habe ich doch durch meiner Hände Arbeit Geld verdient und lange kein Fleisch mehr gesehen – ein Gulyas geben. Der Kellner bringt es und ich setze schon die Gabel an. Da heißt es:

»Gleich zahlen, bitte.«

Das Mißtrauen ist begründet, mein Anzug ist noch zerlumpter als er war, Kot hängt an Hosen und Stiefeln und Strohhalme an meinem Rocke. 185

 

Büßende Magdalena

Ich rief das Asyl für gefallene Mädchen an. Ob ich in die Anstalt kommen dürfe, um über sie einen Artikel schreiben zu können, fragte ich die Direktion. »Einen Artikel?« – »Ja, einen Artikel. Einen Artikel in die Zeitung.« Ich sah durch das Mikrophon, wie die Frau Direktorin entsetzt den Kopf schüttelte. »Ich werde Ihre Exzellenz die Frau Präsidentin fragen und Ihnen morgen telephonischen Bescheid sagen.« Uebermorgen am Morgen wurde ich angerufen, und nahm die Mitteilung zur Kenntnis, daß ich am nächsten Tage um 11 Uhr erscheinen dürfe.

In der Anstalt wurde ich mit den Ehren empfangen, die mir gebühren. Der Hausmeister öffnete mir und fragte mich in gewählten Worten: »Hamm' Sie Passierschein?« Kaum hatte ich verneinend geantwortet, als er in liebenswürdiger Weise das prächtige Barocktor vor meiner Nase zuschlagen wollte. Ich hatte den Einfall, dem Einfall der Tür durch den geistesgegenwärtigen Ausruf zu begegnen: »Ich bin herbestellt.« Das Barocktor öffnet sich wieder und der Hausmeister sagt erstaunt: »Ah, Sie sind die Herr von Zeitung.« Ich nickte, worauf er hinzufügte: »Die Damen warten schon auf Ihnen.« Ich glaubte, daß es die gefallenen Mädchen seien, die mich erwarteten, aber im Gegenteil: Weder von »Mädchen«, noch von »gefallen« konnte die Rede sein. Es war vielmehr der Ausschuß der Anstalt. Der Anstaltsseelsorger stellte sich mir vor und mich dann der Präsidentin, Ihrer Exzellenz der hochgeborenen Frau Gräfin Cyprienne X., sowie den übrigen Damen. Der Geistliche hieß mich Platz nehmen, und hielt nun eine Ansprache an mich. Zunächst sagte er, es sei erfreulich, daß ein so junger Mensch, wie ich es sei, schon den Ernst der humanitären Bestrebungen in solchem Maße 186 erfaßt habe (die Pleureusen nickten beifällig), daß ich über die Anstalt einen Artikel schreiben wolle, was der Ausschuß in der Sitzung vom 22. Februar d. J. einstimmig gestattet habe. Vorher wolle er mich in kurzen Worten über die Ziele der Anstalt unterrichten.

Die Worte mögen auch wirklich kurz gewesen sein, aber die Rede war lang. Er unterrichtete mich, daß das Laster nicht etwa in abschreckender Form nahe, sondern in der liebenswürdigsten Weise – höflich und gefällig scheinend. Ich schüttelte über diese Perfidie des Lasters ganz erstaunt den Kopf und schaute die Damen an, ob es auch wahr sei, was mir da erzählt wurde. Die Pleureusen nickten Bestätigung. Redner aber begann mir zu erklären, daß alle Liebenswürdigkeit und alle Versprechungen des Lasters nur Maske seien, und daß die Mädchen, die sich dem Laster und so der vollkommen berechtigten Verachtung preisgeben, statt sich als Dienstmädchen und Fabriksarbeiterinnen geachtete Stellungen zu erwerben, auch Enttäuschungen erleben, speziell im Alter. Also ich war starr! Wer hätte das gedacht! Aber da wieder die Pleureusen bestätigend mit den Köpfen schüttelten, mußte ich das alles wohl oder übel glauben.

Noch berechtigter aber, als die Verachtung, die man den gefallenen Mädchen zolle, sei die Verachtung, die jene Männer verdienen, die die Verkommenheit und Roheit aufbringen, sich um des Vergnügens willen mit jungen Mädchen einlassen, ohne die Absicht zu haben, diese zu ehelichen. Nun war ich es, der durch lebhaftes Kopfnicken die vollkommene Solidarität mit dieser Verachtung aussprach

Aber die Anstalt sei ein Bollwerk gegen die Unsittlichkeit. Wenn auch manche innerlich verworfenen Geschöpfe sich nur deshalb zur Aufnahme in die Anstalt melden, um hier eine Zeitlang ohne Nahrungssorgen zu leben, und sich dann wieder dem eingangs geschilderten Laster gierig in die Arme werfen – so seien es doch nur Arme, um derentwillen man sich nicht von der Verbesserungstätigkeit abschrecken lassen dürfe. Und 187 wenn auch die meisten anderen nach der gebesserten Entlassung wieder in ihr früheres Leben verfallen, so kommt es doch vor, daß hie und da über ein Mädchen keine so betrübliche Kunde zu den Ohren der Anstaltsleitung gelange. Und also stehet es geschrieben: »Um eines Gerechten willen . . .«

In der Anstalt werden die Mädchen durch Arbeit und hauptsächlich durch Gebet zur Besserung angehalten, wovon ich mich nun bei meinem Rundgang überzeugen könne. Zuerst werden wir uns in die Stickereistube begeben, wo auch eine kleine Ausstellung von bereits fertiggestellten Stickereien heute eigens hergerichtet worden sei, damit ich mich von dem Geschick und dem Fleiß der Pfleglinge überzeugen könne.

So begaben wir uns, eine aus allen Ausschußdamen, dem Seelsorger und mir bestehende Kavalkade, in die Stickstube. Etwa dreißig Mädchen saßen hier an den Stickarbeiten und erhoben sich bei unserem Eintritt sittsam von ihren Sitzen, indem sie in gedehntem Chorus einen frommen Gruß sprachen.

»Hier sehen Sie,« wollte Exzellenz Cyprienne eben zu erklären beginnen, als – na, als mich dieses Lausmädel, die Fanda Previt, erkannte.

»Tě pero, Egone,« grüßte sie mich laut über den ganzen Saal.

Konnte die Mana Makovec der Previt an Frechheit nachstehen? Nein! Sie schrie mir zu: »Egon, hast du nicht eine Sport bei dir? Wir kriegen hier keine.«

Die Katty Svině ließ sie gar nicht ausreden: »Du, was macht mein Leutnant, er ist, hör' ich, schon aus Prag weg?«

Die Betty Rukavice war die einzige, die – vornehm wie immer – auf das Milieu Rücksicht nahm und mir nur eine Bestellung auftrug: »Grüß' mir das Café Brasilien und sag, daß ich in vierzehn Tagen wieder dort bin.«

Ich war von diesen Begrüßungen peinlich berührt, aber die Ausschußdamen hätten direkt in einer Anstalt 188 für aus den Wolken gefallene Mädchen Aufnahme finden können. Die erste, die Worte fand, war Ihre Exzellenz die Frau Präsidentin. Sie sagte in einem Tone, in dem grönländische Kälte, gaurisankarhohe Empörung und ägäischemeertiefe Verachtung lag:

»Sie brauchen sich nicht weiter zu bemühen. So ähnlich ist es in allen unseren Räumen.«

Damit war ich entlassen. 189

 

Von der Fahrt als Flößer

Schon hinter der Palackybrücke, unter welcher der Mauteinnehmer zu unserem Floß gerudert kam, um die Zahl der Holztafeln zu kontrollieren, nahmen wir eine schmälere Formation an. Es hieß »Einzeln abfallen«, denn das Schittkauer Wehr war in der Nähe, und dessen Floßschleuse ist eng. Während wir bisher mit zwei nebeneinander befestigten Holztafeln gefahren waren, mußte jetzt die linke Floßhälfte losgelöst und rückwärts befestigt werden.

Floßführer und Floßknechte arbeiteten fieberhaft. Der Vorderteil des Floßes wurde durch einen mächtigen Ueberlegbaum an der nächstfolgenden Tafel befestigt, damit er von der Gewalt der Wassermassen der Schleuse nicht zu tief gerissen werde. Die Durchschlagsstämme, welche je zwölf Balken zu einer Tafel verbinden, wurden scharf darauf angesehen, ob sie nicht schadhaft geworden seien. Die Bindwieden, die Weidenbänder, welche die dreizehn Tafeln des Floßes aneinander festhalten, wurden mit Wasser besprengt, damit sie nicht zu spröde seien und von der Wucht des Schleusenwassers nicht zersprengt würden. Wir bohrten mit Energie und Schwung die harpunenartigen Staaken tief in den Moldaugrund und schritten, uns mit dem ganzen Körper gegen die eingebohrte Stange stemmend, rüstig vorwärts, wobei wir natürlich immer an derselben Stelle blieben, da sich das Floß mit gleicher Schnelligkeit in entgegengesetzter Richtung bewegte. An den Rudern waren wir beschäftigt, die Prahme in die Verlängerung der Schleuse zu bringen, – keine leichte Arbeit, denn das Schlittkauer Wehr ist schief gegen den Stromstrich gelegen, weshalb auch die Kanalisierungskommission seine Demolierung und die Errichtung eines neuen Wehrs in der Höhe der Schlittkauer Mühle projektiert. 190 Das Wehr teilt sich überdies gegen das linke Moldauufer in zwei Arme und das Floß, das mit Mühe richtig in die erste Schleuse eingefahren ist, muß wenige Meter hinterher, inmitten der Gewalt der Schleusenströmung schon in die zweite einlenken. Trotzdem die Stämme krachend an den Schleusenrand fließen, kamen die schwimmenden Balken unversehrt durch Strömung und Gischt und lenkten, die Schützeninsel links liegen lassend, zum Altstädter Wehr ein.

Beim »Frantischek« erhielten wir Vorspann. Der Remorqueur »Austria« schleppte uns nun bis zum Neumühl-Wehr unterhalb der Karlsbrücke – dem letzten Wehr alter Konstruktion, das bis zur Moldaumündung zu passieren ist. Bisher waren die einzelnen Tafeln des Floßes nur lose aneinander geknüpft gewesen, so daß, unmittelbar nach Passieren der Schleuse, der Vorderteil schon gegen die Moldaumitte gesteuert werden konnte, ohne daß die noch vor oder innerhalb der Schleuse befindlichen Floßteile aus ihrer Fahrtrichtung gebracht worden wären. Nachdem das Neumühl-Wehr durchfahren war, wurde dem Floß durch Anspannen der Bindwieden eine steife Formation gegeben. Die Schleuse des neuen Nadelwehres bei der Hetzinsel ist nämlich lang, und es ist streng erforderlich, daß der rückwärtige Teil des Floßes die gleiche Richtung habe, wie die ersten Tafeln.

In Holleschowitz wurde Halt gemacht. Die Schregge, ein um einen festen Punkt drehbarer Riesenbalken, wurde von zwei Flößern senkrecht aufgestellt, und die Spitze bohrte sich tief in den Moldaugrund ein. Aechzend blieb das Floß stehen. Nun ging es auf den hier in breiter Reihe verankerten anderen Flößen ans Land, in das Wirtshaus »Bastecky«. Das war mit Flößern dicht gefüllt. Gesprächsthema: Zwei Prahmen seien in der Hetzinsel-Schleuse auseinandergegangen und die Bemannung, die selbst in Gefahr geschwebt habe, müsse nun den ganzen Tag arbeiten, die Stämme wieder zu ordnen und zu binden. Die Erregung ist allgemein. 191 Darüber, daß die Schleuse schlecht sei, sind alle einig. Auch gegen die Ansicht, daß die deshalb an die Statthalterei gerichtete Eingabe ohne Erfolg bleiben werde, erhebt sich kein Widerspruch. Aber über die Art der Abwehrmaßregeln kann man sich nicht einigen.

»Wir sollten einfach erklären, daß wir nicht durchfahren,« meint aufgeregt ein junger Flößerbursch.

»Dann fahren einfach andere durch!« erwidert ihm ruhig der Steuermann.

»Wir sollten uns auf andere Sachen kaprizieren, passive Resistenz machen, solange die Schleuse nicht ausgebessert wird,« meint da ein blutjunger Bursch – der jüngste Steuermann auf der Moldau. »Wir sollten die Flöße ausmessen. Und wenn eines länger ist als 130 Meter, sollten wir nicht darauf fahren, – so wie es das Gesetz vorschreibt.«

»Das ist unmöglich,« wirft ein alter Flößer ein. »Man kann doch die Stämme nicht abschneiden, wenn sie um einen Meter länger sind!«

»So müßte eben eine Tafel weniger angekoppelt werden,« meint der junge Floßführer.

»Na, dann legt man sie eben als Fracht auf die Prahmen und du bist gerade dort, wo du warst. Im übrigen würde sich das Ausmessen der Flöße nur gegen die Holzhändler richten, und die haben mit der Schleuse nichts zu tun.«

Der junge Steuermann läßt nicht locker: »Wenn sich die Holzhändler der Sache annehmen würden, würde schnell Abhilfe geschaffen werden.«

»Schmarrn!« belehrte ihn der Alte. »Die Holzhändler haben sich gegen die ganze Moldaukanalisierung eingesetzt, welche die Flößerei fast ruiniert hat. Und was hat's ihnen genützt?«

»Wieso hat die Kanalisierung dem Floßtransport geschadet?«

»Weil sie die ganze Moldau verschandelt hat. Ist denn das noch ein Fluß? Gibt es denn noch unterhalb Prags eine Strömung? Lauter gestautes Wasser, lauter 192 Tümpel. Jede Weile muß man sich von Remorqueuren ans Gängelband nehmen lassen. Von Holleschowitz bis Troja, von der Selzer Dynamitfabrik bis Kletzan, von Zalow bis Libschitz, von Libschitz nach Miřowitz, von da nach Wranian, von hier nach Hořin, dann nach Beřkowitz, dann nach Wegstädtl müssen wir uns von den Remorqueuren ins Schlepptau nehmen lassen. Lauter Vorspann, lauter blöde Schleusen. Gott sei Dank, daß das Land kein Geld hat. Sonst hätten sie uns auch schon in Leitmeritz und Raudnitz solche Hürden errichtet. Lauter Wehrmeister, lauter Kontrolle . . .«

»Nicht einmal ein Mädel kann man sich mitnehmen,« brummt ein junger Flößer, ein »Podskalak« von reinstem Wasser, der sich eine Schmachtlocke so tief über das rechte Auge gekämmt hat, daß er auf diesem fast blind sein muß.

»Na, du nimmst dir ein Mädel auf jeden Fall mit! Und wenn du es unter dem Floß vor dem Wehrmeister verstecken müßtest.« So ruft man lachend dem Don Juan von der Wasserkante zur Antwort, und selbstgefällig streichelt der seine Stirnlocke.

Dann ergreift unser Steuermann das Wort: »Früher war's eine Kunst zu flößen. Wenn man sich nicht auskannte, saß man flugs auf dem Trockenen. Im Jahre 1872 flößte ich mit zwei anderen jungen Burschen am alten Buchta vorüber. Der Buchta, das war ein guter Steuermann. Jetzt ist er schon lang tot. Damals war er auf einer Sandbank stecken geblieben und mußte Wasser stauen, um die Prahme flott zu kriegen. Als wir vorbeischwammen, schimpfte der Alte: ›Verfluchte Buben! Wir alten Esel bleiben stecken, und die fahren glatt vorbei!‹«

Wenn jetzt der Steuermann nur hinzugefügt hätte, daß ein solches Auffahren auf Sand heute nicht mehr vorkommen könne, so hätte er den Anschein zu erwecken vermocht, er habe die Geschichte vom alten Buchta nur erzählt, um zu zeigen, wie damals selbst der erfahrenste Steuermann eine böse Fahrtunterbrechung erleiden 193 konnte. Aber der Erzähler hat darauf verzichtet. Offen rühmt er sich des Buchtaschen Zitates, dessen Datum er sich durch 38 Jahre gemerkt, in denen er etwa 1200 Floßfahrten unternommen. Der Fluch des alten Buchta ist dem alten Vrabec ein kostbares Vermächtnis.

Ein Bediensteter der Schiffahrtsgesellschaft kommt jetzt in das Gasthaus und meldet, daß der Remorqueur, der andere Flöße bis Troja gezogen hat, eben zurückkehrt. Man bricht auf, und bald schwimmt das Floß wieder talwärts.

Im Karolinentaler Hafen werden je vier Flöße zu einem Schleppzuge, dem »Transport«, rangiert. Die beiden vorderen Prahmen werden mit zwei Seilen an den Schleppdampfer gebunden und die vier Flöße miteinander verknüpft. Jetzt ist für uns Zeit zur Rast. Nur hie und da muß an den Vorderrudern gearbeitet werden, damit man bei scharfen Biegungen des Flusses nicht an das Ufer anrenne. Im übrigen wird jetzt bloß für das eigene Wohl gesorgt. Steuermann und Flößer setzen sich auf die Holzladung, die auf dem Floße ruht, und stecken ihr Pfeifchen in Brand. Einer der Flößer richtet den Feuerherd her. Rasenstücke, die aus Prag mitgenommen worden sind, werden auf der Holzladung hoch aufgeschüttet und reichlich mit Wasser begossen. Dann klatscht der »Hafner« mit der flachen Rückseite einer Schaufel das Erdreich glatt, wobei uns anderen einige Kotpatzen in das Gesicht fliegen, was mit Schimpfworten quittiert wird. Nun wird ein Stück von einem Rundbalken abgesägt, klein gehackt und bald flackert Herdfeuer über den Wassern. Die irdenen Kochgefäße hat einer der an vielen Stellen heranrudernden Marketender den Flößersleuten gegen ein stattliches Stück Buchenholz eingetauscht. Jetzt brodelt Kaffee in den Gefäßen, dem ein verteufelt starkes Quantum Rum beigemengt wird. Dann wird gejaust. Um die Fahrt braucht man sich nicht zu sorgen.

Das gestaute Wasser ist still und unbeweglich. Lautlos fährt das Vierfloß durch diesen Teich, und nur sein 194 Vorderrand wird von leichten Wellen umspült, die der vorauseilende Remorqueur verursacht. Fast scheint es, als ob dadurch, daß dem Flusse die Strömung genommen wurde, auch die Uferlandschaft ihrer Romantik verlustig gegangen wäre. Es fehlt den Bäumen, deren Zweige auf das Wasser überhängen, es fehlt den Sträuchern, welche die beiden Flußränder umrahmen, ein strömendes, an das Ufer plätscherndes Wasser. Die ganze üppige Landschaft sieht eintönig drein. Die Balken des Floßes schaukeln nicht, man spaziert auf ihnen wie auf einem Parkettboden.

Um so mächtiger der Kontrast, wenn man durch die Schleusen fährt. Etwa zweihundert Schritt vor dem Wehr wendet sich der Dampfer mit einem schrillen Pfiff, die vier Flöße des Transports knüpfen sich voneinander und vom Remorqueur los und fahren einzeln – eine Distanz von 400 Metern einhaltend – durch die Schleusen. Das ist ein Nervenkitzel! Aufjauchzen möchte man während dieser Fahrt. Hoch über die Balken schlagen die Wellen, peitschen das lodernde Herdfeuer, ohne es verlöschen zu können, in das Geräusch der aus der Höhe zurückklatschenden Wogen mischt sich das dumpfe Krachen der Randbalken, die in ohnmächtiger Wut gegen die Steinwände des künstlichen Hohlweges Sturm laufen und jeden Augenblick die Prahme zu zerschellen drohen. Einzelne Balken sind durch das darüberschlagende Wasser verdeckt, scheint es nicht, daß die Binden entzweigegangen, das Floß in seine Bestandteile zerrissen worden sei? Die Plattform der Prahme, die erste Floßtafel, ist vollständig unter den schäumenden Wassermassen vergraben, trotzdem ein am zweiten Floßgliede befestigter Mastbaum sie krampfhaft in die Höhe zerrt. In der Mitte der zweiten Floßtafel steht der Steuermann, auf deren rechtem und linkem Rande wir Gehilfen. Und wenn das Ende der Schleuse nahe ist und die Vordertafel aus dem Wasser emportaucht, dann rennen wir in wilder Hast, der Wogen nicht achtend, die hoch über die Wasserstiefel schlagen, zu den 195 Steuerrudern. Es gilt nach innen zu lenken, sonst würde die Gewalt des Schleusenwassers die schwanke Prahme auf die Uferböschung treiben. Kaum ist das Wehr passiert, so glätten sich die Wasser, die Balken ordnen sich wieder parallel, und an das Toben des Elementes, in dessen Mitte man sich eben befunden, erinnert nur noch ein Blick nach rückwärts: das nächste Floß saust kämpfend die Schleuse hinab . . .

Hinter jeder Schleuse sammeln sich die vier Flöße des Transports wieder, ein anderer Remorqueur wird vorgespannt, und es geht bis zum nächsten Wehr.

In Jedibab, einem von Gott und Menschen verlassenen Nest: Nachtquartier. Das Dörfchen liegt nicht einmal am Ufer, und man hat von diesem noch gute 20 Minuten auf schlechten Wegen zu gehen. Die Flöße kommen nachts hier an, und da sie die Kammerschleuse nicht mehr passieren können, so wandert die Bemannung in das Dorf. Man aß hier in der Schenke ein Stück warmen Brotes und trank ein ebensolches Bier. Dann wurde Stroh ins Wirtslokal geschafft und man ging schlafen. Draußen peitschte ein scharfer Regen die Fensterscheiben. Das nahm man mit schadenfrohem Lachen zur Kenntnis, denn einer, der erklärt hatte, es falle ihm nicht ein, das teuere Hotellogis (in Jedibab beträgt der Preis für das Nachtlager acht Heller, in einigen anderen Stationen wird nichts berechnet) zu bezahlen, war draußen am Floße über Nacht geblieben. Die anderen malten sich schon aus, wie sie ihn am Morgen uzen wollten. Aber dazu kam es nicht. Als um ¼2 Uhr nachts aufgestanden und die Weiterreise angetreten wurde, goß der Himmel noch immerfort Wassermassen auf das Floß, das oben bald ebenso feucht war, wie unten. Die Balken waren naß und glatt, bei jedem Schritte, den man machte, rutschte der Fuß aus und man fiel in das tote Wasser zwischen den einzelnen Balken und Tafeln. Wolken, schwarzen Bergen gleich, schienen wenige Schritte vor dem Floße zu liegen und den ganzen Strom zu verstellen. Das Floß fuhr weiter, 196 aber da sich die Distanz zwischen ihm und den schwarzen Bergen durch Stunden nicht verringerte, und die Ufer in dem Nebel nicht erkennbar waren, so sah es aus, als ob sich die Prahme nicht von der Stelle rühre, als ob sie mit einer unsichtbaren Schregge festgehalten würde.

Dabei knurrte der Magen. Im Jedibaber Restaurant hatten wir früh weder Kaffee noch Brot bekommen und an ein Feuermachen auf dem Floße war in dem gießenden Regen nicht zu denken. Proviant hatten wir nicht, und kein einziger schwimmender Marketenderwagen ließ sich blicken. Wenn ein Gasthaus von der Ferne sichtbar wurde, dann brüllte der alte Flößer Kolensky mit heiserer Stimme, der die Verzweiflung eine furchtbare Gewalt lieh, sein »Pivo« über Wasser und Land. Immer heiserer, immer verzweifelter klang sein Sehnsuchtsschrei, und als er hinter der Sprachgrenze, von Liboch und von Wegstädtl an, nach »Bier« zu schreien begann, tönte sein Ruf wie der Todesschrei eines verwundeten Hirsches. Leute an den Ufern vernahmen das Flehen und eilten mitleidsvoll in das Gasthaus, wo der Wirt ein paar Gläser einschenkte und in den Kahn einstieg, um zum Floße zu rudern. So sehr er sich aber auch beeilen mochte – die Strömung war schneller und unser Floß war schon vorbei, als er herankam. Der Wirt wartete in der Mitte des Stromes und bot dann seine Biere der Bemannung der nächsten Flöße – unseres schwamm als das erste – zum Kaufe an. Diese konnte natürlich nicht in jedem Orte Bier trinken und am Abend erzählten uns die Flößer in der Schenke, wie die Wirte auf den Booten geflucht, als ihnen das mit so viel Eindringlichkeit bestellte und so mühselig servierte Bier auf dem Halse blieb. Was aber können die Flüche aller Wirte gegen jeden einzelnen Fluch bedeuten, den der durstige Kolensky jedesmal ausstieß, wenn er sah, wie das von ihm bestellte Bier den »Nachfahrern« angeboten wurde!

Ein Anlegen des Floßes während der Fahrt – sei es wegen Sturmes, Regengusses oder Hagelschlages, sei 197 es infolge Hungers oder selbst Durstes – gibt es nicht. Nur wenn der Flößer Feierabend machen muß, weil es ihm die Vorschrift anordnet und weil er die Ufer nicht mehr erkennt, hält er an. Er weiß, daß ihm die Reise als solche sehr gut bezahlt wird (so erhält z. B. der Steuermann für die 2½ Tage währende Fahrt nach Mittelgrund 59 Kronen), daß er aber auch an den Tagen, an denen er sich auf keinem Holztransport befindet, daß er auch in den vier Wintermonaten von seinen Reisehonoraren zehren muß. Er muß trachten, von seiner Fahrt so bald als möglich zurück zu sein, um einen neuen Holztransport zugewiesen zu erhalten. Das ist der oberste Grundsatz des Flößers, und trotz des verzweifelten Durstes fiel es dem alten Kolensky nicht ein, ein Anlegen des Floßes zu verlangen. Erst um 7 Uhr abends nahmen wir, die wir um ¼2 Uhr nachts aufgebrochen waren, in Birnai, einem Dorfe oberhalb Aussigs, unser Frühstück (einige Bierquargel) ein.

Um 1 Uhr nachts brachen wir wieder auf. Die Nacht, durch die wir glitten, war dunkel, aber die Zacken der Uferberge waren sichtbar. Drohend und zerklüftet und schwarz schob sich der Workotsch in das nächtliche Elbtal hinein, rechts blickte der Schreckenstein noch unwilliger als sonst über Land. Es war ein Anblick, den selten ein Tourist zu genießen Gelegenheit hat, vom Niveau des Wassers die wechselnden Schattenrisse des Elbpanoramas zu bestaunen. Eine Reise durch eine Silhouettenlandschaft. Wenige Stunden später wurden auch die Hänge der Uferlandschaften sichtbar, allerdings nur in dem bizarren Rahmen der Nebelrisse. Als wir hinter Tetschen das Elbesandsteingebirge erblickten, war schon die Morgensonne mit penetrantem Leuchten aufgegangen, bestrahlte die Elbfluten und die seltsamen Felsgebilde an den Ufern. 198

 

Reportergang zu einem Sterbenden

Die Geschichte, die davon handelt, wie es einst vier Polizisten gelang, mich durch ihr strategisches Talent zu verhaften, habe ich bislang aus zwei Gründen nicht erzählt:

1. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß der Journalist nichts von den Geheimnissen seiner Technik ausplaudern soll. So soll, zum Exempel, kein Leser davon erfahren, daß die Nachrichten über Todesfälle besonderer Männer von der Zeitung meist mit großen Schwierigkeiten rechtzeitig in Erfahrung gebracht werden. Die meisten Portiers der großen Palais, der Aemter und öffentlichen Institute sind von den Redaktionen nachdrücklich verständigt, eventuelle Todesfälle unverzüglich zu deren Kenntnis zu bringen, und wenn irgend eine besondere Persönlichkeit schwer krank ist, dann wird das Haus noch überdies bewacht, damit der Leser schon am nächsten Morgen die traurige Neuheit erfahre.

