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Peking

Diese ersten Spätnachmittagsstunden in Peking habe ich am Tempel des Himmels zugebracht. Einsam ragt der gewaltige Marmoraltar, von wenigen düsteren Kiefern umstanden, von der öden, weiten Sandfläche auf. Hier und da krächzt eine Krähe; die Gegend ist wie menschenfremd. Man spürt: hier greift die Geschichte nur an Wendepunkten des Geschehens ein. Es ist ein überaus schlichter Bau, doch von wunderbar edlen Proportionen; seine reine, durchgeistigte Schönheit wirkt ergreifend inmitten der rauhen Umgebung; vom physisch Gewaltigen, vom Lastenden zieht sie den Geist unaufhaltsam himmelwärts. Allenthalben ist dem schneeigen Gestein das Emblem des Drachen eingemeißelt. Der Drache ist das Urbild der beginnenden Schöpfung, die erste ätherischste Gestalt, zu welcher der Sinn sich verdichtet hat. Der Drache ist das Symbol des Flüssigen, Durchdringenden, Allgegenwärtigen; des Ewig-Sich-Erneuenden, Immerdar-Sich-Wandelnden; das Symbol für das Grundprinzip der Seele und mithin der Unendlichkeit. Der Geist des Drachen hat den Himmelstempel errichtet. Als ein Sprungbrett, zum Himmel hinanzusteigen, nicht als Wahrzeichen irdischer Schwerkraft.

Ich war in der richtigen Stimmung hingelangt. Die Bilder des Bauernlebens unterwegs hatten mich vorbereitet zum Verständnis dessen, der das äußerste menschliche Glied darstellt im kosmischen Zusammenhang. Der Kaiser auf dem Drachenthron ist als Kaiser mehr als ein Mensch: er ist das Band, welches Himmel und Erde vereinigt, wie der Bauer das Glied ist, das die Erde mit dem Menschen verknüpft. So trägt er die Verantwortung für die Natur. Ein wohlbefolgtes Ritual steht gut für die normale Folge der Jahreszeiten; bleibt der Regen, dessen der Landmann bedarf, zu lange aus, so muß der Kaiser reumütig Buße tun. Seine Macht und Stellung steht gut für den harmonischen Einklang der Schöpfung, sein Charakter für den seiner Minister, sein Betragen für das seiner Untertanen. So ist sein Selbstherrscherrecht zugleich allumfassende Verantwortung, die ihn strengstens einschränkt und bedingt. Er haftet nicht vor Gott allein, wie die europäischen Autokraten von einst, die den Menschen gegenüber willkürlich schalten durften, auch nicht vor den Menschen allein im modernen Sinn: er haftet im Sinn des Hauptmechanismus einer Uhr. Geht diese schlecht, so tritt die Schuld allemal an jenem in die Erscheinung, jedoch nicht so, daß die Uhr schlecht gehen und das Hauptrad versagen, aber sich sonst ganz wohl befinden mag: ist jene in Unordnung, dann leidet dieses an erster Stelle; es bleibt selbsttätig stehen oder zerbricht. So muß die Dynastie, die nicht zu regieren weiß, früher oder später weichen – sei es, daß sie selbsttätig ausstirbt oder vertrieben wird.

Welch wunderbare Konzeption! Wieviel höher steht sie als die des Gottesgnadentums, der Stellvertretung Gottes oder der Divinität schlechthin, wie die römischen Cäsaren sie sich zusprachen! Es ist die einzige, die das Problem des Zusammenbestehens absoluter Souveränität mit absoluter praktischer Verantwortlichkeit befriedigend gelöst hätte. Der Himmelssohn ist mächtiger als irgendein Fürst, denn er steht sogar über der Natur. Aber andererseits erscheint er so bedingt, wie nur irgendein verantwortlicher Minister in einer modernen Demokratie, denn er bezeichnet nur ein bestimmtes Organ eines allseitig zusammenhängenden Körpers und ist, um zu bestehen und zu wirken, auf alle anderen Organe angewiesen. So muß sich der Selbstherrscher beraten lassen von den Weisesten der Nation, muß er den Volkswillen berücksichtigen, unentwegt nach dem Guten streben. Regiert er im Sinne der Selbstsucht, so schneidet er sich eben damit seine eigene Daseinsmöglichkeit ab. Diese wunderbare Auffassung des Berufs und der Stellung eines Menschenbeherrschers ist die logische Konsequenz jener Weltanschauung, die wie nichts anderes das Chinesentum charakterisiert. Nach dieser Anschauung gehören die Gesetze der Moral und der Natur zu einem einzigen einheitlichen System. Es sind identische Normen, die das moralische Verhalten regieren, die Folge der Jahreszeiten und den Wechsel von Tag und Nacht; es ist ein einziger, allumfassender Zusammenhang, der das Nichtmenschliche und das Menschliche, das Organische und das Anorganische, das Natürliche und das Sittliche zur harmonischen Einheit in sich beschließt. Das Moralische aber ist das Primäre. Das Tao ist moralisch qualifiziert. Moralität bedeutet recht eigentlich Selbstverwirklichung. Darum läuft die Natur Gefahr, aus dem Kosmos ins Chaos zurückzusinken, wenn die Menschen ihre natürlichen Pflichten versäumen – der Vater kein guter Vater, der Gatte kein guter Gatte, der Fürst kein guter Fürst, der Untertan kein guter Untertan ist – und die fünf himmlischen Tugenden (Gerechtigkeit, Großmut, Höflichkeit, Einsicht und treue Pflichterfüllung) nicht fleißig üben. So hat auch kein Kaiser das Recht, irgend etwas an der bestehenden Ordnung zu ändern, wenn sein moralischer Charakter ihn nicht hierzu qualifiziert. Andrerseits: ist sein Charakter, wie er sein soll, dann kommt alles von selbst ins Geleise. Im Tschon-Yong steht zu lesen: »Sobald der Kaiser seine Person in Ordnung gebracht hat, werden alle Pflichten gegen ihn erfüllt; sobald er den Weisen die schuldige Verehrung zollt, wird er unfehlbar richtig unterscheiden zwischen Irrtum und Wahrheit, Gut und Böse; sobald er seinen Eltern die ihnen schuldige Liebe erweist, werden alle Zwistigkeiten aufhören zwischen seinen Onkeln, seinen älteren und seinen jüngeren Brüdern; sobald er seine Minister nach ihrem Verdienste ehrt, werden die Staatsgeschäfte prosperieren; sobald er seine Unterbeamten richtig behandelt, werden die Literaten mit gebührendem Eifer ihre Funktionen bei den Zeremonien ausfüllen; sobald er sein Volk wie einen Sohn lieben wird, wird dieses Volk ihm nachzueifern streben; sobald er Gelehrte und Künstler an seinem Hofe versammelt hat, werden seine Reichtümer die richtige Verwendung finden; sobald er fremde Besucher freundlich empfängt, werden die Menschen von den vier Ecken der Welt in seinem Reiche zusammenströmen, um teil an dessen Segnungen zu haben.« Das Moralische ist die Grundkraft der Welt; sobald es zur Geltung kommt, reguliert sich das übrige von selbst. Kant sprach von zwei Dingen, die sein Herz mit immer neuer Ehrfurcht erfüllten: dem bestirnten Himmel über ihm und dem moralischen Gesetze in ihm. Dem Chinesen ist der himmlische Kosmos selbst ein Ausdruck des moralischen Gesetzes.

Uns kommt es absurd vor, die Gesetze der Natur, welche notwendig erfüllt werden, wo etwas geschieht, und die moralischen Gebote, die erfüllt werden sollen, aber meistens übertreten werden, auf einen Nenner zu bringen. Demgegenüber ist zu erinnern, daß der Chinese, der diese Weltanschauung glaubt, keine Naturgesetze in unserem Sinne kennt; er urteilt vom Standpunkte des Landwirtes, nach dessen typischer Ansicht die Natur ja auch das Rechte seltener tut als verfehlt; ihm ist das unbelebte Geschehen nicht eindeutiger determiniert als das belebte, das nachweislich so oder auch anders verläuft, je nach dem Charakter der Menschen. So ist es durchaus nicht irrationell, daß er die Ordnung der Welt und die Ordnung unter den Menschen auf eine gemeinsame Ursache zurückführt.

