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Im Yellowstone Park

Ich blicke von einem schimmernden Sinterhügel, den die Geysirn im Lauf der Jahrtausende aufgeschichtet, auf die weite Prärie hinaus. Es ist die Stunde, da die Bisons ihre Abendwanderung antreten. Sie schreiten vereinzelt, jeder für sich, in weiten Abständen voneinander; aber alle halten den gleichen Kurs ein, unbeirrbar, wie wandernde Vögel. Was ist es, das diese Tiere alle Länderkunde vorwegnehmen läßt? Ich weiß es nicht; keiner weiß es wohl. Denn auch die Menschen, die gleiches vermögen, wissen es nicht.

Vor wenigen Jahrzehnten war eine einzige Herde Büffel nicht selten viele tausend Kopf stark; heute leben keine hundert auf der weiten Fläche des Yellowstone Parks und in ganz Amerika weniger, als vormals eine mittelgroße Herde ausgemacht hätte. Wir haben sie ausgerottet. Und wie ich nun den letzten dieser Riesen zuschaue, die in die Prärie so wunderbar hineinpassen, da erbebe ich vor Empörung. Was wird die Welt um unseretwillen arm! Wohl umfriedigen wir zum Besten der Tiere weite Landstriche, weisen wir den Rothäuten Reservationen an; aber das hält ihren Untergang nicht auf. Die Büffel verkümmern in der Umzäunung, die Indianer entarten, seit sie den Kriegspfad nicht mehr betreten dürfen; beide sterben unaufhaltsam aus. Bald werden alle malerischen Typen der Vorzeit angehören, wird die ganze Erdoberfläche mitteldeutschem Kulturland gleichen – gleichmäßig abgeteilt, schablonenmäßig bebaut, nur von Menschen und Rassevieh bewohnt. Ich weiß: ohne Selbstmord zu begehen, werden wir diese unsere Wirkung nicht hindern. Aber welche Verblendung, solchen »Fortschritt« erfreulich zu finden! Es ist entsetzlich, daß die Erde von Tag zu Tag einförmiger wird. Denn dies bedeutet ja keine Umsetzung der vorhandenen Energie, sondern absoluten Energieverlust, weil für das, was verloren geht, kein Ersatz an die Stelle tritt. Das Leben ist nicht im selben Sinn verwandelbar wie die Elektrizität. Jeder Typus bedeutet ein einziges, verkörpert eine Möglichkeit, die es nur einmal gab, nie wieder geben wird. Mag daher das Geschlecht der Europäer, der Kühe, Pferde und Edelschweine in Zukunft noch so gesegnet werden – damit würde die Lücke nicht ausgefüllt, welche die Ausmerzung der übrigen Gestaltungen in die Schöpfung hineingefressen hat. Die Welt wird mit jedem Tag ärmer. Daß dies der eigentliche Sinn des Fortschritts ist, illustriert mit erschreckender Deutlichkeit Amerika, weil hier der Weiße am stärksten im Sinn des Zweckmenschen typisiert erscheint. Nirgends ist die Natur so großartig wie hier; hier scheint alles im großen erschaffen, alles Große lebensfähig, nur das Große den Verhältnissen gemäß; dieses Grundverhältnis hätte, so sollte man glauben, alle geistigen Werte potenzieren müssen: statt dessen sind alle aus dem Auge verloren worden, bis auf den einen, einzigen der Quantität. Nur Größen und Zahlen beeindrucken den Yankee, nur ihnen strebt er nach. Diese Verarmung seiner Psyche ist die notwendige, unabwendbare Folge des ausschließlichen Strebens nach Erfolg. Und was er tut, wird immer mehr auch zum Streben Europas. Schon hat eine vielverbreitete neue Philosophie das »ökonomische Prinzip« zum Ideal des Denkens ausgerufen – somit das Selbstverständliche zum höchsten Gut. Wir werden immer dürftiger und ärmer, und diese Dürftigkeit rottet den Reichtum aus. Jede bestimmte Entwickelungslinie ist ausschließlich, aber unsere wohl die erste, welche die anderen unwillkürlich zerstört. Sie ist mit dem Fluche belastet, über die blinden Kräfte der Natur so große Gewalt zu besitzen, daß sie vernichten muß, sogar wo sie erhalten will. Der moderne Weiße hat mehr bewußte Freude an der Natur als irgendein Mensch, er interessiert sich tiefer als irgendeiner für fremde Eigenart; trotzdem stirbt das, was er nicht ist oder braucht, wohin er sich wende, unaufhaltsam aus.

