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Nach Amerika

Jetzt gilt es, keine Zeit verlieren: bis ich in Kalifornien angelangt bin, muß meine Seele sich allen Bindungen des Ostens entwunden haben; sonst erklingen dort unreine Töne in mir, wie wenn ein noch so schöner Akkord durch das Pedal in eine Melodie anderer Tonart hinübergedehnt wird. Es gilt, mich zusammennehmen, denn leicht wird mir die Umstellung nicht werden. Nicht allein keine Sehnsucht zieht mich nach Amerika – ich fürchte mich, mir graut vor diesem Land. Aber persönliche Neigungen und Abneigungen sind niemals ernst zu nehmen, sie beweisen immer nur die Beschränktheit dessen, der sie hat. Ohne Zweifel sind die Vereinigten Staaten sehenswert, finden sich dort Möglichkeiten verwirklicht, wie nirgends sonst, und nur beim Positiven lohnt es zu verweilen.

Aber wenn ich nun in ablehnender, unsympathetischer Stimmung in San Francisco lande, dann werde ich dieses Positiven nicht gewahr werden, werde ich mich in den Geist des Landes nicht hineinversetzen können. Es ist nicht möglich, ohne liebende Hingabe auch nur irgend etwas zu verstehen; solange die leiseste Neigung zur Kritik im Mittelpunkte des Bewußtseins lebt, ist es aussichtslos, einem Fremden gerecht zu werden. Wie stelle ich's nur an, um im Lauf einer knappen Woche meine Verfassung von Grund aus zu verändern? Ich muß eine Psychoanalyse vornehmen; feststellen, was der sachliche Grund meines persönlichen Empfindens ist. Wenn ich diesen erkannt habe und damit die Unmotiviertheit meines ablehnenden Verhaltens – denn es gibt nichts, was eine subjektive Verstimmtheit objektiv rechtfertigte –, dann werde ich meiner unersprießlichen Stimmung wohl Herr werden.

Wenn ich mir's nun recht überlege, so finde ich, daß ich nicht dem Amerikanischen als solchem Antipathie entgegenbringe, sondern dem Abendländertum überhaupt; und jenem nur insofern, als es dessen extremster Ausdruck ist. Wir Europäer dünken uns von den Amerikanern durch mehr als den Ozean geschieden: desto lehrreicher war mir die Erfahrung, daß der Asiate nur insoweit einen Unterschied bemerkt, als diese ihm die typischeren Europäer scheinen; seiner Ansicht nach verkörpern sie keinen anderen Geist als wir, sondern den gleichen in eindeutigerer Gestalt. Ohne Zweifel ist er im Recht; das Wesentliche eines Volkes im Sinn des Unterschiedlichen erkennt der Fremdling immer am besten. Also muß ich wohl voraussetzen, daß ich in der Erscheinung des Amerikanertums das Wesen des Westländers verabscheue.

Was ist nun dieses Wesen im Unterschied von dem des Asiaten? Die üblichen Schlagwörter vom materialistischen Westen im Gegensatz zum spiritualistischen Osten, von unserer Würdelosigkeit, Hast und Gier im Gegensatz zur Weltüberlegenheit, Würde und Ruhe der Orientalen, von unserem Tatendrang gegenüber ihrer Erkenntnistiefe ergreifen es nicht. Allen noch so berechtigten Einwänden gegen unsere Art begegnet der Hinweis darauf, daß unsere Idealität unzweifelhaft die größere ist, weswegen alles, was bei uns nicht ist, noch werden kann; leicht kann es geschehen, daß der Materialismus unserer Zeit noch einmal als günstiges Stadium auf dem Wege zur Spiritualisierung betrachtet werden wird, denn das Materielle verkörpert dem Westländer ein Ideal und zieht ihn daher, ob er will oder nicht, hinan. – Auch daß er auf die Mittel zum Leben größere Aufmerksamkeit verwendet, als auf das Leben selbst, unterscheidet ihn nicht wesentlich vom Orientalen. Auch wir sehnen uns letztlich nach dem »Einen was not tut«, diese Sehnsucht wird immer mehr zur Dominante unseres Strebens, nur wollen wir überdies die Erscheinung vervollkommnen, und wenn dieser Wille zurzeit im Vordergrunde steht, so liegt das daran, daß der Mensch nicht zwei Ziele zugleich mit gleicher Energie verfolgen kann. Falsch ist es auf jeden Fall, uns unsere Sucht, die Erscheinungswelt zu vervollkommnen, zum Vorwurf zu machen: hierauf beruht vielmehr unsere Überlegenheit, denn das östliche Verfahren, sich von ihr um des Sinnes willen abzuwenden, ist billig im Vergleich zu dem unserigen, das allen Sinn in der Erscheinung zum Ausdruck bringen will. Freilich haben wir unser Ideal noch nicht verwirklicht, aber wir werden es sicher dereinst verwirklichen, denn wir bewegen uns geradeswegs ihm zu. – Nein, die Umstände, welche die üblichen Schlagwörter bezeichnen, bestimmen nicht meine Antipathie; das weiß ich gewiß, denn die durchsetzerische Macht unserer Zivilisation habe ich nie als negatives Moment empfunden. Lärm und Hast gibt es auch im Osten übergenug; aber im Westen führen sie zu mehr.