Das Moralische als Urkraft der Welt übt seinen Einfluß unmittelbar aus, besonderen Handelns bedarf es nicht. Deshalb wird von den größten Kaisern Chinas berichtet, daß sie – nicht regiert hätten. Kongfutse sagte: »Erhaben war die Art, wie Schun und Yü den Erdkreis beherrschten, ohne daß sie etwas dazu taten.« Lautse:

Herrscht ein ganz Großer, so weiß das Volk nur eben, daß er da ist.
Mindere werden geliebt und gelobt,
Noch mindere werden gefürchtet,
Noch mindere werden mißachtet.
Vertraut man nicht genug,
So findet man kein Vertrauen.
Wie überlegt waren jene im Wählen ihrer Worte!
Die Werke wurden vollbracht, die Arbeit wurde getan,
Und die Leute im Volk dachten alle:
»Wir sind selbständig.«

Moralischer Wert ist alles, wessen der wahre Herrscher zum Herrschen bedarf. Wirklich wird selbst das heutige so zerrüttete China vom moralischen Prestige allein regiert und der allgemeinen Ehrfurcht des Volkes vor dem, was über ihm steht. Wie gering ist die Maschinerie! Die Mandarine verfügen weder über Militär, noch über Polizei, um ihre Befehle durchzusetzen, und doch wird ihnen bereitwilligst gehorcht. Es genügt das Prestige ihrer Würde, von welcher vorausgesetzt wird, daß sie dem Wert entspricht, daß sie das Dasein der Ehrfurcht vor dem, was unter ihnen steht, garantiert. Wie wunderbar ist die Idee solcher Regierung! Sie ist die höchste, die sich überhaupt denken läßt. Wäre ein Volk vollendet gebildet, so bedürfte es überhaupt keiner Institutionen, denn alles richtete sich von selbst. Je gebildeter es ist, desto mehr kann es sich auf den Wert des einzelnen verlassen, desto weniger bedarf es der Maschinerie. In England sind die Richter echte Selbstherrscher; sie schaffen recht eigentlich das Gesetz; und dieses System bewährt sich, weil eben die Menschen auf der Höhe sind. In Deutschland kann man den Richtern noch keine solche Machtbefugnis einräumen, dort bedarf es fest vorgeschriebener Normen; in Rußland überdies der Kontrolle jeder Anwendung und Ausdeutung. In China hat der Sinn für das Moralische seine bisher größte Ausbildung gewonnen; er ist wirklich der Grundzug dieser Nation. So sind dort, in der Idee wenigstens, Verhältnisse möglich, die dem Abendländer übermenschlich vorkommen.

Gibt es gar keine Maschinerie, deren der Herrscher zum Herrschen unbedingt bedarf? Doch; solche Formen sind die Riten. Und hier mündet das wunderbar Tiefe, das Ewig-Menschliche wieder einmal in der Chinoiserie. Es bedarf keiner Behörden, kaum der Gesetze; alles Leben organisiert sich von selbst. Aber wenn der Kaiser während des großen Jahresopfers am Himmelsaltar einen Etikettefehler beginge, dann würde die noch so gut geregelte Welt auf einmal in Unordnung geraten.

 

Die Straßen von Peking sind nicht so schön und malerisch wie diejenigen der Metropolen Süd- und Mittelchinas. Sie sind dafür großzügiger (was nicht allein im Sinne physischer Breite gilt), und es weht in ihnen Steppenluft. Der Geist Dschengis-Khans, der großen Mandschu- und Tatareneroberer, nicht derjenige des chinesischen Literaten, hat dieser Stadt ihren Charakter verliehen, so wirkt sie gewaltig und herb. Peking ist vor allem eine Kaiserstadt: dies läßt es Delhi und St. Petersburg ähnlicher erscheinen, als dem nahen Tientsin und Tsi Nan Fu.

Diese riesenhaften Tore, diese wuchtigen Mauern, diese hochragenden Paläste und Pagoden: ebensoviele Wahrzeichen eines Herrschersitzes. Indem ich die weiten Strecken durchwandere, die hier Denkmal von Denkmal scheiden, und die Größe des Geistes chinesischer Kaisermacht auf mich einwirken lasse, überkommt mich eine wachsend feindselige Stimmung dem neuen republikanischen Staatswesen gegenüber. Wie wenig ist es hier am Platz! Wozu haben die Chinesen es eingeführt? Freier werden sie durch dasselbe nicht werden; so frei, wie sie waren, ist Amerika nicht. Die Gemeinde, das soziale Atom von China, war in ihrer Verwaltung völlig unabhängig. Sie wählte sich selbst ihre Häupter, besorgte ihre Geschäfte selbst und zahlte regelmäßige Abgaben so gut wie gar nicht; die Summen jedoch, welche die Mandarine von Zeit zu Zeit erpressen kamen, waren verschwindend gering im Vergleich zu dem, was sie in Zukunft wird regelmäßig aufbringen müssen. In das tägliche Leben der Bürger griff die alte Regierung überhaupt nicht ein; sie verharrte in Nichtstun, bis daß Handeln unbedingt geboten schien. Dann erwies sie sich freilich oft ungerecht, erpresserisch und grausam, aber das lag am jeweiligen Beamten, nicht am Prinzip, das als solches ausgezeichnet war. Ferner gab es im monarchischen China keine privilegierten Kasten, keine Aristokratie; seit Jahrtausenden stand jedem einzelnen der Weg zu den höchsten Ämtern offen. Nirgends auf der Welt ist die Regierung weniger drückend, ja merklich gewesen, nirgends haben der privaten Initiative weniger obrigkeitliche Schwierigkeiten im Wege gestanden. Daß der einzelne in China trotzdem weniger frei war als in unserer Welt, lag an der angestammten Gesellschaftsordnung, nicht am Regierungssystem, und sollte jene umgewandelt werden, so hätte dies genau so gut oder so schlecht unter dem alten Regime geschehen können. Wozu also die Revolution? – Nun, sie bedeutete gewiß eine Notwendigkeit, denn die Mandschus hatten abgewirtschaftet; sie waren bei dem Punkte angelangt, wo der Geist der chinesischen Verfassung einen Wechsel der Dynastie direkt verlangt. Bei einem System, dessen Brauchbarkeit ausschließlich von der Qualität seiner Vertreter garantiert wird, kann es nicht fehlen, daß es bald zu äußerst unliebsamen Zuständen kommt, wenn jene Qualität verdirbt. Denn ob es richtig sei oder nicht, daß ein guter Herrscher notwendig von guten Beamten bedient wird – sicher ist, daß bei der chinesischen Regierungsform ein schlechter Kaiser den Staatskarren unweigerlich verfährt, denn hier gibt es keine feste Maschinerie, welche persönlichen Umständen das Gegengewicht hielte. So mußte es zu einer Umwälzung kommen. Aber daß diese mehr bedeutet hat, als die üblichen Krisen im Organismus Chinas, daß sie den Sturz des ganzen Systems herbeigeführt – das hat an äußeren Umständen gelegen, zumal dem ansteckenden Beispiele des Westens. Und es wird dem Chinesenvolk zweifelsohne zum Unheil gereichen, wenn nicht sein common sense und seine tiefe sozial-politische Kultur es davor bewahrt, dem Westen in dessen Fehlern nachzueifern.

Ich bin kein Feind der Idee einer Republik. Unbedingt gebe ich zu, daß, wo die Menschen vollkommen gebildet wären, sie die beste aller Staatsformen verkörperte. Auf dem Stadium jedoch, in welchem sich selbst die vorgeschrittensten Völker unserer Tage befinden, führt sie das Gegenteil von dem herbei, was sie bewirken soll: anstatt einer Herrschaft der Besten die der Inkompetenz; an Stelle der Befreiung Knechtung; und an Stelle der Hebung des Gesamtniveaus dessen Herabminderung.

Eine Herrschaft der Besten führt sie nicht herbei, weil der Ungebildete niemals geneigt ist, jemand als über sich stehend anzuerkennen. Er wählt am liebsten den zum Regenten, dem er sich gleich dünkt; wie denn die Amerikaner, mit erfrischender Aufrichtigkeit, offen zugeben, daß sie keine hervorragenden Vertreter in ihrem Kongresse wünschen, weil solche das Volk nicht repräsentieren würden. Nur der Hervorragende, der nicht bedeutender, sondern schlauer als seine Wähler ist, der Demagog, der Intrigant, der Arrivist hat Aussicht, beim republikanischen Regime ans Ruder zu kommen. So fehlt den Häuptern solcher Staatswesen gerade das, was die Kardinaltugend des Regierenden bedeutet: die Überlegenheit. Sie sind innerlich nie frei, haben nie den gelassenen Überblick, der den geborenen Herrscher kennzeichnet. Sie sind eben nicht unabhängig, müssen liebedienern vor ihren Wählern und vor der Presse. Und was schon von den Häuptern gilt, gilt natürlich in weit höherem Grade von den Gliedern. Robert de Jouvenel hat unlängst gezeigt, In seinem ebenso scharfsinnigen wie witzigen Buch La république des camarades (Paris, Grasset). wie das Parlament im Frankreich von heute in keiner Weise das Volk vertritt, sondern vielmehr einen völlig selbständigen, parasitär in ihm lebenden Organismus darstellt, dessen Teile absolut aufeinander angewiesen sind, daher in erster Linie aufeinander Rücksicht nehmen müssen und nur ausnahmsweise dazu kommen, überhaupt des Staatswohls zu gedenken: prinzipiell gleiches gilt von allen Republiken, und es ist nur eine Frage der Zeit, inwieweit das Prinzip sich aktualisiert. Überlegenheit und Unabhängigkeit sind, solange die Menschen bleiben, was sie heute sind, in Republiken nicht dauernd lebensfähig.

