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Und nun, da ich in flatternden Fetzen zur Wärmestube ging, und nun mich des Schutzes gegen den Winter entledigt hatte, spürte ich, kaum daß ich auf der Straße war, was es heißt, der Gewalt des Frostes wehrlos preisgegeben zu sein.
Von der Čertovka her, dem Moldauarm, der die Kampa umfließt, mischte sich schwere Feuchtigkeit in die eisigkalte Atmosphäre, die dicken Schwaden, welche rings um die brennenden Gaslaternen sichtbar waren, erweckten den Anschein, als ob die frierende Luft sich an die Lichter herandränge, um sich zu wärmen . . .
Nach kurzem, aber eisigem Wege war ich in der Wärmestube. Sie ist in einem niedrigen Gebäude in der Belvederegasse untergebracht, das an den Landesschulrat anschließt. Rechts ist der Eingang in die Abteilung für Frauen, links in die für Männer. Durch diesen ging ich, durchschritt einen kurzen Korridor und war dann vor einer Glastüre. Ich öffne und bin in der Wärmestube. An dreißig Menschen wenden sich ruckartig gegen den Ankömmling, ich fühle mich von ebensovielen Augenpaaren scharf, durchdringend und verdächtigend gemustert. Sich ein Plätzchen zu suchen, ist nicht so einfach. Das Zimmer ist klein, und die dreißig Menschen sitzen dicht aneinandergeschmiegt auf den Bänken, welche an beiden Längswänden und parallel zu diesen in der Saalmitte, sowie an einer Breitseite aufgestellt stehen. Die der Tür gegenüberliegende Breitwand des Raumes ist frei; hier ist der Eingang in die Küche und der Schalter, an dem man zu Mittag eine Suppe und Brot bekommt. Zwischen zwei Schlafenden ist doch eine Handbreit der Bank freigeblieben; indem ich den einen Schläfer beiseite schiebe, – er rückt mechanisch weiter – kann ich mich niedersetzen. Die Blicke der Leute 295 rutschen wieder von mir ab, und die Gespräche, die während meiner Installation verstummt waren, werden wieder fortgesetzt.
Da sitzen sie, die wehrlosen Feinde des Frostes, da sitzen sie in ihrer einzigen Zufluchtstätte. Aber auch hier, wo sie der Gegner nicht fassen kann, legen sie ihre schwache Wehr nicht ab. Alle haben ihre zerschlissenen Winterröcke und ihre Hüte anbehalten, alle haben ihre Rockkragen aufgeschlagen, fast alle haben Tücher um ihre Ohren geschlagen. Der eine hat Pulswärmer an – zwei Tuchmuster oder Strumpfteile, die mit Spagat am Handgelenk festgebunden sind. Alle sitzen zusammengekauert und aneinandergeschmiegt da. Besonders dicht ist die Reihe in der Ecke, an dem Eisenofen. Die Zunächstsitzenden halten ihre Hände an den graphitartig glänzenden Ofen, als wollten sie in der kurzen Spanne Zeit ein möglichst großes Quantum Wärme in sich aufnehmen.
Armselige Gestalten! Es ist ein grau in Grau gemaltes Bild, das man hier im Lichte der einen Gasflamme sieht. Einer hat seinen Stiefel ausgezogen und bindet mit schmerzverzerrter Miene einen schmutzigen Fußlappen um seinen über und über blutigen Fuß. Ein Jüngling, der ein rotes Tuch nicht ohne Koketterie um den Hals gebunden trägt, legt einen Taschenspiegel auf sein Knie und freut sich seiner Locken; man würde schwören, sie seien mit der Brennschere gekräuselt, aber wo hätte er die erwärmen können? Oder dreht er sich, bevor er sich nachts in einem Kanal zum Schlafe bettet, Papilloten ins Haar? Ein alter Mann, ein Modell für Skarbina, blättert verzweiflungsvoll in seinem Arbeitsbuch, – er sucht wahrscheinlich, ob er bei seiner Stellungssuche in Prag nicht einen einstigen Dienstgeber vergessen hat.
Alle fluchen dem Winter. Daß es heuer keinen Schnee in den Straßen zu schaufeln, kein Eis auf der Moldau zu hacken gibt. Die anderen fluchen den 296 Polizeibezirksleitern und Bezirksrichtern, die so streng sind, gerade im Winter milde zu sein.