Es handelt sich offenbar um ein anderes; und dieses andere, das mein ablehnendes Verhalten tatsächlich bedingt, ist, wenn ich recht sehe, der Umstand, daß im Westländer alle Formen flüssig geworden sind; das muß es sein, denn ich empfinde keine Abneigung gegen die, welche, als Individuen oder als Klassentypen, eine vollendete Gestaltung darstellen. Der Gegensatz zwischen Orient und Okzident, mit dem ich mich in diesen Betrachtungen zu befassen habe, stammt ja erst aus der Zeit, da wir im Eilmarsch fortzuschreiten begannen oder genauer: hat immer nur zu den Perioden bestanden, da wir in schneller Umwandlung begriffen waren. Zwar hat er der Idee nach immer existiert; im Prinzip ist der Westen immer beweglich gewesen, auf Neuschöpfung und Neugestaltung bedacht, der Osten immer einem statischen Gleichgewichtszustande zugeneigt; wie vom Standpunkt der griechisch-orthodoxen Kirche Katholizismus und Protestantismus als eines Geistes Kinder erscheinen (die Reformation mit ihren Folgen nur als äußerste Konsequenz jenes Triebes zur Erneuerung und Wandlung in der Zeit, welcher die weströmische Kirche von jeher gekennzeichnet hat), so läßt sich wohl überall und jederzeit wenigstens der Keim zu dem Gegensatze nachweisen, der heute zwischen Ost und West besteht. Aber dieser Keim ist erst neuerdings ausgereift. Zwischen der Antike und den Glanzzeiten asiatischer Kultur, zwischen dem Frankreich des 17. Jahrhunderts und dem China etwa der Sungdynastie bestand, soweit das Aktuell-Gegebene in Frage kommt, nur ein Unterschied der Erscheinung, nicht des Wesens; auch im Abendlande hat bis zum Anbruch der Neuzeit das statische Ideal dominiert, sogar im alten Hellas und dem Italien der Renaissance, denn das Leben daselbst, so bewegt es war, orientierte sich doch an zeitlos gültigen Werten. Wenn wir moderne Europäer Ost und West als prinzipielle Gegensätze einander gegenüber stellen, so halten wir tatsächlich weniger den Orient dem Okzident, als das klassisch-mittelalterliche Ideal dem der Moderne entgegen, das ein wesentlich protestantisches ist; und das heißt: das Ideal der Vollendung dem Fortschrittsideal. Hiermit habe ich es wohl: ich ziehe das Orientalen- dem Okzidentalentum vor, weil ich die Vollendung in jeder Form höher schätze als den Erfolg.

Im modernen Menschen, und in erster Linie dem Amerikaner, sind alle Formen flüssig geworden. In der neuen Welt gelten die altbewährten Unterschiede zwischen den Klassen und Typen nicht mehr; was einstmals ein Definitives war, stellt sich heute, wo überhaupt vorhanden, als Stufe dar, auf welcher jeder hinauf- oder hinabsteigen mag. Damit sind aus Lebensformen Bühnenrollen geworden. Eine Rolle nun besitzt keine Bildungskraft; man legt sie an und ab wie ein Gewand; sie ganz ernst zu nehmen scheint unmöglich. Dieses ironische Verhältnis zur Gestaltung wäre ein Höchstes dann, wenn vertieftes Seinsbewußtsein mit ihm zupaar ginge und der Akzent des Lebens auf diesem ruhte. Beim Modernen aber liegt er auf einem anderen: dem Rollenwechsel an sich, dem Vorwärtskommen. Deshalb ist er kein höherer Mensch.

Hie und da sind mir Geister begegnet, die den Haupteinwand gegen die Moderne in dem erblicken, daß sie die Quantität der Qualität vorziehe; daß sie keinerlei Grenzen anerkenne, wo doch Selbstbescheidung in irgendeiner Form die Grundbedingung aller Werteverkörperung sei. Freilich trifft dieser Einwand zu; was ich selber gesagt, ist dem Sinne nach wesentlich das gleiche. Allein die Fassung, welche Quantität und Qualität in gleichsam ewigen Grundsatz setzt, verfälscht die Wahrheit. Daß der Moderne unersättlich scheint, bezeichnet kein Unglück, weil auch dieses ἄπειρον mit Unvermeidlichkeit an irgendeinem Punkt seine Grenze finden, was seinerseits automatisch Selbstbescheidung einleiten wird; und indessen wird die quantitative Norm gehoben. Der Zug ins Reinquantitative ist ein Vorläufiges, wird sich aus äußeren sowohl als inneren Gründen von selbst in andere Tendenzen umsetzen, sobald die neue Menschheit ihre Flegeljahre hinter sich hat. Es beweist Phantasielosigkeit, im Überschreiten der altbewährten Grenzen ein Verhängnis zu sehen, denn keine verkörpert als solche ein Ideal. An sich bezeichnen alle einen Nachteil; je weiter sie hinausgeschoben werden, desto besser. Das wirklich Bedenkliche ist, daß unsere Zeit Erfolg und Vollendung verwechselt; daß sie die alten Werte nicht verleugnet, sondern dieselben auf einer höheren Stufe, als alle früheren Epochen, zu verwirklichen wähnt; daß sie ihren Zustand nicht als vorläufig, sondern ideal beurteilt. Dieser Umstand bedingt die Minderwertigkeit ihrer Vertreter.