Ich sagte ferner: die republikanische Staatsform bedingt nicht Befreiung, sondern Knechtung. Wohl hat ihre Einführung ihrerzeit überall die Befreiung von irgendeiner Knechtschaft bedeutet, aber nur, um eine neue, schlimmere herbeizuführen. Alle modernen Republikaner gehen von der falschen Voraussetzung aus, daß die Menschen ursprünglich gleich seien; so wird in den Bürgern solcher Gemeinwesen der Sinn für Überlegenheit künstlich ausgerottet. Der Weise hat nicht mehr Prestige als der Durchschnittsmensch, der Vornehme nicht mehr als der Plebejer. Ein verantwortlicher Posten wird nicht dem verliehen, der von Natur aus zu ihm berufen ist, sondern einem Beliebigen oder einem Schlauen. So bieten die Persönlichkeiten für das Funktionieren des Staatskörpers keine Gewähr. Was also tun? Die tote Maschinerie muß verstärkt werden; sie muß gut stehen für alles, was sonst dem Menschenwert zu danken wäre. Deshalb finden wir extreme Demokratien ausnahmslos durch das Maschinenmäßige ihres Betriebes gekennzeichnet. Gestern schrieb ich, die Bedeutung eines politischen Systems stehe in direktem Verhältnis zur Unbildung der Regierten; während der englische Richter Gesetze schafft, darf der deutsche sie nur anwenden. Dementsprechend erscheint in extremen Demokratien, wo die Besten kaum zum Worte kommen, die Maschinerie schier allmächtig. Das ist sie zumal in der nordamerikanischen Republik. Dort besitzt der »Caucus« mehr Macht als irgendein asiatischer Despot. Und da die Maschine keine Seele hat, ist ihre Tyrannis schlimmer als die des härtesten Autokraten.

Der dritte Punkt ist das Sinken des Niveaus, welches die Republik mit Unvermeidlichkeit herbeiführt; er ergibt sich fast vollständig aus den bisher betrachteten. Indem die Inkompetenz der Kompetenz als gleich geachtet wird, der Sinn für Überlegenheit abstumpft und jeder nur dem ihm gleichen die Führerrolle zuerkennen mag, tritt die Überlegenheit tatsächlich zurück, und das Niveau gleicht sich nach unten zu aus; desto mehr, als die Beispiele eines höheren Daseins fortschreitend seltener werden und der Nachwuchs an ideal gesinnten Bürgern spärlicher wird. Das Aufkommen so großer Überlegenheit wie zu aristokratischen Epochen ist in demokratischen Gemeinwesen – und das sind heute alle Staaten, die monarchisch regierten inbegriffen – wohl überhaupt nicht möglich, denn wo auf die Masse überhaupt Rücksicht genommen wird, sind allzu große Einzelne nicht lebensfähig; aber in Monarchien sinkt das Niveau doch nie so tief herab wie in Republiken, wo jeder mitreden darf. Hier schafft die Masse allmächtig den Zeitgeist, und da er es ist, der sich jeder neuen Generation als erstes mitteilt, so kann es nicht fehlen, daß jede folgende trivialer als die vorhergehende wird. Noch ein schwerwiegendes Bedenken spricht gegen die Republik; es knüpft an an das Recht jedes einzelnen, in politicis mitzuentscheiden. Das Interesse für Politik hebt nur den, der sie als große ideale Aufgabe auffaßt, also den geborenen Herrscher, den berufenen Staatsmann, den ach! so seltenen Bürger von echtem Gemeinsinn; jeden anderen zieht es herab. Weshalb? Im Kleinen ist jeder gemein; persönliches Interesse bestimmt sein Handeln. Als Mitbeherrscher einer Republik wird er es im großen. Nun sieht er persönliche Interessen überall und handelt entsprechend. Unter einem absoluten Regime lohnt es sich für den Privatmann nicht, sich mit großer Politik zu befassen, deswegen wuchert dort sein Eigennutz am wenigsten; in einer noch so konstitutionellen Monarchie gibt es doch einige Fragen, die ihn nicht angehen. In der Republik entscheidet jeder bei allem mit.

China war frei und wird geknechtet werden, das Niveau des Volkes wird sinken, und an die Stelle der Intelligenz wird die Kanaille treten – es sei denn, daß China, glücklicher als Europa und Amerika, die Gefahr im letzten Augenblick pariert. Wie töricht ist es, von der Einführung der Republik eine Hebung des Niveaus zu erhoffen! Gewiß: der Unterschied zwischen dem eines Kuli und eines Mandarins ist unerhört, und ersteres muß gehoben werden. Aber das wird gewiß nicht dadurch gelingen, daß man jenen unverzüglich emanzipiert und den ihm Überlegenen überstimmen läßt. Und selbst wenn die intellektuelle Bildung gewinnen sollte, die moralische wird sicher verlieren. Nun ist aber moralische Bildung die Hauptsache für jedes Volk, und von allen besaß das chinesische davon am meisten. Wie überlegen erscheint der Kuli hierin dem hochmütigen Fremden, welchen er trägt und fährt! der hungernde Landmann dem Missionar, der ihm zu predigen sich anmaßt! Wie überlegen vor allem der Mandarin des alten Regime gegenüber den frechen jungen Leuten, die heute an der Spitze des Reiches stehen! Ich denke an die Tage zurück, die ich mit den vertriebenen Großen in Tsingtau verlebte: da war kaum einer, der bei all seinen möglichen Fehlern nicht als moralisch durchgebildet gelten konnte; der insofern nicht dazu berufen schien, an führender Stelle zu stehen. Einst reich und mächtig, waren sie nun heimatlos und arm; und trugen ihr Schicksal doch mit lächelndem Gleichmut. Wohl habe ich sie verzweifelt, ja in Tränen gesehen: aber das war von Trauer über das Ende der großen chinesischen Kultur, das sie herannahen sahen ...

 

Ein wahnsinniger Sandsturm wütet; in den Straßen stürmt es. Die Mongolen peitschen ihre Maultierzüge vorwärts, um schneller das Obdach zu erreichen; die Chinesen in den Rickshaws tragen Tücher vor den Augen, die sich unter dem Druck des sandbeschwerten Windes wie schmutzige Schminke den Gesichtern anschmiegen. Keine Möglichkeit, irgend etwas zu besichtigen. Ich verbringe meine Zeit damit, die Geschichte Tsu-Hsis, der großen Kaiserin-Witwe, zu lesen.

Diese Herrscherin, die, nach unseren Maßstäben bemessen, auf grauenerregende Weise gewütet hat, welcher Menschen nicht heiliger waren als Fliegen, die eine Hofdame einst ohne Umstände ertränken ließ, weil ihr Eintreten sie beim Malen gestört hatte – diese Herrscherin gilt ihrem Volke als gutherziges, ja allzugutes Frauenzimmer; dieses Urteil vernahm ich erst heute von einem Mandarin, welcher unter ihr gedient hatte. Ohne Zweifel, sie war eine große Natur, und solche sind niemals schlecht; sie hat das Beste gewollt, ihre Herrscherpflichten nach bestem Gewissen erfüllt; die großen Traditionen Altchinas waren in ihr in außerordentlichem Grade lebendig. Sie war eine hervorragende Regentin, eine wunderbare Menschenkennerin, zugleich eine echte Künstlerin und vollendet gebildet in der klassischen Literatur. Aber dennoch: gut war sie nicht; sie war ein Drache, kein Lamm. Daß sie unter dem Heiligenschein der Herzensgüte fortlebt, ist sehr bedeutsam, denn sicher hat dies tiefere Gründe als jene typische Metamorphose in der Erinnerung, dank welcher sogar Napoleon zeitweilig als prud' homme und Gemütsmensch gepriesen ward.