2. Es wäre taktlos gewesen, einen Vorfall, der sich an eine solche Ueberwachung knüpft, zu berichten, solange der damals Ueberwachte noch am Leben war.

Aber jetzt kann ich die Geschichte erzählen. An ungeschriebene Gesetze halte ich mich ebensowenig, wie an geschriebene, und verrate daher ganz offen das Geheimnis des Todesnachrichtendienstes; und auf die Gefahr hin, daß manchen angesehenen Leser ein Gruseln überfällt, verrate ich hiemit, daß schon mancher Mann derart überwacht wurde, der glücklicherweise noch heute frisch und gesund in sein Amt spaziert.

*

Es ist schon etwelche Jahre her. Ich war erst vor kurzem zur Zeitung gekommen und zu meinen wichtigsten Obliegenheiten gehörte es, mich im 199 Sicherheitsdepartement der Polizeidirektion darnach zu erkundigen, ob nicht irgendwer irgendwo wegen irgendeiner ungesetzlichen Tat in Haft genommen worden sei. Da erfuhr ich denn von Bierröhrendiebstählen, Heiratsschwindeleien und Betrugsaffären und wenn jemand jemanden ermordet hatte, dann war's ein schönes Leben, denn da hatte ich viel zu schreiben. So ging ich zweimal täglich in das Sicherheitsbureau, vor dem immer ein Polizist Wache steht. Die Wachleute kannten mich daher und viele wußten auch bald, aus welchen Gründen ich die gefürchteten Räume der Kriminalpolizei betrete. Aber die Polizisten, welche schon nach kurzer Zeit von der Altstädter Wachstube auf andere Kommissariate versetzt wurden, wußten das nicht.

Um jene Zeit war Direktor Angelo Neumann, kurz nach seiner Operation bei Professor Israel in Berlin, in Prag schwer erkrankt. Ich erhielt den Auftrag noch in der Nacht, unmittelbar vor Redaktionsschluß nach Angelo Neumanns Wohnhaus zu sehen.

Kollege Morgenstern hatte einmal in Budapest eine solche Aufgabe: den sterbenskranken Staatsmann Trefort zu überwachen. Morgenstern mußte einmal täglich und zweimal nächtlich den weiten Weg bis zur Nyul utca (Nr. 10) machen, sich bei der greisen Schwester Treforts nach dem Befinden des unrettbar Kranken erkundigen. Einmal nachmittags bekam er die Auskunft: »Mein Bruder liegt leider schon in Agonie; es kann höchstens noch zwei Stunden dauern.« Um neun Uhr abends kam Morgenstern wieder. Fräulein Trefort: »Er liegt noch immer in Agonie.« Da schnipste Morgenstern unwillig mit den Fingerspitzen:

»Verflucht, da muß ich heute nachts noch einmal herauslaufen!«

Fräulein Trefort berichtete das dem Chefredakteur Falk, und als zwei Tage später Treforts Tod im Abendblatt des »Pester Lloyds« gemeldet wurde, stammte sie nicht mehr von dem, der so auf sie gewartet hatte. Falk 200 hatte den Morgenstern schon einen Tag früher sterben lassen . . .

In eine solche Situation konnte ich nicht kommen. Um 4 Uhr nachts ging ich zum Eckhaus der Bredauergasse und des Stadtparkes. Waren im Parterre, wo Direktor Neumann seine Wohnung hatte, die Fenster dunkel, so war nichts Besonderes geschehen. Ich wandte mich, den Weg zurückzukehren, den ich gekommen war. Da hörte ich hinter mir schwere, eilende Schritte. Ich schaute mich um: Es waren zwei Polizisten, denen der nächtliche Passant, der in der menschenleeren Gegend unmittelbar vor ihnen umgekehrt war, sehr verdächtig schien. Anfangs machten sie Miene, mir nachzueilen, aber sie erkannten bald, daß ich ihnen leicht entwischen könnte, und änderten ihre Taktik. Der eine Polizist begab sich auf das linke, der andere auf das rechte Trottoir und nun nahmen sie, auf gleicher Höhe eilend, die Verfolgung auf. Ich beschleunigte meinen Gang, da ich kalkulierte: Wenn ich verhaftet werde, so kann ich morgen in der Redaktion auf Grund des Polizeirapportes wunderbar nachweisen, daß ich wirklich um 4 Uhr nachts meinen Auftrag vollführt habe. So eilte das nächtliche Dreieck vorwärts: Ich in der Mitte der Fahrbahn voran, rechts hinter mir ein uniformierter Verfolger, links von mir ein zweiter.

Die Distanz verringerte sich nicht. Die Wachleute strengten sich nicht mehr an als ich und riefen mir kein Halt zu. Sie schienen einen Plan zu haben. Nur dort, wo von der Bredauergasse die Olivagasse abzweigt, vergrößerte der rechte Mann seine Eile, damit ich ihm nicht durch die Seitengasse entwische. Aber ich ging den geraden Weg. Und bald verstand ich den Plan: Knapp vor der Einmündung in die Heinrichsgasse ließen meine Verfolger ihre Polizeipfeife ertönen. Und aus dem Dunkel der Nacht tauchte jetzt auch vor mir ein Doppelposten auf. (Es war jener Posten, der bei Nacht vor dem Hauptpostgebäude zu stehen hat und bloß einmal nicht dort stand. Als Wasinski an dieser Stelle 201 seinen Mord verübte.) Ich war umzingelt und konnte nicht mehr entwischen. Wie triumphierend ertönte hinter mir der tschechische Ruf: »Halt!«

Ich blieb stehen und die Polizisten näherten sich mir. »Was haben Sie hier gemacht?« fragte der eine.

»Ich bin spazieren gegangen,« versetzte ich so kleinlaut, als ich konnte. Die Wahrheit war ja Redaktionsgeheimnis und kümmerte die Wachleute nichts.

»Schau, schau! Spazieren sind Sie gegangen,« wunderte sich einer der Polizisten. »Um vier Uhr nachts geht man spazieren?«

»Ja, ich komme aus der Arbeit und da bin ich noch etwas frische Luft schöpfen gegangen,« entschuldigte ich mich weitschweifig.

»Was sind Sie denn?« fragte man mich weiter.

»Ich bin bei der Firma Haase angestellt,« antwortete ich wahrheitsgemäß, wenn auch nicht prägnant.

Der Fragesteller lachte siegreich auf. »Wie können Sie also jetzt aus der Arbeit kommen! Bei Haase wird doch nachts nicht gearbeitet!«

Schon wollte ich etwas entgegnen, als zwei Augen des Gesetzes, die mich bisher scharf angesehen hatten, noch näher an mich heranrückten. »Sie,« so begann ihr Inhaber, »Sie, mir scheint, wir kennen einander schon.« Und ohne meine Antwort, daß ich nicht die Ehre habe, abzuwarten, fuhr er fort: »Waren Sie noch nie im Sicherheitsdepartement?«

»O ja,« sagte ich, »ich war schon oft im Vierer.«

Das Wort »Vierer« hatte eine tiefe Wirkung, denn nur den Eingeweihten, hauptsächlich den Polizisten und den Verbrechern ist dieser Ausdruck für das Sicherheitsbureau (das vierte Departement der Polizei) geläufig. Der eine Polizist steckte eine Miene des Jubels auf, der zweite nickte langsam mit dem Kopfe und der dritte verlieh geistesgegenwärtig der allgemeinen Verblüffung beredten Ausdruck. Er führte aus:

»Ei, ei.« 202

Der vierte aber, der Besitzer jenes Augenpaares, das mich erkannt und entlarvt hatte, wollte nunmehr auch beweisen, daß meine Agnoszierung keine zufällige und seine Personalkenntnis des Sicherheitsbureaus wirklich eine tiefgründige sei:

»Da kennen Sie wohl den Herrn Olič?«

»Freilich kenne ich den Herrn Regierungsrat,« war meine Antwort. Das Frage und Antwortspiel ging weiter:

»Und Herrn Protiwenski?«

»Ja, den Herrn Oberkommissär kenne ich auch. Und den Herrn Oberkommissär Lichtenstern und die Herren Kommissäre Knotek, Drašner, Vanasek und Kubiček kenne ich ebenfalls.«

Ich glaubte mit dieser summarischen Aufzählung aller damaligen Sicherheitsbeamten weiteren Fragen meines Peinigers die Spitze abgebrochen zu haben, aber dieser war gründlicher als ich glaubte. Er setzte das Verhör fort:

»Kennen Sie vielleicht den Herrn Wejřik?«

»Jawohl, auch den Herrn Arresthausverwalter kenne ich. Sehr gut sogar.«

»Das glaube ich,« erscholl es jetzt, – mein Schicksal schien besiegelt. »Kommen Sie,« sagte der eine Polizist zu mir und wandte sich nach der Richtung, in der das Kommissariat Heuwagsplatz liegt.

Aber um unsere Gruppe hatte sich, trotz der späten Nachtstunde, eine ganz beträchtliche Menschenansammlung gebildet. Es waren größtenteils die Stammgäste des alten Einkehrhauses »U Rajtknechtu«, das an der Stelle des heutigen Palace-Hotels stand. Die allnächtliche Blütezeit dieses Gasthauses begann erst um zwei Uhr nachts, wenn die Setzer der nahen Zeilungsunternehmungen mit ihrer Arbeit zu Ende waren und das offizielle Eingangstor der Schenke gesperrt werden mußte. Diese Stammgäste hatten nun davon gehört, daß draußen vier Polizisten mit der Festnahme eines Verbrechers beschäftigt seien, waren hinausgeeilt und 203 hatten mit wachsendem Staunen meiner Einvernahme gelauscht. Als ich aber abgeführt werden sollte, traten zwei Setzer, die mich kannten, den Polizisten in den Weg:

»Herr Redakteur, sollen wir Sie vielleicht legitimieren?«

Aber das war nicht mehr nötig. Die Anrede machte die Polizisten stutzig und langsam dämmerte ihnen der Zusammenhang zwischen den Begriffen Nachtarbeit, Haase und Polizeikenntnis auf. Und gleichzeitig fiel ihnen ein, daß ich sie als Bekannter der ihnen vorgesetzten Polizeibeamten vor diesen schön blamieren könnte, wenn ich die Geschichte erzählte. Einer der Wachleute starrte mich wütend an, kehrte mir dann verächtlich den Rücken und ging von dannen. Ein zweiter aber verduftete blick- und wortlos. Der dritte salutierte mit kleinlauter, entschuldigender Miene. Der vierte aber brummte im schönsten Prager Deutsch:

»Da haben wir uns gegeben.« 204

 

Unter Statisten

Schon als Mittelschüler sind wir oft statieren gegangen. Erstens war es interessant, das Bühnentreiben aus nächster Nähe zu betrachten, zweitens war es ein einträgliches Vergnügen, da wir das Geld, das wir von den Eltern zum Theaterbesuch bekamen, für uns behalten konnten, und drittens gab es immer ein großes Gaudium. Bei der Aufführung der Oper »Die Rosenthalerin« hatten wir balgende Buben im Jahrmarktsgetümmel zu mimen und prügelten einander dabei in erfreulicher Weise, bis wir Beulen an den Köpfen und wunde Schienbeine hatten. In den »Hugenotten«, in denen wir als Priester und Ministranten auftraten, zogen wir im dritten Akt auf offener Bühne statt in die Kirche in das Wirtshaus.

Mit der Zeit wuchs unsere Bühnenroutine und unsere Courage zu verschiedenen Streichen. Einer von diesen hat der Schlußwirkung eines Theaterstückes starken Eintrag getan. Das war bei der Uraufführung des Gottschallschen Bibeldramas »Rahab« im Landestheater. Die Regie hatte Gustav Burchard inne, der in irgend einem reichsdeutschen Dialekte die Statisten zu beschimpfen pflegte, weshalb diese stets dazu bereit waren, ihm irgend einen Tort anzutun. Als Darsteller der übrigen Rollen waren Immisch, Bardi, Urfus und Metz, die Herren John, Moissi, Stiewe und Steil tätig. Wir Statisten – Söldner gaben wir – hatten während des Stückes nichts zu tun: Nur am Schlusse sollten wir im blutigen Scheine der an allen Ecken angezündeten Stadt die Mauern Jerichos besteigen und, unsere Schwerter und Hellebarden schwingend, dartun, daß jede Gegenwehr der Bürgerschaft vergeblich sei. Natürlich benützten wir die lange Zeit, die uns bis zum Schlusse des Dramas blieb, dazu, um uns in der Handhabung 205 der Hellebarden, Schwerter und Schilde zu üben, bis Regisseur Burchard unseren Turnieren ein jähes Ende bereitete. Schimpfend befahl er uns, alle Waffen hinter einer Kulisse auf einem Haufen niederzulegen. Wir folgten, aber brüteten Rache. Die gelang uns auch. Im letzten Akte machten sich zwei von uns auf, trugen unbemerkt alle Lanzen und Schwerter von dannen und versteckten sie zwischen zwei Kisten in der Nähe des Maschinenraumes. Knapp vor unserem Auftreten rief uns Burchard zusammen und prägte uns ein: Wenn sich der Feuerschein verbreitet habe, mögen wir unsere Waffen holen, sie mächtig aneinanderschlagen, auf den Leitern die »Mauern« erklimmen und oben unsere Waffen drohend erheben. Als aber die Bärlappsamen entzündet worden waren und wir unsere Waffen holen wollten, fanden wir sie nicht. Burchard fluchte, schimpfte, drohte, schrie, aber das half ihm nichts. Wir mußten wie Diebe auf die Mauern kriechen und stellten uns oben ganz friedlich auf. Das war der Schlußeffekt des Dramas, und die Kritik war am nächsten Tage einmütig in ihrem Urteil: die Bürgerschaft Jerichos hätte sich gegen eine derart schäbige Einnahme ihrer Stadt erfolgreich wehren können.

In der vorigen Woche habe ich nach längerer Pause meine »statistische« Tätigkeit wieder aufgenommen. Ich debütierte in »Wallensteins Tod«. Auch Kollege Devrient wirkte mit. Wir Statisten hatten Wallensteinsche Soldaten zu spielen. Herr Kristoff, als Garderobier daran erkenntlich, daß er in seinen beiden Rockaufschlägen einige hundert Stecknadeln eingesteckt hatte (Sigmund Lautenburg hat einmal einen Garderobier cäsarisch grollend mit den Worten entlassen: »Geben Sie Ihre Nadeln ab!«) kommandierte, als wir in den Garderobensaal gekommen waren:

»Hosen, Stiefel und Röcke ausziehen, Westen anbehalten.«

Wir bekamen rot-gelb-blau gestreifte Strümpfe, gelbe Schuhe, braunrote Pumphosen mit blauen 206 Rändern am Knie, ein helles Wams, einen Brustlatz aus Blech, einen Ledergürtel mit herabhängenden Patronen, einen Degen und einen grauen Schlapphut. Während wir uns ankleideten, teilte der kleine Herr Rosenzweig, dessen Geschlecht schon seit einem halben Jahrhundert die Komparseriebeistellung für das deutsche Theater besorgt, das Spielhonorar aus: Vierzig Heller per Person. Er selbst bekommt sechzig Heller, die restlichen zwanzig sind sein Gewinn. Ein Statist, der sich neben mir ankleidete, sagte auf pragerisch zu mir:

»Nicht wahr, das ist nicht dasselbe Stück, wo der Löwe den Wallenstein gespielt hat?«

Ich belehrte meinen Nachbar, indem ich ihm auseinandersetzte, daß »Herbstmanöver« und »Wallensteins Tod« Kriegsdramen verschiedenen Charakters seien, und daß der General Wallenstein nicht den gleichen Chargengrad wie der Kadettoffizierstellvertreter Wallerstein bekleide.

Ein anderer Statist zog, bevor er sich auskleidete, einen Gummiknüttel und einen Revolver aus der Tasche und legte die Waffen neben sich auf die Bank.

»Wozu tragen Sie die Waffen bei sich?« fragte ihn ein anderer.

»Die brauche ich zu meinem Beruf,« sagte der Befragte.

»Was sind Sie denn?«

»Ich bin Detektiv der Polizeidirektion,« wirft der Mann so gleichmütig hin, als ob er wirklich das wäre, als was er sich ausgibt. Der Garderobeinspektor des Theaters, Herr Fitzek, wendet sich interessiert an den »Detektiv« mit der Frage, ob es nicht einen Detektiv Fitzek in Prag gebe. Der angebliche Polizeiagent verneint die Frage. Er habe keinen Kollegen dieses Namens. Herr Fitzek erzählt daraufhin, sein Vater habe ihm einmal in Wien gesagt, daß er in Prag einen Onkel bei der Geheimpolizei habe. Der angebliche Detektiv wiederholte apodiktisch, daß er in den fünf Jahren, in denen er Angestellter des k. k. 207 Sicherheitsbureaus sei, nie einen Fitzek kennen gelernt habe. Und dann beginnt er – die Statisten haben sich um den Detektiv geschart – von dem hervorragenden Anteil zu erzählen, den er an der Ausforschung der Kriminalaffären der letzten fünf Jahre hatte. Er gehe oft statieren. Im tschechischen Nationaltheater habe er neulich den gefährlichen Dieb Burian dabei festgenommen, als er aus den Garderoben Portemonnaies stahl. Die Statisten reißen respektvoll die Augen auf, gar als er einen »Rapport« aus der Tasche zieht, in dem er angibt, daß er gestern mit dem Detektiv Batlicka eine Streifung unternommen habe. Alles bewundert den Meisterdetektiv, an dem nur die Phantasie bewundernswert ist. Ich kenne alle Geheimpolizisten. Er ist nicht darunter.

Inzwischen ist es sieben Uhr geworden und wir Statisten schleichen auf die Bühne. Wir hören, wie Seni-Mandé und Wallenstein-Devrient astrologische Weisheiten tauschen. Schließlich finden wir auch eine Lücke in der Dekoration, durch die wir auf die Szene schauen können. »Glückseliger Aspekt!« Wallenstein hat diesen Ausruf getan, und die Kulissenschieber nehmen ihn als Stichwort, um uns von unserem Ausguck zu vertreiben. Flüche, in denen sich Prager Bodenständigkeit mit gräßlichen Verwünschungen paart, schleudern sie mit verhaltener Stimme uns, »dem miserablen Komödiantengesindel«, »den verkleideten Affenpintschern«, ins Gesicht. Aber auch unter uns sind Männer von gewandter Rede und sie bleiben den »Wolkenschiebern« und »Leinwandbaumeistern« grobe Antwort nicht schuldig. Zwischen Bühnenarbeitern und Figuranten herrscht seit urdenklichen Zeiten Erbfeindschaft, und in den ewigen Kämpfen bleiben die Arbeiter immer Sieger. Denn sie sind Angehörige des Theaters, die Komparsen nur Fremde. Und das technische Personale hat im Inspizienten und im Regisseur mächtige Verbündete. Die jagen uns fort. Ich habe aber von allen Komparseriekollegen die größte Sehnsucht, auch etwas von den Vorgängen auf und hinter der Szene zu 208 erhaschen, ich schleiche mich von einer Kulisse zur anderen, von rechts, von der Zauberbude, in der der Oberbeleuchter mit Apparaten und Knöpfen hantiert, bis an die äußerste Linke, wo der Vorhangmeister das Steigen und Fallen des Vorhanges regelt, und komme mit dem Regisseur Seipp und sogar mit Heinrich Teweles, dann mit dem vorbeikommenden Theatersekretär Bertholdi und mit mehreren Schauspielern in unsanfte Berührung. Lauter gute Bekannte – keiner erkennt mich. Ein Schauspieler, mit dem ich in der vergangenen Nacht bis Viertel sieben Uhr früh Kognaksorten geprobt habe, beschimpft mich, weil ich ihm im Wege stehe. Und eine mir äußerst bekannte Schauspielerin schiebt mich höchst unsanft beiseite. Nur Herr Reinhart, der den Buttler gibt und selbst nicht zu erkennen ist, hat mich erkannt.

»Herr Redakteur, wie kommen Sie her?«

Ich bitte ihn um Stillschweigen, er sagt es mir zu, aber ich kann die Folgen dieser Erkennungsszene nicht vermeiden. Ein kleiner Statist, der neben mir steht, hat die Anrede gehört und fragt mich:

»Sie sind ein Redakteur?«

»Ja.«

»Da haben Sie ganz recht, daß Sie sich keinen Sitz kaufen. Was brauchen Sie sich zu drängen? Und schade ums Geld ist es.« Nach einer Weile fährt er aber fort: »Herr Redakteur, bitte schön, wie können Sie die Szenen kritisieren, die Sie nicht sehen?«

Da rücke ich denn mit der Wahrheit heraus: »Ich schreibe nicht über das Stück, ich schreibe nur über die Statisten.«

»Ueber die Statisten? Das ist großartig. Da müssen Sie hineinschreiben, daß ich eine prachtvolle Stimme habe. Wenn ich disponiert bin, singe ich elfmal hintereinander das hohe C. Nur habe ich einen Herzfehler und kann mich deshalb nicht zum Sänger ausbilden. Aber als Schauspieler bin ich einmal aufgetreten. In Hirschberg.«

»Was haben Sie da gegeben?« 209

»Den Okelly in ›Maria Stuart‹. Keine leichte Rolle. Ich sollte hinter einem Mauerstück auftauchen und den Mortimer warnen. Meinen Text kannte ich glänzend. Einen Souffleur hätte ich gar nicht gebraucht. Aber ich habe Pech gehabt. Der Garderobier hatte mir gesagt, ich brauche mich nur bis zum Gürtel zu kostümieren. Aber als ich mich über das Versatzstück beugte und mit voller Kraft schrie: ›Flieht Mortimer, flieht,‹ kippte das Versatzstück um und ich fiel auf die Bühne. Das Publikum lachte wie wahnsinnig, denn ich hatte zu dem roten Wams meine graukarierten Straßenhosen an und die Hosenträger hingen herunter. Der Direktor war wütend. Und bei der nächsten ›Maria Stuart‹ mußte ich wieder im Volk stehen und ›Rhabarber‹ murmeln. Seit der Zeit bin ich nicht mehr als Solist aufgetreten. Der Garderobier in Hirschberg ist schuld daran. Ich habe wirklich sehr viel Talent. Sie müssen schreiben, daß ich sehr viel Talent habe.«

Der kleine Statist mit dem großen Ehrgeiz weicht nicht mehr von meiner Seite. Schließlich werden wir beide – über Auftrag des Inspizienten – auf den Korridor geleitet und die Türe wird hinter uns geschlossen. Wir müssen durch die Katakomben, die von schwachen, mit Drahtnetzen umspannten Glühbirnen beleuchtet sind, wieder in die Garderobe hinab.

Während des dritten Aufzuges, kurz nach der Szene mit den Pappenheimern, die von »Chorherren« dargestellt wird, läutet in unserer Garderobe die elektrische Glocke: Man bedarf unser. Herr Kristoff wirft noch einen musternden Blick auf unsere Uniformen, bessert hier und dort an unserer Adjustierung und jagt uns dann hinauf in den Seitenraum der Bühne. Von der Szene tönt uns das Wortgefecht zwischen Max Piccolomini und Max Devrient entgegen. Wir stehen rechts von der Bühne und stellen die Truppen dar, die ungeduldig die Freigabe des jungen Piccolomini verlangen, den sie von Wallenstein gefangen glauben. Der Inspizient, Herr Körner, steht auf einem Sessel, und hebt 210 von Zeit zu Zeit die Hand. Das ist ein Signal für uns. Jetzt ist's Zeit zu lärmen!

Der einundzwanzigste Auftritt geht zu Ende, Wallenstein hat seine Absicht wahr gemacht:

                                    »Ich zeige mich
Vom Altan dem Rebellenheer, und schnell
Bezähmt, gebt acht, kehrt der empörte Sinn
Ins alte Bette des Gehorsams wieder.«

Wallenstein kommt zu uns heraus, wischt sich (dem Publikum ist er nicht sichtbar) den Schweiß von der geschminkten Stirn, schneuzt sich gleichmütig und schenkt uns, dem Rebellenheere, keine Beachtung. Ist es dann ein Wunder, daß auch wir ihn mißachten und auf die freundliche Aufforderung des Herrn Inspizienten »Vivat Ferdinandus!« schreien?! Das heißt: Alle schreien die beiden Worte nicht. Vor mir z. B. steht ein Tscheche, der in den allgemeinen Lärm nur mit einer freien tschechischen Uebersetzung die Worte »Schmarren« einstimmt.

»Um zwei Sechser werde ich doch nicht ganze Monologe aufsagen,« bemerkt er zu seinem Nachbar.

Nach und nach stürmen alle Statistengruppen in den Saal, der sich – streng laut Regiebemerkung Schillers – unter Kriegsmusik allmählich mit Bewaffneten zu füllen hat. Schließlich stehen wir alle im Hintergrund der Szene. Einzelne von uns betrachten die Dekoration, andere mustern die Thekla, andere starren forschend in den Zuschauerraum, der in gähnender Dunkelheit vor uns daliegt und aus dem sich tausend unsichtbare Augen auf uns heften. Wieder andere von uns suchen ihren Blick abzuwenden, unerkannt zu bleiben. Jeder hat andere Wünsche. Max Piccolomini aber schreit uns an:

»Was wollt Ihr? Kommt Ihr, mich von hier hinweg zu reißen? – O treibt mich nicht zur Verzweiflung. Tut's nicht! Ihr könntet es bereuen.« 211

Wir tun's nicht, wir könnten es bereuen. Wir würdigen den Mann gar keiner Antwort. Er aber glaubt, daß keine Antwort auch eine Antwort sei, und brüllt uns zu:

»Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,
Wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben.«

Dann rennt er ab, wir ihm im wilden Tumulte nach, nicht bereit zu sterben, sondern in unsere Garderoben. Wir haben ausgespielt und entledigen uns unserer Rüstungen, in denen wir von halb sieben bis zehn Uhr abends bös transpiriert haben und kleiden uns an. Einzeln verlassen wir die Garderobe. Der »Meisterdetektiv« mißt jeden von uns mit forschendem Blick, daß es den Gemusterten eiskalt überläuft.

Der kleine Statist schärft mir noch beim Abschied ein: »Vergessen Sie nicht hineinzuschreiben, daß ich eine prachtvolle Stimme habe!« 212

 

Volksküche

Ich fand den Eingang zur Volksküche, und drängte mich am Schalter. Dort hatte ich Gelegenheit, mich zu blamieren.

»Was kostet eine Suppe?« fragte ich einen Burschen, der sich neben mir drängte.

»Zwei,« antwortete der Lakonier.

»Zwei Sechser?« fragte ich weiter.

»Sag gleich zwei Gulden,« brummte der Gefragte. Dabei maß er mich mit einem Blick, in dem sich die Verachtung über die Unbildung eines Menschen, der nicht weiß, daß eine Suppe zwei Kreuzer koste, mit dem Verdachte paarte, daß ich ihn uzen wolle. Volksküchen, Schutz der Allerärmsten und Alleranspruchlosesten vor dem Hungertod, müßte die allererste Pflicht eines Staates sein. Aber selbst diese unterste Erfüllung der allgemeinen Nährpflicht ist bei uns der Laune Einzelner, der schmachvollen Institution: »Privater Wohltätigkeit« überlassen.