Die Natur verwirklicht und vollendet sich in der Gestaltung. Wo sie noch ungestaltet, d. h. unfertig ist, dort tritt das Wesen nicht rein zutage: daher das Unreife des Okzidentalen im Vergleich zum Orientalen. Nun kann ein noch so unreifer Bengel, wo er nicht mehr als ein Bengel sein will, sehr liebenswert erscheinen; abstoßend wirkt er nur, wo er sich als Vollmensch gibt, dies aber kennzeichnet das Amerikanertum. In Europa erkennt man es mehr und mehr, daß das Flüssige, so wie die Menschen einmal sind, nur als Übergangszustand nicht vom Übel ist, und strebt daher über die Flüssigkeit hinaus, denn noch liegen uns die Beispiele höheren Menschentums nicht fern. Der Amerikaner ahnt nur in Ausnahmefällen, daß es ein Höheres als den Fortschritt gibt. Deshalb wirkt er wie kein anderer barbarisch.

Hiermit hätte ich wohl festgestellt, weshalb ich dem Westländertum nicht hold bin, und mein Empfinden schelten kann ich nicht. Hiermit hätte ich aber zugleich den Ansatz gefunden, von dem aus ich mein negatives Verhalten in ein positives dürfte umwandeln können.

Ich war in China zum Ergebnis gelangt, daß die Chinesen auf einer höheren Kultur-, aber auf einer niedrigeren Naturstufe ständen als wir; daß der höhere Grad der Vollendung bei ihnen mit einem geringeren Grad des Fortgeschrittenseins zupaar ginge. Hieraus folgt, daß, wenn wir von unserer Naturstufe aus den gleichen Grad der Vollendung erreichten, wie die Chinesen, wir diesen durchaus überlegen sein würden, was seinerseits den Übergangszustand rechtfertigt. Von einer fertigen Gestalt zu einer neuen führt der Weg nur durch Gestaltloses hindurch, von einer Vollkommenheit zu einer anderen nur durch Unzulänglichkeit. Das moderne Europa hat die alten Formen zerbrochen. Damit begab es sich auf lange Zeit der Möglichkeit, vollendet zu erscheinen; es verfiel zurück in die Barbarei, in der es noch mitten inne steckt, ja vermutlich noch lange immer tiefer einsinken wird; im Sinn der Vollendung geht es gewiß nicht vorwärts mit uns. Aber ebenso gewiß geht es vorwärts im Sinn der Naturentwickelung, und damit treten Vollendungsmöglichkeiten in die Welt, welche den Kulturvölkern des Ostens nicht innewohnen. Diese Möglichkeiten sind der Verwirklichung noch so fern, daß nur der Embryolog sie mit einiger Sicherheit vorausbestimmen könnte; was sich heute dem Blick zeigt, ist meistens häßlich. Aber unser Zustand ist vielversprechend, kein Einsichtsfähiger kann das leugnen. Von diesem Gesichtspunkte aus will ich fortan dem Abendländertum entgegentreten.

 

In Adyar, wenn ich nicht irre, habe ich mich des längeren über die allgemeinen Beziehungen zwischen Vollendungs- und Fortschrittsstreben auseinandergesetzt. Damals legte ich den Hauptnachdruck darauf, daß der Ehrgeiz, biologisch weiterzukommen, direkt abführt von der möglichen Vollendung, daß indes Vollendungsstreben umgekehrt den Fortschritt indirekt begünstigt. Aber diese einfachen Bestimmungen erschöpfen die Frage nicht; der Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungsrichtungen ist vielfältig und verstrickt. Heute will ich mir über die merkwürdigste Beziehung, die ich zwischen ihnen erkennen kann, Klarheit verschaffen.

Vergleiche ich die fertigen Kulturen des Orients mit unserer werdenden, so finde ich, daß der innere Mensch innerhalb jener wohl ungleich gebildeter ist, daß in dieser dafür das, was im Orient die höchste Subjektivität kennzeichnet, zur objektiven Macht exteriorisiert erscheint. Ich glaube nicht, daß irgendein nicht hochbegabter Christ so tief zu lieben weiß, wie ein indischer Bhakta, so human empfindet, wie der typische Buddhist, von moralischem Sinn so tief beseelt ist, wie ein hochstehender Konfuzianer; dafür sind bei uns die Liebe, die Moralität und die Humanität zu objektiven Mächten geworden, und das sind sie im Osten nicht. Während bei uns der innerlich noch so Rohe bis zu einem gewissen Grade gezwungen ist, im Sinn des Höchsten zu handeln, zwingt nichts den Asiaten, gebildet zu erscheinen, wo er es nicht ist, weshalb das praktische Verhalten östlicher Durchschnittsmenschen mehr zu wünschen übrig läßt, als das der westlichen. Wir handeln im ganzen besser als wir sind.