Die arisch-europäische Menschheit hat nicht viel weniger Verderben und Mord auf ihrem Gewissen, als die türkisch-mongolische, obgleich nur diese vielleicht Zerstörung als Selbstzweck betrieben hat. Die Römer errichteten ihr Weltreich auf den Trümmern der alten, so eigenartigen Mittelmeerstaaten. Darauf schleiften die Germanen dessen ganzen Bau. Deren Urenkel vernichteten die Kulturschöpfungen der Araber, dann die der Inkas und Azteken. Und wenn seither die Absichten besser wurden, so haben sich die Zerstörungsmittel dermaßen vervollkommnet, ist ferner unsere Zivilisation an sich so totbringend geworden für alle, die nicht in und zu ihr geboren sind, daß vom Erfolg eher das Gegenteil gilt. Hegel lehrt nun, Fortschreiten über Leichen sei eben der Weg, den der »objektive Geist« zu wandeln habe, um sich vollkommen zu verwirklichen, das jeweils führende Volk, als Träger der »Idee«, komme allein in Betracht und sei berechtigt, alle übrigen zu zwingen oder auszurotten: er hätte recht, wenn geschichtliche Bedeutsamkeit wirklich alle Werte in sich beschlösse. Allein, ganz abgesehen davon, daß diese ohne Vorurteil überhaupt nicht bestimmt werden kann, überdies nur nachträglich und unter der sehr zweifelhaften Voraussetzung, daß, was irgendwie geschah, zum besten geschah und notwendig so kommen mußte, welche Voraussetzung ihrerseits impliziert, daß materieller Erfolg ein Gottesurteil zum Ausdruck bringt, darf als gewiß gelten, daß historische Führerschaft in keinerlei notwendiger Beziehung zum spirituell und geistig Bedeutsamen steht. Indien und China, beide von ungeheurer Bedeutung, haben doch in der weltgeschichtlichen Bewegung, wie Hegel sie versteht, keine Rolle gespielt. Daß Christus und Buddha zu historischen Machtträgern wurden, erscheint zufällig in bezug auf sie. Der geschichtliche Prozeß an sich ist eines Sinnes mit dem biologischen; an diesem Umstand ändert nichts, daß unter Menschen nicht allein physische, sondern auch psychische Organismen (Ideale, Glaubensinhalte) sich gegenseitig ergänzen und bekämpfen. Sintemalen der ideelle Prozeß, an sich unabhängig vom biologischen, doch vermittelst dieses verläuft, läßt sich a posteriori überall, wo Bewegung statthat, zwischen diesem und jenem eine Beziehung herstellen. Aber wesentlich besteht sie nicht; das Biologische ist nur ein Mittel, und werden dessen Normen zu geistigen Zielen hypostasiert, so wirkt dies Unheil. Dann kommt es zu menschenunwürdigen Anschauungen wie die, daß es nichts Höheres als das Staatswohl gibt, daß Macht Selbstzweck ist, jedes Mittel erlaubt im Völkerverkehr, daß eine bestimmte Rasse das Recht hat, alle anderen zu knechten, und daß der moderne homo technicus, der zum Zweck seiner persönlichen Bereicherung die ganze Schöpfung ruiniert, damit Gottes Willen erfüllt. Fern davon, daß Macht (im Sinn von Zwingenkönnen und -wollen) an sich Gutes bedeute (wie alle Fortschrittsgläubigen stillschweigend annehmen müssen, denn nur dank der materiellen Macht siegt Hegels »Idee« sowohl als die »christliche« Zivilisation), ist sie vielmehr, wie dies Jakob Burckhardt bisher am tiefsten begriffen hat, wesentlich böse und macht auch böse. Noch keine irdische Macht ward ohne Verbrechen begründet, noch keine behauptet ohne Gewaltsamkeit in irgendeiner Form; ihr Lebensgesetz ist teuflischer, nicht göttlicher Art. Deshalb will und wird es niemals gelingen, Weltgewaltigkeit zum sittlich und geistlich Guten in naturnotwendige Beziehung zu setzen. Unsere westliche Zivilisation, als die weltgewaltigste von allen, die es je gab, ist von Hause aus nicht gut, sondern böse: deshalb bringt sie nicht nur Verderben allen denen, die sich ihr nicht anzupassen wissen – sie verdirbt auch ihre Träger. Diesem typischen Erfolg wird dort gesteuert, wo die Macht geistige und sittliche Ideale zu verwirklichen dient, und hierzu dient sie glücklicherweise immer mehr. Wo sich der Mensch ihrem eigensten Geist verschreibt, wird er zum Teufel.