Die Hauptursache dieses Verhältnisses ist wohl die psychologische Intuition, der Sinn für das Wesen eines Menschen, der alle Asiaten und vor allem die Chinesen auszeichnet. Von Indien ab habe ich es bewundern können, wie sicher der östliche Mensch jedermann instinktiv nach dem ihm entsprechenden Maßstabe mißt. Dies Können rührt seinerseits im allgemeinen (wenn ich von besonderen empirischen Bedingungen absehe) von seinem Glauben an den Typus her; denn auch wir waren bessere Psychologen, solange wir in erster Linie nicht nach den besonderen Bestandteilen, sondern dem Typus einer Seele ausschauten. Wer dies nämlich tut, muß synthetisch vorgehen, muß das Einzelne im Zusammenhange sehen, dem muß dieser den Elementen gegenüber das Primäre sein. So dünkt es den begabten Asiaten selbstverständlich, eines anderen Handlungen nicht an und für sich zu werten, sondern nach dem, was sie in bezug auf ihn bedeuten. Tsu Hsis Gesinnung nun war zweifellos edel. Sie mordete, entweder weil es ihr politisch notwendig schien, oder weil sie nichts Schlimmes darin sah (keinem Chinesen dünkt das vom Leben zum Tode Befördern als ein Außerordentliches), oder endlich, weil sie es nicht gelernt hatte, ihre Impulse niederzukämpfen. Für alle diese Umstände hatten ihre Untertanen volles Verständnis. Sie begriffen, daß Gewalttätigkeit bei Menschen in hoher und höchster Stellung nicht mehr zu bedeuten braucht, als ein ärgerliches Achselzucken beim kleinen Mann. Sie wußten ferner, wie schwer es ist, bei großer Machtfülle beherrscht zu bleiben, und stellten daher an ihre Kaiser geringere Anforderungen als an ihresgleichen. Die Chinesen sind aus Erkenntnis tolerant, tolerant bis zur Charakterlosigkeit. Dies erklärt, wie gerade dieses Volk, dessen Weltanschauung wie keine andere moralisch orientiert ist, das keinen Menschen zum Herrschen für juristisch berechtigt anerkennt, der nicht auch moralisch dazu qualifiziert wäre, doch in praxi mehr Mißwirtschaft duldet als irgendein anderes von ähnlichem Kulturniveau. Die Chinesen glauben nicht, daß Menschen vollkommen sein können; sie zweifeln an der Möglichkeit fehlerfreien Funktionierens irgendeiner Institution, stehen tief skeptisch zu aller Verbesserung. Sie setzen voraus, daß hohe Beamte zur Gewalttätigkeit, niedere zur Schikane neigen, und sind es zufrieden, wenn die Mißbräuche und Übelstände ein gewisses – schweigend als unvermeidlich anerkanntes – Maß nicht überschreiten. Es war sehr charakteristisch, was ein hoher Beamter neulich den berüchtigten Squeeze betreffend zu mir bemerkte: man müsse zwischen pure Squeeze und dirty Squeeze unterscheiden; dem, der nur soviel erpreßt, als er zu anständigem Unterhalte braucht (denn die offiziellen Gehälter reichten hierzu nicht aus), sei überhaupt kein Vorwurf zu machen; nur der das Maß Überschreitende handele übel. Die Chinesen finden ihr noch so korruptes Regime erträglich, eben weil sie so viel verstehen und vom Menschen nur wenig erwarten. Sie setzen den Sinn überall über den Tatbestand. Deswegen erscheint ihnen auch ihr System, so schlecht es sich bewährt, doch besser als das unsrige, dessen praktische Vorzüge sie nicht leugnen, weil es dem Sinne nach höhersteht. Ihres ruht auf moralischer Grundlage, unseres nicht; diese Erwägung entscheidet. Ob die Beamten tatsächlich moralisch sind, tut wenig zur Sache, so erwünscht es wäre. Und schließlich verlangen sie von der Regierung in letzter Instanz nur eins: Autorität. Autorität schlechthin. Das ist die logische Folge ihres Ideals des Nichtregierens. Jede Autorität ist besser als keine, und eine schlecht sich bewährende besser als eine gute, sofern sie dem Sinne nach besser begründet ist.

Der grenzenlose Respekt des Chinesen vor Ordnung und Gesetz bedingt zugleich ein Sich-Schicken in gelegentliche Unregelmäßigkeit. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Erfahrung für, nicht gegen die Zweckmäßigkeit seiner Auffassung spricht. In diesem Riesenreich, in welchem noch nie radikale Maßnahmen gegen bestehende Mißbräuche ergriffen worden sind, hat im großen mehr und dauerndere Ordnung geherrscht als in allen energischer betriebenen Staatswesen; in diesem Land ohne Polizei, mit Behörden von zweifelhafter Integrität wird im ganzen weniger gestohlen, gemordet, veruntreut, gestritten, gehadert als im so wohlorganisierten Deutschen Reich. Nichtsdestoweniger muß ich denen beistimmen, die gerade die Eigenschaften der Chinesen, die das Funktionieren dieses Staatskörpers gewährleisten, am unsympathischsten finden. Dem chinesischen Mittelstande fehlt moralischer Mut, des Heroismus scheint er völlig unfähig; seine Haut trägt er niemals zu Markt; er lügt lieber, als daß er eine Wahrheit sagt, die ihm Unbequemlichkeiten verursachen könnte. Er ist das Prototyp des Utilitariers. Ja er ist es mit Bewußtsein und Stolz. Und das gilt nicht allein vom bourgeois: Lautse sagt von den Meistern des Altertums:

Zögernd, wie wer im Winter einen Fluß durchschreitet,
Vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,
Zurückhaltend, wie Gäste,
Einfach, wie unbearbeiteter Stoff,
Weit waren sie, wie die Tiefe,
Undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.

Und weiter:

Ihre Art ist es, den Rückzug zu lieben.

Die sogenannten adligen Tugenden können dort nicht aufkommen, wo die Welt als unwandelbar gilt und Harmonie à tout prix als Ideal. Wer einer statischen Weltanschauung huldigt, geht für kein Ideal in den Tod, strebt die Welt nicht umzuwandeln, trägt überall nur dem Gegebenen Rechnung. Wer dergestalt denkt und handelt, ist gewiß nicht adlig zu nennen. – Liegt nicht eine tiefe Ironie darin, daß der Chinese gerade dank seinen unsympathischen Eigenschaften das höchste Beispiel sozialer Ordnung gegeben, die größte soziale Bildung erreicht, die soziale Frage buchstäblich auf lange Zeit hinaus gelöst hat? Wird nicht der »Fortschritt« auch uns fortschreitend unedler machen, da doch mit wachsender Ordnung und Lebenssicherheit auch das Sicherheitsideal im Werte steigen muß?

 

Nein, das neue System als solches wird China nicht regenerieren. Es ist gezeigt worden, wie sich der Zustand Frankreichs trotz aller Revolutionen und Regimeänderungen seit den Tagen Ludwigs XIV. kaum gewandelt hat, und die geschichtspsychologische Hauptthese Gustave Le Bons: » les peuples sont gouvernés, non par leurs institutions mais par leur caractère«, spricht eine allgemeingültig-grundlegende Wahrheit aus. Die Mißstände in China sind nur aus dem Geist seiner Vollkommenheit heraus zu beseitigen; seiner eigenen spezifischen Vollkommenheit, nicht der einer fremden Kultur. Wohl mag es unsere Maschinerie herübernehmen, unsere Institutionen, unsere Werkzeuge, unsere Methoden; auch China werden sie gute Dienste leisten. Aber sicher nur dann, wenn es gelingt, sie zum Geist der altchinesischen Kultur in innere Beziehung zu setzen.

Immer deutlicher erkenne ich's: daß es in China der Reformen bedarf, liegt nicht am alten System als solchem, sondern an dem, daß der alte Geist ihm entwichen ist. Gleichviel, ob ideale Zustände wie die, welche von den Zeiten Yaos, Shuns und Yüs überliefert werden, je geherrscht haben – schon Konfuzius und Mencius klagten über Dekadenz! – China ist Jahrhunderte entlang seinem Ideale näher gewesen als irgendein historisches Volk, und noch heute lebt in ihm der Geist, der dies einstmals ermöglichte. Nur ist dieser gar schwächlich geworden. Die am vornehmsten gesinnten Chinesen sind überzüchtet; ihnen fehlt es an frischer, tatenfroher Kraft; sie jammern und klagen, wo sie handeln sollten. Immerhin: welch ein Unterschied zwischen ihnen und den Leuten, welche die Revolution ans Ruder gebracht hat! Denen fehlt jede moralische Basis, die sind im tiefsten Sinne wurzellos. Gleich den russischen Anarchisten und Nihilisten haben sie keinen Sinn für das Historisch-Gewordene, und werden daher wohl zerstören, aber nimmermehr aufbauen können. Eine Wiedergeburt Chinas ist meiner Überzeugung nach nur aus dem Geist des Konfuzianismus heraus denkbar. Gott gebe, daß diesem die hierzu erforderliche Potenz noch innewohnt.

Leider ist der Geist des Konfuzianismus, der wie kein anderer ein Bestehendes auf der Höhe erhält, zur Erneuerung wenig geschickt. Gestern frühstückte ich mit einem alten Priester, der durchglüht war von Begeisterung für seine Religion, der in ihr das Heil für die gesamte Menschheit sah und Chinas Niedergang ausschließlich auf den des Konfuzianismus zurückführte. Ich legte ihm nahe, er möge doch auftreten und mit begeisterndem Wort das Volk aufrütteln aus seinem komatischen Schlaf. Er erwiderte, hierzu sei er nicht berufen; das sei Sache des Kaisers und der höchsten Obrigkeit; bei der Stellung, in die er hineingeboren sei, komme nur treue Erfüllung der Pflichten gegen Eltern und Familie für ihn in Frage. Und wenn alle Söhne, fügte er hinzu, ihren Vätern Pietät erwiesen, dann würde das übrige schon von selbst in Ordnung kommen. Wieder jene trostlos-statische Auffassung, nach der sich in der Welt wohl alles im schönsten Gleichgewicht befindet, das beschleunigende Moment jedoch unfaßbar scheint, das einen niederen Gleichgewichtszustand in einen höheren umwandeln könnte! Wie soll man unter solchen Voraussetzungen die Welt erneuern? Sie kann sich nur selbst regenerieren. Indem jeder seine nächstliegenden Pflichten erfüllt, entsteht eine molekulare Umlagerung im Weltsystem, welche langsam zum höchsten Gleichgewichtszustande hinleitet. Dieser Weg hat alle Vorzüge eines Wachstumsvorgangs; hat er zum Optimum geführt, dann ist dieses wohl sicherer gegründet, als auf irgendeine andere Art gelänge; daher die unerhört lange Dauer der großen Zeiten in China, daher das heute noch wunderbar feste Gefüge des chinesischen Staats. Aber ein solcher Prozeß braucht ungeheuer viel Zeit; so viel Zeit, daß unter den heutigen Umständen, wo alle Entwickelung dank dem Rekord, den Europa aufgestellt, und den neuen Verhältnissen, die sein Einfluß geschaffen hat, sehr schnell verlaufen muß, wenn sie überhaupt zum Ziel führen soll, die bloße Möglichkeit seiner Vollendung fraglich ist. Was soll also geschehen? – Daß die Erneuerung trotz allem Angeführten aus dem Geist des Konfuzianismus heraus erfolgen soll, scheint mir gewiß; dieser Geist ist dem Volk so tief und innerlich eingewurzelt, daß es einfach nicht glücken würde, ihn durch einen anderen zu ersetzen. Überdies wäre es ein Verbrechen, ihn ausrotten zu wollen, denn der Idee nach ist er der höchste, der irgendeiner Gesellschaft je zugrunde gelegen hat. Es läßt sich nichts Idealeres denken, als eine Gemeinschaft, deren äußere Ordnung durchaus durch die moralische Bildung ihrer Glieder gewährleistet würde, wo es mechanischer Mittel nicht bedürfte; das ist nicht allein das altchinesische, es ist das Menschheitsideal. Auch wir werden dereinst, so Gott will, in diesem Sinn als Konfuzianer gelten dürfen. Aber freilich müssen dem traditionellen Konfuzianismus neue, beschleunigende Motive einverleibt werden.