Wir sind mit unseren Institutionen unserem Wesen vorausgeeilt. Unser Verstand hat als für alle wünschenswert erkannt, was aus innerem, persönlichem Drang nur ein Heiliger anstreben würde, und eine Maschinerie erfunden, welche die Realisierung des Ersprießlichen automatisch sichert. Die Nachteile dieses Weges liegen auf der Hand: die Möglichkeit, das Gute von außen her zu verwirklichen, macht oberflächlich, denn wo sie vorliegt, dort gewöhnt der Mensch sich daran, alles Heil von äußeren Umständen zu erwarten, und vernachlässigt entsprechend seine innere Bildung. Aber unser Weg hat auch sehr große Vorzüge, und bei diesen allein will ich heute verweilen, da mir ja darum zu tun ist, eine sympathetische Stimmung dem Westen gegenüber in mir zu wecken. Jede Seele ist vielfacher Gestaltung fähig, entwickelt sich verschieden, je nachdem, welche ihrer Bestandteile zur Vorherrschaft gelangen, und die Form, die sie schließlich gewinnt, hängt im hohen Grade davon ab, in welcher Umwelt sie wächst – wie in wilden Zeiten die meisten verwildern, weil alle Gelegenheiten der Bestie hold sind, so gewinnt in günstiger Umgebung bei den Meisten das Beste die Oberhand; deshalb ist es ein Glück, wenn die äußeren Verhältnisse möglichst gute sind. Es ist unzweifelhaft möglich, von außen nach innen zu wirken, ja, im Falle uneinsichtiger Wesen gibt es nur diesen einen Weg, sie des Höchsten teilhaftig werden zu lassen. Die alten Kulturen verlangten in diesem Sinn, daß der Unmündige dem Wissenden blind gehorche, und allerdings war es besser, die Masse also zu bevormunden, als sie ihrem eigenen Gutdünken zu überlassen, um so mehr, als sie eine dritte Möglichkeit nicht kannten. Unsere Zivilisation nun hat eine solche ins Leben gerufen: innerhalb der modernen Organisation des äußeren Lebens erweist sich das Gute als immer zweckmäßiger; selbst Schurken macht heute die Klugheit in Geschäften solid; der stumpfste Geist wird durch die Erfahrung zur Erkenntnis genötigt, daß es in unserer Welt im ganzen und auf die Dauer vorteilhafter ist, sich dem Ideal entsprechend zu verhalten. Mag dieser Umstand noch so sehr einem gröbsten Utilitarismus zugute kommen – immerhin wirken die idealen Forderungen als reale Mächte und formen die Seelen, so daß ein unter halbwegs günstigen Verhältnissen erwachsener Durchschnittsmoderner unwillkürlich humaner und rechtlicher denkt als seine Altvorderen. Nun findet eine naturnotwendige Höherentwicklung der Menschheit in moralischer Beziehung nachweislich nicht statt; ihre moralische Erbanlage ist im ganzen die gleiche wie vor Jahrtausenden; aller ethische Fortschritt der Massen geht auf geistige Einflüsse zurück, die als solche nur den einzelnen betreffen können und, von seiner Physiologie her gesehen, außenher stammen. Deshalb bedeutet der durch unser System bewirkte Erfolg, daß der seelisch Unmündige sich – gleichviel weshalb – aus eigenem Antrieb zum Guten bekennt, ein überaus Wichtiges.

Denn damit erwacht in ihm eine innere Kraft, die frei dem gleichen zustrebt, worauf der Druck von außen hinarbeitet, und auf diese Weise hebt sich, langsam, aber unaufhaltsam, das allgemeine Niveau. Nach dem orientalischen System muß der unmündig Geborene unmündig bleiben, und so hoch der Mündige stehe – ein Erwachsen der Masse erscheint ausgeschlossen; die Menschheit als Ganzes verharrt auf der ursprünglichen Daseinsstufe. Innerhalb des unserigen besteht die Möglichkeit, daß gerade die Masse dahin gelangte, wo bisher nur Bevorzugte standen; und die ist eben dadurch geschaffen worden, daß die äußeren Umstände es dem Unmündigen nahelegen, aus eigenem Antrieb dem Guten nachzueifern, so daß geistige Mächte ihn nun hinausführen können über die Grenzen seiner ererbten Natur. Dank diesem Umstand ist ein erstaunlich hoher Prozentsatz nicht hochgeborener Weißer innerhalb eines Jahrhunderts auf eine Stufe hinangestiegen, wie solche die Shastras dem indischen Çudra erst nach Jahrtausenden rastlosen Strebens durch unzählige Wiedergeburten hindurch in Aussicht stellen.

Von hier aus wird nun sehr deutlich, inwiefern das Streben nach Fortschritt der Vollendung doch zugute kommt. Wohl ist diese auf jenem Wege nicht zu erreichen; dies bedingt das Barbarentum des Modernen. Aber das Streben nach Fortschritt innerhalb eines Kultursystems, in dem die höchsten Ideale als objektive Mächte wirken, bringt es andrerseits dahin, daß mehr und mehr Menschen auf die Naturstufe gelangen, auf der in Indien allein der Brahmane steht. Auch dieser wird ja nicht vollendet geboren – was seinen Vorzug macht, ist eine bessere Erbanlage, die ihm ermöglicht, unmittelbar, ohne Umwege dem Irdisch-Höchsten nachzustreben; unser Kultursystem kann es einmal dahin bringen, daß alle Menschen als Brahmanen anheben werden.