Nun ist gewiß, daß das Böse seine bestimmte und notwendige Funktion hat in der Weltökonomie. Vernichtung allein bahnt den Weg zu radikaler Erneuerung. Wenn es ernstlich vorwärts gehen soll, muß der Naturprozeß des Werdens und Vergehens zuweilen beschleunigt werden. Nur Revolutionen sprengen altersstarre Formen, nur das vorzeitige Ende von Generationen, wie der Krieg es bedingt, zerreißt den Faden bindender Tradition. Weltkulturen wären niemals entstanden, wenn eine Menschenart andere nicht bezwungen und so, aus dem Dschungel wildwachsender Formen, bestimmten zur Herrschaft verholfen hätte. Endlich sind – um das Äußerste nicht ungesagt zu lassen – Tod und Töten normale Naturvorgänge. Raubtiere müssen rauben und scheinen ebenso daseinsberechtigt wie Pflanzenfresser; die durch Kriege, Katastrophen und Seuchen bedingte Beschleunigung und Vergrößerung des Lebensumsatzes ändert qualitativ gar nichts am Charakter des Geschehens und quantitativ wenig insofern, als sich im großen das meiste kompensiert; die Ablösung der Faunen und Floren durch die geologischen Epochen hindurch beweist allein schon, daß jede bestimmte Gestaltung irgend einmal notwendig zugrunde geht, und ob solches langsam, durch die Macht der sich wandelnden Verhältnisse geschieht, oder plötzlich, dank dem Einbruch eines Attila, bleibt sich wohl gleich. Die höchsten Ewigkeitswerte sind wesentlich sterblich im Sinn der Zeit. Offenbar steht der indische Mythos, nach welchem Schaffen und Zerstören korrelative Attribute der Gottheit darstellen, der Wahrheit sehr nahe: zu Zeiten ist das Böse gottgewollt. Allein der Mensch soll nie Shivas Stellung usurpieren; was diesem frommt, darf er nicht wissentlich wollen; die Unabwendbarkeit des Sterbens rechtfertigt den Mörder nicht. Gleichwie Geburt und natürlicher Tod jenseits der Machtsphäre persönlichen Wollens liegen, so übersteigt der Plan, nach dem das Lebensganze fortwirkt, individuelle Beurteilung. Im Reich der vernunftlosen Geschöpfe gelangt er überall, wo kosmische Zufälle oder menschliche Willkür ihn nicht durchkreuzen, zu vollkommener Verwirklichung; wunderbar weise wirkt die Selbstregulierung der Natur. Unter Menschen ereignete sich gleiches dann, wenn jeder einzelne das ihm gemäße täte. Dann wirkte Gott sich mittels freien Menschenwollens aus, es geschähe das von Ihm her erforderliche, kein notwendiger Konflikt, kein Fatum bliebe aus, doch der einzelne wäre ohne metaphysische Schuld, und im großen diente alles zum Besten. Allein der Mensch tut nur selten, was er sollte, desto seltener, je bewußter er handelt. Und unternimmt er es gar, vom Plan des Ganzen aus, den er zu kennen wähnt, das Geschehen zu bestimmen, so beschwört er Unheil. Es kommt zu wahnwitzigen Kriegen, zu allvernichtenden Umwälzungen; die Selbstregulierung der Natur wird zerstört, der Unsinn siegt. In vielen, nur zu vielen Beziehungen hat der weiße Mann also auf Erden gehaust.