Es gibt in Prag sechs Volksküchen, die vom Volksküchenverein unterhalten werden: für die Alt- und Josefstadt in der Gemeindehofgasse, für die Untere Neustadt in der Petersgasse, für den Wyschehrad in der Wratislawgasse, für die Kleinseite auf dem Malteserplatz, und je eine für Holleschowitz und für Lieben. Die Ausgaben in sämtlichen Küchen betrugen 1910 genau 49.059 Kronen 34 Heller. Diesen steht als Einnahme die Bezahlung der Speisen im Betrage von 35.518 Kronen 80 Heller gegenüber, so daß in den Küchen ein Defizit von 13.540 Kronen 54 Heller bestand und diese mit einem Schaden von 38 Prozent arbeiten.

122.289 Portionen Suppe à 4 Heller, von den 111.026 Portionen Mehlspeisen à 12 Heller gelangten 213 im Vorjahre in der Speisehalle für die Alt- und die Josefstadt zur Ausgabe.

In einem der neuen Häuser, die auf der dem Gemeindehofe gegenüberliegenden Rampe stehen, ist sie untergebracht, in einem Parterrelokal, – anscheinend zwei Geschäftsräume, die vereinigt wurden. Auf den glatten Schamotteziegeln, mit denen der Fußboden belegt ist, lagert allmittäglich dicker Straßenkot, denn die Gäste sind von weither gewandert, und sie reinigen ihre Stiefel vor dem Eintritt in das Etablissement nicht. Der Türe gegenüber ist der Schalter zur Speisenausgabe. Die Hungrigen drängen sich in langer Queue. Ihr Geld halten die meisten abgezählt in der Hand, denn wer sich zu lange am Schalter zu schaffen macht, wird unbarmherzig zur Seite geschoben. Die wenigsten bestellen ein ganzes Menu, denn dreißig Heller sind viel Geld. Die meisten verlangen nur eine Suppe, das Billigste in diesem Restaurant. Vier Heller hat jeder. Manche nehmen zwei Suppenportionen, mancher nimmt zur Suppe eine Mehlspeise. Fleisch ist wenig und teuer, und so sind die Gäste der Volksküche größtenteils unfreiwillige Vegetarianer. Die Küchenverwalterin, Frau Schepkes, nimmt die Bestellungen und die Bezahlung entgegen, und reicht die verlangten Speisen. Aus einem Holzkistchen, das am Schalterbrett steht, nimmt sich jedermann einen Zinnlöffel. Auch Messer und Gabel sind darin. Aber dessen bedürfen die wenigsten, da sie ja kein Fleisch kaufen, und man die Mehlspeise mit der Hand zum Munde führen kann. Tafelzeremoniell und Tischetikette gibt's hier nicht.

Jeder trägt sich seine Speisen selbst auf seinen Platz. Im Saale stehen dreizehn Tische, drei links, zehn rechts vom Eingang. Sie sind so schmal, daß an ihren Breitseiten kein Sessel steht, – es wäre kein Raum für die Schüsseln einer hier sitzenden Person. An der Längsseite jedes Tisches läßt eine etwa einen Meter lange Bank für zwei Esser Platz. Aber das genügt nicht für die Schar der Kostgänger, es müssen sich mehrere 214 aneinanderdrängen, und außerdem sitzen an jeder Ecke des Tisches vier Leute halb auf der Bank und halb in der Luft.

Gegen Viertel ein Uhr mittags faßt ein Polizist im Saale Posto. Aber er hat nur eine Ordnerfunktion, ist nur zur Hintanhaltung eventueller Exzesse da. Nach Vagabunden und Revertenten fahndet er hier nicht, dieser Zufluchtsort der Hungernden scheint stillschweigend als eine Art exterritorialen Bodens betrachtet zu werden. Beim Eintritt des Wachmannes ist ein hünenhaft gebauter Bursche, in Kleidung, Frisur und Blick der Typus des Prager »Pepiks«, krampfhaft zusammengezuckt. Dann schiebt er den Suppennapf, den er vor sich stehen hat, bedeutend nach links, damit er beim Essen sein Gesicht von dem Polizisten abwenden kann. Wohl nicht aus Abneigung gegen den Hüter des Gesetzes, sondern er scheint eher seit seiner letzten Beichte vor dem Strafrichter eine neue Sünde auf sich geladen zu haben. Aber bald fühlt unser Freund, daß der schlenkernde Blick des Mannes mit der Hahnenfeder auf ihm haften bleibt. So wendet er sich dem Wachmann zu. Aber der nickt nur lachend. Und Pepik erwidert mit freundlichem Lächeln den Blick. Nach einer Viertelstunde verläßt der Hüter des Gesetzes wieder den Saal.

»Diesem Kerl habe ich einmal bei ›Reismann‹ (das Tanzlokal in der Kastulusgasse) den Rüssel zerschlagen,« konstatiert jetzt der Bursche laut. Lebhafte Heiterkeit, beifällige Zurufe.

»Und wieviel haben sie dir dafür gegeben?« forscht ein Gründlicher.

»Sechs Wochen. Wegen öffentlicher Gewalttätigkeit. Während es doch eine rein private Angelegenheit zwischen mir und ihm war.« Neuerliches Hallo.

Ein etwa vierzehnjähriger Bursch im blauen Arbeitshemd, der mit dem Wortführer am selben Tisch sitzt, ist vielleicht der einzige, der dem Gespräche nicht zugehört hat und der in das Beifallslachen nicht 215 einstimmt. Er hat das schwarze Heftchen einer Kriminalbibliothek aufgeschlagen vor sich liegen, und während er mit der rechten Hand den Löffel mit Suppe mechanisch zum Munde führt, blättert er mit der linken die Seiten um, deren Inhalt seine glänzenden Augen verschlingen. Was rings um ihn vorgeht, weiß er nicht, er hat die Erzählung des Renkontres von »Reismann« nicht gehört. Der Junge, der hier die ungesunde Nahrung der geistigen Volksküchen verschlingt, der träumt wahrscheinlich davon, auch einst ein berühmter Räuber zu werden, wie der Betyare Rosza Sandor war. Und wird doch nur ein Pepik werden, wie sein Nachbar, sollte doch lieber der wahren Geschichte von Reismann zuhören.

Es sind noch jüngere Burschen da. Schulkinder, ganz kleine Schulkinder, deren Eltern in der Arbeit sind, und die sich um achtzehn Heller ihr Mittagsbrot kaufen. Sie verschlingen gierig die stark gezwiebelte Graupensuppe und den Mohnkuchen, – ihre einzige Nahrung bis zum Abend, vielleicht bis zum nächsten Mittag. Knochen sind ihre Aermchen, ein blasses Oval ist ihr Gesicht, wie die Weberkinder, von Käthe Kollwitz lithographiert, sehen sie aus.

Diesen von Hunger zerquälten Kindern, der Jungmannschaft für die zukünftige industrielle Reservearmee, fehlen hier, in der Kantine des Pauperismus, die Gegenspieler nicht: die Veteranen der aktiven Arbeitsarmee:

Altersschwache, müde Männer, denen vielleicht sogar der Weg vom gegenüberliegenden Gemeindehof lang und beschwerlich war. Daß sie von dort kommen, sieht man an ihrer Mütze, die das Stadtwappen trägt. Straßenkehrer sind sie jetzt, sieche Angehörige der Stadt, sie haben das Unglück gehabt, ihre Arbeitsfähigkeit zu überleben und kein einziger Brotherr kümmert sich um sie. Nur zu einer ganz belanglosen Beschäftigung kann man sie noch verwenden: zur Straßenreinigung von Prag. 216

Ein Bettler, uralt, wankt gebückt vom Schalter zu einem Tisch. Mit der rechten Hand stützt er den Stock auf, in der heftig zitternden Linken trägt er den Suppennapf, aus dem die heiße Flüssigkeit auf die Erde spritzt. Die Hälfte des Inhaltes ist verschüttet, als sich der Alte endlich niedergelassen hat. Jetzt hebt er mit seiner zuckenden Hand den Löffel, aber auf dem Wege vom Teller zum Munde geht wieder ein beträchtlicher Teil der Nahrung verloren. Und schmerzvoll bedauernd starrt der Greis auf die kleinen Lachen, die das teure Naß auf dem ungedeckten Tisch und auf dem Boden bildet . . .

Das Mädchen, das von Zeit zu Zeit die leeren Teller und Bestecke von den Tischen räumt, kommt auch zu mir und nimmt, da sie mich nicht mehr essen sieht, meinen Suppennapf weg. Aber kaum hat sie hineingesehen, so stellt sie mir ihn wieder hin. Wirklich, es sind noch etwa drei Löffel Suppe darin!

»Sie können sich den Teller nehmen,« sage ich. »Ich esse nicht mehr.«

Das Mädchen wundert sich über diese Verschwendung. 217

 

Hinauswurf aus dem Rathause

Ich glaube: Ueber den Prager Fenstersturz, der den dreißigjährigen Krieg einleitete, wurde nicht so ausführlich berichtet, wie über meinen Hinauswurf aus dem rein bourgeoisen, nationalistischen und unverblümt antisozialen Prager Rathause von 1908. Eine Stadtverordnetengruppe hatte sich verabredet, die Vertreter der deutschen Zeitungen bei der nächsten Sitzung des Kollegiums hinauszuweisen. Also auch mich.

Aus allen Berichten geht hervor, daß ich mich dabei im Prager Rathause skandalös benommen habe. Und es war unverdiente Gnade, daß man mir eine ungeheure Strafmilderung zugestand: man hat mich nicht durch einen Hausknecht hinausgeworfen, sondern man hat mich durch den Stadtverordneten Breznowsky hinausexpedieren lassen.

Dieser hat mich durchaus nicht mit Glacéhandschuhen angefaßt, obwohl er sich in seinen stillen Stunden mit deren Erzeugung beschäftigte. Er hat es nicht getan, weil ich es nicht verdiente. Habe ich mich denn nicht, laut Bericht des »Hlas Naroda«, das einem k. k. offiziösen Stadtverordneten gehörte und dem daher Authentizität zukam, »sehr frech und wütend« benommen? »Er versetzte«, so heißt es in der Morgenausgabe dieses Blattes vom 10. November 1908 u. a., »dem Stadtverordneten Vanha einen Stoß und mit einem Ausrufe ›Ich werde diese Diebshöhle schon beleuchten‹, sauste er blitzschnell die Stiegen hinunter.« Wie übel wäre es mir doch vor Gericht ergangen! Ein Leugnen hätte mir nichts geholfen, denn auch das offizielle Rathausorgan, die »Nar. Listy«, erklärten in aufgeregtem Tone, ich hätte die Drohung ausgestoßen, daß ich Diebstähle aus dem Rathause veröffentlichen werde. Auch den Stoß gegen den Stadtverordneten Vanha 218 registriert das Rathausorgan, und weiß sogar hinzuzufügen, daß ich den Stoß mit der Faust geführt und eine Vanhasche Rippe gebrochen habe.

Der klerikale »Čech« bedeckt den Rippenstoß mit dem Mantel der Nächstenliebe. Er verschweigt ihn ganz, trotzdem sein Bericht sonst an Ausführlichkeit durchaus nichts zu wünschen übrig läßt. Er schreibt u. a.: »Als erster fand sich Redaktionsmitglied der ›Bohemia‹, der berüchtigte Kisch, ein. Es wurde ihm gesagt, daß es nicht angehe, in den Sitzungssaal des Kollegiums das Redaktionsmitglied eines Blattes einzulassen, welches alles, was aus Prag kommt, verdreht und beschimpft. Kisch aber machte keine Miene, den Saal zu verlassen. Es traten also die Ordner hinzu und führten ihn auf den Gang hinaus. Kisch schäumte, drohte und lehnte sich auf, es blieb ihm aber nichts übrig, als zu suchen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hatte.« Im weiteren Verlaufe des ausführlichen Berichtes registriert das genannte Blatt die Tatsache, daß nach meiner angedrohten Enthüllung über die Diebstähle im Prager Rathaus »in dem auf den Korridoren angesammelten Publikum Bewegung entstand«. So?

Solche Referate konnte das nationalsoziale »Česke slovo« durch Radikalismus nicht mehr übertrumpfen; damit es aber doch in seinem Berichte mehr Stiefel habe, als die anderen Blätter, schrieb Georg Stribrny, der damals noch nicht Abgeordneter, geschweige denn Minister oder gar Exminister war, man habe die Stiefel hinausgetragen, in denen ich steckte.

Ein armer Ghettonarr, der davon lebt, daß andere sterben, ein Partezettelagent namens Eduard Kisch hatte sich von irgendeinem Spaßvogel einreden lassen, man halte ihn allgemein für den aus dem Rathaus Hinausgeschmissenen; kein anständiger Mensch werde je eine Todesanzeige bei ihm aufgeben, und er möge nur sofort von Redaktion zu Redaktion laufen und die Veröffentlichung der Feststellung erbitten, daß er nicht ich sei. Die erschien. Ich gab ihm die Bestätigung, und – um 219 auch den Rest jeden Verdachtes von ihm abzuwenden – fügte ich hinzu, daß ich nicht einmal verwandt mit ihm bin. Karl Kraus hat dann doch bewiesen, daß ich der andere bin. Ich hatte abfällige Referate über Kraus geschrieben; mit Weglassung der ihm allzu peinlichen Wahrheiten und mit Weglassung der Punktierung, welche eine solche Weglassung anzuzeigen pflegt, druckte er sie ab, druckte sich vor der Beleidigungsklage (». . . signierte Zeitungsartikel, deren Urheber wohl wissen, daß ich nur gegen den Vorwurf des Meuchelmordes die Justiz geschworener Lohnfuhrwerksbesitzer anrufen könnte . . .« »Der Beleidigung durch die Presse, lasse ich, der die Presse wahrlich besser beleidigt, freien Lauf und jeder junge Schmock darf sich auch künftighin an mir die Sporen verdienen.« »Die Fackel«, XII., Heft 317, 318). Was der alte Schmock aber druckte, war eine ihm vom Schauspieler Ernst Deutsch diktierte Szene, wie jener Inseratenagent (der weder schreiben noch lesen kann) von den Angehörigen eines erst Sterbenden den Auftrag für die Parte verlangt. Original von Kraus war die Feststellung, so akquiriere der Prager Journalist Kisch Todesanzeigen . . .

Der Partezettelmann war nicht der einzige, der sich meiner schämte. Der »Večerni List« veröffentlichte unter dem Titel »Sie kann nichts für ihren Namen« folgende Erklärung: »Herr Egon Kisch, Redakteur der ›Bohemia‹, ist nicht, wie allgemein verlautet, mein Neffe, und ich bin überhaupt nicht mit ihm verwandt. Marie Kisch, Hausbesitzerin, Prag, II. Zderasgasse.«

Der »Čech« reproduzierte diese harmlos scheinende Erklärung am nächsten Morgen mit der Aufklärung, daß die Absenderin der Zuschrift die Besitzerin eines verrufenen Hauses sei.

Worauf dann ein Weinberger Lokalblatt hämische Glossen darüber machte, wieso gerade das – klerikale Organ gewußt habe, daß das Haus ein verrufenes sei.

Ferner griff mich Abgeordneter Myslivec im Parlamente an, und die Abgeordneten sollen sich höchlichst 220 darüber verwundert haben, daß man sich auch unanständig benehmen könne.

Der »Illustrovaný Kurýr«, eine Zeitung, die sonst hauptsächlich Momentphotographien vom Augenblicke der Mordverübung bringt, reproduzierte mein Bild. Dabei passierte dem Bildredakteur eine Verwechslung, die in den Annalen dieser Zeitschrift gewiß nicht allzu häufig ist. Er muß in ein falsches Fach gegriffen haben, und – wie es der Zufall oft will – es war wirklich mein Bild, das er erwischte, und das ins Blatt kam.

Das Furchtbarste aber war: Es muß sich ein Ephialtes in der Nation gefunden haben, denn über die Stadtverordnetensitzung, aus der ich cum infama exkludiert worden war, erschien ein ausführlicher Bericht in den deutschen Blättern. Mit bangem Grausen, von grenzenlosem Entsetzen gepackt, richtet der »Čech« an die Nation am 12. November die Gewissensfrage: »Wer hat wohl dem aus dem Rathause hinausexpedierten Kisch mitgeteilt, was im Stadtverordnetenkollegium vorgegangen ist?« Und weiter: »Da ergibt sich eine Menge von Fragen und verdächtigen Umständen . . .«

Auf diese »Menge von Fragen« kam keine Antwort, diese »verdächtigen Umstände« erfuhren keine Aufhellung, und die Klage wegen Hausfriedensbruches, die gegen mich zu erheben, über Antrag des Bürgermeisters Dr. Groš noch in derselben Sitzung feierlich beschlossen wurde, ist nie eingebracht worden. Denn in der Nacht desselben Tages hat mein alter Redaktionskollege Hermann Katz, nachdem er mir noch die Quellen für die Beschaffung des Stadtverordnetenberichtes angegeben hatte, auf furchtbare Weise Selbstmord begangen. Und man wollte nicht alle Todesmotive dieses armen, gehetzten Menschen aufrollen, und man wollte nicht auch mich in den Selbstmord treiben. Obwohl ich die damalige Rathauswirtschaft beleidigt, und mich skandalös benommen habe. Peccavi! 221

 

Obdach

Eine Minute von der Elisabethstraße entfernt, durch die Fiaker, Automobile, Straßenbahnwagen, Equipagen und Droschken nach dem Baumgarten fahren, zweigt von der Klemensgasse die Neumühlgasse ab. Sie ist keine Verkehrsstraße; vier scharfe Ecken bildend, kehrt sie zur Klemensgasse zurück. Hier ist nichts mehr von Promenade, nichts mehr von Luxusfuhrwerken zu merken. Nur wenige Passanten bevölkern sie. Abends jedoch sammeln sich hier Gruppen von Menschen an, die des Augenblickes harren, wo sich das Tor des Hauses Nr. 11 eröffnet, auf dem in großen, schwarzen Lettern die Worte »Útulna – Asyl« stehen.

Einige sitzen auf dem Geländer, das die schmalen Anlagen der Klemenskirche umfriedet, andere auf den Stufen am hinteren Kircheneingang. Etliche stehen vor dem Eingang eines Gasthauses in der Klemensgasse, wieder andere sind an die Häuser der Neumühlgasse gelehnt. Auch Frauen sind darunter. Ein Doppelposten der Polizei hält Wache.

In der Gruppe, in der ich mich anstellte, war ein fünfzehnjähriger Bauarbeiter, der gerade von seiner Fußwanderung aus Triest in Prag eingetroffen war. Dann ein Prager Geschäftsdiener, elternlos und ohne Verwandte, der ohne Stellung war. Vor anderthalb Tagen hatte er bei einem ehemaligen Kollegen eine Suppe bekommen, seither hatte er überhaupt nichts gegessen. Unter anderen Umständen hätte ich diese Angabe vielleicht skeptisch aufgenommen. Aber hier konnte ich nicht daran zweifeln. Was für ein Interesse hätte er gehabt, die Kollegen, die gleich ihm arg im Bruch waren, zu belügen? Erwarten konnte er von ihnen ja nichts. Ich versprach ihm meine Suppenportion für den Fall, daß ich, trotzdem ich kein Dienstbuch habe, in 222 das Asyl eingelassen würde. Ich hätte einen verdorbenen Magen und könne nichts essen. Seither wich der Bursche nicht von meiner Seite, damit er in das gleiche Zimmer mit mir komme. Seine einzige Sorge, die er fortwährend zu mir äußerte, war die: »Ob man dich nur ohne Büchel hineinlassen wird?«

Von Zeit zu Zeit kamen Besuche zu unserer Gruppe, Leute, die billige Gelegenheitsarbeiter suchten, unbefugte Vermittler. Die Paupers, deren Lebenslage unter das durchschnittliche Normalniveau der arbeitenden Klasse gesunken ist, sind die Ware für diesen Seelenkauf, denn das Elend der hier nach Obdach suchenden Menschen, »gerade dieses macht sie,« wie Marx theoretisch herausgefunden hat, »zur weiteren Grundlage eigener Ausbeutungszweige des Kapitals

»Bist du ein Müllergehilfe?« fragte mich ein wohlgenährter Herr, der auf unsere Gruppe zugetreten war. Nein, ich sei kein Müllergehilfe. Damit aber gab sich der Herr noch nicht zufrieden: »Willst du nicht drei Tage in der Mühle arbeiten?« Ich müsse morgen abreisen, sagte ich, und der Vertrag war nun endgültig gescheitert.

Auch ein Bäckergehilfe kam zu mir: »Du bist ein Bäcker?« Wieder verneinte ich. »Das macht nichts,« sagte jener. »Du könntest heute nachts bei uns in der Werkstätte statt meiner arbeiten. Mein Mädel ist heute früh nach Prag gekommen und ich möchte gern mit ihr ausgehen. Du brauchst nicht viel zu machen, nur soll der Alte nicht merken, daß einer fehlt. Ich gebe zwanzig Kreuzer.« Ich erklärte, ablehnen zu müssen. Schon drei Nächte hätte ich nicht geschlafen.

Die »Arbeitgeber« und »Arbeitsvermittler« waren nicht die einzigen Personen, die um unsere Gunst warben. Zwei Frauen traten auf einzelne von uns zu und boten uns privates Logis an. Sie fanden kein Glück, da ihre Forderung zu hoch war. Je zwei hätten in einem Bette schlafen, und jeder dreißig Heller zahlen 223 sollen. Ein jüngerer Wanderbursche ließ sich in Unterhandlungen ein, aber ein erfahrener Genosse zog ihn zurück. »Unsinn! Im Asyl schläfst du allein im Bett, zahlst keinen Heller und kriegst noch zweimal Suppe.« Da mußte denn die Wohnungsvermieterin wieder abziehen.

Wir standen von dreiviertel sechs Uhr abends bis sieben Uhr. Dann wurde das Tor geöffnet, entweder weil der Hausvater sehen wollte, wieviel Leute draußen seien, oder weil irgend ein Angestellter des Asyls eingelassen wurde. Das Oeffnen des Tores war das Signal zur Vergatterung vor diesem. In weitem Bogen drängte sich die Schar der Obdachlosen. Die Frauen wurden in die erste Reihe gelassen. An sie schlossen sich, auf Anordnung eines alten Kunden, zunächst die Leute, die schon tags vorher die Gastfreundschaft des Asylvereines genossen hatten. In den nächsten Reihen standen die Obdachsuchenden, welche die Bestätigung ihrer Gewerkschaft darüber in Händen hatten, daß sie stellungslos und »auf der Walz« in Prag seien. Dann kamen diejenigen, die durch ihr Arbeitsbuch den Nachweis ihrer Arbeitslosigkeit führen konnten und deshalb das Anrecht auf Annahme in das Obdach der Obdachlosen besaßen. Zuletzt die Schar jener Burschen, die zwar stellungslos waren, aber schon zwei oder drei Tage im Asyl genächtigt hatten; sie wußten wohl, daß sie kaum wieder Einlaß finden würden und berieten, wo sie im Falle ihrer Abweisung nächtigen würden. Auch die drei anderen Schichten – jetzt waren auch die Obdachlosen, diese untersten Repräsentanten der menschlichen Gesellschaft, in Klassen geteilt – debattierten eifrig.

Das neuerliche Oeffnen des Tores machte den Gesprächen ein Ende. Man ließ die Frauen – größtenteils beschäftigungslose Feld- und Fabriksarbeiterinnen – ein und schloß wieder. Dann, nach etwa zehn Minuten die Männer. Ein Asylbediensteter rief die Gruppe aus. Einzeln wurde man eingelassen, jeder mußte sich 224 legitimieren. Bei der Gruppe »Arbeitsbücher« fand auch ich mich ein.

»Wo hast du dein Arbeitsbuch?« fragte mich der Mann an der Pforte.

»Ich habe keines,« war meine Antwort. »Ich komme aus Reichenberg und wollte ins Spital. Aber man hat mich nicht aufgenommen, weil überfüllt ist.«

»Warum fährst du nicht zurück?«

»Ich habe kein Geld. Auf der Polizei werden sie mir ein Rückreisebillett geben. Aber erst morgen. Nachmittag wird nicht amtiert, und da haben sie mich hergeschickt.«

»Wer hat dir das gesagt, daß du hergehen sollst?«

»Der Offizial Soucek.« Der Namen des Beamten, der die Reiseunterstützungen aushändigt, genügte, um den Auguren von der Richtigkeit meiner Aussage zu überzeugen. Aber er hatte noch eine Besorgnis:

»Weshalb wolltest du ins Krankenhaus?«

»Ich habe Herzschwäche.«

Da ließ er mich denn ein. »Ein Neuer!«, rief er einem anderen Bediensteten zu, der auf der anderen Seite des Tores stand und Protokoll führte. Ich gesellte mich zu den anderen Obdachlosen, die sich im Hausflur drängten. Der Asylbedienstete wandte sich nun an die, die draußen harrten. »Ist noch jemand, der noch nicht zwei Nächte hier war?« Keine Antwort. »Gute Nacht, hochgeehrte Herren,« mit diesem ironischen Gruß schloß er vor ihrer Nase das große Tor zu, und fünfzig Menschen müssen in Kanälen und auf nassem Rasen die Nacht verbringen . . .

Ein Angestellter des Asyls stellt sich auf die erste Stufe der Wendeltreppe und ordnete an:

»Stiefel abputzen, Hemdkragen und Hosen öffnen, paarweise antreten!«

Geräuschvoll wurde diesem Befehl Folge geleistet und vom ersten Stock erscholl die zweite Order:

»Die beiden ersten herauf!« 225

Nach etwa einer Minute: »Die beiden nächsten herauf.« Und so fort. Oben wurden alle eingehend nach Ungeziefer untersucht.

Von Zeit zu Zeit hörte man von oben Schimpfen und Protestieren, und dann kam immer ein Obdachloser wieder die Treppe herunter: Man hatte bei ihm das Gesuchte gefunden . . . Das Tor öffnete sich und der Paria ward entlassen.

Ich war mit dem hungernden Handlungsdiener im Paar. Man fand nichts bei mir, und meiner Aufnahme stand nichts im Wege.

In einem kleinen Zimmer, in dem sechs Betten standen, wurde ich einquartiert. Meine Zimmergenossen zogen ihre Stiefel aus und nahmen je ein Paar der harten Lederpantoffeln, die auf dem Eisenofen lagen. Ich zog gleichfalls die »Batschkoren« an, setzte mich aber dabei auf das Bett. Das war ein Fehler, denn ein zufällig in das Zimmer tretender Angestellter des Hauses fragte mich sofort, ob ich eigentlich glaube, daß ich im Spital sei. Ich vermutete, daß dies eine rhetorische Frage sei, und beantwortete sie nicht. Damit gab sich der Asylbedienstete nicht zufrieden.

»Du bist aber ein Häuschen« (hajzl), meinte er. Gleich darauf fügte er die Mitteilung hinzu, daß ich ein »Bastard« (parchant) sei. Diese Angabe ist unrichtig; doch der Asylbedienstete konnte sich ja irren. Wieso er aber von mir behaupten konnte, daß ich ein »Lausbub« (všivák) sei, während doch die unmittelbar vorhergegangene Untersuchung vollständig negativ verlaufen war, ist mir unverständlich.