Dieses dürfte, bei einiger Einsicht seitens der Führer, nicht undurchführbar sein. In den Augen des Volks steht Konfuzius so unermeßlich hoch, daß es sich jede fernere Idealisierung seiner gefallen lassen wird. Es wird sogar höchlich befriedigt sein, wenn ihm gezeigt wird, daß die neuen Ideen, deren Wirkungskraft im Guten es auf die Dauer nicht wird ableugnen können, in den heiligen Büchern vorgebildet liegen, und das Neue bereitwillig aufnehmen, das auf das Alte zurückgeführt werden kann. Es dürfte sonach die Aufgabe der Führer Jungchinas sein, für alle Reformen, die sie in Angriff nehmen, die Autorität Kongfutses anzurufen. Dank dem aphoristischen Charakter seiner Aussprüche wird dieses technisch leicht gelingen, sachliche Bedenken aber kommen deshalb kaum in Frage, weil einerseits Konfuzius vertieft werden wird dank der neuen Ausdeutung, die ihm so viel indisch-christliche Weisheit zuführen wird, und andrerseits das westlich Praktische, auf konfuzianische Grundsätze bezogen, eine moralische Grundlegung erfahren wird, die es bisher nicht hatte. Natürlich würden sie sich mit solcher Umdeutung eine Geschichtsfälschung zuschulden kommen lassen: was tut's? welche fortschrittliche Zeit hätte keine begangen, wo sie an alten Idealen festgehalten hat? Was ist nicht aus dem Christentum alles geworden im Lauf der Geschichte! Aus der Religion des Duldens eine solche des rücksichtslosen Tuns; aus dem süßen Heiland und Erbarmer das Urbild der modernen selbstgegründeten Persönlichkeit! Jede Zeit hat ihr wirkliches Ideal mit dem überkommenen in Einklang zu setzen versucht, und dies ist immer nur durch Geschichtsfälschung gelungen. Alle Erneuerer, die den »wirklichen« Christus wiedererwecken wollen, von St. Johannes bis zu den Propheten des New Thought, sind recht eigentlich Geschichtsfälscher, da sie im Gegensatz zu ihrer Absicht ihre eigenen Überzeugungen in das wehrlose Gewesene hineindeuten. Und das ist kein Vorwurf, den ich ihnen mache, im Gegenteil: man kann dem Menschen seine historischen Wurzeln nicht nehmen; wer in christlicher Atmosphäre geboren und erzogen ward, ist wesentlich Christ, gleichviel woran er glaubt; von den Vorstellungen, die seine Seele formten, kommt er nie los. Aber er deutet sie, wenn er seine Persönlichkeit wahren will, selbständig aus, bringt sie in Einklang mit seiner sonstigen Weltanschauung.

In diesem Sinne dürfte es wohl möglich sein, aus dem Geist des Konfuzianismus heraus das chinesische Reich zu reformieren. Nur muß diesem dazu, wie schon gesagt, ein beschleunigendes Motiv eingebildet werden. Wird dies gelingen, wo doch nichts das Chinesentum wesentlicher kennzeichnet als seine ausgesprochen statische Gesinnung? Die europäische Geschichte beweist, daß solche Metamorphose vorkommt. Mir war von Anfang an die ausgesprochene Ähnlichkeit des altkonfuzianischen mit dem altlutherischen Menschentypus aufgefallen; sie erschienen mir recht eigentlich als eines Geistes Kinder. Wie ich über diesen Eindruck nun nachdachte, da erwies er sich als wohlbegründet: die beiden Weltanschauungen sind wirklich nahe verwandt. Auch die lutherische ist wesentlich statisch, auch sie hypostasiert die gegebenen Klassen als metaphysisch begründet oder »gottgewollt«; auch ihr gilt Leiden höher denn Tun, Geduld mehr als Initiative, und das Hinausstreben über die angeborene Stellung als frevlerisch; auch sie ist eine Weltanschauung des Ausharrens. So hat sie auch ähnliche Vorzüge und ähnliche Gebrechen ins Leben gerufen. Ihre Vorzüge waren die Kultur des Familienlebens, des patriarchalischen Daseins überhaupt; ihre Nachteile der Hang zur Reaktion, die Unfähigkeit, das Leben neu zu gestalten, sich neuen Umständen anzupassen, die natürliche Erstarrung durch freie Initiative in Spannkraft umzuwandeln. Aber von Luther ist doch eine Richtung ausgegangen, welcher nichts von den Gebrechen des Luthertums anhaftet: der calvinistische Protestantismus. Das ist die Religion der Tat par excellence, die größte Anspornerin der Initiative, des Fortschritts, der selbstherrlichen Lebensgestaltung, welche es je gegeben. Kein Menschentypus der Welt ist an Effikazität dem reformiert-protestantischen vergleichbar. Heute steht dieser dem lutherischen wohl fremd gegenüber; gleichwohl ist er aus ihm hervorgegangen; und im letzten, im allerletzten sind beide heute noch eins. Es gibt doch einen allgemeinen Geist des Protestantismus, an welchem beide Konfessionen teilhaben. In Analogie mit dieser Entwickelung halte ich nicht für ausgeschlossen, daß der Geist des Konfuzianismus noch einmal eine Gestaltung aus sich hervorbringen wird, dank welcher der Chinese, ohne seine Geschichte verleugnet zu haben, nicht minder tatkräftig dastehen wird, wie der Amerikaner und der Schotte.

 

Die Ähnlichkeit zwischen dem konfuzianischen und dem protestantischen Menschen ist wirklich frappant. Die Nüchternheit, die Verständigkeit des Chinesen, seine Unplastizität, seine seelische Trockenheit finden sich in nur wenig veränderter Gestalt im protestantischen Europa und Amerika wieder. In beiden Fällen fußt die Weltanschauung auf einem seltsamen Gemisch von Autoritätenglauben und Selbstbestimmung; beide Typen sind ausgezeichnet durch auffallende seelische Undifferenziertheit und eine gleich auffallende Gestaltungskraft nach außen zu. Die Psyche des gebildeten Katholiken ist ja, so paradox dies dem »Aufgeklärten« klingen mag, viel reicher als die des Protestanten; die Erziehung durch ein System wie das katholische, das den vielfältigsten Regungen der Seele Rechnung trägt und allen Verständnis entgegenbringt, dessen Formen gehaltsschaffend sind und umgekehrt Formensinn erzeugen, kann nicht umhin, die Seele zu entfalten; während der unkomplizierte und grobe dogmatische Unterbau des Protestantismus dem Menschen wohl einen starken moralischen Halt und einen einzigartigen Ansporn zur Betätigung gibt, aber sehr wenig Selbsterkenntnis und fast gar keine psychische Bildung. Der Chinese ist in eben dem Sinne dem Inder unterlegen, wie es der Protestant dem Katholiken ist. Es ist außerordentlich langweilig, mit Chinesen über psychologische und metaphysische Probleme zu verhandeln. Immer wieder kommen sie einem mit den konfuzianischen Grundprinzipien, wie Pastoren mit der augsburgischen Konfession; sie scheinen unfähig, sowohl psychische Tatsachen als solche ins Auge zu fassen, als den metaphysischen Sinn der Gestaltung als mögliches Problem zu erkennen; ihr Verständnis für das Religiöse gar ist minimal. Gleich der durchschnittlich-lutherischen bedeutet auch die durchschnittlich-chinesische Religiosität nicht mehr als das feste Glauben an bestimmte Offenbarungstatsachen und das feste Befolgen einer bestimmten Lebensroutine; ein echtes religiöses Erleben kennen sie nicht. Auch die konfuzianische Kirche (sofern solche Bezeichnung statthaft ist) ist, gleich der lutherischen, eines Sinnes mit der »Obrigkeit«. Aber freilich: im gleichen Sinne, wie die Protestanten den Katholiken, sind die Chinesen den Indern auch überlegen. Ich kenne wenig Roheres, geistig Unbefriedigenderes, als die Glaubensvorstellungen des Calvinismus; der Glaube des katholischen Köhlers steht geistig höher, als der des gebildeten Puritaners; dennoch hat dieser einen Menschentypus erschaffen, der an moralischem Wert alle übrigen christlichen schlägt. Zum tätigen Leben kommt es eben nicht auf umfassende Einsicht, sondern einen möglichst eindeutigen Character an, und einen solchen schafft eine simplistische Lehre am ehesten. So sind die Chinesen eben deshalb moralisch so fabelhaft gebildet, weil sie sich über das Moralische nur wenig den Kopf zerbrechen und statt dessen die konfuzianischen Grundsätze, die freilich ewige Wahrheiten zum Ausdruck bringen, von sich ganz haben Besitz ergreifen lassen. Solche Methode macht uninteressant, allerdings; aber sie macht tüchtig.