Immerhin ist sein Wirken in anderen dennoch gottgewollt. Offenbar hat sich das allgemeine Gleichgewicht der Kräfte soweit verändert, daß wir, sofern wir ja sagen zu uns selber, vorherrschen müssen; offenbar ist vieles Wertvolle, das wir zerstören, in unserer Welt ohnehin nicht lebensfähig, ist eine Zeit gekommen, in der auf Kosten des noch so schönen Alten Neues entsteht und kein Hadern mit dem Schicksal dies aufhalten kann. Dies aber bedeutet, daß es tatsächlich so etwas gibt, was man ein »Recht des Stärkeren« heißen mag. Um moralisches Recht handelt es sich hier freilich ebensowenig, wie bei irgendeinem materiellen Kräfteausgleich, im Gegenteil: Vergewaltigung, an Lebendigem ausgeübt, ist immer böse, jede Gewalttat schlägt als solche dem Recht ins Gesicht, der gerechteste Strafvollzug verletzt das sittliche Gefühl in irgendeinem Sinn. Aber Kräfte sind eben Wirklichkeiten, die sich auswirken ihren Eigengesetzen gemäß; auf ihrer Daseinsebene gelten ausschließlich diese. Und, so oft Böses das Gute bezwingt, Rohes das Vollkommene, so oft das moralische Bewußtsein dadurch verletzt wird und das Denken versagt im Versuch, den Sinn der ἀνάγκη zu begreifen – manchmal gelingt es doch, die Heilsamkeit des an sich Bösen nicht allein im kleinen, wie beim Rechts- und Strafzwang, sondern im ganz großen einzusehen. So gerade hinsichtlich des »Rechts des Stärkeren«. Die Geschichte lehrt, daß aus den gewalttätigsten Kriegerstämmen oft die idealgesinntesten Kulturvölker werden. Dies aber erklärt sich, wenn ich nicht irre, folgendermaßen: Physische Überlegenheit ist nur auf moralischer Basis dauerhaft. Ohne Mut richtet Kraft nichts aus; ohne Opferwillen, Disziplin, Organisiertheit hilft auch Mut nicht. Handele es sich hier um noch so einseitige Vorzüge – sie grenzen die Naturbasis ab, die einer Fortentwickelung zum Höchsten am fähigsten scheint. Die Germanen, welche die alte Welt zerstörten, waren grausam und roh, aber auch mutig, loyal und opferfreudig; dies befähigte sie, bei vorhandener Geistesbegabung, im Lauf der Jahrhunderte stetig besser zu werden, während Griechen und Römlinge, verfeinert, aber feige und falsch, an Zersetzung verdarben. Nur der Stolze, der sich selbst achtet, respektiert auch andere; aus den gewalttätigen Angelsachsen hat sich das rechtlich gesinnteste Volk Europas entwickeln können, weil alle Tugend beim Ich anhebt und von ihm aus ihren Kreis erweitert, weil der primitive Glaube an persönliches Vorrecht den Keim enthält einer Anerkennung von Recht überhaupt – während unter den Russen, die von jeher gutherzig waren und sich niemals ein Recht zur Unterdrückung anderer zuerkannten, denen die Weltanschauung des Urchristentums im Blute liegt, noch heute Willkür herrscht. Die Natur des Starken allein gewährt geistigen Mächten ein zukunftsreiches Verkörperungsmittel. Insofern wird es, solange irdische Entwickelung anhält, zumal so oft es neuanzuheben gilt, auch ein Recht des Stärkeren geben.

... So urteilt der Verstand. Doch als ästhetisches Wesen beklage ich es tief, daß der Weltprozeß so und nicht anders verläuft. Gern gäbe ich alle technischen Errungenschaften hin dafür, daß ich die Prärie in ihrer alten Herrlichkeit, so, wie sie war, bevor das Bleichgesicht der Rothaut den Vernichtungskrieg erklärte, auch nur für einen Abend schauen dürfte.