Der Asylbedienstete, dessen Groll ich mir zugezogen hatte, kam nach einer Pause von etwa zehn Minuten wieder in unser Zimmer. Diesmal war seine Mission viel sympathischer. Er legte jedem von uns ein Stück Brot auf das Bett und bestimmte dann zwei von uns zum Holen der Suppe. Ich – war ich doch sein Feind! – war einer von den zweien. So ging ich denn mit meinem Arbeitsgenossen die Stiegen hinunter in den 226 ebenerdig gelegenen Küchenraum. Hier stand ein Holztablett für uns bereit, das mit fünf gefüllten Blechtassen beladen war: die Suppe. Wir beförderten die Ladung in unser Zimmer. In den Blechtassen stak ein Zinnlöffel, aber jeder meiner Zimmergenossen verschmähte den Gebrauch des Löffels und trank den Inhalt direkt aus der Schale. Ich kostete einen Löffel und erfüllte dann das Versprechen, dem hungrigen Handlungsdiener meine Suppenportion zu schenken, leichten Herzens. Leichten Herzens, denn eine Suppe war das nicht. Den anderen aber schmeckte sie doch, wenigstens aßen sie sie gierig.

Ich benützte die Souperpause, um in den Räumen des Asyls Umschau zu halten. Einzelne Zimmer waren doppelt so groß als das unsrige und beherbergten dementsprechend die doppelte Anzahl von Betten. Im ganzen sind in den beiden Stockwerken, die für die Männer bestimmt sind, 78 Betten untergebracht. Es sind eiserne Kavalets, die einen Strohsack, einen Roßhaar-Kopfpolster, eine benähte Drillichdecke und ein ziemlich reines Leintuch enthalten. Ueberhaupt herrschte auf den Wänden und Fußböden der Schlafsäle, auf den Gängen, Stiegen und auf der die ganze Front umgebenden Pawlatsche eine gewisse Sauberkeit, – kein Wunder bei der eisernen Disziplin, über die ich kurz vorher in so energischer Weise belehrt worden war.

Als die Suppe verzehrt und die Holztasse samt den Suppennäpfen wieder in die Küche getragen worden war, setzten wir uns auf die Stühle, und es begann die Konversation. Schon die Art des Bekanntwerdens war eine viel bessere, als sie in der sogenannten guten Gesellschaft üblich ist. In den Salons geschieht die Vorstellung durch eigene Initiative, sie ist aufdringlich, jeder gleichgültige Mensch stellt sich jedem gleichgültigen Menschen vor und nennt seinen gleichgültigen Namen, der überhaupt nicht verstanden wird. Im Asyl fragt einer den anderen: »Was für einen Beruf hast du?« Mit der Antwort ist alles Wissenswerte über den 227 Schlafgenossen gegeben. Nach dem Namen wird nicht gefragt. Namen sind Schall und Rauch.

Ich erfuhr, daß mein Bettnachbar zur Linken ein Kanalräumer, beziehungsweise ein Kutscher sei, der nur in den letzten vierzehn Tagen, mangels anderer Beschäftigung, der Prager Gemeinde nächtlicherweise beim Entleeren der Kanäle behilflich gewesen, aber gerade tags vorher wegen allzu großer Trunkenheit im Dienst entlassen worden war. Er war übrigens nicht böse darüber: »Länger als vierzehn Tage bin ich ohnedies seit zehn Jahren in keiner Stadt gewesen.«

Das Bett zu meiner Rechten hatte mein neuer Freund, der Handlungsdiener, inne, links von dem Kanalräumer war ein Zuckerbäckergehilfe aus Hartberg bei Graz, der von dort geradewegs zu Fuß nach Prag gekommen war. Bei diesem kam ich durch ungeschickte Beantwortung seiner Fragen in den Verdacht, ein Protz zu sein. Er fragte mich nämlich, ob ich schon in Hamburg gewesen sei, und ich bejahte.

»Wie ist's dort im Asyl?«

Ich mußte wahrheitsgemäß antworten, daß ich dies nicht wisse. Ich hätte bei einem Freunde geschlafen, sagte ich.

»Und wie weit ist es von hier?«

»Zu Fuß?«, schlüpfte mir als Gegenfrage aus dem Mund und das war dumm.

»Willst mi eppa pflanzen?« fuhr er mich bös an. »I wer doch net im Fiaker hinfahren!«

Zum Glück machte der Kanalräumer, der sich auch jahrelang in Deutschland herumgetrieben hatte und nicht nur deutsch, sondern auch italienisch – der Verkehr mit den italienischen Erdarbeitern brachte das mit sich – verstand, weiteren Angriffen des steirischen Zuckerbäckers gegen mich ein Ende. Er teilte ihm mit, daß er von Prag nach Hamburg etwa zwölf Tage zu gehen habe, wenn er täglich fünfzig Kilometer zurücklege. In Hamburg gebe es zwei Asyle, er möge aber nicht in das Polizeiasyl gehen, denn dort werde jeder 228 Kunde photographiert. Auch im Asyl der Magdeburger Arbeiterkolonie möge er sich nicht aufhalten; dort müsse man vor der Aufnahme das Arbeitsbuch abgeben und müsse Holz sägen und hacken, »ärger als im Arbeitshaus«. Dann gab der Kanalräumer dem Zuckerbäcker noch einige geographische Ratschläge. Er beschrieb ihm den Weg, den er einschlagen müsse, um vier Heller Ueberfuhr zu ersparen, und nannte ihm die Straßen, auf denen gute Zwetschken zu schnappen seien. Auch über die Schubverhältnisse, über die Handhabung des Vagabundengesetzes und über die Naturalverpflegsstationen und die Herbergen in den einzelnen Orten sagte er dem Zuckerbäcker manch kräftiges Wörtlein.

Während des Gespräches zog der Kanalräumer wiederholt ein Fläschchen aus der Tasche und stärkte sich. Schließlich war der Schnaps alle.

»Hol's der Teufel, daß man hier kein Bier kriegt,« brummte der Kanalräumer wütend.

»Ich wieder wär' froh, wenn ich rauchen könnte,« sagte ich, um etwas zu sagen.

»Hast du denn ein Stückchen Zigarette?« meinte jener mit lauerndem Blick. »Ich würde mich draußen einsperren und rauchen.«

Ich brach in der Tasche eine »Drama« in die Hälfte und reichte meinem Schlafgenossen eine Hälfte. Der hatte sie kaum in der Hand, als sich schon der Zuckerbäckergehilfe an ihn herandrängte und ihn flehentlich bat: »Schenk' mir ein Stückl.« Da wurde denn die halbe Zigarette redlich geteilt.

Ein aufsehenerregendes Intermezzo war der Eintritt eines Wachinspektors der Polizei mit einem Wachmann. Sie ließen sich die Legitimationen vorweisen, verglichen Personalbeschreibung mit dem Vorweiser, blickten ihm prüfend ins Gesicht, stellten auch Fragen, aber verließen schließlich ohne Beute das Haus.

Um neun Uhr verlosch das Gaslicht. Ich benützte die Dunkelheit, um mich in Kleidern auf das Bett zu werfen. Während der Nacht schloß ich kein Auge. Rechts 229 neben mir schnarchte der postenlose Geschäftsdiener wie ein Lokalbahnzug, links neben mir stieß der Kanalräumer in seinem alkoholschweren Schlaf wüste Drohungen gegen irgend ein Mädel aus, von dem er träumte. Aus dem Nebenzimmer drang in Intervallen von je zwei Minuten ein Husten herein, als ob der Mann zu ersticken drohe. Es dauerte lange, lange, bevor es sechs Uhr wurde. Endlich aber schrillte eine Glocke Reveille. Alles kleidete sich an und machte das Bett zurecht. Bald darauf kam der Aufseher und besah das Werk kritischen Auges. Hier fand er die Decke zu wenig geglättet, dort war das Leintuch unten zusammengefaltet, statt unterhalb des Kopfpolsters. Schließlich verließ er uns, um auch die Nachbarräume mit seiner Inspektion zu beehren. Als er wiederkam, legte er jedem von uns einen »Pandur«, einen runden Wecken, auf das Bett, und wir durften wieder Suppe holen.

Nach einer halben Stunde ertönte ein lauter Ruf des Asylvaters: »Magazin!« Das war das Aviso für die Obdachlosen, sich um den bis dahin versperrten Schrank zu scharen und daraus die Ranzen und Kofferchen in Empfang zu nehmen, die sie hierher in Verwahrung gegeben hatten. Um sieben Uhr wurde das Tor geöffnet, und der Strom der Obdachlosen mündete wieder in die Stadt. Der Doppelposten der Polizei stand wieder da und schaute uns mißtrauisch an.

Die meisten der Obdachlosen begaben sich zunächst in die Arbeitsvermittlungsanstalt im »Alten Gericht«, dann in jene von Zizkow. Ohne das Visum dieser beiden Institute finden sie anderswo weder eine Genossenschaftsunterstützung, noch nächstens eine neuerliche Aufnahme im Asyl. 230

 

Das Lotto

Im Ziehungssaale der Lotterie strömen alle die Gefühle zusammen, die auf den Pawlatschen und in den Waschküchen, auf dem Markte und in den Fabriken, bei den Planetenziehern und bei den Kartenlegerinnen, in und vor den Kollekturen in gewisperten Gesprächen des Aberglaubens und der Mystik zum Vorschein kommen. Der Ziehungssaal der Lotterie ist vielleicht der einzige Raum, in welchem eine Harmonie des Einzelempfindens eine Massenstimmung bildet, die nicht das Produkt momentaner Erregung ist. Die fremden Menschen, die sich hier drängen, sind wohl, was die Herkunft, was den Charakter anlangt, von einander grundverschieden. Herabgekommene, und solche sind da, in deren Geschlecht seit Menschengedenken nur gerüchtweise bekannt war, daß es irgendwo Wohlstand gebe. Die Gruppen sind schwer zu unterscheiden, – das Elend hat die Unterschiede ihrer Abstammung verwischt, die Einleitungskapitel ihrer Lebensromane sind mit freiem Auge nicht lesbar. Aber die laufenden Kapitel, die ihres gegenwärtigen Seins, stehen deutlich in ihrer Anwesenheit, ihren Blicken, ihren Gesten, ihren Worten, ihren Ausrufen geschrieben. An allen diesen Menschen zerrt eine quälende Unzufriedenheit mit ihrem Schicksal, in allen diesen Menschen zuckt als einzige Hoffnung die Hoffnung auf den Zufallsgewinn, aller dieser Menschen Glauben ist der Aberglauben. Ihr Handeln beschränkt sich auf das Abreißen des Marginales an den Kollekturen, auf das Auslegen von Spielkarten, Träumen, Erscheinungen und Ereignissen, und aus deren Transponierung in Ziffernwerte, auf den Ankauf von Riskonti und auf ihr Erscheinen bei der öffentlichen Ziehung. Alle ihre Hoffnungen heißen Terno und Ambo, Nominate und Extrato. 231

Prag teilte mit sieben Hauptstädten Oesterreichs die Ehre, der Schauplatz einer öffentlichen Lottoziehung zu sein, einen Sammelkanal für jene Wissenschaft des Unverstandes zu besitzen, die sich unfruchtbar müht, die wirren und unzusammenhängenden Traumgebilde mit nüchternen Ziffern und Zahlen auszudrücken, die unklaren Wünsche und unklar ersehnten Schicksale ziffermäßig zu werten, und die exakteste und klarste Wissenschaft, die Mathematik, in den Dienst waghalsigen Aberglaubens zu stellen. In dem an der Ecke der Ziegengasse und des Ziegenplatzes stehenden Aerarpalaste, der die Berghauptmannschaft und das Münzamt beherbergt, war auch das Lottoamt untergebracht. Alle vierzehn Tage – immer am Mittwoch – fand hier die »Prager Ziehung« statt, auf deren Ergebnis Tausende und Abertausende aus allen Teilen des Reiches mit hoffender Zuversicht harrten. Die, die zur Ziehung kamen, waren gewissermaßen eine Elite: Nicht alle jene, die ihr mühsam erworbenes Hab an den Schaltern der Kollekturen entrichteten, wußten, daß sie dabei sein konnten, wenn sich ihr Los entschied. Aber die zur Ziehung kamen, das waren die Gewohnheitsspieler, welche die staatliche Kontrolle kontrollieren wollten, das waren die Vertreter des Verstandes in diesem Reiche des Unverstandes, das waren die Menschen, die alles von dem Moment der Ziehung erwarteten und nicht so lange warten konnten, bis die Kollektanten die fünf blauen Ziffern an ihren Läden affichierten.

Der Ziehungssaal steht im Hofe des Gebäudes. Schon um halb zwei Uhr nachmittags bilden sich an den Ziehungstagen im Hofe debattierende Gruppen. Weiber mit Kopftüchern sind da, Burschen, denen man ansieht, daß sich der Großteil ihres Tagewerkes auf die Pflege ihrer »šístky«, ihrer Sechserlocken, erstreckt, dann die Typen der Prager Straßen, Bettler und Hausierer, Halbidioten und Trunkenbolde. Sechs Wachleute halten hier Dienst, Weißgardisten des Aberglaubens. 232

Die Gespräche drehen sich durchwegs um Dinge, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Eine Gruppe läßt sich gänzlich von der Frage beherrschen, ob »Verhaftung« die Ziffer 79 bedeutet, wie das eine der beiden tschechischen Traumbücher besagt, oder die Ziffer 88 – die Ansicht des anderen Traumbuches. Frau Kratochwil vom Obstmarkt und Frau Lenovsky aus der Markthalle haben nämlich in der Nacht von Sonntag auf Montag den gleichen Traum gehabt: der Markthelfer Jaro Krejsa sei arretiert worden. Kaum hatte sich in den Kreisen der Halledamen das Gerücht von dieser Duplizität der Träume herumgesprochen, als die Polizei wirklich den Jaro Krejsa, diesen Lumpen, wegen Diebstahls verhaftete, 79 oder 88, das ist hier die Frage.

Auch in einer anderen Gruppe sind Traumbücher aufgeschlagen. Aber es handelt sich beileibe nicht um simple Traumdeutungen, sondern um mathematisch-kabbalistisch-astrologische Berechnungen höheren Grades. Das Traumbuch, das – so sagt das Titelblatt – »von Madame Lenormand nach besten Quellen und untrüglichen Erfahrungen altägyptischer Priester und persischer Magier« zusammengestellt ist, enthält auch eine Fülle von tabellarischen Systemen und saturnalischen Quadraten, nach denen die Amben und die Ternen zusammenzustellen sind. Die Grundlage bilden die Ziffern, die bei den letzten Ziehungen in Brünn, Wien, Innsbruck, Lemberg, Linz, Prag und Triest Treffer brachten. Das sind die Intelligenzspieler. Sie verachten und belächeln jene Lotteriespieler, die ihr Glück dem Zufall anvertrauen, die sich von den an den Kollekturen ausgehängten Marginalenummern, den sogenannten »trhačky« (Abreißzetteln), einen beliebigen auswählen oder gar sich willenlos der Prophezeiung des Kollektanten unterwerfen, indem sie einfach die Ziffern setzen, die auf einer schwarzen Tafel im Innern der Kollektur als besonders empfehlenswert aufgeschrieben sind und »Kabbala« genannt werden. 233

Die Gruppe der verachtenden Intelligenzspieler wird wieder von einer Gruppe verachtet, die über alle anderen erhaben ist. Nicht bloß, weil sie die drei Stufen besetzt hält, die zu dem Saaleingang führen, sondern weil sie alle die Manipulationen und Berechnungen als hellen Unsinn erkennen.

»Die blöden Weiber,« sagt der eine, der mit höhnischem Lächeln einem Gespräch der benachbarten Weibergruppe zugehört hat, »sie glauben, daß man die Einer der bei der letzten Ziehung herausgekommenen Zahlen zur ersten Ziffer addieren muß. Subtrahieren muß man sie.«

Diese Uebergescheiten spielen auf Sieg und nicht wie die anderen auf Platz. In der Prager Lotteriesprache heißt dieser Turfausdruck »Na Ruf« und bedeutet, daß die gesetzte Ziffer an eine bestimmte Stelle, zum Beispiel als dritte, gezogen und ausgerufen werden muß. Sie können sich diese Vorausbestimmung schon leisten, denn nach ihren präzisen Berechnungen müssen sie ja gewinnen. Sie sind auch gar nicht aufgeregt, und spötteln über die Aufregung der anderen. Wenn man sie aber fragen wollte, warum sie denn dann hierhergekommen seien und warum sie wohl sich unmittelbar an der Türe aufstellten, dann würden sie wohl die Antwort schuldig bleiben.

Vom Turme der Jakobskirche tönen zwei Glockenschläge. Alles drängt sich zur gläsernen Eingangstüre, durch die jetzt im Innern des Saales der Amtsdiener sichtbar wird. Der sperrt die Türe auf und alles strömt in den Ziehungssaal.

Wie im Hofe, so stehen auch im Ziehungssaale Polizisten. Acht an der Zahl. Vier von ihnen bilden an der kaum acht Meter langen Barriere, welche den für das Publikum reservierten Raum der Breite nach abgrenzt, einen Kordon. Reelle Geschäfte pflegen im allgemeinen polizeilichen Schutzes nicht zu bedürfen. Aber das macht die Leute nicht stutzig, die sich durch die Türe aus dem Hofe in den Saal ergießen. 234

Die Wachleute sind nicht die einzige Sicherheitsvorkehrung, durch die sich das Lottoamt vor seinen Kundschaften schützt. Die Distanz wird gewahrt. Zwischen der Barriere und dem Podium ist ein etwa zwei Meter breiter Zwischenraum und längs des Podiums zieht sich neuerlich ein Geländer.

Ueberdies bemüht sich die Verwaltung, durch Beobachtung allerhand strenger Kautelen darzutun, daß das Lotto schon an sich ein so lukratives Geschäft ist, daß es nicht auch zu seiner Durchführung einer Düpierung des Publikums oder gar eines Schwindels bedarf. Als noch das alte Lottoamt bestand, war das Podium sehr erhöht und das Publikum konnte den Beamten nicht genau kontrollieren. Da gab es denn arge Verdächtigungen.

»Aha! Seht Ihr den Kerl? Die richtigen Nummern legt er auf den Tisch und seine eigenen Nummern gibt er in die Kapseln!«

Solche und ähnliche Rufe wurden gegen den Finanzrat laut, der oben am Tische saß. Ueberhaupt das alte Lottoamt! Die bejahrten Kundschaften Frau Fortunas wissen davon sehr viel Uebles zu berichten. Damals war noch der »langnasige Hausmeister«. War das ein Lumpenkerl! Der drehte und drehte das Glücksrad wie er es brauchte. Wenn er achtmal drehte, dann kamen die kleinen Nummern heraus, wenn er siebenmal drehte, die großen.

Und erst die Waisenknaben! Das waren ausgesuchte Lausbuben. Die hatten die Nummern schon im Gefühl und wer sie am besten bezahlte, dem taten sie den Gefallen und zogen sein Terno.

Ja, und die Soldaten! Das war auch ein Schwindel. Früher bildeten nämlich Soldaten das Spalier an der Barriere. Wenn nun die Herren vom Lottoamt wollten, dann bestellten sie sich die Jäger, die kleinen Soldaten. Natürlich wurden dann immer die kleinen Nummern gezogen. Aber wenn man die Ziehung großer Nummern beabsichtigte, dann bestellte man die größten 235 Soldaten vom Infanterieregiment Teuchert-Kauffmann, daß diese das Herz der mannstollen Frau Fortuna beeinflussen mögen. War es da nicht berechtigt, daß man die 88er-Infanteristen mit unverhohlenem Unwillen empfing, wenn man gerade die kleinen Nummern gesetzt hatte?

Es kommen keine Soldaten mehr, sondern Wachleute, der langnasige Hausmeister ist einem Amtsdiener mit einer indifferenten Nase gewichen, und das Podium ist so niedrig, daß man den Beamten gehörig auf die Finger schauen kann. An dem Tische auf dem Podium sitzen drei Beamte. Einer in Uniform, zwei in Zivil. Der eine sitzt in der Mitte des Tisches, sein Gesicht ist dem Publikum zugewendet. Die beiden anderen sitzen zu seinen Seiten und zeigen dem Publikum nur ihr Profil. Einer von ihnen hat eine Kassette vor sich, in der die Nummer 1 bis 90 fein säuberlich geordnet liegen. Er entnimmt die erste Nummer und reicht sie einem vierten Beamten, dem Herrn Assistenten, der – mit dem Rücken zum Publikum gekehrt.– bei dem Tische steht. Der Assistent steckt den Zettel zunächst dem uniformierten Beisitzer zu, der diesen mit ostentativ scharfen Blick betrachtet. Dann reicht der Assistent den Zettel dem in der Mitte des Tisches sitzenden Finanzrat und verkündet dabei laut:

»Jedna – Eins.«

Der Finanzrat kontrolliert neuerlich, ob sich der Inhalt des Papierstreifens mit der ausgerufenen Nummer deckt, und legt dann den Zettel in eine hagebutteähnliche Holzkapsel. Diese Hülle schraubt er mit feierlicher Langsamkeit zu und wirft sie dann in das zu seiner Rechten stehende Glücksrad, dessen Seitenwände aus Glas sind und so den kritischen und mißtrauischen Beobachtern den Einblick in das Innere gewähren, Glück und Glas.

Mit den nächsten Nummern geht es ebenso. Die einzelnen Ziffern werden von den Stammgästen mit allerhand Glossen und Reminiszenzen begleitet. Jeder 236 der Beteiligten konstatiert mit Befriedigung, daß auch seine Nummer der Glastrommel einverleibt wurde. Der erste Schritt zum Terno ist getan. Manche stoßen, wenn die Ziffer ihres Extratos in das Glücksrad geworfen wird, inbrünstige Wünsche aus. Die Nennung der Zahlen 79 und 88, die durch die Verhaftung des Markthelfers Jaro Krejsa besondere Aktualität gewonnen haben und im Vordergrunde des Interesses stehen, wird allseitig mit beifälligem Gemurmel begrüßt. Der Zettelvorrat in der Kassette des Beamten nimmt zusehends ab, was sich von der Aufregung im Zuschauerraum nicht behaupten läßt. Im Gegenteil. Sie steigt mit der Höhe der verkündeten Ziffern.

»Hned bude neunzig,« prophezeit Frau Lenovsky.

Sie hat recht. Bald ruft der Assistent die »Neunzig« aus und das Glücksrad wird verschlossen. Der Amtsdiener schnallt einen Riemen um den Messingmantel des Glücksrades. Einer der beiden Waisenknaben, die bislang unbeachtet in einer Ecke des Podiums saßen, steigt auf den Stuhl, der zwischen dem Rat und dem Rad steht. Auf einen Wink des Finanzrates beginnt der Diener die Kurbel der Glastrommel zu drehen. Einige Male nach rechts, einige Male nach links. Die hölzernen Hagebutten springen klappernd in ihrem gläsernen Palast hoch empor und hopsen lustig durcheinander, als ob sie nicht wüßten, daß sich an sie ein verzehrendes Hoffen und Sehnen der Leute da unten knüpfe. Und wieder ein Wink des Finanzrates. Es klingelt, und das Rad steht still. Ein Fensterchen in der Messingwand des Glücksrades wird geöffnet. Der Waisenknabe streckt seinen rechten Arm in die Höhe. Der rechte Aermel seines grauen Zwilchmantels, den er soeben an Stelle seines Rockes angezogen hat, ist bei der Schulter abgeschnitten, das Hemd hinaufgeschlagen, so daß der Arm nackt ist. Der Bub streckt die Finger der Hand von sich, damit man sehe, daß er auch hier nichts verborgen habe. Er macht das ganz putzig und lächelt dazu. 237

»Ein entzückender Junge,« registriert Frau Lenovsky, »und was er für zarte Fingerchen hat. Der zieht sicher etwas Gutes.«

Inzwischen hat der also Belobte seinen Arm in Fortunas Rad versenkt, eines der hölzernen Futterale herausgezogen, und es einem Mitgliede des Beamtenquartetts gereicht, das die Hülse auseinanderschraubt, den Papierstreifen herausnimmt, entfaltet, betrachtet und dann seinen Kollegen reicht. Einer von diesen schreibt die gezogene Nummer ins Protokoll und der Assistent ruft in tschechischer und deutscher Sprache in die atemlose Stille hinein:

»Erster Ausruf: Vier.«

Im Nu weicht die Ruhe einem Gemurmel des Entsetzens. Von den verehrten Festgästen hat gerade auf »vier« niemand gesetzt, wie sich aus den Mienen der Enttäuschung und den Ausrufen der Bestürzung erkennen läßt. Ein Marktweib findet die Lösung des Rätsels, wieso gerade der Vierer gezogen wurde:

»Weil sie den Jaro Krejsa in den Vierer gebracht haben!«

Der »Vierer«, das Departement IV der Polizeidirektion, das Sicherheitsbureau! Wie Schuppen fällt es von der Leute Augen. Daß man daran gar nicht gedacht habe! Jaros Verhaftung hatte weder 79, noch 88 zu bedeuten, sondern 4. Natürlich!

»Vielleicht wird noch außerdem die Neunundsiebzig gezogen.« An diese Hoffnung versucht sich eine Dame der Halle zu klammern. Aber die alten Stammgäste der »Tante Lotty« belehren sie eines Besseren.

»Wenn einmal eine kleine Nummer gezogen worden ist, dann kommen lauter kleine Nummern.«

Der Assistent hat unmittelbar nach seinem Ausrufe den gezogenen Zettel in die Menge geworfen. Ein junger Glückssucher von der Podskaler Wasserkante hat ihn erhascht und diesen Talisman eingesteckt. Das nächstemal wird er auf »vier« setzen. 238

Die Prozedur wiederholt sich. Beim zweiten Ausruf wird die Ziffer »81« gezogen, was nicht ganz dem prophetischen Ausspruche entspricht, daß heute nur kleine Nummern gezogen würden. Aber auf dieses Nichteintreffen der Prophezeiung ist die Erregung der Gemüter nicht zurückzuführen, die sich nach jedem Ausruf des Assistenten in den Ausrufen des Publikums Luft macht. Die verlesenen Zettel werden abwechselnd in den rechtsstehenden und in den linksstehenden Teil des Publikums und in dessen Mitte geworfen. Die Papierstreifen sind das einzige, was Frau Fortuna ihren Bewerbern aus dem Füllhorn beschert . . . Der Verkündung der letzten Nummer ist ein besonderer Sturm der Entrüstung gefolgt. Keiner der Harrenden hat gewonnen. Was nützt es, wenn von den drei Nummern, welche jene Frau gesetzt hat, eine gezogen wurde? Erst zwei gezogene Nummern des Ternos, erst zwei gezogene Nummern des Ambosolos bedeuten einen Gewinn. Was nützt es, wenn jenem Burschen die Ziffern eines Extratos in verkehrter Reihenfolge herausgekommen sind? Mit Unwillen werden die Marginalzettel, diese Dokumente trügerischer Träume und falscher Deutungen, in kleine Stücke zerrissen.