So viel zum Problem des Glaubens. Was nun das Postulat der Selbstbestimmung angeht, so gilt auch das in China nicht minder als bei uns. Nur scheint es mir in der konfuzianischen Welt auf einer höheren Stufe ins Leben einzugreifen. Bei uns äußert sich das Bekenntnis zum Ideal der Autonomie gar leicht dahin, daß der Mensch nichts anerkennen will, was er nicht versteht, wemzufolge er die Abstufungen in der Gesellschaft abweist und die Autorität auch dessen nicht gelten läßt, welcher nachweislich kompetenter ist als er. So günstig diese psychische Einstellung der Ausbildung der Initiative sei, so nachteilig ist sie der Kultur; wer keinem glaubt, außer sich selbst, entäußert sich aller der Bildungsmöglichkeiten, welche die Erfahrung anderer enthält; er verschließt sich ferner dadurch, daß er die Schranken durchbricht, die seinem Streben von der Natur her gesetzt sind (denn es kommt doch sehr selten vor, daß einer zu größeren Dingen berufen ist, als ihm der angeborene Lebensrahmen zu vollbringen gestattete), recht eigentlich das Tor zur Vollendung, denn Vollendung ist nur innerhalb gegebener Grenzen möglich. Deshalb steht der noch so abergläubische Katholik kulturell so häufig höher als der Aufgeklärte. In China nun bedeutet Selbstbestimmung immer nur Selbstbestimmung innerhalb eines gegebenen Rahmens. Der Chinese denkt für sich selbst, urteilt für sich selbst, tut, was ihm recht erscheint – aber nur innerhalb einer bestimmten Sphäre. Wer daraufhin an der Autonomie als Postulat des chinesischen Bewußtseins zweifeln sollte, der versuche es, chinesische Dienstboten so herumzukommandieren, wie dies mit europäischen üblich ist: er wird wenig Erfolg damit haben. Er wird entdecken, daß der chinesische Diener, bei allem Respekt, bei aller Dienstbeflissenheit und Treue, nur das tut, was er für richtig hält; er gehorcht nicht eigentlich in unserem Sinne: seine Stellung ist die eines Gehorchenden, aber innerhalb dieser ist er autonom; im einzelnen will er entscheiden können, was er zu tun und was er zu lassen hat. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von allen Berufen. – Meiner Ansicht nach ist hiermit im Prinzip das bestdenkbare Gleichgewichtsverhältnis zwischen Auto- und Heteronomie erreicht. Gott allein frommt absolute Autonomie. Der Mensch darf sich nur innerhalb von Grenzen selbst bestimmen, wenn er an seiner Seele nicht Schaden nehmen will, welche Grenzen enger und immer enger werden von oben nach unten zu.

Man darf die Parallele zwischen Konfuzianismus und Protestantismus nur nicht zu weit durchführen wollen; vielleicht bin ich schon zu weit gegangen darin; Ku Hung-Ming, mit dem ich letzthin häufig zusammen bin, und der in Vergleichen dieser Art wie wenige ausschweift, mag mich angesteckt haben. Zum Schluß denn noch einige Punkte, in bezug auf welche Konfuzianismus und Protestantismus ganz unvergleichbar erscheinen. Jenem fehlt das Pathos, das der Glaube an einen allmächtigen persönlichen Gott dem Protestantenleben verleiht. So heroisch Konfuzianer sein mögen – ihr Heroismus hat nie den grandiosen Zug, der den strenggläubigen Protestanten und Muslim auszeichnet; es handelt sich beim Konfuzianer auch im Höchstfall mehr um die Hartnäckigkeit des Prinzipienreiters als die Opferfreude eines großen Glaubens. Dieser Unterschied ist so groß, daß er das ganze Bild verändern würde, wenn nicht jenes Pathos den Protestanten unserer Tage ebenso fehlen würde wie den Chinesen ... Der zweite radikale Unterschied zwischen Konfuzianismus und Protestantismus geht auf den unkünstlerischen Charakter dieses zurück; der Protestantismus erkennt keinen Zusammenhang an zwischen religiösem und künstlerischem Erleben, schafft keine notwendige Beziehung zwischen Ausdrucksform und Gehalt. So hat der echte Protestant in der Regel wenig Formensinn. Der Konfuzianer besitzt solchen von allen Menschen vielleicht am meisten. So fand ich mich mit dem Mandarin, der mich jüngst zu den buddhistischen Klöstern begleitete und mich schier zur Verzweiflung brachte durch sein Unverständnis für Probleme der Religion, augenblicklich wieder, als ich mit ihm in seinem Haus, bei nicht endenwollenden Tassen Tees, über das Problem des Stils unterhandelte.

 

Nun lebe ich beinahe ganz als Chinese; die meisten Mahlzeiten nehme ich außerhalb des Gesandtschaftsviertels ein. Schon die Abwechslung als solche tut gut; eine immerdar identische Lebensweise macht den physischen Organismus philiströs, nimmt dem Geiste die Beweglichkeit. Ich bin überzeugt: wenn die Hindus nicht dreimal täglich ein gleiches Reisgericht verzehrten, sie wären weniger stereotyp, wenn die Abwechslung als solche kein Heilmittel wäre, so viel verschiedenartige Kuren nützten nicht; und sicher hängt es mit unserem Erfindungstriebe eng zusammen, daß wir Europäer gleich keiner anderen Rasse der Erde nach Mannigfaltigkeit in der Nahrung Bedürfnis tragen. Was nun die spezifische Diät einer Nation betrifft, so kann aus ihr deren Eigenart allerdings nicht abgeleitet werden, wohl aber steht sie in engem Zusammenhang mit ihr. Wer der Sinnlichkeit entrinnen will, liebt Pflanzenkost, wer sie verfeinern will, zieht animalische, gewürzte vor. Und so weiter. Was nun im allgemeinen gilt, ist nicht minder im besonderen wahr. Immer habe ich gefunden, daß es während des Studiums eines Volkes ratsam ist, dessen Lebensweise nach Möglichkeit zu teilen. In China aber ist dies eine Lust.

Meine Freunde bringen mich in jene abgelegenen Feinschmeckerrestaurants, die für Peking ebenso charakteristisch sind wie für Paris. Nur haben die Räume der hiesigen mehr Stil. Es sind ganz kleine cabinets particuliers, meist mit Aussicht auf die Berge der Umgegend, mit Bildern und Sprüchen behangen; in dem Zimmer, wo wir gestern schmausten, waren es Verse Li Tai-Pes. Dieses Gasthaus soll existieren seit den Tagen der Ming-Dynastie. Wie dem auch sei: es herrscht eine Atmosphäre der Kultur darin, die auch mich zum Feinschmecker verwandelte. Ernst lauschte ich den Vorschlägen des maître d'hotel, der uns die Speisen zusammenstellte, wie ein Dichter seine Worte, und unaufhaltsam steckte mich sein reiner Kochidealismus an. Weshalb soll der Gaumen geringer gelten, als Auge und Ohr? Ein großer Koch ist im höchsten Sinne schöpferisch. Woher weiß er, indem er ein neues Gericht erfindet und an sich wenig schmackhafte Ingredienzien in nie versuchten Verhältnissen zusammentut, daß sein Gemächt fremde Menschen erfreuen wird? Woher weiß er, was jede Speise will? Woher kommt ihm die Erkenntnis, daß dieses zu jenem nicht paßt, wo er als Esser doch nur wenig Erfahrung hat? Wenn das nicht Genialität ist, dann ist es nichts. Ein großer Koch bekennt sich meist auch entschieden zur Theorie des l'art pour l'art. Dies tat jedenfalls der alte Frédéric in der nun kläglich gesunkenen Tour d'Argent. Er bediente keinen persönlich, der ihm nicht angelegentlichst empfohlen war, blickte im ganzen auf seine Kunden herab, wie der Maler auf sein Publikum, und empfing mich, als ich das erstemal bei ihm einkehrte, mit der Bemerkung, er habe tags zuvor einem Besucher die Tür gewiesen, der zu einem gewissen Gericht Burgunder zu bestellen gewagt hatte ... Und der Feinschmecker – ist nicht auch er im idealsten Sinne kunstverständig? Zweifelsohne überschätzt die Menschheit die Bedeutung von Gesicht und Gehör. Ein Sinn ist so gut wie ein anderer; es kommt darauf an, was man durch ihn erreicht. Ich kann mir denken, daß sich durch Nase und Mund eine vollkommene Weltanschauung gewinnen ließe, die in ihrer Sprache dasselbe sagte wie die Mystik Meister Ekkeharts. Uns Menschen ist dies versagt, weil auch beim größten der Köche der Geschmackssinn nie der Hauptsinn ist. Doch die Tiere, bei welchen letzteres gilt, denen die Nase den Fernsinn bedeutet, wie den Hunden und Hirschen, dürften dessen im Prinzip wohl fähig sein. Man mißverstehe die Lage der Dinge nicht: wenn bei uns der Gourmet als Typus unter dem Denker steht, so liegt das nicht an dem, daß er seinem Gaumen lebt, sondern daran, daß dieser allzu beschränkte Erkenntnis vermittelt. Auch das Denken führt nur ausnahmsweise zum Höchsten; ja die meisten macht es oberflächlicher, materieller, als sie es ohnedem geworden wären.