Dies muß dem Gleichheitsideal zugute gehalten werden, so sehr es die Menschheit sonst herabdrückt und oberflächlich macht. Stellte der jetzige Zustand einen Endzustand dar, dann müßte er bekämpft werden; das Nivellement nach unten zu, das die Demokratie zunächst mit Notwendigkeit bewirkt, zieht eine ungeheure Entwertung der Menschheit mit sich, deren Andauer den Ruin bedeuten würde. Allein sie wird nicht andauern; die Demokratie bedeutet nur eine Arbeitshypothese, die sich, wenn die Zeit dazu gekommen, von selbst erledigen wird. Kaum daß das Gesamtniveau sich genügend erhoben hat, werden neue Schichtungen entstehen, neue Berge sich auftürmen, neue Talkessel sich bilden; nur wird die neue Aristokratie auf höherem Niveau beruhen, als es die alte tat, deren Eigenschaften nunmehr zum Erbteil der Masse geworden sein werden.

 

Überhaupt hat der Demokratismus viel Gutes; jede auf dem Entwicklungsgedanken aufgebaute Weltanschauung formt optimistische Menschen, und nichts beschleunigt den Erfolg so sehr, wie Selbstvertrauen. Was nun den modernen Evolutionismus von allen bisherigen auszeichnet, ist die Kürze des zur Entwicklung verlangten Zeitmaßes. Die altindische Weltanschauung, welche ganz gleich der modern-demokratischen lehrt, daß jeder im Prinzip des Höchsten fähig sei und daß die Kasten nur Etappen auf dem Wege des Fortschritts bedeuten, verklausulierte ihren Freibrief dahin, daß jedes gegebene Leben in seinem angeborenen Rahmen verharren müsse und ein Durchbrechen der Kaste nur von Leben zu Leben, durch den Übergangszustand des Todes hindurch, denkbar sei; im gleichen Sinn räumt jeder nicht ganz bornierte Aristokrat wohl ein, daß ein Aufrücken der Familien stattfindet, so daß es ungerecht wäre, den Vorgeschrittensten die Aufnahme in seine Standesgemeinschaft zu versagen – hält aber zugleich daran fest, daß es mindestens dreier Generationen bedarf, um einen Gentleman hervorzubringen. Der moderne Demokratismus hiergegen behauptet, daß der Prozeß in einem Leben durchlaufen werden kann.

Es ist nun einerseits wohl gewiß, daß derart schnelles Wachstum nicht ersprießlich ist; ganz wenige Menschen vertragen es, aus einem engen in einen weiten Rahmen hinüberversetzt zu werden; wäre es anders, die modernen Europäer und Amerikaner wirkten weniger roh. Aber andrerseits potenziert der demokratische Glaube den Optimismus so ungeheuer, daß dieser zu einer elementaren Kraft erwächst, deren Tugend das scheinbar Unmögliche möglich macht. Er bewirkt, was noch immer nicht selten der »ursprünglichen Gleichheit aller Menschen« zugeschrieben wird, daß die alten, durch die Geburt gesetzten Schranken heute wirklich weniger als früher gerechtfertigt erscheinen; dank ihm ist wirklich wahr, daß der Entwicklungsprozeß sich abkürzen läßt. Und wenn zunächst mehr die Nachteile des Flüssiggewordenseins der alten Formen ins Auge fallen, so bedenke man, daß dieses nach kurzer Zeit voraussichtlich schon anders sein wird; bald wird es in den vorgeschrittensten Ländern ganz niedere Volksschichten überhaupt nicht mehr geben; alle werden geschult, bis zu einem gewissen Grade sogar gebildet sein. Und wenn über diesem Ereignis auch nur eine Generation verstrichen sein wird, dann werden Emporkömmlinge im alten Sinn nicht mehr erstehen, denn ganz unvorbereitet zu einer höheren Lebensstellung wird keiner mehr sein. Das demokratische Ideal bedingt ein geistiges Aufkreuzen der niederen Volksschichten; bald werden sie in weitem Maße veredelt sein. Ist dieses aber erreicht, so wird der Glaube an die Gleichheit aller von selbst vergehen und die Basis geschaffen sein für die aristokratische Ordnung der Zukunft.

Unter den Weisen Altindiens galt als eine der Grundeigenschaften, die ein Jüngling besitzen mußte, um der Aufnahme als Chçlâ wert zu gelten, die Genußfähigkeit. Das ist wohl nur ein anderer Ausdruck für optimistisches Temperament. Wer nun geeignet erschien zur Aufnahme, dem wiesen sie den Weg, im Laufe eines Lebens so weit zu kommen, wie er sonst nur im Laufe der Jahrtausende durch viele Körper hindurch gelangt wäre; auch die indische Weltanschauung gibt also die Möglichkeit zu, die Entwickelung abzukürzen. Aber sie statuiert sie nur für einen unter Millionen; die demokratische setzt sie für alle voraus. Das scheint verwegen. Doch wenn man bedenkt, wie niedrig das höchste Ideal, das die Demokratie bisher aus sich entwickelt hat, im Vergleich zum indischen ist, dann neigt man zur Zustimmung. Dieses Ideal können wohl alle vielleicht erreichen. Und sind sie erst dort, so werden höhere von selbst an ihrem geistigen Horizonte aufgehen.