 

Immer mehr, in dieser wilden, vitalisierenden Natur, werde ich mir meines Gewaltmenschentums bewußt. Wir Abendländer sind Kämpfer, wesentlich dies. Während der Chinese an eine prästabilierte Harmonie zwischen Mensch und Kosmos glaubt, die es zu wahren gilt um jeden Preis, während der Inder, was er auch tut, sich selbst zurückbehält und so nicht teilnimmt innerlich am Daseinskampfe, stehen wir überzeugt mitten in ihm. Uns kümmert nicht der Zusammenhang, wir sind Elemente, wollen es sein und uns als solche durchsetzen. Dem Geist des Kampfes entsprießt unser Schlimmstes wie unser Bestes. Ihm entsproß unser Eroberer- und Räubertum, ihm die Reformbewegung, die Wissenschaft, die soziale Gesinnung. Weil wir wesentlich Kämpfer sind, bescheiden wir uns bei keiner Autorität, wollen wir frei forschen, jeder für sich entscheiden. Der Krieger kennt keinen Kompromiß, er will siegen oder unterliegen, seine Devise ist: er oder ich.

Solang ich im Orient weilte, erschien unser Kämpfertum mir durchaus in ungünstigem Licht. Wie sollte es nicht? Der Kämpfer ist wesentlich Zerstörer, wesentlich blind, parteiisch, ungerecht, verständnislos. Der Weise – und an ihm ist alles Leben des Ostens orientiert – kämpft nie; er steht über den Parteien, den Zusammenhang aller Gestaltung übersehend, in ihm zentriert, und wäre unwahr gegenüber sich selbst, indem er sich mit irgendeiner identifizierte. Aber woher seine Überlegenheit? – Diese Frage hatte ich mir im Orient niemals gestellt. Beantworte ich sie nun, so erweist es sich, daß ich dem Westen damals Unrecht tat. Nicht der farblose Skeptiker ist ja der Weise, nicht der Gleichgültige, der Kalte, der Unentschiedene, im Gegenteil: von allen Wesen steht der leichtfertige Zweifler dem Weisen am fernsten. Wenn dieser nicht kämpft, so geschieht dies nicht, weil er Streiten von vornherein als zwecklos abwiese, sondern weil er schon ausgekämpft hat, weil er mit sich und der Welt im reinen ist; der Diskussionsprozeß, der sonst draußen verläuft und selten zu einem endgültigen Abschluß führt, hat sich für ihn im Stillen seiner Seele vollendet. Und von dieser Erkenntnis aus erfasse ich erst den ganzen Tiefsinn der indischen Mythe, daß die Vorstufe des Brahmanen der Kschattrya, der Ritter sei: ohne Kampf gibt es keine Erkenntnis; erst wer als Krieger ehrlich gefochten hat, erscheint reif zum Gottesfrieden der Weisheit.

Dies erklärt sich dadurch, daß die Entscheidung eines Streits nicht bloß ein mechanisches Ergebnis ist, sondern zugleich organische Veränderung bedingt. Wenn Überzeugungen im allgemeinen erst nach erfolgter Diskussion klar feststehen, wenn Völker, nachdem die Waffen entschieden, Veränderungen in den Machtverhältnissen willig anerkennen, die sie kurz vorher als unannehmbar abwiesen; wenn der von jeher Starke erst in der Widerwärtigkeit zum Helden erwächst, so beruht dies darauf, daß die Seelen im Kampfe anders werden. Und nur so werden sie es. Bloß theoretische Einsicht beeinflußt das Innere nicht. Man kann noch so deutlich die Notwendigkeit einer Neuordnung einsehen, und doch unfähig erscheinen, auf sie in praxi einzugehen; man mag alle Tugend erkennen und doch ein Schurke bleiben. Wahrscheinlich besaßen Christus und Buddha ihre Weisheit mit dem Verstand, lange bevor sie erleuchtet wurden; trotzdem datiert ihre Mission erst von dieser Stunde. Sie aber war eine solche des bitteren Kampfs. Vom Bösen versucht, mußten beide ihn erst besiegen: dann erst waren sie frei. Das heißt, dann erst war ihre Menschenseele so weit verwandelt, daß sie dem höchsten Wissen zum Werkzeug dienen konnte.