»Seht Ihr den Galgenvogel,« kreischt Frau Lenovsky den Waisenknaben an, den sie vorher nicht genug zu loben wußte, und der sich jetzt mit knabenhaftem Lächeln wieder seinen Rock statt des ärmellosen Amtskittels anzieht. »Seht Ihr den Lumpenkerl, den Wechselbalg. Seht Ihr die Diebsfinger? Zum Stehlen, da taugt er! Aber zu etwas Anständigem? Gott weiß, wer sein Vater war!«

Das Unglücksrad wird versiegelt. Der Saal leert sich. Die Kollektanten eilen in ihre Geschäfte, um dort die fünf roten Ziffern auszuhängen, welche heute ausgelost worden sind. Noch früher aber als die Kollektanten sind in deren Geschäften die Leute, die jetzt ihr Glück den blauen Ziffern von Brünn anvertrauen. Die Hyperklugen aber eilen in besondere Kollekturen, in 239 jene in der Wassergasse, in der Myslikgasse, auf dem Petersplatz und in der Schalengasse, wo man nicht bloß auf die blauen und roten Gewinnziffern, sondern auch auf die goldenen der Wiener Ziehung, auf die schwarzen von Linz und Triest und auf die grünen von Graz setzen kann.

Sie werden auch dort den großen Reichtum nicht erringen, trotz aller ihrer geometrisch-astrologisch-okkultistisch-kabbalistisch-kryptographisch-arithmetischen Kombinationen. Grau, teurer Freund, ist alle Theorie. Und graue Gewinnziffern gibt es nicht. 240

 

Die Irren

Sie gehen umher und laufen, sie drängen sich auf den Gängen, sie stehen in Gruppen beisammen oder schauen aus den Fenstern in den beschneiten Garten hinunter, den fünf Gassen der Oberen Neustadt begrenzen. Der eine raucht eine Zigarette, der andere hält seine Pfeife, ein dritter die Zigarre im Mund. Der eine trägt die graue Anstaltskleidung, der zweite einen schwarzen Gehrock, der dritte einen tadellosen, grauen Straßenanzug. Hier springt mit wirrem Lallen, gesenktem Kopf, roten Augen und schlenkernden Armen ein Patient vorüber, dort im offenen Zimmer spielen zwei ruhige Männer eine Partie Schach – brillante Spieler, sagt der Arzt.

Ein Herr reicht dem Doktor den Aufnahmsbogen eines neuen Patienten, Nationale und Anamnese. Der Arzt vergleicht den Akt mit dem Polizeirapport, der Ueberreicher steht wartend. »Auch ein Kranker,« sagt der Arzt französisch zu mir.

Ich sehe mir den Mann an. Er ist behäbig, sehr sorgfältig gekleidet und hat einen wohlgepflegten, grauen Schnurrbart. Er geht weg, und der Arzt sagt zu mir: »Der Mann hat vor einigen Jahren einen Prager Stadtverordneten aus Rache auf der Straße erschossen. Das Verfahren wurde eingestellt, da sich herausstellte, daß der Mörder unzurechnungsfähig war. Jetzt versieht er bei uns Kanzleidienste. Die Uebersetzung des tschechischen Polizeirapportes und die Uebertragung auf der Schreibmaschine hat er selbst besorgt.« Ich erinnere mich genau an den Mord. Der Mann, der geglaubt hatte, von dem Stadtverordneten verfolgt zu sein, hatte zuerst in den Zeitungen gegen ihn geschrieben, und schließlich war sein Haß so ins 241 Krankhafte gewachsen, daß er dem Feinde auflauerte und ihn erschoß. Und jetzt sieht er ruhig, äußerlich und innerlich so ausgeglichen aus.

Ein zweiter Patient: Doktor juris. Auch sein Name ist mir geläufig. Er hat vor einigen Jahren an dem studentischen Leben Prags regen Anteil genommen. Er spricht mit meinem Begleiter.

»Nun, Herr Doktor, sind Sie schon zu meiner Ueberzeugung gelangt, daß Ihre Diagnose falsch ist!«

Es entspinnt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf sich der Jurist als Fachmann auf psychiatrischem Gebiet entpuppt. Er ist hierher gebracht worden, weil er in Intervallen von etwa zwei Jahren gefährliche Anfälle bekommt; er ist überzeugt, daß er zu Unrecht in der Irrenanstalt zurückgehalten werde:

»Ich tröste mich aber. Auch Christus würde heutzutage nicht mehr gekreuzigt werden; seine Widersacherwürden ihn ins Irrenhaus sperren.«

Ein dritter Patient: hochelegant, brauner Straßenanzug von englischem Schnitt, Scheitel genau in der Mitte des Kopfes. Ueber dem rechten Auge trägt er eine schwarze Seidenbinde. Er hat in Teplitz eine Kellnerin erschossen und sich selbst durch einen Revolverschuß ins Auge verletzt. Sein Vater ist Rektor in Deutschland; er will von dem entarteten Sohn nichts wissen. Der junge Mann ist der Freund des internierten Doktors. Die beiden Geisteskranken sind Meister im Schachspiel, diesem Spiel, das die größte Anspannung geistiger Kräfte verlangt.

Von einem anderen Patienten, einem Dégénéré supérieur. der früher Photograph war, und mit Josef Kainz in intimster Freundschaft stand, liest mir eine Reihe Gedichte vor, die er einem der klinischen Aerzte eingehändigt hat und die seine Stimmung in der 242 Irrenanstalt schildern. Aus einem Sonettenzyklus »Die Irren« sei hier veröffentlicht:

I.
        Ein Haus birgt sie mit hundert öden Fenstern
Und einsam kauern sie in langen Gängen
Und schleichen in verhaltnen Mollgesängen
Gleich lichtverscheuchten Mitternachtsgespenstern.
Denn was sie hielt, das lebt nun vor den Gittern:
Die Menschen, Nächte, Lichterglanz und Hunde,
Und was da bleibt, ist düstergraue Stunde,
Ein Hauch von Wind und naher Bäume Zittern.
Da sammeln sie, was noch zuletzt geblieben,
Und senken es in sich, wie ein Gebet,
Ihr letztes Gähnen und ihr letztes Lieben.
Ihr Auge, das nach tiefem Innern späht,
Sieht nur, was in verschloss'ner Brust geschrieben,
Und ihre Stimme schweigt und ist verweht.
 
II.
Und manche träumen von gewalt'gen Knütteln,
Mit welchen sie die schweren Schlösser sprengen,
Von roten Flammen, die die Welt versengen,
Und wollen an granitnen Säulen rütteln.
Sie lallen und versuchen große Flüche,
Und ihre matten Augen möchten rollen,
Und ungelenken schwanken Schrittes trollen
Sie stolz und spreitend durch Lysolgerüche.
Denn ihre Wünsche, die sich einst verkrochen,
Und sich in dunkler tiefer Brust verloren,
Sie können nicht an innere Pforten pochen.
Sie sind verschlungen und in sich gegoren,
Und ihre besten, kühnsten sind zerbrochen,
Und liegen vor der Seele stummen Toren. 243
 
III.
Und in den Brettern liegen Schreckgestalten,
Die durch gesenkte, schwere Lider sehen
Und irre Worte, die nur sie verstehen,
Begleiten heiß ihr zages Händefalten.
Und ihre Glut glimmt weiter ohne Schüren
Und Schlüssel sind sie ihrer eignen Weise
Und Mittelpunkte ihrer engen Kreise,
Die niemals wachsen und sich nie berühren.
Nur manchmal ist es wie ein Händereichen,
Das licht und leicht auf ihrem Wesen liegt,
Wie ein Erkennen und wie ein Erbleichen.
Dann sprechen sie – von Hoffnung eingewiegt –
Von Königreichen und von goldnen Teichen.
Doch sind sie bald von Finsternis besiegt.
 
IV.
Dann sterben sie in weißgetünchten Zellen
Noch einmal, da sie lange schon gestorben,
So wie die grüne Frucht, die früh verdorben,
Sich noch vom Baume löst, um zu zerschellen.
Vielleicht ist ihnen mancher Wunsch geworden,
Eh' sie die fahlen Augen endlich schließen:
Ein süßes, schwelgerisches Traumgenießen
Und Kampfgetön, wie ferner Wind von Norden.
Sie schwinden dann, wie Glocken, die zerschlagen,
Weil die metallne Mischung einst mißlingen,
Da ihre Hüter in der Schenke lagen.
In Harmonien und in Dämmerungen
Von neuem Blühen und von neuen Tagen
Ruht still ihr Staub, zu bess'rem Sein gezwungen.

In den Sonetten malt der internierte Dichter die Gestalten um ihn her, und wenn er auch bei der Wiedergabe ihrer Stimmungen unsagbar tief aus 244 Eigenem schöpft, so wahrt er doch den Standpunkt des Schilderers, des abseits Stehenden. Umso bemerkenswerter ist ein Gedicht, in dem er von sich selbst spricht und das in einigen Zeilen unverkennbare Kriterien von Krankheit aufweist. Es lautet:

Ich will.
            Und wieder leg' ich es in diese Zeilen:
Daß ich trotz Schlingen und gelegten Seilen
Und durch das Lärmen aller Karren
Und durch das wüste Schrein der Narren
Mit unbeugsamer fester Stirne
Erspäh' den Glanz der fernsten Firne
Und alle schroffen Höh'n ersteige
Vor meines Tages letzter Neige.

Es ist menschlich und ästhetisch ergreifend zu beobachten, wie hier in dem – letzten oder Neues verheißenden – Flackern eines halb ausgelöschten Talentes ähnliche Spannungszustände und ähnliche Vorstellungsassoziationen wiederkehren wie in der Wahnsinnslyrik eines Großen: Friedrich Hölderlins. Der Dichter, der diese Verse singt, ist schwer krank. Er hat seine Mutter töten wollen, weil er ihre Not nicht mehr mitansehen konnte.

Er ist nicht der einzige Künstler in der Irrenanstalt. Drüben in der Frauenabteilung sitzt ein braunes Mädel beim Fenster, und zeichnet mit Bleistift das Gebäude des deutschen naturwissenschaftlichen Institutes. Ich beginne mit ihr ein Gespräch. Aber die Kleine ist schnippisch; es ist eine äußerliche Keckheit, die innere Zagheit und Schwäche verbergen will und diese überkompensiert. Das Mädchen will mir seine Zeichnung nicht zeigen.

»Sie verstehen ja doch nichts davon,« lacht es.

Erst als der Doktor um das Bild ersucht, zeigt die Kranke es her. Es ist mit natürlichem Geschick gemalt, und der gute Blick der Zeichnerin ist unverkennbar. Das Mädchen befaßt sich viel mit Kunstgeschichte: 245 früher war Manes, jetzt ist Aleš ihr Lieblingsmaler. Die junge Malerin ist früher Köchin gewesen; der Tadel über eine mißlungene Speise versetzte sie in Paroxysmus, sie entlief ihrer Herrschaft, wollte sich ins Wasser stürzen, flüchtete dann in die Wälder der Umgebung Prags, und irrte dort einige Tage umher, ohne zu essen oder zu trinken. Entkräftet lag sie im Wald, als man sie fand. Jetzt sieht sie gut aus und malt. – Wir treten wieder auf den Gang hinaus.

»Herr X.« ruft der Arzt einen Mann an.

Der kommt herbei. »Wie geht's?« fragte ihn der Doktor.

»Danke, jetzt hab' ich ja wieder ein neues Ministerium zusammengestellt. Sie setzen jetzt in den Zeitungen einen römischen Dreier zu meinem Namen. Na, wir werden ja sehen, wie's gehen wird.«

Der Mann, der herbeigekommen war, als der Arzt seinen wirklichen Namen rief, glaubt Baron Bienerth zu sein. Die Politik ist dem Armen zu Kopf gestiegen.

Im Krankenzimmer kommt ein alter Patient auf uns zu, bittet ehrerbietig, ein Theaterstück aufsagen zu dürfen. Und nun spricht er den Puppenspieler-Faust, die Stimme variierend, wenn neue Personen auftreten. Er erzählt von den Taten des Doktor Faust, von seiner Geistesbeschwörung und der Verschreibung seiner Seele an den Teufel, und von den Wunderdingen, die er am Hofe des Kaisers vollbracht habe. Er deklamiert, – bis wir ihm Einhalt gebieten. Ob er noch etwas tanzen dürfe, fragt er bescheiden. So tanzt er denn, und hopst im Zimmer herum. Die anderen Patienten beachten seine Sprünge kaum, so wie sie früher nicht auf seine Rezitation geachtet haben. Sie kennen diese letzten Reste der Kunst, die der Alte – ein ehemaliger Marionettenspieler und Schaubudenbesitzer – aus dem einstigen Beruf in seine Krankheitszeit hinübergerettet hat.

Wir müssen noch eine andere Vorstellung über uns ergehen lassen. Ein Irrsinniger, der nicht sprechen, sondern nur unverständliche Laute zu stammeln 246 vermag, hängt einen Hampelmann an einen Schrank, umhüllt sich und einen anderen stummen Irren mit einem Laken, schlägt mit einem Löffel dreimal an ein Wasserglas, und beginnt nun vor dem Hampelmann verzückte Tänze und Körperschwingungen zu exekutieren. Er singt dabei in eintönigem Rhythmus irgendwelche Worte. Sein Genosse, der überhaupt sein willenloses Werkzeug ist, hat nur die Aufgabe, die Bewegungen zu kopieren, und tut es mit einem dumpf-begeisterten Lachen.

Ein Kranker steht gebückt in seinem Bett und starrt aus dem Fenster hinaus ins Leere. Eine Woche steht er schon so da, und selbst wenn man ihm Speise einflößt, schaut er aus dem Fenster in jene Richtung, in der sein Sehnsuchtsland liegt.

Ein ganz kleiner Junge, der sehr, sehr schwer krank ist, treibt in einem Krankenzimmer seine Possen. Er ist der Liebling seiner alten Zimmerkollegen, und sie vollführen alle seine Wünsche. Der Kleine ist ein Adeliger, der Enkel eines Hofrates, der früher in Oesterreich eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat. Die Töchter des Hofrates sind tief gesunken, der kleine Enkel kam zunächst ins Waisenhaus und dann hierher.

Dort im Bette in der Ecke verstummt plötzlich ein Röcheln, das bislang hörbar war. Der Arzt geht hin und leuchtet dem wachsbleichen Mann unter das Augenlid. Die Irren sammeln sich rings um das Bett und stieren auf den Alten. »Exitus,« konstatiert der Arzt leise. 247

 

Interview mit dem Heiratsvermittler

Inserat: »Trust-Office. Weinberge. Nachweislich vornehmste, erfolgreichste und vertrauenswürdigste Ehevermittlung. Streng diskret und reell. Vorspesen frei. –

Mein Brief: P. T. Mit Bezug auf Ihre heutige Annonce gestatte ich mir anzufragen, wann ich Sie besuchen könnte. Hochachtend E. Kisch, Prag 475-I.

Antwort: Euer Wohlgeboren! Ihre sehr gesch. Zuschrift vom gestrigen Tage ist mir durch das »Trust-Office« zugekommen und ersuche ich Sie höflichst, mir morgen um vier Uhr die Ehre Ihres Besuches zu geben. Sollte Ihnen diese Zeit nicht passen, so bitte ich, mir unter oben bezeichneter Telephonnummer bekanntzugeben, wann Sie kommen, jedoch nur die Zeit ab drei Uhr nachmittags zu wählen. Hochachtungsvollst f. d. Trust-Office: Name unleserlich.

*

Das Stubenmädchen, das öffnet, ist reizend, – aber ich bin im Dienst hier.

»Bitte, kann ich jemanden vom Trust-Office sprechen?«

»Wen darf ich melden?«

Ich zücke meine Visitkarte, und erwarte, von einer alten Jungfer in Behandlung genommen zu werden. Aber es empfängt mich ein soignierter junger Mann, heischt mich, am Schreibtisch Platz zu nehmen, und verstrickt mich in ein Gespräch, in dem er sich über alle meine Verhältnisse empörend informiert erweist, aber noch immer flicht er einige Fragen in die Unterhaltung ein. Der Mann hat anscheinend bei einem Informationsbureau über mich Erkundigungen eingezogen.

Endlich fragt er mich: »Wieviel beanspruchen Sie?« 248

»Ich beanspruche sehr viel – ich möchte Sie nämlich bitten, mir für einen Artikel über Heiratsvermittlung einige Mitteilungen zu machen.«

Der junge Mann ist paff. Ihm ist wohl schon mancher aparte Wunsch vorgetragen worden, – ein solcher aber noch nicht. Aber er findet sich schnell in die Situation.

»Bitte, fragen Sie nur, ich werde antworten.«

»Kommen in Prag viele Ehen durch Vermittlung zustande?«

»In den Kreisen der upper ten – alle. Es sind mir nur sehr, sehr wenig Ausnahmen bekannt.«

»Ja, Sie wollen doch nicht das Vorkommen von Liebesheiraten leugnen?«

»Pardon – ich vermittle nur Liebesheiraten. Das kann ich Ihnen an Hunderten von Fällen nachweisen, in denen meine Klienten die zärtlichsten und glücklichsten Ehegatten geworden und mir unendlich dankbar geblieben sind.«

»Gewiß – aber ich wollte sagen, daß es doch auch Paare gibt, die die Liebe zusammengeführt hat und die deshalb keines Vermittlers bedürfen.«

Herr Trust-Office lächelt überlegen. »Die Liebe ist der schlechteste Ehevermittler. Entweder sie bringt die Paare nicht bis zum Traualtar oder aber sie vermittelt unglückliche Ehen. Was können Sie auch von einer blinden Person verlangen! Sehen Sie, objektiv sympathische und objektiv unsympathische Menschen gibt es ja nicht. Wenn ein Mädel einen jungen Mann kennen lernt und sie treffen einander – zufällig – häufiger, sei es am Tennisplatz, in der Tanzstunde, in der Sommerfrische, so müssen die beiden schließlich aneinander irgendwelche sympathische Züge entdecken, sie erzählen einander Freuden und Leiden, die Gemeinsamkeit dieser Kenntnisse, die Gewohnheit eint sie, – und einszwei ist das da, was man Liebe nennt. Das ist noch lange keine Grundlage für eine Ehe, denn schließlich bildet sich diese Gemeinsamkeit, diese Gewohnheit und 249 diese Sympathie, wenn sie vorher nicht vorhanden war, in der Ehe naturgemäß viel intensiver. Aber bei den Zufallsbekanntschaften tritt die Ernüchterung ein, der Ehemann glaubt, er habe durch die Eheschließung ein Opfer gebracht, die Frau glaubt dasselbe . . .«

»Sie meinen also . . .«

»Ja, Vernunft ist der beste Schadchen.«

»Aber man kann doch auch Vernunft mit Liebe vereinigen?«

»Nein.«

»Es können sich aber doch junge Leute aus der gleichen Gesellschaftsschicht in Liebe zusammenfinden, dann haben sie sich gegenseitig nichts vorzuwerfen.«

»Erstens ist das ein Zufall. Zweitens glaubt immer der junge Mann, er hätte noch eine zehnmal reichere und zehnmal hübschere Ehehälfte kriegen können, und die Frau vermeint, sie hätte auf jeden Finger zehn Multimillionäre bekommen. Aber wenn es der Vermittler so ausgewählt hat, ein Unparteiischer, in dessen ureigenstem Interesse es liegt, für jeden Kandidaten den günstigen Partner zu finden – da gibt es nichts mehr zu mäkeln.«

»Sie leugnen also die innere Zugehörigkeit zweier Menschen auf der Welt, die sich irgendwo und irgendwann, von der Liebe zusammengeführt, einmal finden müssen. Zugegeben. Aber Sie können doch nicht leugnen, daß es eine Antipathie auf den ersten Blick gibt?«

»Oh, die gibt es gewiß! Deshalb kommen ja Kandidat und Kandidatin hier zunächst zusammen, wenn sie es vermeiden wollen, sich im Kaffeehause, im Theater oder im Hause der Dame zu treffen. Hier bei mir sitzen sie in den Klubfauteuils, ich entriere die Unterhaltung, sie plaudern ganz ungezwungen eine Viertelstunde. Dann entschuldigt er sich mit einer Verabredung und empfiehlt sich. Auf den gegenseitigen Eindruck kommt es dann an, ob ich weiterarbeite ober nicht. Hier im Hause kann sie niemand sehen, denn ich übe die Heiratsvermittlung nur als Nebenberuf aus, 250 und niemand von meinen Nachbarn weiß etwas davon. Außerdem bestelle ich mir jeden einzelnen Klienten zu einer genauen Stunde, so daß eine Kollision vermieden wird, obwohl ich natürlich hinreichend Zimmer habe, in die die Klienten aus dem Vorraum geführt werden können. Meine Frau ist mein einziger Mitarbeiter und Mitwisser, so groß auch meine Agenda ist.«

»Von welchem Gesichtspunkte lassen Sie sich leiten, wenn Sie die Paare zusammenzustellen versuchen?«

»Hier ist meine Kartothek amerikanischen Systems. Die weißen Kartons sind die Damen, die grünen die Herren. Auf den weißen Karten ist oben die Mitgift der Dame, auf der grünen Karte oben der Mitgiftanspruch des Herrn ersichtlich. Nach diesen Ziffern sind alle geordnet. Ein Griff genügt, um alle einschlägigen Kartons hervorzuholen. Nun lese ich dem Kandidaten oder der Kandidatin, beziehungsweise deren Vertreter einfach den Text der Karte vor: Beruf, Alter, Religion und dergleichen. Alles – nur den Namen nicht. Der Name ist das letzte, was der Kandidat oder die Kandidatin erfährt. Erst dann, wenn alles paßt. Auch telephonisch nenne ich niemals einen Namen, selbst wenn er dem, mit dem ich spreche, schon bekannt ist. Hier ist Diskretion nicht bloß Ehrensache, sondern mehr als das: Geschäftsprinzip. Leider wird manchmal scheinbar die Diskretion dadurch verletzt, daß sich eine Dame nach der Verlobung eines jungen Mannes mit einer Freundin berühmt, daß ihr der Mann angetragen worden sei, sie ihn aber nicht wolle. Das ist Großtuerei und gewöhnlich nicht wahr. Eine intelligente Dame würde dies aber auch nicht verraten, wenn es wahr wäre, denn sie schreckt dadurch alle Bewerber ab, da diese für den Fall einer Abweisung die gleiche Indiskretion befürchten müßten.«

»Und was steht auf den Zetteln der Kartothek?«

»Alle Angaben über den Kandidaten oder die Kandidatin. Ich frage sie bei ihrem ersten Besuche gesprächsweise ab, trotzdem ich zur Kontrolle und 251 Ergänzung bei meinem Informationsbureau noch genaue Auskünfte einhole. Dadurch erspart die Partei, sich selbst an ein Auskunftsbureau zu wenden. Uebrigens stimmen die Angaben, die mir von den Kandidaten gemacht werden, fast immer.«

»Wenn aber der betreffende außerhalb Prags wohnt und brieflich die Vermittlung anspricht?«

»Dann sende ich ihm ein Formular zur Ausfüllung.«

»Könnte ich nicht ein solches Formular sehen?«

»Bitte.«

»Nr . . . . . .
Personsbeschreibung für Herren:
Nur zur eigenen Benützung.
Vor und Zuname, Adresse . . .
Charakter oder Beschäftigung . . .
Alter, Religion, Witwer, ledig . . .
Wo, und wann geboren . . .
Einkommen . . .
Vermögensverhältnisse . . .
Passiven . . .
Zu erwartendes Vermögen . . .
Stand der Eltern, Domizil . . .
Zahl der Geschwister . . .
und sonstige Verwandte . . .
Aeußeres und Gestalt . . .
Bildungsgrad . . .
Musikalisch, welche Sprachen? . . .
Militärverhältnis . . .
Ansprüche bezüglich der Zukünftigen: Mitgift in Ziffern . . .
Photographie (sehr erwünscht) . . .
Sind Sie auf Ihr Leben versichert? . . .
Anstalt, Betrag . . .
Etwaige Referenzen . . .
Anmerkung . . .

Aehnlich ist das Formular für Damen zusammengestellt, nur daß dort die Anfrage bezüglich der Mitgift, der häuslichen und gesellschaftlichen Anlagen nicht fehlt. Hier ist eine:

Personsbeschreibung für Damen:
Nur zur eigenen Benützung.
Vor und Zuname, Wohnort . . .
Wo, und wann geboren . . .
Alter, Religion, ledig, Witwe . . .
Bildungsgrad . . .
Für ein Geschäft Interesse . . .
Häuslich, wirtschaftlich . . .
Musikalisch, welche Sprachen? . . .
Aeußeres, Gestalt, Haare, Augen . . .
Stand der Eltern, Wohnort . . .
Zahl der Geschwister (versorgt) und sonstige Verwandte . . .
Mitgift oder Rente (in Ziffern) . . .
Zu erwartendes Vermögen . . .
Aussteuer und Möbel (separat?) . . .
Ansprüche bezüglich des Zukünftigen (möglichst genau anführen) . . .
Photographie (sehr erwünscht) . . .
Anmerkung . . .

Herr Trust-Office lehnt sich in seinen Schreibstuhl zurück und seufzt: »Ja, die Manipulation und die Ordnung sind schon wichtig, – aber schließlich muß doch jeder Fall individuell behandelt werden. Da kommt es mir zum Beispiel vor, daß sich ein Mädchen absolut nicht »verkuppeln« lassen will. Sie will partout selbst wählen. Da muß ich denn in Romantik arbeiten. In irgend einem Seebad muß ich einige Zimmer und selbst Stockwerke mieten, von denen eines der junge Mann, die übrigen die Familie der ahnungslosen Kandidatin bezieht. Dann muß sich der junge Mann alle Werke 253 Baudelaires kaufen – kann sie dann widerstehen, wenn sie sieht, daß ihr Lieblingsdichter zufällig auch der seine ist? Oder ich muß einen jungen Mann in die gleiche Tennispartie oder die gleiche Wintersportgesellschaft mit einer bestimmten jungen Dame schmuggeln, man lernt einander kennen, lieben, – und die Dame ist glücklich, daß sie »ohne Vermittler« nur aus eigener Wahl geheiratet hat. Und ich bekomme die Provision.«

»Aber am selben Tage, an dem ich solche romantische Pläne aushecke, muß ich manchmal ein scheußlicher Realist sein. Da muß ich als Vermittler in den Mitgiftverhandlungen fungieren, bestimmen, wo und wann das Geld auf den Namen des Bräutigams zu deponieren und wann ihm das Einlagsbuch der Bank oder die Wertpapiere einzuhändigen sind, die Ehekontrakte abfassen, in denen bestimmt wird, daß das Geld der Frau zurückfällt, wenn er vorher stirbt, und der Mann einen Teil bekommt, wenn sie früher stirbt und keine Kinder da sind. Auch die Dokumente beschaffe ich, die zur Eheschließung erforderlich sind, und veranlasse das Aufgebot. Die Leute kennen sich ja gar nicht aus. Und ich selbst muß mir oft hier meinen Rat holen.«

Mister Trust-Office deutet dabei auf eine Bücherbatterie, die auf dem Schreibtisch Posto gefaßt hat: »Ehevorschriften, eine Sammlung der staatlichen Gesetze, Verordnungen, Normen und Erlässe auf dem Gebiete des österreichischen Eherechtes«, »Matrikenvorschriften, Sammlung der auf die Führung der Geburts-, Trauungs- und Sterberegister bezüglichen Normen«. Und Aehnliches.