 

Wo mehr als zehn Amerikaner versammelt sind, kann man sicher sein, daß einer unter ihnen ein crank ist; ein Original von der exzentrischen Sorte. Auch auf diesem Dampfer habe ich einen entdeckt: einen Missionar, dessen Spezialität der Dämonenglaube ist. In China will er gesehen haben, wie die Geister toter Mädchen von anderen Besitz ergreifen, und wie Taufe allein diesem Verhängnis vorbeugen könne; auf diese Idee und deren Ableitungen reist er seither. – Während ich heute, in sympathetischer Verfassung, dieser Erscheinung nachsann, fiel mir ein, daß ich unter Asiaten auch nicht einem crank begegnet bin. Der Fakir könnte, äußerlich betrachtet, wohl als Exzentrik gelten: aber seine Art ist ganz unpersönlich; er folgt einem exzentrischen System, ohne selbst nur im mindesten exzentrisch zu sein. Die spezifisch individuelle Note fehlt.

Diese Note dominiert unter uns; desto mehr, je typischer-westlich wir sind. Und im gleichen Verhältnis blüht unter uns der crank. Das Streben nach Individualisiertheit kann unter Durchschnittsmenschen nicht zu wertvollen Ergebnissen führen; diese werden nur exzentrisch, wenn sie »sie selbst« sein wollen, und wirken unvollkommener als noch so beschränkte Klassentypen, weil die Tradition immer weiser ist als der mittelmäßige Einzelne. Ja, aber andrerseits können nur dort, wo alle »sie selbst« sein wollen, wo die Rechtmäßigkeit dieses Strebens vorausgesetzt wird, wirklich große Neuerer emporkommen; im alten China wäre ein Edison undenkbar gewesen. Dieselben Umstände, welche das Zerrbild des Exzentrik begünstigen, kommen auch dem Genius zugute. Oberflächlich betrachtet, ist eben auch dieser ein crank. Das Streben nach Anderssein ist die notwendige Voraussetzung aller erfinderischen Originalität.

Somit müssen wir uns wohl dabei bescheiden, unsere im Einzelfalle höhere Originalität durch eine größere Unvollkommenheit des Durchschnitts erkauft zu sehen. Jede Neuerung qua Neuerung ist ein Kulturfeindliches, insofern als Kultur das Fleischgewordensein eines gegebenen Geistes bedeutet und einem Neuentstehenden das Fleisch noch fehlt. Neuerungsstreben macht ferner oberflächlich; wessen Aufmerksamkeit auf die Verwandlung der Erscheinung geheftet ist, verliert leicht indes die Fühlung mit seinem Grund. Je erfinderischer wir wurden, desto mehr sind wir verflacht, und sollten wir noch lange diese Entwicklungsrichtung einhalten, so könnten wir verderben. Allein ich kann nicht glauben, daß es noch lange so fortgehen wird. Ich bin vielmehr überzeugt, daß unser Verlieren an Tiefe den gleichen Sinn hat, wie das vorläufige Minusmachen dessen, der ein Landgut verbessert: es handelt sich in Wahrheit um Investierung. In uns werden, unter ungeheueren Kosten, neue Organe herangebildet; wo früher die Gruppe der Träger aller Kulturgedanken war, soll es fortan der Einzelne sein. Diese Neuorganisation bedingt ein vorläufiges Verzichten auf die Erträge, die durch die alte Ordnung gesichert schienen. Aber wenn die neuen Betriebe erst im Gange sind, dann wird das Gut vielleicht das Zehnfache abwerfen. Wohl schwerlich wird die weiße Menschheit der Zukunft aus lauter Edisons bestehen; aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Zahl der cranks stetig abnehmen und einem neuen Typus Platz machen, der einerseits so wurzelecht, wie der alte Klassentypus, andrerseits so selbstbestimmt erscheinen wird, wie der extremste moderne Individualist. Nur der Oberflächliche bekennt sich nämlich zum Individualismus, der Vertiefte fühlt unmittelbar den Zusammenhang. So wird die Zukunft scheinbar wohl zu einer Wiederherstellung der alten Ordnung führen. Die Exzentriks werden abnehmen, die Durchschnittsmenschen ausgeglichener erscheinen. Und doch wird es sich um ein völlig Neues handeln: alle werden Individualitäten sein. Dann wird die individuelle Form der Masse die gleiche Vertiefung ermöglichen, wie bisher nur die typische.