Nur einem unter Milliarden ist es beschieden, zum Buddha zu werden, in den wenigsten liegt es, über ihren Ausgangsort überhaupt erheblich hinauszukommen; deshalb gewährt eine statische Gesellschaftsordnung, die den natürlichen Rangklassen leidlich Rechnung trägt, für jede Gegenwart das erfreulichste Bild. Der einzelne, an seinem Typus orientiert, findet leicht seine Vollendung, und im ganzen herrscht Harmonie. Aber solche Ordnung ermöglicht kein Fortschreiten: nur der geborene Weise wird weise in ihr, jeder verharrt auf der Stufe, auf welche die Natur ihn stellte, die Menschheit bewegt sich gar nicht von der Stelle. In einer Kampfeswelt stehen jedem alle Möglichkeiten offen. Indem jeder für sich, in voller Aufrichtigkeit, dafür eintritt, was er für richtig hält, und das anstrebt, wozu er sich berufen glaubt, erprobt er an der unmittelbaren Erfahrung, was in ihm liegt, jedem Keim volle Entwickelungsgelegenheit bietend. Und indem alle sich auf gleiche Art erproben, findet im großen eine Auseinandersetzung statt, welche notwendig vorwärts führt. Die Natur der Dinge bedingt, daß jeder Fehler sich irgend einmal rächt, alles Falsche sich schließlich als falsch erweist, alles Morsche irgend einmal verdirbt, und umgekehrt, daß alles Wertvolle seinen Wert bewährt und jede Wahrheit sich selber beweist – wenn jener Natur nur Gelegenheit geboten wird, sich auszuwirken. Diese aber wird ihr geboten, sobald die Menschen den Mut zum Wagnis haben. Da die besonderen Kämpfer immer blind sind, beweist der Prozeß im einzelnen wenig genug. Reaktionäre und Umstürzler, Sozialisten und Individualisten, Altgläubige und Freidenker – wie viele der Faktoren immer seien, deren Widerstreit die Dialektik des modernen Werdens ausmacht – haben sämtlich recht zu irgendeinem Teil, und im ganzen sämtlich unrecht. Sie sind jeder nur ein Element eines gewaltigen Prozesses, dessen Plan kein Sterblicher zu übersehen vermag, und keiner erreicht je das, wofür er kämpfte. Aber auch kein Kampf war jemals umsonst. Jeder Idealgesinnte tut in noch so bescheidenem Umfange mit bei der Verbesserung der Welt, jedes Widerstreben dem Übel schwächt dessen Macht, jedes Opfer kommt der Zukunft zugute. Und das Ganze entwickelt sich, stetig trotz aller Reaktionen, in der Richtung aufwärts, die von der Natur der Dinge gewiesen wird, in dem Sinne zwar, daß die Zustandsbesserungen, die zu gegebener Zeit und an gegebenem Orte möglich sind, auch wirklich eintreten. Weder die Männer von 1790, noch die von 1848 haben erreicht, was sie erstrebten, und das war gut, denn sie begehrten vielfach Unsinniges; aber dank ihnen sind wir erheblich weiter, als sie waren. Die sozialistische Doktrin als solche ist verfehlt, allein ohne sie wären wir der gerechteren Neuordnung der Verhältnisse, welche möglich scheint, nicht schon so nahe. Fortschritt ist aber nur möglich in einer Kampfeswelt; in einer statisch-friedlichen gibt es keine Evolution.