Darf ich Sie fragen, wie es mit den Mitgiftverhältnissen in Prag steht?«

»Damen mit 10.000 bis 12.000 Kronen Mitgift sind in ungeheueren Massen vorhanden. Auch die 20.000 Kronen-Mitgift ist riesig stark vertreten. Bedeutend geringer ist die Zahl der 30.000 Kronen-Mitgiften; 40.000 und 50.000 Kronen-Mitgiften gibt es hingegen wieder in bedeutender Zahl. Direkt selten sind 254 die Summen von 60.000 und 70.000 Kronen als Heiratsgut. Ungeheuer groß hingegen ist wieder die Zahl der 80.000 und 100.000 Kronen-Mitgiften. 200.000 und 400.000 Kronen werden mäßig angeboten.«

»Und die Herren?«

»Im Durchschnitt ist das Angebot etwa sechzehnmal größer als die Nachfrage, d. h. es gibt etwa sechzehnmal soviel heiratslustige Damen als Herren. Dabei rechne ich die Mitgiftklasse von 10.000 bis 20.000 Kronen gar nicht mit, in der das Angebot an Damen ungeheuer, die Nachfrage der Herren geradezu verschwindend klein ist.«

»Können Sie mir nicht auch eine Tabelle über die Ansprüche der Herren mitteilen?«

»Das kann ich Ihnen in einem Satz sagen: Jeder möchte gerne eine Million mitbekommen. Aber Spaß beiseite: Die Ansprüche der Herren sind im allgemeinen horrend. Gewiß, auch die heutigen Damen sind sehr anspruchsvoll, sie verlangen für ihr Geld nicht nur Versorgung, sondern auch ein gutes Leben, Titel, soziale Stellung und eine große Rolle in der Gesellschaft. Aber was ist das alles, gegen die Herren! Viele haben nicht einmal – wie man so sagt – »Brot auf Hosen« und verlangen das Blaue vom Himmel. Erst nach Jahren, wenn sie sehen, daß ihre Ansprüche viel zu hoch geschraubt waren, lassen sie in dem nach und schlagen ins Extreme um: Aus Verbitterung heiraten sie ohne Geld die Erstbeste, die da kommt. Gerade heute habe ich einige solche anspruchsvolle Briefe bekommen.«

Mister Trust-Office wendet sich so, daß selbst ein Journalistenauge die Unterschrift des Briefes nicht entziffern kann, den er vorliest:

». . . Ich bin 30 Jahre alt, beziehe einen Monatsgehalt von 200 Kronen und suche eine Lebensgefährtin im Alter von 18 bis 20 Jahren, Herzensbildung, guter Erziehung, musikalisch, tadellose Vergangenheit und Mitgift von 80 bis 100 Mille. Ich bin geeignet, ein großes Unternehmen, in das ich einheiraten oder das 255 ich von der Mitgift kaufen würde, selbständig zu leiten.«

»Sehen Sie, dieser anspruchsvolle junge Mann hat immerhin 100 Gulden Monatsgehalt. Aber es gibt auch solche, die zu ihrer Empfehlung nur anführen können, daß sie »von angenehmen Aeußern« oder »von vorurteilsfreier Denkungsart« sind, und die doch nicht geringere Ansprüche stellen. Die größten Ansprüche stellen die Adeligen.«

»Sind Adelige stark gefragt?«

»Fast gar nicht. Das hat sich überlebt. Man merkt zu sehr die Absicht und wird verstimmt. Hier in dem Schrank unter den unverwendbaren Offerten habe ich einige charakteristische Briefe. Zum Beispiel diesen, in dem es heißt:

›Ich bin 38 Jahre alt, entstamme einem alten Tiroler Freiherrengeschlecht. Ich bin unheilbar krank. Ich würde mich – zwecks Bezahlung meiner Schulden – mit einer Dame mit 150.000 Kronen Mitgift verehelichen. Religion, Vorleben, Aeußeres und Alter – Nebensache. Ich würde mich materiell verpflichten, keine weiteren Ansprüche an meine Frau zu stellen und sie kann leben, wo sie will. Es ist gewiß ein seltener und äußerst günstiger Antrag, für so wenig Geld einen tadellosen, freiherrlichen Namen zu erhalten und doch bei vollständiger Freiheit zu bleiben.‹

Natürlich habe ich diesen Brief gleich ad acta gelegt. Noch frivoler ist dieser Antrag:

›Um meinen jüngeren Bruder, der mich finanziell nicht unterstützen will, um seine Nachfolge im Familienkommiß zu bringen, suche ich eine Lebensgefährtin, die sich in Hoffnung auf Nachkommenschaft befindet.‹

Aehnliche Anträge liegen natürlich in nicht minderer Zahl von Bürgerlichen vor: Ein reicher Amerikaner, alt und krank, verlangt z. B. ein aufopferungsvolles Mädchen zur Frau, das ihn bis an sein Lebensende pflegen würde und der dafür nach seinem Tode sein ganzes 256 Vermögen zufallen soll. Uebrigens verlangen auch Damen ähnliche Dinge. Sehr häufig zum Beispiel wünschen junge, schöne, aber arme Mädchen alte Witwer zu ehelichen, deren baldiger Tod zu »erhoffen« stehe. Natürlich wandert alles Derartige in den Schrank der »Abgelegten«, in dem sich auch die Anträge jener Personen befinden, über die ich schlechte Auskünfte bekommen habe, z. B. daß sie krank seien oder vor dem Konkurs stehen.«

»Auf welche Eigenschaften wird bei reellen Anträgen der größte Wert gelegt?«

»Das läßt sich nicht konstatieren. Am meisten wird von den Herren Einheirat angestrebt, arme Mädchen ersehnen größtenteils gutsituierte Witwer. Uebrigens muß ich Ihnen sagen, damit Sie meine Klienten nicht für gar so berechnende Geldmenschen halten, daß sich vorige Woche ein Kandidat an mich gewendet hat, der auf Geld keinen Wert legt. Ein junger, sehr reicher Kavallerieoffizier aus weiter Ferne, der eine auffallende Schönheit mit tizianblondem Haar und glänzendem Repräsentationstalent sucht; alles andere, Geld, Alter, Religion, ist ihm Nebensache und er bemerkt sogar ausdrücklich, daß sie vermögenslos sein kann . . . Dem Manne habe ich bereits geholfen.«

»Ist es indiskret zu fragen, wieviel Sie als Vermittlerhonorar beanspruchen?«

»Zwei Prozent der Mitgift, zahlbar am Tage nach der Hochzeit.«

»Wenn aber die Ehe nicht zustandekommt?«

»Dann kriege ich gar nichts, das ist eben mein Risiko. Vorspesen nehme ich nicht, trotzdem ich für Porto, Telephon, Schreibmaschine, Registratur, Informationsgebühren u. dgl. ein Heidengeld ausgebe.«

»Verpflichten sich die Parteien schriftlich zur Zahlung der Provision?«

»Manchmal lege ich einen diesbezüglichen Kontrakt vor. Ungefähr in dieser Form: 257

Ich ermächtige Sie hiemit, zwischen mir und Fräulein . . . . auf eine delikate und jedes Aufsehen vermeidende und das Zartgefühl beider Teile schonende Art, die persönliche Vorstellung herbeizuführen, da ich beabsichtige, mit Fräulein . . . . eine eheliche Verbindung einzugehen. Für die mit der Herbeiführung der besagten wechselseitigen persönlichen Vorstellung (unter Beobachtung der oben angeführten Vorsichtsmaßregeln) verpflichte ich mich, Ihnen einen Tag nach der Hochzeit mit Fräulein . . . . ohne Rücksicht auf die Intensität Ihrer Mühewaltung, Zeitverwendung und Höhe Ihres Baraufwandes den Pauschalbeitrag per Kronen . . . . . sage in Worten Kronen . . . . bar zu bezahlen, wobei ich ausdrücklich hervorhebe, daß ich Ihrerseits jede direkte Vermittlungstätigkeit zur Herbeiführung des Eheabschlusses ablehne und verbiete. Für allfällige aus dieser meiner Verpflichtung hervorgehende Streitigkeiten unterwerfen sich beide Teile dem sachlich kompetenten Gerichte in . . .

Im allgemeinen aber unterlasse ich die Vorlegung eines Kontraktes, da doch jeder bei einem so wichtigen Schritt als Ehrenmann handelt. Am promptesten zahlt die Provinz. Am Hochzeitstage kommt der Vater der Braut und legt mir das Geld mit herzlichen Dankesworten auf den Tisch. Aber auch in der Stadt sind mir selten ernstliche Schwierigkeiten gemacht worden.«

»Selten? Also doch manchmal?«

»Nun, in zwei Fällen mußte ich sogar klagen, um den Ersatz meiner Auslagen zu erhalten. In dem einen Fall war ich vom ersten Augenblick an gegen den Kandidaten mißtrauisch gewesen und hatte mir meinen Anspruch schriftlich bestätigen lassen, obwohl er zu sagen pflegte: ›Mir ist an einem Hunderter gar nichts gelegen.‹ Nach der Hochzeit wollte er aber keinen Heller bezahlen und ich war genötigt, ihn einzuklagen. Nun zahlt er monatlich 10 Kronen beim Advokaten ab. Fall Nr. 2: Einer Familie, die sich wegen ihrer Tochter an mich gewendet und mich beinahe täglich urgiert 258 hatte, vermittelte ich die Bekanntschaft mit einem Kaufmann aus der Provinz. Die direkten Verhandlungen zogen sich lange hin, ich wurde gar nicht von ihrem Fortschreiten und dem Resultat verständigt. Im vorigen Monat haben die jungen Leute »in aller Stille« geheiratet, weder die Verlobung noch die Trauung wurde in der Zeitung veröffentlicht, und obwohl ich die Familie wiederholt traf, wurde mir gegenüber keine Erwähnung von der vollzogenen Eheschließung gemacht. Nun erfuhr ich von der Trauung und verlangte das mir schriftlich bestätigte Honorar – wie nicht anders zu erwarten war, vergeblich. Nun ist die Angelegenheit bei Gericht. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie es mich kränkt, wenn die Parteien so wenig Gefühl für Delikatesse haben, daß sie eine Gerichtsverhandlung heraufbeschwören, und wenn ein Ehepaar so wenig Dankbarkeit für den hat, der sie zusammengeführt hat. Wenn ich einem glücklichen Ehepaar »meiner Faktur« auf der Straße begegne und mich ein verständnisinnig-dankbarer Blick trifft, so freut mich das beinahe so viel wie ein Honorar.«

»Im allgemeinen sind Sie mit dem Geschäftsgang zufrieden?«

»Sehen Sie, wenn die Heiratsvermittlung ein konzessioniertes Gewerbe wäre, würde alles besser sein. Niemand könnte dann, auf die Nichtklagbarkeit des Kontraktes bauend, eine Klage provozieren und nur vertrauenswürdige Leute würden sich dem Berufe zuwenden. Jetzt befaßt sich jede dritte ältere Person mit Heiratsvermittlungsgeschäften und da sie natürlich nur wenig Klienten und Klientinnen zählt, so kann sie nicht für jeden eine passende Partie haben und muß daher wegen Mangel an Auswahl oft ungünstig zusammenstellen. Viele Vermittlerinnen tragen auch Kandidaten an, die sie gar nicht beauftragt haben und gar nichts von ihrer Beantragung wissen; daß dies für die Beteiligten von peinlichen Folgen begleitet sein kann, liegt auf der Hand. Außerdem gibt es Leute, die von Haus 259 zu Haus gehen, und fragen, ob die Wohnungsinhaber nicht einen Sohn oder eine Tochter in heiratsfähigem Alter haben; wird die Frage bejaht, dann tragen sie ihre Dienste an und schädigen durch skrupellose Manipulation die ihnen Vertrauenden, namentlich in den unteren Schichten. Durch Einführung der Gewerbekonzession für professionelle Ehevermittlung würde solchen Mißständen ein für allemal die Spitze abgebrochen werden.«

Ich erhebe mich und frage: »Ich bitte sehr, darf ich Ihre Auskünfte verwenden?«

Herr Trust-Office nickt bejahend und richtet nun die gleiche Frage an mich, indem er mir zwei Auskünfte zeigt, die er nach Erhalt meines Briefes über mich eingeholt hat.

Ich verneine. 260

 

Wasenmeister Antouschek

Genau eine halbe Stunde, nachdem es einem widerwärtig geworden ist, die endlose Beneschstraße in Pankratz zu durchschreiten, zweigen die Telephonstangen nach rechts ab, und man hat ihnen zu folgen. In der Třebizskygasse sieht man zum höchsten Erstaunen, daß die Gegenden, die man vorher durchschritten hat, höchstentwickelte Großstadt waren. Im Verhältnis nämlich. Auf einem Feldweg geht es weiter gegen Dworetz. Der Schnee ist weiß wie das Kleid einer Kranzeljungfer; wenn er doch auch kniefrei wäre! Auch die Volants sind stilwidrig, ihrer Färbung wegen braune Spuren der Wagenräder, die den Schnee in Kot verwandelt haben.

Schließlich kommt man zu einem Bildstock, dem man ganz deutlich ansieht, daß er vor Jahren grün angestrichen war. In einer blauen Nische eine winzige, mit Gold bemalte Nepomukstatue. Rechts und links vom Bildstock stehen Häuser. Links ein kleines, verfallenes Anwesen, rechts eine Reihe von langen Gebäuden, an die sich eine Umfriedung schließt. Man würde diese Besitzung für ein Bauerngut halten können, dementierte nicht der breite Schlot diese Vermutung. Aber auch eine Fabrik ist es nicht. Das Hundegebell, das herausdringt, verkündet, daß hier die Prager Abdeckerei, die thermochemische Vernichtungsstation ist.

Im Hofe drinnen steht ein Bursche. Hohe Stiefel und ein am Rocke befestigtes blaues Emailschild mit der Umschrift: »Kontumaz- und thermochemische Station« und sein Aussehen sind die Abzeichen seiner Würde. Man hat einen jener Meister des Lassowurfes vor sich, die ihre Kunst nicht in der Prärie des wilden Westens, sondern in den Straßen Prags, nicht an Büffeln, sondern an Hunden ausüben. Ich frage den Schinderknecht nach seinem Herrn und bald stehe ich vor Herrn Rudolf Nešvara, dem Wasenmeister von Prag. »Antouschek« nennt ihn der Volksmund, seitdem 261 vor siebzig Jahren der Gehilfe einer seiner Vorgänger im Amte, der Anton Schek, dadurch populär geworden war, weil sein Familienname gleichzeitig die tschechische Diminutivendung ist. Der Professor der tschechischen Universität Dr. Janko hat zwar in einer eigenen Abhandlung das Wort »antoušek« von »Andauche«, d. i. gedeckter Abflußkanal, abgeleitet, aber in der nachfolgenden Polemik wurde zumeist – besonders in dem Artikel »Argot« der »Tribuna« vom 13. Juni 1919 – mit ausdrücklichem Hinweis auf einen 10 Jahre vorher von mir veröffentlichten Artikel meiner Ethymologie recht gegeben.

Treten wir einen Rundgang durch die Gebäude an, so öffnet Herr Antoušek-Nešvara zunächst die Türe zum langgestreckten Hundestall, in dem vierzig Boxes für Hunde sind. Ein wütendes Gekläff geht an: Morituri te salutant! Sie sind alle »morituri«, die Foxe, die Windspiele, die Pudel hinter den schwedischen Gardinen. Drei Tage waren sie in »Untersuchungshaft« in der Aufbewahrungs-, der Kontumazstation für eingefangene Hunde untergebracht, die sich auf der Taborer Reichsstraße zwischen den beiden unbeschreiblich schönen Wyschehrader Toren befindet, und hier hätten sie ihre Besitzer binnen drei Tagen durch Entrichtung der Geldstrafe auslösen können. Das haben diese aber nicht getan, und nun sind die Hunde dem Tode geweiht. Vielleicht bellen sie so wütend, weil die treuen Viecher über die Untreue der Herren erbittert sind, vielleicht bellen sie so wütend, weil sie wissen, daß sie eines unverschuldeten Todes sterben müssen, vielleicht bellen sie so wütend, weil sie sich über den Unverstand der Menschen ärgern, welche diese schönen Exemplare der Hunderasse zwecklos hinrichten, statt sie zu verkaufen. Morgen müssen sie sterben. Ein aus unmittelbarer Nähe abgegebener Schuß aus dem Stutzen und der vom Menschen verlassene Genosse des Menschen wälzt sich in seinem Blute, oder – bei den kleineren Hunden wird es so gemacht – ein Beilhieb auf den Kopf und ein Hundeleben hat geendet. Man glaubt, einen wehmütigen Ton 262 in dem erbitterten Bellen und Winseln und Knurren und Kläffen mitklingen zu hören.

Wir verlassen den traurigen Hundekerker. Draußen im Hofe springen einige Hunde, darunter ein prächtiger reinrassiger Bernhardiner, namens »Cyrano«, liebkosend an Herrn Nešwara hinauf. Sie sind von diesem begnadigt worden und gehören zum Personale der Prager Fronerei. Schmeichelnd schmiegen sie sich an das Knie ihres Herrn, an den Henker ihrer Stammesgenossen. Solidaritätsgefühl mit ihren eingekerkerten oder justifizierten Kameraden scheinen sie also nicht zu kennen, diese Hunde.

Der Rundgang führt jetzt in die Räume, die dem Zwecke der Anstalt, der gefahr- und geruchlosen Vernichtung der Tierkadaver, dienen. Wir betreten zunächst den Seziersaal, wo die Kadaver enthäutet und wie die täglich hierherkommenden Konfiskate der Schlachtbank und der Markthalle zerstückelt werden. Die Stücke werden dann durch ein in die Wand angebrachtes Mannsloch in einen Apparat geworfen, der im angrenzenden Maschinensaale an der Wand steht. Dieser Apparat ist der sogenannte Kafilldesinfektor, der vom Antwerpener Schlachthausdirektor de la Croix erfunden und von der Firma Rietschel & Henneberg in Berlin im Jahre 1882 zum erstenmal in Deutschland hergestellt worden ist. Wenn der Apparat gefüllt ist, verschließt man ihn hermetisch und leitet hernach zwischen die doppelten Wände des Behälters Dampf von fünf Atmosphären. Dadurch findet eine Trocknung der Fleischteile statt, und die durch den Siebboden ablaufende Flüssigkeit wird durch den im Rezipienten sich entwickelnden Dampf in einen zweiten Zylinder gedrückt. Das ausgeschiedene Fett gelangt in den rechts vom Kafilldesinfektor stehenden Fettabscheideapparat, während das Leimwasser in den auf der linken Seite des Desinfektors stehenden Verdichtungsapparat strömt. Der nun fast trockene und geruchlose Inhalt wird nun in eine riesige Maschine gebracht, die in der Mitte des Seziersaales steht: Den Podewilschen Trockentrommelmühlapparat, in dem die 263 Fleischreste zu »Tierkörpermehl«, einem feinen Pulver, zermahlen werden, das Kunstdüngerfabriken verkauft wird. Die größeren Knochen werden in einem anderen Apparate zu Knochenmehl – gleichfalls ein Düngemittel – zermahlen. Eine hydraulische Presse, die unter einem Druck von vierhundert Atmosphären das Tierkörpermehl zu runden Kuchen, einem an Proteingehalt reichen Futtermittel zu pressen vermag, steht außer Betrieb. Außerdem stehen im Maschinensaal ein mächtiger Ventilator, Trockenapparate und Schöpfpumpen.

An den Maschinensaal schließt sich der Kesselraum mit der 6 HP starken Dampfmaschine und einem Dampfkessel von 12 Meter Heizfläche, an den Kesselraum das Fettmagazin, in dem Fässer voll Tierfett stehen. Auf schmaler Stiege gelangt man in den Trockenraum für Häute und das Magazin für Tierkörpermehl – weite Bodenräume, in deren Mitte der breite, rote Schlot den Dachstuhl durchbricht. Auf der Erde liegen braune Berge, die wie aufgeschichtete Ackerkrume aussehen, und Tierkörpermehl sind. In einer Ecke ist ein gelbes Pulver, das Knochenmehl, aufgeschüttet. In einer anderen liegen Knochen. Wenn man sie angreift, dann zerbröckeln sie in der Hand. Sie sind entfettet, entleimt, sterilisiert.

Wir kommen durch ein Zimmer, in dem der jüngste Sprößling des Schindergeschlechtes auf der Erde mit einem Hunde spielt – das billigste Spielzeug dortzulande. Dann sprechen wir vom Fach. Herr Nešvara kennt die Geschichte des Prager Abdeckereiwesens ganz genau, ist sie doch zum Teile seine eigene Familiengeschichte. Sein Großvater, der noch in den städtischen Urkunden nicht »Nešvara«, sondern »Neschwara« hieß, und sein Vater waren Wasenmeister, seinen ältesten Sohn will er Tierarzneikunde studieren lassen. Dem Abdeckergewerbe ist längst die Anrüchigkeit genommen, die vor Jahrhunderten seinen Angehörigen die Heirat mit ehrbaren Mädchen, den Eintritt in die Zünfte, in den Militärstand, die Zuweisung von Ehrenstellen verbot, und die Erblichkeit dieses Berufes anordnete, aber 264 freiwillig erbt sich dieses seltsame Handwerk noch heute vom Vater auf den Sohn fort.

Herr Nešvara kennt die Geschichte seiner Vorgänger auch über seine eigene Ahnenreihe hinaus. Aus einer Schublade holt er ein vergilbtes Dokument hervor: Der Freibrief, mittels welchem Maria Theresia den Schindern und deren Freiknechten gestattet, eine Ehe mit einem bürgerlichen Mädchen einzugehen, allerdings unter der Bedingung, daß diese Männer vorher ihrem Gewerbe entsagen mußten. Das muß ein hochwichtiger Akt gewesen sein, anno dazumal, denn er ist vom Fürsten Carl Egon Fürstenberg und »ad mandatum Sacro-Caesarea Regineque Majestatis ex Consilio Regii Gubernii« von Johannes Arnvers gezeichnet.

Das Amt des Schinders wurde in Prag vom Scharfrichter versehen, man stellte die Vernichtung der zum Tode geweihten Menschen jener der »abgestandenen« Tiere gleich. Im Jahre 1860 wurde der Henkersdienst verstaatlicht, die Abdeckerei aber nicht. Die Konzession zur Ausübung des Wasenmeistergewerbes erhielt für die am rechten Moldauufer gelegenen Teile Prags A. Neschwara, der Großvater des heutigen Inhabers, für das linke Ufer J. Jerabek, dessen Amt heute ein ehemaliger Wachmann namens Josef Cerny in der Kontumazstation Tejnka bei Brewnow ausübt. Die Neschwaras haben früher ihr Gewerbe in der Salnitergasse beim Rudolfinum ausgeübt, an der Stelle, wo heute das tschechische akademische Gymnasium steht. Herr Nešvara erzählt von Medizinern, die in seiner Jugendzeit in diese Wasenmeisterei kamen, um hier verschiedene Experimente an den Tieren zu machen. »Unsere häufigsten Besucher von damals sind heute Professoren der Medizin,« fügt Herr Nešvara hinzu. Meine Frage, ob die Tiere eventuell zu Vivisektionszwecken an die Universitätsinstitute abgetreten werden, verneint der Wasenmeister. Nur bei besonders interessanten Fällen von Tiererkrankungen bitten sich die physiologischen Institute das Material aus, wenn sie nicht selbst solches haben. 265

Dann beginnt Herr Nešvara auf sein Geschäft zu schimpfen. Er habe die thermochemische Vernichtungsstation nach reichsdeutschem Muster mit einem Aufwand von 50.000 Kronen so errichtet, daß nicht nur die hygienische Vernichtung aller Kadaver, sondern auch deren Verarbeitung möglich sei. Er habe sich aber verspekuliert. Das Materiale sei gering, die Verwendungsmöglichkeit noch weit geringer. Von der Geldstrafe, die für ausgelöste Hunde entrichtet werde, bekomme er ein Drittel, etwa 3000 Kronen im Jahr. Davon könne er die Betriebsspesen nicht decken. Bei der Vernichtung der Kadaver – darunter jährlich etwa tausend Hunde – müsse er jedes Jahr einen Betrag von dreißigtausend Kronen daraufzahlen und bemühe sich daher seit neun Jahren um die Zuweisung einer Subvention von der Stadtgemeinde. Seine Gesuche werden aber ohne Motivierung abgelehnt. Auch sein Antrag, daß man, so wie dies in anderen Städten geschah, den Maulkorbzwang abschaffen und bloß jene Hunde abfangen und vernichten möge, welche ohne Hundemarke herumlaufen, habe keinen Erfolg gehabt. Die Verwertung der Hundekadaver lohne sich nicht und die Pferde, welche ein ergiebiges Verwertungsmaterial bilden, werden seit dem Aufschwunge des Pferdeselchergewerbes fast niemals mehr hergebracht. So sei die Abdeckerei buchstäblich auf den Hund gekommen.

»Ja, warum üben Sie denn Ihr Gewerbe aus, wenn Sie wirklich so viel zusetzen müssen?« ist meine Frage.

»Ich werde es auch aufgeben. Mir liegt schon der Antrag vor, das Unternehmen in eine Farbenfabrik umzuwandeln, und das werde ich tun.«

Es fehlte noch, daß Herr Nešvara seiner Klage das Faustsche Wort anfügen würde: »Es möchte kein Hund so länger leben« und man müßte diesem Fachmann sein Leid glauben. So aber weiß man nicht, ob er es mit seinem Entschluß gar so ernst meint, ob wirklich dieses Institut bald der Vergangenheit angehören soll, ob ein besseres oder ein schlechteres nachfolgen, und wie in Zukunft dem Hundeleben in Prag ein Ende gemacht werden wird. 266

 

Chabrus

Ein Kaffeehaus, hart an der Grenze der Alt- und Josefstadt. Die Operationsbasis für die Geschäfte der Tandler und der »Šalvárí«, der Spezialisten in echten und falschen Juwelen. Es ist früh. Ein Gast kommt herein.

»Adalbert, bring' mir ein Schmalzbrot,« ruft er dem Kellner zu.

»Schmalz ist nicht, aber harte Grieben kannst du haben,« sagt der Kellner. Die Brücke, die vom Gast zum Kellner führt, führt auch vom Kellner zum Gast: Sie duzen einander.

»Also bring' mir die Grieben, und das ›Amtsblatt‹ möchte ich haben.«

»Da liegt es doch,« ruft der Kellner unwillig, und deutet auf die Zeitung, die wirklich auf dem Sessel neben dem Neuangekommenen liegt.

Der aber ist neugierig zu erfahren, wer schon früher das ›Amtsblatt‹ studiert hat. Und der Kellner erwidert, daß Karl Neuhof gerade weggegangen ist.

»Und wohin?« forscht der Gast mit einer durch die Konkurrenz begründeten Neugier weiter.

»Nach žiŽkow, zu irgend einer Feilbietung,« verrät der Garçon.