Dieser Tage schreibe ich, als wäre ich Evolutionist, als glaubte ich so fest an den Fortschritt, wie ein Yankee. Das tue ich wirklich, sofern es sich um Abendländer handelt, und soweit von Fortschreiten überhaupt die Rede sein kann. Daß unser Fortschrittsbegriff dem Naturprozeß unangemessen sei, erscheint gewiß, und diese Erwägung erledigt Spencers Theorie. Nicht bloß Pflanzen und Tiere bleiben von sich aus durch Äonen die gleichen und verwandeln sich bloß in Reaktion auf eine sich wandelnde Außenwelt – auch von den Menschen gilt gleiches überall, wo kein »Jenseits« des Physiologischen ihr Leben regiert; so weist die russische Geschichte vom fünfzehnten Jahrhundert bis auf gestern, vom Menschen und seinen Motiven her besehen, nur Wiederholungen auf. Aber jene Theorie hätte so großen Anklang nicht gefunden, wenn sie dem Intellekte nicht gemäß wäre. Dieser ist wesentlich zielstrebig, notwendig fortschreitend; er steht nie still, ist unfähig sich zu bescheiden, jedes Erkannte weist auf neue Erkenntnisse hin, die sich schnurstracks dem Ideale zu bewegen. Wo Intellekt daher das Leben dominiert, muß dieses fortschreiten, den Normen jenes gemäß. Wir Westländer haben uns dem Intellekte ganz verschrieben; unsere besondere Natur ermöglicht uns, seiner Eigenbewegung in hohem Grad zu folgen, seine Ideale sind unsere Ziele; also verändern wir uns gemäß dem Fortschrittspostulat. Wie weit dies gehen wird, bleibt abzuwarten; die an sich konservativ gesinnte Physis mag den Forderungen des Geistes Schranken setzen, die er nicht überwinden kann. Immerhin ist Fortschreiten ins Unbegrenzte hinaus denkbar. Und da Glaubensinhalte reale Mächte sind und Ideale überaus mächtige Attraktionszentren, so mag die Zukunft der weißen Menschheit noch Erfüllungen bringen, die keine Gegenwart versprach.

 

Mit den Missionaren kann ich mich aber trotz besten Willens nicht befreunden. Freilich gibt es große und edle Menschen in diesem Beruf, aber sie sind undicht gesäet und erfüllen ihn dann auch entsprechend schlecht: sie wollen nie eigentlich »bekehren«. Es ist und bleibt eine Beschränkung, seine Meinung anderen aufzudrängen, was sich praktisch deutlich genug darin erweist, daß alle richtigen Missionare beschränkt sind. Hier an Bord habe ich mich mit einigen unterhalten, welche jahrelang in China gewohnt haben: die haben es tatsächlich zuwege gebracht, von den Vorzügen des Konfuzianismus nichts zu merken! Solche Blindheit ist wahrlich gottbegnadet, nur auf übernatürliche Weise zu erklären. Die christlichen, zumal die protestantischen Missionare sind mit verschwindenden Ausnahmen verständnislos, engherzig und seelisch roh. Wie kläglich wenig gilt von ihnen, was von den Aposteln des Bahaitums gilt, denen Baha'u'llah, ihr Messias, die schöne Weisung gab: »O Kinder von Baha! Verkehrt mit allen Völkern der Welt, mit den Bekennern aller Religionen im Geist vollkommener Freudigkeit. Erinnert sie daran, was allen frommt, aber hütet euch davor, das Wort Gottes zum Stein des Anstoßes oder zur Quelle gegenseitigen Hasses zu machen. Wenn ihr wißt, was der andere nicht weiß, so sagt es ihm mit der Zunge der Freundlichkeit und Liebe. Nimmt er es an und auf, so ist das Ziel erreicht; weist er es ab, so betet für ihn und überlaßt ihn sich selbst; nie dürft ihr ihn belästigen ... «

Wahrscheinlich sind die Missionare des Anfangs unserer Zeitrechnung nicht viel besser gewesen. Und wenn ich nun dessen gedenke und der Höherentwicklung, die sie trotzdem eingeleitet haben, dann wird meine Stimmung denen von heute gegenüber milder. Freilich ist es ein Unglück, daß sie Indien und China heimsuchen, denn die Bewohner dieser Länder stehen teilweise geistig, teils moralisch und teils spirituell zu hoch über denen, die sie belehren kommen, als daß sie irgendwie förderlich wirken könnten. Aber zu roheren Völkern mögen sie gehen; denen werden sie ebenso nützen können, wie ihre Vorgänger unseren barbarischen Vorfahren genützt haben. Ja, denen werden sie sich förderlicher erweisen, als die Verkünder tieferer Weisheit es vermöchten, denn unzweifelhaft eignet dem Christentum eine einzigartige formende Macht; es ist die einzige spiritualistische Religion, welche solche besitzt. Und sie besitzt diese anscheinend ganz unabhängig von der Qualität derer, welche sie verkünden, und von dem geistigen Wert ihrer Dogmen, denn dieser Wert ist, verglichen mit dem des Brahmanismus und beider Buddhismen, gering. Er hat sich sogar stetig verringert im Lauf der Jahrhunderte, denn wenn die frühesten Kirchenväter spirituelle Einsicht besaßen, so gilt dies schon wenig von Luther und Calvin, und gar nicht von den Handwerkern und Schwarzarbeitern, die in Amerika als Religionsstifter auftraten. Aber nahezu im gleichen Verhältnis, wie der geistige Wert des Christentums sank, ist der praktische, die Effikazität, gestiegen. Es kann nicht geleugnet werden, daß der Protestantismus Menschen von größerer Idealität formt als der Katholizismus, und daß die noch so alberne Dogmatik der amerikanischen Sekten den Geist des Christentums in ihren Bekennern zu einer Macht herangebildet hat, wie er dies früher nie gewesen ist. Wie ist dies zu verstehen? – Eben dahin, daß der Geist des Christentums ein Geist der Praxis ist, weswegen es nicht allzuviel bedeutet, an welche dogmatische Vorstellungen er jeweilig geknüpft erscheint.