Jeder einzelne soll nur aufrichtig sein, den Mut zum Irrtum, zum Wahn, zur Beschränkung, ja zum Verbrechen haben; das weitere besorgt die Natur der Dinge, oder auf indisch ausgedrückt, das Karma-Gesetz. Der Weg des Kämpfers mutet arg mechanisch an, und ist es auch; der einzelne figuriert hier nur als Element, ohne Verständnis für das Ziel, und das Heil kommt von außen. Allein der Masse ist ein höherer Weg nicht gangbar. Mögen Entwickeltere den der Erkenntnis oder der Liebe wandeln – für jene kommt nur Karma-Yoga in Frage. Nun ist die von uns erdachte und betriebene von allen die tiefsinnigste. Bei ihr handelt es sich nicht um passive Hingabe an vorgesetzte Normen, um die erwartete Rückwirkung von Dogmen, Übungen, Riten, sondern um opferfrohe Initiative. Und keine nur denkbare führte die Menschenmehrheit schneller zum Ziel. Wie prahlerisch die Behauptung im ganzen sei, daß wir es so herrlich weit gebracht – zugegeben muß werden, daß, seitdem unsere beschleunigte Entwickelung begann, unglaublich viel geschehen ist. Man vergegenwärtige sich die Lage der englischen, oder gar der irischen unteren Volksklassen vor hundert Jahren, die der Fabrikarbeiter überall vor noch weit kürzerer Frist, und gedenke dabei vor allem der Rückwirkung, die das Elend auf ihre Seelen ausübte: man wird nicht leugnen können, daß wir heute in einer neuen, besseren Welt leben, einer Welt höheren Wohlstands nicht allein, sondern würdigerer Gesinnung. Diese aber ist erschaffen worden durch Kampf allein, durch durchsetzerischen Egoismus; sie wäre unerschaffen geblieben, wenn chinesische Ordnungsliebe oder urchristliches »Nichtwiderstreben dem Übel« die Willen gelenkt hätten. In einer Kampfeswelt führt Egoismus am schnellsten zum Ziel. Wie ist dies möglich, wo er im letzten doch ein Mißverständnis bedeutet? Eben darum: die Natur der Dinge erweist ihn als solchen und bildet ihn um; aus mörderischer Konkurrenz entsteht notwendig, früh oder spät, Kollaboration. Wie schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die sich bekämpfenden Eisenwerke Belgiens und Deutschlands ein Abkommen trafen, welches jedem ein bestimmtes Maß, und nicht mehr, zu produzieren gestattet, so wird es einmal überall kommen in unserer Welt. Gerade deshalb, weil wir geborene Gewaltmenschen sind.

 

Somit lassen sich Bedeutung und Eigenart der modern-okzidentalischen Kultur mit einem Begriff erschöpfend bestimmen: sie ist Kultur der Aufrichtigkeit. Mehr als alle Menschen gestehen wir uns ein, was wir wollen und sind. Was immer wir vorläufig gelten lassen mögen – eigentlich und letztlich glauben wir an uns selbst allein und rasten nicht, bis unsere Stellung in und zu der Welt mit unserer individuellen Überzeugung übereinstimmt. Demgemäß sind Überzeugungstreue und empirische Wahrhaftigkeit uns höchste Ideale. Wir wissen nicht, wie die Inder, metaphysische Wahrhaftigkeit mit Lügenhaftigkeit nach außen zu vereinen, oder, gleich den Chinesen, unverbrüchlich treu eine vorgeschriebene äußere Ordnung einzuhalten, ohne zu fragen, inwiefern sie uns selbst entspricht: unserer Gesinnung gilt als besser, an persönlichem Irrtum zugrunde zu gehen, als einer unverstandenen Wahrheit zu dienen, besser durch mutiges Auswirken dessen, was wir glauben, in metaphysischem Sinn zu lügen, als eine empirische Unwahrheit zu reden. Auch hier leitet uns die Grundidee, die aller westlichen Kulturgestaltung zugrunde liegt: daß Menschenbestimmung sei, den Sinn der Erscheinung restlos einzubilden.

In China verweilte ich bei den Nachteilen der Aufrichtigkeit. Diese fördert den einzelnen weniger als blinde Hingabe an ein Äußeres, sofern dieses einem objektiven Optimum entspricht und die persönliche Meinung irrig ist; in diesem Sinn rührt unsere Roheit zum großen Teil von unserer Aufrichtigkeit her. Aber unsere Barbarei hat andrerseits mehr Zukunft, als jede auf Autorität begründete Kultur, weil Mut und Wahrhaftigkeit, und sie allein, notwendig vorwärtsführen, weil vor allem sie allein den Entwicklungsprozeß beschleunigen. Der Natur der Dinge nach müssen auch unsere Irrtümer Segen bringen.