Da wendet sich der Gast mit Grausen. Er spuckt aus: »Die Werkstätteneinrichtung von Nechvatal! Schöne Sachen, was da zu kriegen sind! Dort wird Neuhof kein Rothschild werden.«

Inzwischen hat sich Adalbert entfernt, und der Gast nimmt das »Amtsblatt zur Prager Zeitung« zur Hand. dieses zweisprachig gedruckte Blatt, in dem der Amtsschimmel alltäglich die hohe Schule reitet. Aber unser Freund interessiert sich weder für den Humor der 267 Tatsache, daß der seit »hundertsechzig Jahren abgängige Mathias Struck« aufgefordert wird, sich binnen sechs Wochen zu melden, widrigenfalls er todeserklärt wird, er interessiert sich nicht für den Aufruf an die Erben des mit Hinterlassung eines Vermögens von 23⅓ Hellern ohne Hinterlassung einer letztwilligen Anordnung verstorbenen konzessionierten Drehorgelspielers Josef Horcicka«, er beachtet auch die Rubriken »Erledigungen«, »Konkursausschreibungen«, »Kundmachungen«, »Proklamierung alter Satzposten«, »Anlegung neuer Grundbücher«, »Amortisationen«, »Kuratelsverhängungen« und »Erkenntnisse« nicht, sein Blick bleibt an der Rubrik »Feilbietungen« haften, in der am Schluß nach den langatmigen Ankündigungen der freihändigen Verkäufe von Realitäten, Liegenschaften, Häusern, Mühlen und Fabriken, die Nachricht über »Feilbietungsedikte« stehen. Die liest er eifrig und schreibt in sein Notizbuch mit den schwarzen Wachsleinwanddeckeln von Zeit zu Zeit etwas ein. Nicht alles. Die Feilbietungen, die in der öffentlichen Auktionshalle im Landesgericht abgehalten werden, braucht er nicht nachzulesen. Ebenso weiß er, daß am Freitag nach dem Zehnten jedes Monates die Versteigerung der verfallenen Pfänder des staatlichen Leihhauses stattfindet. Was ihn aber interessiert, ist das Datum der Auktionen in den acht privaten Pfandleihanstalten und Datum, Hausnummer und Warengattung der Geschäfte und Wohnungen, in denen exekutive Feilbietungen vorgenommen werden.

Während in dem Notizbuche Ziffern und Adressen verzeichnet werden, kommt ein neuer Gast in das Café und setzt sich mit stummem Gruß zum ersten. Der Angekommene zieht einen Karton mit Goldinuhren aus der Tasche, – Fabriksware, die wegen kleiner oder wegen großer Fehler nicht mit der Firmamarke versehen und nur an Ramscher abgegeben wird. Der neue Gast will die Uhren hier nicht verkaufen, er weist sie seinem Kollegen nur zur Begutachtung vor. 268

»Sechs Kronen per Stück«, schätzt der.

»Fünf,« lächelt der andere, zufrieden darüber, daß sein Branchegenosse die Uhren überschätzt hat, und ermutigt, zieht er nach und nach sein ganzes Warenlager hervor: Ein Paar Brillantohrgehänge aus der Westentasche, einen Similiring vom Finger, eine Damenuhr mit Rauten aus der Hosentasche.

Inzwischen ist es neun Uhr geworden. Die beiden brechen auf.

»Wohin gehst du?« fragt der zuerst Angekommene den anderen.

»Ich geh' ins Geschäft. Und du?«

»Ich geh' zum General.«

So trennen sie sich. Der eine also geht »ins Geschäft«, was aber durchaus nicht so viel bedeutet, wie »ins Geschäftslokal«. Ein solches hat er nicht. Er geht nur zu seinen Kundschaften, zu Tandlern, Privatpersonen und Gästen der kleinen Kaffeehäuser, denen er seine Schmucksachen aufschwatzt.

Der andere geht zum »General«, d. h. in das Landesgerichtsgebäude an der Ecke des Obstmarktes und der Zeltnergasse, das so heißt, weil es früher das Generalkommando von Prag war und als solches Berühmtheit erlangte, als am 12. Juni 1848 ein Schuß durch das Fenster die Gemahlin des Feldmarschalls Alfred Fürsten Windischgrätz tötete. In den ebenerdigen Räumen des alten Generalkommandogebäudes, die ehedem als Wachzimmer und Stallungen verwendet wurden, ist heute außer dem Depositenamt, seit dem Jahre 1900 auch die gerichtliche Auktionshalle untergebracht. Die ist das Ziel des Kaffeehausbesuchers, der zum »General« geht.

Die Fachleute in Partiewaren und Gelegenheitskäufen behaupten, daß hier nichts Besonderes zu holen sei. Sie begründen es mit der Tatsache, daß sich die in Geldnot befindlichen Leute absichtlich die für sie wertlosen oder unbrauchbaren Mobilien pfänden lassen, um 269 sie in der Auktionshalle zu besseren Preisen loszuwerden. Wird bei der Lizitation nicht der Preis geboten, den der Eigentümer den gepfändeten Sachen beimißt, so hat er – vorausgesetzt, daß er pfiffig ist, – noch immer Mittelchen genug, den Preis in die Höhe zu lizitieren oder die Sachen selbst zu erstehen.

Um dieser oder anderer Mittelchen willen, und weil dort hie und da doch etwas Preiswertes zur Versteigerung gelangen könnte, sind doch zahlreiche Fachmänner da. Vor allem die Mitglieder des »Chabrus«. Diese Körperschaft wird man vergeblich in den Registern der Vereinspolizei suchen und auch im Staatswörterbuche findet man diesen Namen nicht. Das Wort »Chabrus« ist eine Verstümmelung des hebräischen Ausdruckes »Chawroßo«, d. i. Freundschaft. Und ursprünglich ist auch der »Chabrus« eine geheime jüdische Einkaufsgenossenschaft und gleichzeitig eine Art Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, ein Trust gewesen, dem die Althändler und Trödler des Ghettos angehörten. Als sich aber die Tore des Ghettos öffneten, da wurde die Idee des Chabrus eine interkonfessionelle, und mit der politischen Geschichte dieses Landes ist der Chabrus verknüpft, den – die ältesten Adelsgeschlechter Böhmens im Jahre 1872 gegründet hatten. Das war nach dem Sturze des Ministeriums Hohenwart. Der Landtag war aufgelöst worden, und zwischen den beiden Gruppen des Großgrundbesitzes, die damals noch kein Wahlkompromiß hatten, entspann sich ein heftiger Wahlkampf, der zugleich der Kampf um die Majorität im Landtag war. Da wurden denn Banken gegründet, um zur Wahl berechtigende landgräfliche Güter zu kaufen, da traten die Besitzer zweier oder mehr solcher Güter eines an dritte Personen ab, da gab es Güterkäufe und Güterteilungen in Masse, beide Gruppen überboten einander, bis schließlich die Verfassungstreuen den Sieg über die Konservativen davontrugen. Aber manche Gesetzesbestimmung über die Wahlen in den österreichischen Landtag wurde nach den Lehren 270 geändert, die man aus dem »Chabrus« der Aera Auersperg gezogen hatte.

So nobel ist der Chabrus der Prager Kleinhändler freilich nicht. Er war wohl ursprünglich eine Schutzorganisation für die eigenen Mitglieder, die falliert hatten und deren Lager versteigert wurde. Ein anderer der Genossenschaft erstand einfach die lizitierten Waren zum Mindestanbot, der etwa nur ein Drittel des Schätzungswertes ausmachte, ohne daß er von den anderen gesteigert worden wäre. Kam aber ein Unbeteiligter zur Lizitation und beteiligte sich an dieser, so wurde er so in die Höhe lizitiert, daß er entweder einen ganz famosen Preis für die Waren des falliten Chabrus-Bruders zahlen mußte, oder die Lust an weiterer Beteiligung verlor. Außerdem erschienen die Chabruser oft in so großen Massen in den kleinen Geschäftslokalen, in denen die Lizitationen stattfanden, daß ein »Unberufener« gar nicht hineinkonnte, – ein Manöver, das durch Errichtung der gerichtlichen Auktionshalle eine wesentliche Einschränkung erfahren hat.

Im Laufe der Jahre erstreckte der Chabrus sein Tätigkeitsgebiet auch auf Auktionen von Lagern, die nicht seinen Mitgliedern gehörten. Die Waren wurden von der Kassa gekauft und dann im Kreise der Mitgliedschaft weiterversteigert. Nutzen und Schaden trug die gemeinsame Kassa. Der Chabrus verlor seine feste Struktur, er teilte sich nach den Branchen in verschiedene Teile und büßte schließlich ganz den Charakter einer einheitlichen Organisation ein. Heutzutage wird gewöhnlich nur ad hoc im Lizitationslokale ein Chabrus gegründet; und bloß bei den Pretiosenversteigerungen im k. k. Leihamte sind die beiden Konkurrenz-Chabruse des Herrn Franz und des Herrn Široky der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht.

In der gerichtlichen Feilbietungshalle sind auch die räumlichen Verhältnisse schlecht. Der Lizitationsleiter steht nicht in der Mitte der Längsseite, sondern der 271 Breitseite des Saales. Also können sich nur wenige Leute herandrängen, und die Mehrzahl sieht von der lizitierten Ware nichts, trotzdem der Saal leicht ansteigend gebaut ist. Nur durch das Gäßchen, das von Barrieren eingesäumt wird, und deren Eingang ein Wachmann streng bewacht, kann man hie und da einen Blick nach den Schätzen auf dem Auktionstische werfen.

Die Halle ist niedrig und der Geruch von Karbol und anderen Substanzen, mit denen die gepfändeten Gegenstände desinfiziert worden sind, erfüllt die Luft.

Da ist die Auktionshalle im staatlichen Versatzamte in der Leihamtsgasse viel moderner und eleganter. Ein glasgedeckter Lichthof von kolossaler Breite. Also kann sich alles in die Nähe des Lizitationsleiters drängen, alles kann die zu versteigernden Sachen aus nächster Nähe betrachten, alles kann sich mit absichtlich gewählten oder zufälligen Nachbarn über die Umwertung aller Werte, die hier feilgeboten werden, unterhalten, alles kann mitsteigern, mitstreiten, mitschreien . . .

Der Schätzer wirft ein Paket auf den Tisch und der Ausrufer schreit in den Saal:

»Ein Havelock. vier Messer und eine Decke: 13 Kronen.«

»Zehn!« ruft jemand aus dem Publikum.

»13 Kronen 10 Heller,« registriert der Ausrufer, aber die Rufe »zehn« überhasten einander, so daß er den Stand der Anbote nicht laut konstatieren kann.

»Zehn, zehn,« tönt es von rechts nach links.

»Ich nehme . . .« ruft ein hier Einheimischer dazwischen. Die Worte »ich nehme« sind ein von der Lizitationsleitung anerkanntes Synonym für das Wörtchen »zehn«.

Eine Frau hat es besonders auf dieses Paket abgesehen. Mit rasch wachsender Schnelligkeit kreischt sie die Rufe »deset«, »deset« (zehn) dem Liziationsleiter zu, niemand lizitiert mehr mit, und sie steigert sich fortwährend selbst. Nur die Endsilbe ». . . set ist hörbar. 272

»Wieviel set (Hunderte) wollen Sie denn bezahlen?« ruft ein Witzbold dazwischen. Lachen. Da hält die Frau inne. Sie erwacht aus ihrem Paroxysmus und merkt, daß sie zu teuer gekauft hat oder wenigstens mehr bezahlen muß, als sie anfangs wollte. Bei ähnlichen Gefühlen ertappt man sich vielleicht im Kasino von Monte Carlo.

Der Ausrufer erklärt: »Achtzehn Kronen und zwanzig Heller zum ersten, zum zweiten und dritten Male.« Der Lizitationsleiter drückt auf die Glocke. Der Diener legt das Paket mit Havelock, Messern und Decke auf das Pult, vor die Frau, die es gekauft. Der Kassier füllt einen Zettel mit dem erzielten Betrage und das Pare des Lizitationsprotokolls aus. Der Schätzer reicht ihn der Frau. Diese bezahlt das Geld. Dann keift sie:

»Wo ist die Ware?«

»Hier liegt sie doch!« antwortet der Schätzer. »Nehmen Sie Ihren Zwicker ab, dann werden Sie sehen.«

Die Frau hat natürlich keinen Zwicker, und die Leute lachen. Stimmung: Jocoso. Sie flaut nicht einmal ab, als ein brauner Flanellstoff zur Versteigerung ausgerufen wird, der von schäbiger Farbe ist:

»Den trägt man in Pankratz,« lacht einer vom Auditorium, »nicht wahr, Jeniku?«

Jenik bleibt die Antwort nicht schuldig: »Ganz richtig. Du kannst ihn ruhig kaufen.«

Das nächste Stück, das der Ausrufer in die Höhe hebt, erweckt scheues, ehrfurchtsvolles Murmeln. Ein Beamtenmantel ist es, mit bordeauxroten Passepoils. Selbst der Schätzer muß Hochachtung vor diesem Sinnbild der Staatsgewalt empfunden haben, als es versetzt wurde. Er hat nicht weniger als achtundzwanzig Kronen darauf geliehen, denn 28 Kronen 40 Heller (geliehenes Kapital + Interessen + Lizitationskosten) sind heute der Ausrufpreis.

»Das ist ein Mantel von der Polizei,« flüstert jemand einem anderen zu. 273

Aber der andere weiß es besser, denn er steht sozusagen bei sich selbst als agent provocateur in Diensten. Bei den Bummelkrawallen hat er Polizisten gegen Exzedenten und Exzedenten gegen Studenten gehetzt, und stand einmal als Angeklagter, einmal als Kläger vor der Barre des Strafgerichtes. Er ist Nationalsozialist und Sozialdemokrat, Stammgast der Meetings und des Schwurgerichtssaales, und niemals fehlt er bei Auktionen. Er schreit mit, wenn sich zwei Personen darüber streiten, wer von ihnen das Meistangebot getan hat, wem von ihnen das abschließende Glockenzeichen galt. Er schreit empört, wenn sich jemand in das Gäßchen stellt, das den Zugang zum Auktionsleiter bildet und freizubleiben hat. Er schreit und hetzt – aber sonst beteiligt er sich an den Geschäften nicht. Er braucht nur den Nervenkitzel.

»Der Mantel muß nicht von der Polizei sein,« sagt der Amateur-Lockspitzel, »der kann auch einem Statthaltereibeamten gehören.«

Der andere, ein kleiner, graublonder Trödler aus der Fabriksvorstadt will das nicht glauben. »Alle Polizeibeamte haben doch solche dunkelrote Aufschläge! Und zwei Behörden können doch nicht gleiche Farben haben. Und es ist ein sehr feiner Mantel, der ist sicher von der Polizei.«

»Sie, Gescheiter!« lachte der Fachmann. »Die Statthalterei ist doch mehr als die Polizei, das ist doch die höhere Instanz.«

Aber der kleine Trödler murrt nur ungläubig und unwillig: »Ja, ja, sagen Sie vielleicht auch noch, daß die Verzehrungssteuer mehr ist als die Polizei!« Dann dreht er sich um. Für ihn ist eben die Polizei das Höchste auf Erden. Nichts kann diesen frommen Glauben erschüttern, nicht die Erklärung des Fachmannes, und nicht einmal die Tatsache, daß der Mantel eines Polizeibeamten in der Leihanstalt versetzt wurde und verfiel. 274

Rings um die Lizitationskommission führt ein langes Pult, an dem die Kauflustigsten stehen. Sie sind entweder schon so früh gekommen, daß sie einen Platz an der Brüstung erhaschten, oder haben sich durch Energie und Beharrlichkeit vorgedrängt. Auf diesem Pult breitet der Schätzer die Schätze. Fachmännisch wird alles untersucht und gegen das Licht gehalten, damit man das Vorhandensein von Motten konstatieren könne. Links vor der Quality street, die zum Auktionsleiter führt und die ein Polizist bewacht, stehen zwei Chabrusgruppen. Jedes Pfandobjekt, das ihnen vorgelegt wird, wird durchberaten, und die beiden Chabrusmacher (an dem hinters Ohr gesteckten Bleistift und dem aufgeschlagenen Notizbuche sind sie kenntlich) vermerken zunächst in ihrer Gruppe die Kauflustigen und erkunden, bis zu welchem Betrage Kauflust vorherrschen würde. Dann unterhandeln die beiden feindlichen Chabrusgenerale, und erzielen nach langem Feilschen die Vereinbarung, daß bei diesem Pfandobjekt nur die eine Gruppe, bei dem nächsten nur die andere mitlizitieren wird. Wenn das Objekt erstanden ist, dann wird – mitten im Saal – innerhalb der Chabrusgruppe leise weiterlizitiert. Bei dieser Privatversteigerung sind bloß fünf Heller das geringste Mehranbot. Von dem Betrag, um den bei dieser leisen Auktion mehr erzielt wird, als bei der offiziellen, fallen zehn Prozent der Kassa zu, und der ganze Nutzen bleibt innerhalb des Kreises.

Hinten im Saal: Ein armseliger Kleiderhändler aus Břewnow hat eben einen Riesenballen aus dem Kommissionsraum geholt und breitet dessen Inhalt neugierig, ja fieberhaft gespannt, auf einen Sessel. Zahlreiche Gaffer begutachten gleichfalls die farblosen, formlosen Damenkostüme, die der biedere Břewnower in zitternder Erregung einzeln aus dem Ballen nimmt und auf die Sessellehne legt. Ein feister Konfektionär – Pelzkragen und Goldzwicker zeichnen ihn aus – lächelt 275 ironisch über den Schund. Dann tritt er auf den Besitzer zu:

»Wieviel haben Sie dafür gegeben?«

»41 Kronen 10,« sagt der andere kleinlaut und forscht ängstlich in dem Gesichte des Fragestellers nach dessen Ansicht. »Es war ein Dutzend.«

»Für ein Dutzend? Das ist wirklich sehr billig, halb umsonst.« Der mit dem Pelzkragen sagt das ganz ernst. Aber als sich der Břewnower Spekulant erleichtert nach den anderen Stücken des Ballens bückt, um die weiteren Schönheiten des eben erstandenen Lagers auszubreiten, zuckt über das Gesicht des behäbigen Fachmannes ein Lachen zu den Zuschauern hinüber. Die nehmen es verständnisvoll, mit Kichern auf. Der dicke Herr befühlt die Ware:

»Höchst moderne Fasson. Sehr feiner Stoff,« frozzelt er im Tone höchster Anerkennung, und das Publikum lacht. Lacht immer stärker.

Links vom Eingang, dicht am Ofen steht eine Arbeiterfrau mit einem Säugling am Arm. Sie will in dem Lärm ihr Kind einwiegen. Zu Hause kann es vor Frost nicht schlafen. Das Leihamt, das die ganze Habe der Frau verschlungen hat, muß ihr jetzt ein bißchen Wärme geben. 276

 

Vom Kleinseitner Deutsch und vom Prager Schmock

Vor hundertundachtzig Jahren reiste der Benediktinerpriester Anselm Desing als Mentor des jungen Grafen Franz Xaver von Wahl durch die Welt, und jene peripathetischen Lektionen haben in einem mächtigen Buche ihren Niederschlag gefunden: »Auxilia historica« oder Historischer Behulff und Bequemer Unterricht von denen darzu erforderlichen Wissenschaften . . . Verfasset von P. Anselmo Desing O. S. B., Ensdorffii. Mit Erlaubnuß der Obern und Kayserl. sonderbarem Privilegio. Verlegts Johann Gastl, Buchhändler zu Stadt am Hof, nächst Regensburg 1741.« Auf Seite 601 des zweiten Bandes, wo er »Von Beschaffenheit des Landes und der Einwohner in Böhmen« spricht, singt er das hohe Lob des Prager Deutsch: »Ihre Sprach ist Sklavonisch; obwollen wenige seind, so nicht auch Böhmisch (Druckfehler, muß heißen: Teutsch) verstunden, und die es nicht verstehen, heißen wir Stockböhmen. Es wird aber besser teutsch hierinnen gesprochen, als in vil andern tentschen Landen: welches Lob sonderlich dem Frauenzimmer auf der kleinen Seithen zu Prag zugelegt wird . . .«

Die Tatsache, daß man in Prag hochdeutsch, keinen Dialekt spricht, mögen den bayerischen Professor dazu veranlaßt haben, uns eine bessere Note aus deutscher Sprache auf das Zeugnis zu setzen als den Stammesgenossen der anderen Länder. Aber wir würden uns dieser Anerkennung, die auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert mehrere Reiseschriftsteller von Desing übernahmen, noch mehr freuen, wenn nicht das (allerdings in der Reiseliteratur vereinzelt gebliebene) Lob des Kleinseitner Deutsch daneben stünde, uns mißtrauisch machend. Das »Kleinseitner Deutsch« – es wird beileibe nicht bloß auf der 277 Kleinseite gesprochen – bespötteln wir Prager ja selbst am meisten. »Er spricht kleinseitnerisch,« sagen wir euphemistisch, wenn wir Prager einem Prager vorwerfen wollen, daß er – pragerisch spreche. Besonders, wenn die Aussprache gerügt werden soll, die Betonung der ersten Silbe (was besonders schön ist, wenn die Wörter mit Partikeln oder Vorwörtern anfangen) die offene Aussprache der Vokale, die Verwandlung der harten Konsonanten in weiche und der weichen Konsonanten in harte:

»Tie gleine Kretl wißte kern
Andword auf tie Frak
Wie woll tie Gavalleriegaserne . . .«

So dekliniert man in Prag: Ich pin, du pist, er is, wir ssind, ihr sseid, ssie ssind . . . Daß man einen Einspänner nicht Droschke, sondern »Drotschke« benennt, und das Wort »Teppich« der Kürze halber »Teebich« ausspricht, gehört zu unserem Hang zur Umkehrung von weichen und harten Lauten. Und wenn jemand dort, wo er »Klinke« sagen sollte, »Klicke« sagt, weil er an das tschechische »klika« denkt (das aus dem deutschen »Klinke« kommt), so haben wir ihn auszubessern. Damit er uns besser verstehe, können wir es ihm ja pragerisch sagen: »Sprech' orntlich!«

Auch Formen der Satzbildung und Begriffsbezeichnungen haben die Prager Deutschen von ihren tschechischen Anrainern übernommen, und so entstanden hier Lokalismen, die nicht überall verstanden werden, wo die deutsche Zunge klingt.

In Süddeutschland, insbesondere in Wien, und dem ehemaligen Oesterreich versteht man und gebraucht man sogar die meisten Pragismen; darf man doch nicht »daran« vergessen (wörtliche Uebersetzung von »pamatovati na něco«) und muß man doch »darauf« denken (falsche Uebersetzung des Wörtchens »na«), daß dort überall tschechische Kleingewerbler, Dienstboten, Arbeiter leben und die Sprache der Ureinwohner derartig 278 durchdringen, daß man sich leicht »darauf« gewöhnt, so zu sprechen, wie die Eingewanderten. Die Phrase »es steht dafür« – statt: »es lohnt sich«, »es ist der Mühe wert« – ist nichts weiter als eine allzu wörtliche Uebersetzung des »to stojí za to«. Und jener tschechische Kamerad, der in der Offiziersmenage diese Wendung mit »es kostet dafür« richtig zu übersetzen vermeinte, hat sich viel weniger blamiert, als jene Deutschen, die ihn lachend ausbesserten. In Deutschland wird diese Umschreibung des Wortes »lohnen« mit »dafürstehen« nicht verstanden, und ich war sogar einmal Zeuge, wie diese Redewendung in einer Gesellschaft das peinlichste Mißverständnis hervorrief.

Im Tschechischen wird, zur Abkürzung der Worte »telecí maso« oder »vepřoví maso« nur das Adjektiv verwendet; aus der Uebersetzung dieser Abkürzung sind die falschen Adjektivbildungen »Kälbernes« und»Schweinernes« entstanden, die nicht einmal kürzer sind als die richtigen Substantiva: »Kalbfleisch«, »Schweinefleisch«. Der Ausdruck »Rindernes« ist zum Glück dem Prager deutschen Sprachschatz noch nicht einverleibt.

»Auf was brauchst du das?« Diese Frage werden wir in Prag nicht bloß von Schulkindern hören. Man geht auch »auf ein Bier« oder »auf ein Nachtmahl«, man ist »auf eine Tasse Kaffee geladen«, man hat »Geld auf eine Bluse« bekommen. Der Fremde, der vermeinen würde, daß wir Künstler seien, die auf Bier zu gehen vermögen, oder Verschwender, die ihr Abendbrot mit den Füßen treten, würde sich täuschen. Unsere Kunst besteht bloß darin, die tschechische Präposition »na« an falscher Stelle richtig zu übersetzen. In der Polemik gegen einen linguistischen Artikel von mir hat Professor Reiniger (»Bohemia«, Nr. 84, S. 3, vom 16. Oktober 1917) zur Entschuldigung dieser mißbräuchlichen Anwendung des Vorwortes »auf«, angeführt, daß sie durch richtige Fügungen erleichtert worden sei, wie »auf die Post, aufs Land gehen«, er hat auch Goethe hervorgezogen: »Ich will morgen auf Gotha reisen.« Selbst 279 wenn diese Analogien augenfälliger wären, müßte ich doch fragen: »Auf was (na co) braucht Ihnen ein hiesiger Sprachschöpfer diesen Umweg auf die Post, aufs Land und auf Gotha (wo Goethe gewiß nie auf ein Bier gegangen wäre) zu machen? Er ist gewiß schon selbst »auf das« gekommen.

Leichtfertige Menschen sind wir, die am Balkon stehen, statt uns auf den Balkon zu stellen. Wir kaufen am Obstmarkt ein, obwohl wir doch auf dem Obstmarkt bei den Weibern viel mehr Auswahl hätten. Wir gehen am Belvedere spazieren, und wenn sich jemand wundert, daß wir es also vorgezogen haben, entlang der Lehne spazieren zu gehen, statt auf dem Plateau selbst, dann belehren wir ihn (vorausgesetzt, daß er es nicht »zu Fleiß« gesagt hat, um »sich einen guten Tag aus uns zu machen«, weshalb wir schtante pede »bös' auf ihn« wären) eines Besseren: »Wir waren doch am Belvedere oben!« All das hat das unglückselige Wörtchen »na« am Gewissen oben.

Natürlich die tschechische Präposition »na« und nicht die deutsche Interjektion »na«, die in Prag »no« ausgesprochen wird. Was den Vorteil hat, daß kein Mensch an Zolas Roman erinnert wird, wenn man ein unwilliges»Na, na« sagen will und ein »No, no« spricht.

Ein anderes Vorwort, das wörtlich übersetzt wird, trägt Schuld daran, wenn wir in einer Schusterwerkstätte fragen: »Was kommt von den Sohlen?« Der Schuster wird unsere Frage verstehen, denn er pflegt ohnedies seiner Kundschaft zu sagen: »Od těch podrážek přijde deset korun« Ob aber auch ein Deutscher aus anderem Land unseren Satz verstünde? »Meiner Seel', wie nicht,« muß ich da auf pragerisch schwören.