Von hier aus allein ist es möglich, dem Christentum gerecht zu werden. Es ist nicht wahr, daß die Lehren Jesu Christi an philosophischem Tiefsinn ein Maximum bedeuteten; selbst das Johannesevangelium wirkt unzulänglich, verglichen mit der Bhagavat-Gîta. In den Lehren Sri Krishnas und der Mahayâna-Religion stehen die Grundideen des Heilands des Westens in tieferer Fassung da, erscheinen überdies in einen Zusammenhang hineinbezogen, der jenem wohl ganz verborgen geblieben war und ihnen doch erst ihren eigentlichen Sinn gibt. Vom Standpunkt metaphysischer Erkenntnis her betrachtet, stellt das traditionelle oder buchstäbliche Christentum sich als ein ganz Vorläufiges dar. Aber es ist überhaupt keine Religion der Erkenntnis, sondern eine der praktischen Tat, und als solche überragt sie alle anderen. Wie ich's schon schrieb: unter den christlichen Völkern allein sind die Ideen der Liebe, der Barmherzigkeit, der Humanität zu objektiven Mächten geworden, und dies bedeutet, daß das noch so unvollkommen erkannte Metaphysisch-Wirkliche durch das Christentum in der Erscheinung besser verwirklicht wird als durch irgendeinen anderen Glauben. Dessen Stifter waren eben wohl oberflächlichere Erkenner, aber tiefere Täter als Krishna und Açvagosha; ja, insofern beide Teile die Erscheinung gestalten wollten, waren jene die tieferen schlechthin, denn in der Sphäre des aktuellen Lebens ist die Fassung einer Idee die absolut beste, die sich am besten bewährt – gleichviel, wieweit sie geistig befriedigt. Dies ist der Sinn jener Überlegenheit des Christentums, welche die Geschichte beweist, so sehr der einseitige Geistesmensch an ihr zweifeln mag.

Und dieses rechtfertigt zugleich die Mission. Die beschränkten Menschen, welche ausziehen, ihre unmaßgeblichen Meinungen anderen Leuten aufzudrängen, verkünden durch ihr Sein doch ein echtes Evangelium: das der Arbeit und der schöpferischen Tat. Sie geben ein Beispiel hohen Opfermuts, nie ermüdender Initiative, unbeirrbarer Konsequenz, des festen Willens, dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Das ist ja das Wesentliche der westlichen Kultur, daß sie nichts als unabänderlich gelten läßt. Wir halten für möglich, die Welt von Grund aus umzuwandeln, unsere höchsten Ideale der Wirklichkeit einzuverleiben. Dieser Geist der Kampflust, des Muts, des Optimismus ist dem Orient fremd; er steht Menschenkraft zu skeptisch gegenüber, er weiß zu viel ... Oder hat er am Ende Wichtiges übersehen? Hätte ich, bei meinen bisherigen Betrachtungen, den Nachdruck auf den falschen Ort gelegt? – Die ersten amerikanischen Möwen kommen geflogen. Die psychische Wasserscheide ist überschritten, unaufhaltsam zieht es mich zu okzidentalischer Seinsgestaltung zurück. Und nun erkenne ich, daß die praktische Überlegenheit des Christentums ihrerseits Ausdruck eines unbedingten metaphysischen Vorzugs ist: es verkörpert, wie keine andere Religion, den Geist der Freiheit. Auf zwei Weisen allein kann der naturbedingte Mensch sich frei erweisen: indem er innerlich ja sagt zum Geschehen, und indem er ihm initiatorisch die Richtung gibt. Dementsprechend resümieren die christliche Ethik zwei Gebote: daß jeder sein Kreuz auf sich nehmen soll, und jeder furchtlos und opferfreudig kämpfen für den Sieg des Guten. Diese leiten wahrhaftig einen jeden zu einem Leben der Freiheit an. Wenn die Inder, die tiefsten Erkenner, praktisch versagen, so liegt dies daran, daß sie innerhalb der Erscheinung ihr freies Wesen nicht auszuprägen wissen. Anstatt ihr Kreuz auf sich zu nehmen, gedenken sie seiner Unwesenhaftigkeit, was sie ebensowenig entbindet, wie das Verleugnen eines unliebsamen Verwandten die Verwandtschaft aufhebt; anstatt ihre Erkenntnis ihrer Wesenseinheit mit Brahman, der sich in dieser Welt immer voller und voller manifestieren will, zur Tat werden zu lassen, indem sie überall Initiative bekunden im Sinn des Gottgewollten, schauen sie bloß zu, wie Gott sich selber hilft. Wir nun wissen nicht entfernt so viel wie jene; aber Christi Lehre leitet uns an, unbewußt im Sinn ihres Wissens zu leben. So sind wir zur Tat berufener als sie. Wir sind Gottes Hände. Diese Hände als Hände sind blind, und ihre Blindheit hat viel Unheil angerichtet. Aber werden sie einst geführt vom erkennenden Geist, so wird ihnen gelingen, soweit solches überhaupt möglich ist, das Himmelreich auf Erden zu begründen.


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