Ich überfliege im Geist die Geschichte unserer Wissenschaft und Philosophie. Auf wieviel Abwegen sind wir nicht schon gewandelt, wie viele Umwege haben wir nicht gemacht! Wie vieles Vorläufige haben wir als letztes Wort gefeiert, mit wieviel einseitigen Formeln den Sinn der Welt zu erschöpfen gewähnt! Aber jeder Fehltritt hat doch Gutes zur Folge gehabt. Indem die einen nur Sein anerkannten, die anderen nur Werden, erfuhr jede Möglichkeit im Kampf der Schulen eine so scharfe Herausarbeitung, daß ihr Zusammenhang heute vollkommen deutlich scheint. Indem kühne Revolutionäre die überkommene Moral verwarfen und unbefangen die Selbstsucht zum Panier erhoben, zwangen sie die übrigen, die Gründe ihrer entgegengesetzten Überzeugung aufzusuchen, wonach das Wahre sich als desto wahrer erwies und mancher Irrtum aufgehoben ward. Der Kirchenfeindschaft, der Freigeisterei, der Antireligiosität verdankt man's vor allem, daß heute endlich der Sinn religiösen Glaubens einzuleuchten beginnt, womit denn das, was vormals dunkler Glaubensinhalt war, zur lichten Erkenntnis wird. Jede Kritik bringt Segen auf die Dauer, so einseitig sie sei, soviel Schönes sie im Augenblick zerstöre. Denn auch hier heißt es: stirb und werde! Nur aus zersetztem Samen erwächst neues Leben, nur aus der Zersetzung des blind Übernommenen entsteht deutliches Wissen. Wenn der Mensch autonom werden soll, voll verantwortlich für alles, was er will, denkt und tut, dann muß er seiner Gründe voll bewußt werden. Alle Dogmen als solche muß er sprengen, alles Vorurteil, auf alle Rückversicherung in der Rassenerfahrung verzichten. Diesem Prozeß war die Neuzeit gewidmet. Der geistige Kosmos ist damit wieder einmal in ein Chaos zurückverwandelt worden, es gärt und kocht in ihm, und was schließlich kommen wird, ist im einzelnen nicht abzusehen. Aber das allgemeine Ziel ist schon gewiß: unsere Kultur der Aufrichtigkeit muß dahin führen, daß die auf Heteronomie beruhende Harmonie sich zuletzt in eine auf Autonomie begründete umsetzt, daß alles Wahre, was vormals auf Autorität hin geglaubt ward, zur persönlichen Erkenntnis wird, und das persönliche Selbstbewußtsein durchaus zum Träger des Menschheitswillens. Und sie allein kann dahin führen. Mögen das indische, das chinesische, das katholisch-christliche System noch so erfreuliche Bilder erreichter Vollendung darbieten – sie bergen keine Entwicklungsmöglichkeit. Ein Neues kann nur auf unserem Wege werden.

Der jüngste und typischeste Abendländer, der Amerikaner, ist der aufrichtigste Mensch; dies erkauft seine Unkultur. Aus ihm kann noch alles werden. Wie wenig das Vorläufige als solches den Vergleich mit dem Vollendeten aushält – in einer Welt des Werdens hat es Daseinsberechtigung. Und schließlich steht dieses Vorläufige der äußerst denkbaren Vollendung näher in der Idee, als die indische Vollkommenheit. Ich rufe mir meine Betrachtungen über deren Eigenart ins Gedächtnis zurück: der Inder, des Sinnes tief bewußt, hat nie für notwendig befunden, bei dessen Ausdruck den Eigen-Sinn des Mittels zu berücksichtigen, nie Kongruenz beider Bedeutsamkeiten gefordert. Dementsprechend gelten ihm Tatsachen und Einbildungen, Wirklichkeiten und Mythen, Lügen und die Wahrheit reden, Aberglauben und exaktes Wissen als gleich, sofern nur der Sinn an sich erfaßt erscheint. Allein dieser realisiert sich ganz nur dort, wo er restlos die Erscheinung durchdringt, wo keinerlei Widerspruch zwischen Innerem und Äußerem besteht. Deshalb sind Einbildungen und Tatsachen, Lügen und Wahrheiten nicht gleichwertig; der widerstreitende Ausdruck nimmt dem Sinn seine Wirkungskraft; hierher rührt das Versagen der Inder als Menschen und im praktischen Leben. Der Abendländer nun ist Fanatiker der Exaktheit; daher sein beispielloser Erfolg in der Erscheinungswelt. Vom Sinn weiß er noch wenig. Allein erfaßt er ihn je, dann wird er ihm auch zu vollkommenem Ausdruck verhelfen, die vollkommene Harmonie herstellen zwischen Wesen und Phänomenalität.

 


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