»Voriges Jahr hab' ich im Sommer in Deutschbrod drei Wochen wegen Bettelei bekommen, und vorige Woche hat mir der Schuft nur vierundzwanzig Stunden gegeben,« schimpft einer. Ein anderer erzählt mit verschmitztem Gesicht:
»Mich hat vorgestern in Smichow der Kommissär gefragt, ob ich mir nicht Arbeit suchen wolle. Da hab' ich gesagt, ich werde jetzt Hopfen pflücken gehen.« Alle lachen. Dann wendet sich der Spaßvogel zu dem Burschen mit dem roten Schlips:
»Wer wird denn jetzt Fahnenträger bei den Ausflügen der Sträflinge sein, wenn du ihnen untreu geworden bist.« Neuerliches Hallo. Aber der Verspottete frisiert sich ruhig weiter:
»Ich hab's erledigt. Aber du wirst erst anfangen.«
Dann wird der Strafvollzug in den einzelnen Gerichten Böhmens und Mährens einer vergleichenden Erörterung unterzogen. Der eine lobt sich seine Salonzelle in Mährisch-Budwitz, der andere schimpft auf sein Gerichtsquartier in einer südböhmischen Stadt. Auch das Schubwesen und die Behandlung in den einzelnen Schubstationen werden fachlich besprochen, und es gibt keinen Mißstand, der nicht auf Grund reicher Erfahrungen vollkommen aufgedeckt würde. Man sollte die Stammgäste der Wärmestuben bei Enqueten in Justizangelegenheiten heranziehen. Sie sind ja die Hauptbeteiligten, und wären zweifelsohne die bestinformierten Experten.
Einer, der das große Wort führt und viel von Weibern und Pferden erzählt – allerdings von solchen, die nicht edler Rasse sind – hat mich ins Auge gefaßt:
»Gehst du heut' ins Asyl?«
Ich verneine. Erst am nächsten Donnerstag sei der Monat um, seit dem ich dort war, also könne ich erst 297 nächste Woche wieder hingehen. Aber der Kerl läßt nicht locker.
»Du bist ein Schneider, nicht wahr?« fragt er mich.
»Ich bin Handlungsgehilfe,« ist meine Antwort.
»Du handelst wohl mit alten Hadern,« sagt er und weist auf meinen derangierten Anzug. Ein lautes Lachen geht los.
»Nun ja, jeder kann nicht so elegant herumlaufen wie du,« gebe ich ihm zurück. »Der hat dir einen Flek (Trumpf) gegeben,« ruft ein junger Bursch meinem Widersacher zu.
Einige holen aus ihrer Tasche ein Stück des Brotes hervor, das ihnen zu Mittag verabreicht worden ist, und beginnen zu kauen. Von Zeit zu Zeit erhebt sich einer, langt nach der Wasserkanne, die auf einer Konsole steht. Dann gießt er sich Wasser in einen Blechtopf, der mit einer Kette an die Wand befestigt ist. Mein Nachbar, der inzwischen erwacht ist, trinkt den Topf viermal leer. Dann wischt er sich den Mund ab und sagt: »Brr, wenn ich nur heute vier Kreuzer auftreiben könnte. So ein Gläschen Kornschnaps könnte nichts schaden.«
Der Bursch mit dem roten Scarf und dem auf rätselhafte Weise ondulierten Haar hat andere Gelüste. Er steckt sich einen schmierigen Tschick in den Mund und entfernt sich mit einem Schnalzen aus der Wärmestube: »Jetzt wird fein geraucht.« Nach fünf Minuten ist er wieder da.
Um halb sechs Uhr vergattern sich die Leute, die in das Nachtasyl schlafen gehen, und verlassen das Lokal. Für die Zurückbleibenden gibt es nur einen Gesprächsstoff: das Nachtquartier. Der eine rühmt sich, daß ihm seine Geliebte heute Obdach gewähren werde, der andere weiß sich eine feine Scheuer in der Nähe des Baumgartens, ein Dritter erzählt von einem angenehm warmen Ziegelofen in Koschiř.
»Du meinst die Ziegelei Kudela?« wird er gefragt. 298
»Das weiß ich nicht. Ich schlafe schon seit vier Jahren im Winter dort, aber ich weiß gar nicht wie die Ziegelei heißt.«
Um sechs Uhr rasselt der kleine, blonde Mann, der durch eine blaue Schürze, einen sauberen Anzug und ein Käppi als der Aufsichtsmann der Wärmestube kenntlich ist und der bislang ruhig an einer Ecke der Bank gesessen ist, ostentativ mit seinem Schlüsselbund. Das ist die Mahnung zum Aufbruch. Alles steht auf, jeder geht noch zum Ofen, als ob er etwas Wärme als Wegzehrung mitnehmen wollte, einige Kalorien als Taschengeld. Dann geht es hinaus. Hinter uns wird die Türe gesperrt. Der Schlafbursche der Ziegelei wendet sich auf dem Korridor an mich.
»Komm' mit mir nach Koschiř schlafen.«
»Warum denn? Bist du dort allein?«
»Allein! Es sind gewöhnlich vierzig dort. Größtenteils Drahtbinder.«
»Also, weshalb willst du, daß ich mitgehe?«
»Na, der Weg ist weit, und zu zweit geht sich's besser. Komm' mit!«
»Ein andermal. Heute werde ich noch bei einem Freunde schlafen.«
Dann treten wir auf die Straße hinaus.
Es ist schon dunkel.
Jauchzend umpfeift der kalte Wind die zusammengeduckten Jammergestalten, die sich für eine knappe Zeitspanne vor ihm versteckt gehalten hatten, ihm aber nun wieder willenlos preisgegeben sind, für eine lange Winternacht.