Überaus genußreiche Stunden habe ich in diesen Gasthäusern verbracht. Die chinesische Küche ist exquisit, vom künstlerischen Standpunkte betrachtet der französischen gleichwertig. Einmal wurde uns sechs Male hintereinander Ente vorgesetzt, und die Zubereitung war so fein kontrapunktiert, daß es nicht als Wiederholung wirkte; während ich als technisch höchste Leistung eine Speise bewundern muß, die vorzüglich aus marinierten Quallen bestand. Wie diese unsubstanziellen Geschöpfe fixiert werden konnten, begreife ich nicht ... Freilich verwenden die Chinesen Materialien, welche unsereiner nicht gewohnt ist. Aber dies spricht nicht gegen sie: jede Gewohnheit ist Sache der Konvention, und jedes Haften an Gewohntem Beschränktheit. So schäme ich mich des, daß ich anfangs vor einem Gerichte Maden Grauen verspürte, das sich nachher als überaus wohlschmeckend erwies.

 

Wenn ich nur nicht gar so viel zu trinken hätte! aber nie errate ich die Scharaden, die mir beim Mahle aufgegeben werden, und die Landessitte verlangt, daß der also Versagende mal für mal den Becher Reisweins bis zur Neige leert. Und dies währt Stunden hindurch. Gang folgt auf Gang, Scharade auf Scharade, und nie werden die Herren es müde, im Scharfsinn miteinander zu wetteifern. Da schneidet unsereiner kläglich ab. Das Erraten chinesischer Rätsel setzt einen Feinsinn voraus und eine Fähigkeit, aus Andeutungen unmittelbar das Ganze herauszuhören, die wohl keiner besitzt, dessen Kombinationsvermögen durch andauernde Beschäftigung mit der chinesischen Schrift nicht bis zur Unwahrscheinlichkeit durchgebildet ward. Denn unwahrscheinlich ist es, was meine Gastfreunde wie spielend leisten. Oft liegt die Lösung eines Rätsels im Bezug eines hingeworfenen Worts auf eine unwichtige Stelle in den Klassikern: ohne weiteres wird sie gefunden, und meist von mehreren zugleich. Wer mit dem Stoff so zu spielen weiß, mag noch sehr ein Schriftgelehrter sein – er ist gleichzeitig ein lebendiger Geist. Ja, lebendig sind diese Herren, und seien sie noch so würdige Glieder der Hanlin-Akademie. Lustig blinken ihre ausdrucksvollen Augen, unermüdlich scheinen sie beim Zechen, und ihr Lachen ist so ansteckend, so werbend, daß ich mitlache, auch wo ich nicht weiß warum.

Ein berühmter Doktor erzählt, wie er sich einstmals in ein Singsangmädchen verliebt habe; zuletzt sei ihm das Leben ohne sie unmöglich geworden; und wie seine würdige Gattin bald darauf starb, habe er das Mädchen heimgeführt. Nun sei sein Haus ein Paradies. Während er seinen ernsten Studien obliege, werde er doch stets von zwitscherndem Frohsinn umgeben, und der erst mache seinen Ernst ganz produktiv. – Es leuchtet feucht in den Augen des alten Herrn. Nein, gefühllos sind die Chinesen nicht.

Wie mag die Legende der chinesischen Gefühllosigkeit nur aufgekommen sein? Nie habe ich lebhafter sprechen und herzlicher lachen gehört. Der ungebildete Europäer beurteilt den, welcher Herr seiner selbst ist, gleich als dürr und kalt; was ja auch dem Engländer widerfährt. Die Wahrheit ist, daß der Beherrschte seine Fähigkeiten potenziert, wie denn das englische Gemütsleben nicht schwächer, sondern intensiver (wenngleich ärmer) ist als das des Deutschen. Wozu das weitere tritt, daß nur der, wer sich wirklich besitzt, sich auch wirklich hingeben kann. Die Chinesen, welche nichts außer Gleichgewicht bringt, wissen eben deshalb auszuspannen. Dann aber strömt ihre Laune über, und tausend Quellen sprudeln auf einmal hervor.

Die Chinesen empfinden nicht weniger tief und reich, nur anders als wir. Wenn christliche Nächstenliebe ihnen fehlt, so besitzen sie dafür ein Zusammenhangsgefühl, wie wir es nicht kennen; unsere Sympathie ersetzt Hochkultur der Ehrfurcht. Wenn sie sich gelegentlich hart, verschlagen und grausam erweisen, so sind sie im ganzen doch viel zahmer als wir Abendländer, zu denen sie sich – der Vergleich stammt von Ku-Hung-Ming – nicht viel anders wie Haus- zu Raubtieren verhalten. Wir kommen ihnen typischerweise herzlos, roh und grausam vor; von ihren Voraussetzungen aus haben sie wohl recht. Aber im gleichen Sinne recht haben wir, wenn uns ihr Gemütsleben in mehreren Hinsichten dürftig scheint. Liebe in unserem Sinn zum Beispiel kennen sie sicher nicht. Ich gedenke des berühmten Romans P'ing-Chan-Ling-Yen, in welchem kalligraphisches Können recht eigentlich die Rolle eines Liebestrankes spielt, jener »weidenbestandenen Straßen« (der Freudenviertel), in deren Grenzen sich weitaus der größte Teil chinesischen Liebeslebens abspielt: den meisten Chinesen bedeutet Liebe ungefähr dasselbe, wie dem Menschen des europäischen Altertums. Noch dem heiligen Augustin waren die Stimmungen unbekannt, die wir heute als für das Lieben wesentlich ansehen. Er wußte wohl vom Begehren, vom Genuß, von der animalischen Freude an der Nähe; auch wohl vom spezifischen geistigen Charme, von der anregenden Kraft, welche Frauen ausstrahlen. Aber von der Liebe eines bestimmten Weibes um seiner selbst willen hatte er keinen Begriff. Immerhin: wie viele unter uns sind des Liebens in diesem höchsten Sinne fähig? Das meiste von dem, wovon wir glauben, daß es uns hinaushebt über die übrige Menschheit, besitzen wir nur in der Idee ...

 

Meine chinesischen Freunde sind skandalisiert darüber, daß ich keine Absicht zum Heiraten bekunde: »Sie sind doch kein Wolf, kein reißendes Tier, daß Sie sich über die universale Ordnung hinwegzusetzen wagen!« Ich erwidere ihnen, daß ich längst geheiratet hätte, wenn ich als Chinese auf die Welt gekommen wäre, oder auch als Europäer in dem Fall, wenn das Problem sich bei uns vergleichbar stellte. Aber heute tut es das nicht. Was selbstverständliche Gattungsfunktion sein sollte, bedeutet uns ein individuelles Problem, und der, dem die Ehe kein solches sein kann, weil sein Bewußtsein in den Gattungsinstinkten nicht dauernd zentrierungsfähig ist, der heiratet dann nicht.