Die zwei Buchstaben des rückbezüglichen Fürworts »se« haben im Sprachgebrauch nicht weniger Verheerungen angerichtet und mehr als ein Zeitwort wird nach dem Tschechischen rückführend gebraucht. Die Kinder, die »sich spielen«, sind zwar nach Prag heimatszuständig, aber schon längst in alle Winde zerstreut. 280 Dagegen sind alle Leute unverfälschte Prager, welche solche Sätze sprechen: »Er hat sich das sehr gelobt.« – »Ich hab' mich erschrocken.« – »Ich hätte eine Wohnung in der Weinberge haben können, aber es wollte sich mir nicht so weit.« Oder gar: »Wir haben sich unterhalten.« – »Was ich mich angelaufen hab', wegen dem Stückl Seife.« Du kennst solche Sätze viele, lieber Leser, »nicht wahr, daß ja?«

Die Wendung »ich bin gern« wird statt der richtigen »ich bin froh« gesetzt, weil für die beiden Worte »froh« und »gerne« im Tschechischen nur ein Ausdruck besteht: »rád«. Für die Verben »legen, setzen, stellen, abnehmen« &c. hat der Tscheche zwar eine gleiche Zahl von Bezeichnungen, aber er begnügt sich zumeist mit dem Verbum »dáti, geben. Von ihm hat es der Deutsche übernommen zu sagen: »Gib den Hut hinunter,« – »Gib die Gabel wieder hin.« Und nur ein Eingeborener kann den Satz verstehen: »Wenn er geglaubt hat, daß ihm die Frau geben wird, hat er sich schön gegeben,« was – nicht allzu frei! – folgendermaßen ins Deutsche zu übersetzen wäre: »Wenn er glaubte, daß ihm die Frau ihre Gunst schenken werde, hat er sich stark verrechnet.«

Den Conjunctiv Imperfecti pflegen wir durch ein »würde« oder gar durch ein »möchte« abzuschwächen. Statt »ich läge«: »ich würde liegen«; statt »das Haus bräche zusammen«: »das Hans möchte zusammenbrechen« &c., was auf die tschechische Bildung dieser Form durch »bych, bys, by« zurückzuführen ist. Einmal habe ich einem Dichter, der sich kolossal als Berliner aufspielte, aus einem Worte seiner Gedichte auf den Kopf zugesagt, daß er mein Landsmann sei. Das Gedicht lautete:

Wär' jeder Tropfen meines Herzbluts ein Rubin,
Und wär' mein ungestillt gebliebenes Sehnen
Ein leuchtender Smaragd, hellstrahlend, hoffnungsgrün,
Und wären Perlen meine blut'gen Tränen, – 281
Ich würde sorgsam sie zusammenflechten
Zu einem Prachtgeschmeid, ersehntes Weib, für Dich.
Weil sie mich mahnend Dir dann zeigen möchten,
Denn Tränen, Blut und Sehnsucht: siehe, das bin ich.

Eine feine Konjunktivbildung prägerischer Prägung ist die Anhängung eines t oder te an das Verbum: »ich ginget gerne hin« oder »ich lasset mir auch eine Bluse machen . . .«, statt: »ich ginge«, »ich ließe«. Der berühmte Sprachforscher August Schleicher, der wegen nationaler Angriffe im Jahre 1857 Prag verließ, hat im ersten Jahre seiner Prager Lehrtätigkeit eine Abhandlung über die Einwirkung des Tschechischen auf die deutsche Sprache geschrieben (Herigs Archiv, 1851), worin Wörter – welche im Tschechischen immer ungetrennt bleiben, wenn ein Objekt hinzutritt – auch im beeinflußten Deutsch ihr Vorwort behalten. So sagt man: »den Fluß übersetzen« statt: »über den Fluß setzen.« Schleicher führt auch die Redensart an »er hat sich überzogen«, die richtig zu lauten hätte: »er hat die Kleider gewechselt«. Heinrich Teweles, der die Forschungen Schleichers fortgesetzt und popularisiert hat, fügt in seinem nicht sehr beachteten und sehr beachtenswerten Buche »Der Kampf um die Sprache« (Leipzig 1884, Verlag Reißner) an diese Bemerkung vom Umkleiden die Beobachtung an, daß man häufig vom »Ausziehen« spricht, wo man »ablegen« sagen soll; die Handschuhe zieht man aus, den Hut legt man ab. Die Weglassung des Fürwortes vor dem Zeitwort (nach dem Tschechischen) ist recht häufig: »Leben wohl«, »Bleiben wohlauf« und sogar das interösterreichische »Küss' die Hand« – statt: »ich küsse die Hand« – können auf diese Beeinflussung des Tschechischen zurückzuführen sein. Aus Sealsfields »Kajütenbuch« ist zwar ersichtlich, daß die mexikanischen Generale gleichfalls das Pronomen vor dem Verbum verächtlich fortgelassen, aber sie sprechen portugiesisch, und der, der diese Sprachunart in seinem deutschen Roman getreulich wiedergibt, – ist ein ehemaliger Prager Kreuzherr. 282

Seit O. F. Bergs »Der Böhm' in Amerika« hat der böhmakelnde Komiker auf fast keinem Theaterzettel einer Posse, auf keinem Spielplan einer Singspielhalle oder eines Kabaretts gefehlt. Aber trotz Pallenbergs »Zavdil« und Max Reinhards »Prager Fremdenführer« sind diese Nachahmungen mehr grotesk, als richtig. Als Karl von Holtei ein pragerisches Eröffnungsfestspiel für den neuen Theaterdirektor Hoffmanns arbeiten sollte, fuhr er 1846 eigens nach Prag, »um Lokalstudien zu machen, den vorherrschenden Ton wieder kennen zu lernen.« Aber die Wiedergabe ist ihm nicht gelungen, das Kauderwelsch, das der Theaterkastellan auf der Bühne sprechen sollte, ist alles eher, denn Prager Deutsch. So wurde das Bühnenspiel nicht aufgeführt. Auch in dem Gedicht »Der Böhme in Berlin« ist ihm der Versuch keineswegs geglückt, das berüchtigte Behmischdaitsch Prags nachzuahmen. Man urteile selbst:

»Bei Prag ist eine große Bruck
Ale ist prächtig!
Steht heil'ger Nepomuk
Auf Bruck bedächtig.
Möcht' ich Land meines seh'n,
Möcht' ich nach Böhmen gehn.
Böhmisch, böhmisch,
Böhmisch ist schön.«

Am besten hat Gustav Meyrink den Prager Ton getroffen, z. B. in seiner Groteske »Tut sich, macht sich, Prinzeß«. Dort steht: »Die – die kennen Sie nicht? Das ist doch die Frau Syrovatka, die was die Witwe ist . . .« Diese Umschreibung der Relativpronomina durch »der, was . . .« oder »die, was . . .« ist wohl das markanteste Kennzeichen des Prager Deutsch, neben dem viel verspotteten »hör' ich,« (sprich: »heerich«), das übrigens an sich grammatikalisch unanfechtbar ist. Aus dem sächlichen Geschlecht, dem das Wort »ráno«, die Frühe, im Tschechischen zugehört, oder aus einer 283 gedanklichen Attraktion mit einem Synonym, dem männlichen Hauptwort »Morgen« läßt es sich erklären, daß man bei uns »jeden Früh« einen Sprachfehler begeht. Aehnlich ist es mit der Frost, die draußen herrscht: man weiß nicht, ob ihre Weiblichkeit durch Anpassung an die der Kälte, an die der zima entstanden ist.

Viele Vokabeln, die nicht Prager Eigenbau und nicht durch Einfluß der tschechischen Umwelt entstanden sind, haben sich in Prag konserviert, während sie in den größten Teilen des deutschen Sprachgebietes nicht geläufig sind. »Almer« ist die lokale Bezeichnung für das, was man – wenn man sie vermeiden und hochdeutsch sprechen will – einen »Kasten« nennt, während es richtig »Schrank« heißen soll. Ob das Wort »Almer« das tschechische almara ist oder umgekehrt, mag strittig sein, sicher ist jedenfalls, daß »Almara« auch kein tschechisches Wort ist, ebensowenig wie das synonyme »šifonér«, das sich – man weiß das aus dem Lied vom Einsturz der Karlsbrücke – auf »pionér« reimt. Es ist nicht erstaunlich, daß das »armarium«, aus dem im mittelalterlichen Latein durch Dissimulation »almaria« wurde und eine Truhe für geistliche Urkunden bedeutet hat, auch in unseren Kirchen und Klöstern vorhanden war. Wie kommt es aber, daß es gerade in Böhmen so profaniert worden und bodenständig geblieben ist?

In Prag fließt niemals Eiter aus einer Wunde, sondern: Materie. Wieso man hierzulande für das unangenehme Sekret jenes Wort gewählt hat, mit dem die abstrakte Philosophie nichts Geringeres als das substantielle Substrat der Körperwelt im Gegensatz zu den wechselnden, sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen bezeichnet, ist schwerer für den Metaphysiker, leichter für den Mediziner zu begreifen: »Materia purilenta« heißt »eitriger Stoff«. Aber nirgendwo wie in Prag drang die Abkürzung dieses Terminus bis in die untersten Schichten der Laienwelt. 284

»Ich werd' dich schon lernen,« wird oft als typisch pragerisch gerügt. Da muß ich die Tadler denn »lernen«, daß gerade hier ein deutscher Dialektausdruck vorliegt; in der bayerisch-österreichischen Mundart bedeutet lernen ebensoviel wie lehren, der Lerner heißt ebenso der Lehrling wie der Lehrer.

Vokabeln, die aus dem Tschechischen oder überhaupt aus dem Slawischen und in die deutsche Sprache auch außerhalb des Prager Polizeirayons Eingang gefunden haben, gibt es genug: die »Haubitze« ist aus der hussitischen Steinschleuder »houfenice« entstanden, die allerdings von einem Kriegerhaufen mitgeführt wurde. Der »Hallunke« soll weder vom isländischen »halloka«, d. i. Knecht, noch vom französischen »haillon« d. i. Lumpen, noch vom englischen »lounger« d. i. Faullenzer, Lungerer, und auch nicht vom italienischen »alocco« d. i. Tölpel, sondern vom tschechischen »holy«, d. i. nackt, von »holomek«, nackter Bettler, stammen. Ob »Popanz« wirklich aus »bubák« entstanden ist und nicht aus dem »Pöpel« (aus dem lateinischen »peplus«) worunter in oberdeutschen Gegenden noch heute ein Schleier, eine Kappe verstanden wird, womit man sich das Gesicht verhüllt, ist ebenso fraglich, wie die Behauptung, daß »Peitsche« nicht eine einfache Lautnachahmung des zischenden Peitschentons oder dem Griechischen »bissa« entlehnt ist, sondern dem Tschechischen »bič«! »Pomeranze« kommt »po moře«, vom Meere her, der »Schmetten« von »smetana«, »Gasche« (Kasch) statt Brei, »Kren« statt Meerrettig, »Pawlatsche« statt Altan, aus dem Tschechischen. Die Umschreibung »einen Affen haben« für »betrunken sein« soll der Uebersetzung des Wortspiels opice (der Affe) und opít se (sich betrinken) ihre Existenz im Deutschen verdanken. Das dialektisch gebrauchte Zeitwort »nappizen« für dösen, halbschlummern, stammt nicht aus der Judensprache und nicht aus dem Tschechischen »na peci« (auf dem Ofen liegen), sondern aus dem mittelhochdeutschen »chnappizon«. Kollege Kufner hat einige hundert deutsche Worte aus dem 285 Tschechischen abzuleiten versucht, und gibt seinem Buche selbst den skeptischen Titel »Věda či báchorka?«, Wissenschaft oder Märchen?«

Aber ein Wort, das aus Prag stammt, will ich hier, wo ich die erste Erwähnung des Kleinseitner Deutsch festgestellt habe, nicht fehlen lassen: das Wort »Schmock«. Wie es entstanden ist, kann ich nicht sagen, aber seine erste bücherliche Eintragung konstatiert es in Prag, und die Behauptung der Lexika, daß es von der tragikomischen Figur in Freytags »Journalisten« stamme, ist falsch. Wirklich wird der Begriff »Schmock« im Sprachgebrauch nicht (trotzdem Brockhaus und Mayer dies behaupten) im Sinne von »skrupelloser, käuflicher Journalist« gebraucht, sondern für einen närrischen, verschrobenen Menschen. Und auch die Herkunftsbezeichnung wird noch oft angewendet, wovon sich der Prager Schmock im Auslande häufig überzeugen kann . . . . Also, die erste Erwähnung findet sich in einem anonymen Buche »Bilder aus Oesterreich 1848 bis 1849. Von einem deutschen Reisenden«, das 1851 in Leipzig bei Friedrich Ludwig Herbig verlegt wurde. Dort schreibt der Autor auf Seite 15, von Prag sprechend: »Ein gewisser Elles begegnete mir hier, einer von den regsamen, aber phantastischen Köpfen, die in der durch Religion, Sprache und Sitte dreifach von der Außenwelt abgesonderten Ghettosphäre zu Dutzenden wachsen. Man hat für die eigentümliche Verschrobenheit dieser Ghettokinder den lokalen Spitznamen ›Schmöckerei‹ erfunden. Solch ein geistreicher Schmock war Elles. Durch die Taufe hatte er sich seinen orthodoxen Angehörigen entfremdet und suchte dafür Ersatz unter den ›Schmöcken‹, an denen es auch außerhalb der Judenstadt in Prag nie gefehlt hat.«

Und so wie mit manch anderem Prager Ausdruck ist es auch mit dem Schmock gegangen: er lebt heute überall. 286

 

Die Geheimnisse des Fundbureaus

Zum Beispiel: Es kommt ein junger Mann ins Fundbureau der Polizei, zweiter Stock, Hauptgebäude. Sein Anzug, seine Stiefel, sein Hut sind solid und neu und deuten darauf hin, daß er vermögend ist. Aber der Umschlagkragen Marke »Hydepark« (um 1902 modern gewesen) und die genähte Krawatte erweisen dem Polizeiauge, daß man einen Draußigen vor sich hat. Der junge Mann meldet aufgeregt einen Verlust: Er habe gestern abends auf dem Weg von Hradschin durch den Baumgarten in das Hotel Myška eine Brieftasche mit 800 Kronen in bar und wertvollen Dokumenten verloren.

Ihr glaubt, daß ihm mit dem Wörtchen »nichts« sofort Auskunft gegeben werden könnte? Nein, nein, ihr irrt euch. So zentralisiert ist das Fundwesen noch lange nicht. Das Kommissariat Bubentsch, zu dem der Baumgarten gehört, ist eines der selbständigen, und Funde dieses Revieres werden dort bewahrt, allerdings nicht ohne daß sofort dem Fundamt der Polizeidirektion Mitteilung gemacht würde. Und das Hotel Myška befindet sich in Zizkow. Zizkow aber ist so wie Weinberge, Smichow und Karolinental eine selbständige Vorstadtgemeinde und führt Funde und Verluste im Bürgermeisteramt in eigener Evidenz, freilich ebenfalls alles der Polizeidirektion meldend. Immerhin könnte sich die Ankündigung etwas verspätet haben und der liebenswürdige Herr Adjunkt fragt telephonisch in Bubentsch und Zizkow an: Nichts. Der Verlust wird zu Protokoll genommen und der junge Mann gibt seine Prager Adresse an: Hotel S.

»Hotel S.? Sie haben die Brieftasche auf dem Wege ins Hotel Myška verloren?« 287

Der junge Mann vom Lande errötet hold und dem Beamten wird nun der Umweg Hradschin–Baumgarten–Zizkow verständlich. Chose d'amour!

»Und wer war die Dame?« wagt der Beamte indiskret zu fragen. Da kommt er aber schön an. Don Juan ans Balikow braust auf: »Pardon, es war eine Dame der Gesellschaft.«

»Sie kennen sie schon lange?« fragt der indiskrete Kerl von einem Beamten unbeirrt weiter.

»Nein, ich habe Sie gestern kennen gelernt; aber es ist eine Dame, die sehr noble Verwandte hat. Sie hat es mir selbst gesagt. Und im übrigen verbitte ich mir alle weiteren Fragen.«

Der Beamte: »Gehen Sie 'mal hinüber in das Sicherheitsdepartement zum Herrn Kommissär Drašner. Erzählen Sie ihm den Vorfall und er wird Ihnen das Album zeigen!«

»Das Album? Ich habe doch eine Brieftasche verloren.«

»Na ja, gehen Sie nur hinüber.«

Unwillig folgt der junge Mann. Was das für unnütze Komplikationen sind. Bubentsch, Zizkow und jetzt Sicherheitsbureau. Was hat ein Verlust mit der Sicherheit zu tun?

Aber Herr Kommissär Drašner hört den Mann an und zeigt ihm dann das Album. Es sind Damenphotographien. Der Verlustträger ist sehr indigniert, er schaut nur mit halbem Auge auf die Bildnisse. So eine Zumutung! »Ich sage Ihnen doch, es war eine Dame der ersten Gesellschaft.« Da – Herrgott. Verdutzt schaut er die Photographie an, rechts ist die Enface-Aufnahme, links Profil. Nein, nein, es kann doch nicht sein. Aber es ist doch so.

Gefunden.

*

Eine hochelegante Dame. Sie flüstert dem Adjunkten zu, daß sie gerne mit ihm sprechen möchte. Der Kanzlist wird aus dem Bureau geschickt. 288

»Ich bin Frau Mareczek! Mein Mann hat heute den Verlust eines Brillantohrgehänges angezeigt, das ich gestern auf dem Wege aus der Krameriusgasse zum Altstädter Ring verloren habe.«

»Jawohl.«

»Ich möchte Ihnen nur ganz im Vertrauen sagen. daß ich das Ohrgehänge beim Ausflug nach Kundratitz verloren habe. Aber bitte, das nicht zu protokollieren. Und wenn man das Ohrgehänge finden sollte, dann darf mein Mann um Gottes willen nicht erfahren, wo. Lieber verzichte ich auf den Ohrring.«

*

Es gibt fünferlei Arten von Findern.

I. Die Ungeschickten. – Sie sehen etwas auf der Erde funkeln, bleiben auffallend stehen, bücken sich ungeniert, heben den Ring auf und betrachten ihn. Im Nu sammeln sich Neugierige, schätzen den Fund und schicken den Glücklichen zum nächsten Polizisten. Wider Willen ist der Mann zum »redlichen Finder« gestempelt. Der Ring wäre ihm lieber.

II. Die Geschickten. – Ah, dort liegt ein Armband. Ganz unauffällig hebt man den Fuß, als ob man sich den Schuhsenkel besser zubinden wollte. Dann stellt man den Fuß nieder, zieht mit der linken Hand die Masche des Schuhbandels auf und in der rechten läßt man das Brasselett verschwinden. Dann bindet man die Masche wieder zu und geht ruhig weiter. Niemand hat etwas bemerkt.

III. Die Gewissenhaften. – Von diesen unterscheidet man zwei Abarten:

a) Die einen finden einen Spazierstock, im Neuwerte von 30 Hellern oder ein zerfetztes Portemonnaie mit 11 Hellern und vier gebrauchten, aber noch gut erhaltenen Tramwaykarten. Schnell laufen sie ins Fundbureau und wollen dort ihren »Fund« anbringen. Man nimmt aber bloß Gegenstände im Werte von 2 Kronen 289 10 Heller (d. i. ein Gulden Konventionsmünze) aufwärts.

b) Die anderen finden wirklich wertvolle Gegenstände und möchten sie gerne behalten. Aber wie leicht könnte man sie ertappen, also geben sie's lieber zurück.

IV. Die Ehrlichen. – Das sind die, die den gefundenen Gegenstand zurückgeben, weil er nicht ihr rechtmäßiges Eigentum ist. Aber die gibt's nicht!

*

Das Interessanteste aber ist: Funde und Verluste stehen in Prag in keinem Zusammenhang. Gemeinverständlich ausgedrückt: Diejenigen Gegenstände, die verloren werden, werden nicht gefunden, und diejenigen Gegenstände, die gefunden werden, sind gar nicht verloren gegangen. Im Fundbureau werden jährlich ein paar tausend Verluste gemeldet, die nicht gefunden werden, aber die Zahl der Funde, deren Eigentümer sich nicht meldet, sind nicht geringer. Daraus ist die soziale Wahrheit abzuleiten, daß die Ansicht von der Unehrlichkeit der Menschen noch schlimmer ist, als die Unehrlichkeit selbst! »Wozu soll ich erst auf die Polizei laufen,« denkt sich der Verlustträger, »der, der's gefunden hat, gibt es ja doch nicht zurück.«

Allerdings hält manchmal das Schamgefühl die Leute ab, Verlorenes zu reklamieren. So: Eine mit der Freiherrenkrone geschmückte Brieftasche, in der sich acht Versatzscheine und elf rekommandierte Mahnbriefe vorfinden. Oder ein falsches Gebiß, das in der Damenabteilung eines Gebäudes auf dem Josefsplatz gefunden wurde. Oder aber ein fast neues Mieder, das hinter einem Gebüsch in den Čelakovkyanlagen entdeckt wurde.

So geschieht's, daß man mit der Ermittlung der Verlustträger ebensoviel Scherereien hat, wie mit der Ermittlung der verloren gegangenen Gegenstände. Wenn sich z. B. in einer Brieftasche Visitkarten, Briefkuverts u. dgl. finden, so forscht man nach dem Eigentümer, 290 man veröffentlicht die herrenlosen Funde in der Zeitung und vergleicht sorgfältig die Verlustanzeigen mit den Mitteilungen der Funde, die von den selbständigen Kommissariaten, den Vorstadtgemeinden, den Eisenbahndirektionen und der Straßenbahnverwaltung kommen. Diese Arbeiten werden dadurch erschwert, daß die Leute ihren Verlust aber schon sehr ungenau beschreiben und nie genau wissen, was sie verloren haben.

»Ich kenne mich darin aus, wie in meiner Tasche.« Ueber diese häufige Redensart wird Adjunkt Prochazka, der seit Jahren die Akten über Funde und Verluste in Evidenz führt, nur lächeln können. Er weiß es besser, daß sich niemand in seiner Tasche auskennt. Wenn jemand den Verlust einer Brieftasche anzeigt, in der sich seine Legitimationen und 40 Kronen Bargeld befanden und die auf dem Weg von der Wassergasse zum Museum zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags verloren wurde, dann ist die Tasche samt Legitimationen und 200 Kronen Bargeld schon um 9 Uhr früh auf dem Radetzkyplatz gefunden worden. Manchmal ist auch weniger darin, als angegeben wurde.

*

Im Fundbureau rät man bei wertvollen Verlusten immer, sie in der Zeitung zu veröffentlichen. Vor kurzem kam eine Feldwebelsgattin mit einem Brillant-Halbmond, der zum Befestigen an das Armband und zum Tragen als Brosche eingerichtet war. Sie habe das Zeug vorgestern gefunden und achtlos in die Nähschachtel geworfen. Heute habe sie in der Zeitung von dem Verlust eines ähnlichen Schmuckstückes gelesen und bringe ihren Fund. Ist es das? Ja, es war das. Und Frau Feldwebel bekam 2000 Kronen auf die Hand ausgezahlt, denn der Halbmond hatte 20.000 Kronen gekostet.

Dem Rat von der Insertion des Verlustes fügt man im Fundbureau der Polizeidirektion noch eine Warnung hinzu: Man möge nicht die Adresse des 291 Verlustträgers angeben, sondern lieber den Vermerk anschließen: »Abzugeben bei der Polizeidirektion.« Das hat in der Tätigkeit eines spekulativen Schwindlers seinen Grund, der an die Adressen der Verlustträger durch einen Boten folgendes Schreiben sandte:

»Sehr geehrter Herr!

Ihr Armband (Ring, Uhr) habe ich gestern gefunden. Sie können es bei mir morgen zwischen 6 und 8 Uhr abholen.

Hochachtend

Rudolf Melichar, Drechsler,
Radlitz, Havliček-Str. 19.

P. S. Der Bote ist nicht bezahlt.«

In der großen Freude, das wertvolle Stück wieder zu haben, bezahlte man den Boten, der doch den weiten Weg von Radlitz gegangen war, immer nobel. Eine Krone war das mindeste. Das aber war der Trick des Schwindlers, denn am nächsten Tage zwischen 6 und 8 Uhr früh erfuhr der schon glückliche Verlustträger zu seinem doppelten Aerger und Verdruß, daß in der Radlitzer Havličekstraße kein Rudolf Melichar existierte, und daß sein Schmuckstück nicht nur nicht gefunden, sondern auch der Botenlohn nur herausgefopptes Geld gewesen sei. Dem Schwindler war es nicht auf den Brief, sondern nur auf das Postskriptum angekommen.

Trotzdem die Polizei fingierte Inserate veröffentlichte, konnte sie des raffinierten Gauners nicht habhaft werden.

*

Das Depot der gefundenen Gegenstände ist ein Raritätenkabinett. Die meisten seiner Schätze sind in zwei großen Schränken bewahrt. Zieht man das erste Schubfach hervor: ein Meer von Portemonnaies. Rote und grüne, sezessionistische und solche im Empirestil, Saffian- und Seehundleder, riesige und winzige, 292 abgeschabte und elegante, Plüsch- und Häkelarbeit und Sämisch- und Krokodilleder und Perlmutter, Geldsäcke aus Sackleinwand, – keine erdenkliche Sorte fehlt. Welch eine ungeheure Kluft von Standesunterschieden und Klassenvorurteilen mag die Besitzer dieser Geldbörsen getrennt haben und nun sind alle die Täschchen in fürchterlicher Enge aneinander gepreßt. Manches zerschlissene Täschchen, Portemonnaielein mit verrostetem Schloß mag wissen, daß sein duftig-eleganter Nachbar hohl und leer ist und mag ihn – doch beneiden.

Alle die Geldtäschchen, die diese Schubfächer füllen, tragen mit einem Strick sorgsam befestigt ein Zettelchen, auf dem sich die Aktennummer befindet.

Die nächsten Schubfächer enthalten die Réticules – »Ridicules« sagen die Gebildeten. Auch hier wieder alle Varianten, von der mühselig selbstgearbeiteten Perlenstickerei bis zum kostbaren Emailstück an goldener Kette. In Massen sind auch Uhren erschienen, mit Ketten und Kettlein, goldene und silberne und Tula. Man staunt darüber, daß sich die Besitzer nicht meldeten. Selbst Bargeld – Beträge bis zu 500 Kronen – werden nicht abgeholt. Unter den Anwesenden, die die Räume füllten, bemerkten wir u. a.: Einen Damenschuh, einige Hundemarken, einen Operngucker, einige Spazierstöcke, einen Panamahut samt Maulkorb, die Reflektorscheibe einer Automobillaterne, einige Medaillons, ein Paket Schundromane, Taschenmesser, Sacktücher, mehrere Revolver, einen Boxer und ähnliche unumgänglich notwendige Gegenstände des täglichen Gebrauches.

Bei Betrachtung der Ringe findet man die wertvolle Erkenntnis, daß Edelsteine einen wichtigen Schutz gegen das Herabrutschen des Ringes vom Finger bilden müssen. Denn Eheringe überwiegen stark . . .

Im Schrank hängt eine große Tablette »Mottenschutz«.

Auch Hunde, Kinder, Pferde und Handwagen werden manchmal gefunden. Diese werden aber, wie mir 293 auf meine neugierige Frage beteuert wird, nicht in den Schubfächern untergebracht.

*

Rechts steht eine große Kiste, wohlverpackt. Sie wandert in die Auktionshalle und enthält die Pretiosen, die schon drei Jahre im Polizeiasyl geschlummert haben, ohne daß sich der Verlustträger und der – Finder gemeldet hätten. (§ 392 B. G. B.) Die übrigen Gegenstände werden schon nach einem Jahre versteigert, die dem Verderben unterliegenden Gegenstände sogar nach drei Monaten. Der Erlös samt dem Auktionsprotokoll geht an die Polizeidirektion, wo der Verlustträger sich innerhalb drei Jahren melden kann. Das kommt natürlich nie vor. Nach Ablauf von drei Jahren wird das Geld im Depositenamt hinterlegt. Dort bleibt es nur dreißig Jahre. Ist das nicht zu wenig? Wie leicht könnte sich nach vierzig Jahren schon jemand erinnern, daß er seinerzeit einen Maulkorb samt Monokel im Gesamtwerte von 1 Gulden 40 Kreuzer auf dem Graben verloren habe! Aber da er sein Eigentum reklamieren wollte, wäre es zu spät. Schon nach dreißig Jahren ist die ganze Summe dem habgierigen Fiskus anheimgefallen.

Wozu brauchen wir eine Verwaltungsreform? 294

 


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