Allen Ernstes: die neue individualistische Auffassung des Eheproblems bedeutet ein Mißverständnis, steht dem Prinzip nach unter der asiatischen. Die Fortpflanzung ist Gattungsangelegenheit, sollte dergestalt geregelt werden, daß individuelle Velleitäten nicht entschieden. Das Problem stellte sich anders, wenn zwischen diesem und dem Besten der Gattung ein notwendiger Zusammenhang bestände; aber ein solcher liegt nur ausnahmsweise vor. Es ist leider nicht wahr, daß die Kinder der Liebe notwendig wertvolle Kinder wären – jedem Bastard, der Genie besessen hat, stehen tausend Minderwertige gegenüber; es ist leider nicht wahr, daß die Natur sich, wie Schopenhauer behauptet, der Neigung als Mittels bedient, um ihre höheren Zwecke zu erreichen – denn höhere Zwecke kennt sie nicht; ihr liegt gar nichts an der Veredelung des Menschengeschlechts. Wohl scheint Inkompatibilität der Gatten – und auch dieses ist nicht einwandfrei erwiesen – auf die Nachkommenschaft einen ungünstigen Einfluß auszuüben; sicher bürgt leidenschaftlichste Zuneigung nicht dafür, daß die Kinder gut geraten werden. Individuum und Gattung decken sich in diesem Zusammenhang nicht, sie stehen zueinander vielmehr in Polaritätsverhältnis: jenes steigert sich auf Kosten dieser, welche ihrerseits auf Kosten jenes gedeiht; dies ist der Sinn der wohlbekannten Tatsachen, daß große Männer selten Nachkommen hinterlassen und die Geschlechter am spätesten entarten, in denen der Typus den einzelnen beherrscht. Von dieser Erkenntnis aus sollte das Eheproblem in Angriff genommen und gelöst werden. In Asien geschieht dies noch. Nichts könnte weiser sein, als das Heiraten als selbstverständliche Pflicht hinzustellen, der sich keiner entziehen darf, bei deren Erfüllung der Wunsch des einzelnen nicht in Frage kommt, sondern ausschließlich das Wohl des Geschlechtes; denn auf diese Weise wird zweierlei auf einmal erreicht: erstens die sichere Fortdauer der Rasse unter günstigsten Verhältnissen; hier sieht die Familie immer klarer als der persönlich interessierte einzelne. Daß die Heiratsvermittler ein gutes Auge haben, geht unzweideutig aus der unerhörten Langlebigkeit der Familien im Osten hervor, und aus der Seltenheit des Phänomens der Dekadenz. Zweitens aber wird durch diese grundsätzliche Entscheidung des Eheproblems der Nichtberücksichtigung individueller Gefühle alles Odium von vornherein benommen. Wenn das Heiraten als selbstverständliches Stadium auf dem Lebenswege gilt, dann spielt es im Bewußtsein des einzelnen kaum eine Rolle; er stellt sich gar nicht die Frage, ob er »wirklich« ganz glücklich sei, kann daher auch nicht ganz unglücklich werden, und die typischen Vorteile des Ehelebens werden ihm auch so zuteil: er hat ein Heim, entbehrt der Ruhelosigkeit dessen, dessen Gattungstriebe unbefriedigt blieben, sein Bewußtsein wird weit an der Sorge um die Nachkommenschaft. Diese typischen Vorteile sind für den einzelnen immer die ausschlaggebenden, auch wenn er die Ehe unter rein individuellen Gesichtspunkten schloß. Wo sind also die Nachteile des asiatischen Systems? – Diese liegen freilich auf der Hand: eine vollkommene Ehe im europäischen Sinn kommt im fernen Osten kaum vor, jenes fortdauernde Wachsen aneinander. Aber hier gilt es, großzügig denken: sind solche Ehen etwa zahlreich unter uns? Ich habe nur ganz wenige gesehen, desto häufiger aber bemerkt, daß das Ideal der vollkommenen Ehe die Beteiligten herabgemindert hat. Wenn Gatten sich einbilden, für einander geschaffen zu sein, ohne daß sie es sind, dann wachsen sie nicht, sondern verkümmern aneinander; ihr Bewußtsein idealisiert, was nicht idealisiert werden dürfte, hausbackene Ideale bestimmen die ganze Lebensführung, und aus dem Aar wird ein Täuberich. Deswegen steht der verheiratete Mann unter uns so häufig niedriger als der ledige, ist sogar die Frau oft weniger als das Mädchen, was doch widernatürlich scheint. Der Chinese, dem der Ehestand kein Ideal, sondern das schlechterdings Selbstverständliche bedeutet, und der sich dabei, mit dem ihm eigenen Sinn für die Naturordnung, meist als vorzüglicher Vater und Gatte bewährt, wird durch das Verheiratetsein niemals herabgemindert. Ich schrieb einmal: »wer sich fortsetzt, verzichtet auf seine Person«; dies gilt auch vom Chinesen; aber dieser gibt so wenig preis, als sich preisgeben läßt. Da sein Eheleben ihn ein Selbstverständliches dünkt, so schlägt es sein Bewußtsein nicht in Bande. Wiewohl er der Gattung mehr Rechte zugesteht als wir, ist sein individuelles Bewußtsein von Gattungsmotiven freier.

Dieses wäre denn wohl der entscheidende Punkt, der gegen unsere Auffassung des Eheproblems anzuführen ist: indem wir einerseits eine Gattungsangelegenheit zur persönlichen hinaufheben, ziehen wir andererseits das emanzipierte persönliche Bewußtsein in das der Gattung wieder hinüber. Der Erfolg ist absolut negativ. Die Gattung erhält sich schlecht bei uns, degeneriert oder stirbt aus, und der einzelne ist dabei weniger frei als im Osten. Es ist doch ein arges Mißverständnis, in der so außerordentlich individualisierten modernen Erotik z. B. einen Beweis potenzierten Selbstbewußtseins zu sehen: hier erscheinen vielmehr generelle Triebe wie krampfhaft in die Sphäre des Selbstbewußtseins hinaufgehoben, welch letzteres seinen eigenen Charakter entsprechend verliert. Individualisiertheit in diesem Sinn ist kein Zeichen der Emanzipiertheit. Neulich kam mir ein französischer Roman in die Hände: ich kann kaum sagen, wie flach, gegen den Hintergrund des Orients betrachtet, die typisch-westliche Liebesanschauung wirkt. Die Liebe zu einem bestimmten Sinnenwesen der Sinn des Lebens ... Das ist ein arges Mißverständnis, selbst im Fall der geläutertesten, beweist Oberflächlichkeit sogar im Fall der tiefsten Neigung. »Nicht um des Gatten willen ist der Gatte lieb, sondern um des Selbstes willen«, lehrt die Upanishad und sie, nicht die westliche Romantik ist im Recht. Freilich kann ein bestimmter Mensch einem anderen der Exponent des Höchsten sein – hierauf beruht die mögliche Göttlichkeit der Gattenliebe –, aber diese an sich bleibt reine Gattungssache, die zur persönlichen zu machen nur auf Kosten der Persönlichkeit gelingt. Übrigens wird, wer das Generelle individuell auffaßt, durch alle Erfahrung eines besseren belehrt. Die meisten geistig bedeutenden Männer klagen, daß sie von den Frauen als solche nicht gewürdigt werden, sondern nur als »Berühmte« schlechthin, oder als Produktive, als Potente, und ebenso klagen hochbegabte Mädchen, daß die Männer an ihnen nur das Typische schätzen. In der Geschlechtsliebe äußert sich eben die Gattung; eine persönliche Zuspitzung dieses Triebs bedeutet, metaphysisch betrachtet, ein Mißverständnis. Solche Zuspitzung kommt im Osten nur selten vor. Deshalb hat die Liebe dort selten so schöne Blüten getrieben, wie bei uns; nur wo ihr Sinn überschätzt wird, sprießen sie, und persönlich würde ich sie ungern missen. Aber ich bin zu ehrlich, um meine Vorliebe objektiv zu rechtfertigen: ich weiß vielmehr, daß die Stellung des östlichen Weisen, welcher der Gattung gewährt, was ihr gebührt, sein Selbstbewußtsein jedoch in anderen Sphären gründet, die höhere und förderlichere ist.

 

... Ich überlese, einen Tag später, das Geschriebene wieder: es ist freilich mehr in der Idee als praktisch richtig, denn darüber besteht kein Zweifel, daß unser Familienleben über dem chinesischen steht, wegen unseres tieferen Begriffs von Menschenrechten überhaupt und im besonderen der Würde der Frau. Aber ideell trifft es zu. Unsere nächste Aufgabe wäre, auf unserer höheren Individualisiertheitsstufe die Grundbeziehung zwischen Generellem und Individuellem wieder herzustellen, welche im Orient besteht. Der Fortbestand der Art darf der Caprice der Neigung nicht dauernd anheimgestellt werden, denn dies führte mit Unvermeidlichkeit zum Rassentod. Wohl sind die Zeiten dahin, wo Mann und Weib gleich Tieren durch fremden Willen einander zugeführt werden konnten, aber sie müssen nun lernen, aus freier Wahl zu tun, was vormals für sie getan wurde. Sie müssen lernen, aus persönlichen Voraussetzungen heraus Gattungsangelegenheiten als solche zu betreiben, sie müssen verlernen, aus individuellen Neigungen, die sie sonst freilich ausleben mögen, Konsequenzen zu ziehen, die das Überindividuelle schädigen könnten. Es ist ein allgemeiner Zustand denkbar, wo Mann und Weib so weit entwickelt wären, daß sie unwillkürlich zwischen ihrem persönlichen und ihrem Gattungs-Iche schieden und ebendeshalb zwischen beiden vollkommenen Einklang herzustellen wüßten.

 

Heute endlich ist der Geist des chinesischen Klassizismus über mich gekommen. – Zum Geist einer lebendiggewordenen Kultur gibt es keinen Zugang von außen her, er ist eine Monade ohne Fenster; wen er nicht besessen hat, der ergreift ihn nicht. Und er erscheint desto ausschließlicher, je mehr das Wort in ihm zu Fleisch geworden ist. Den Protestantismus zu verstehen, gelingt zur Not noch ohne Bekehrung; den Katholizismus versteht nur der, welcher in gewissen Stimmungen zum mindesten katholisch empfunden hat; im gleichen Sinn ist die französische Kultur ein Abgeschlosseneres als die deutsche. Und nun gar die chinesische! Wenn irgendeine scheinbar abstrakte Wesenheit den Anspruch auf konkrete Wirklichkeit erheben darf, dann ist es der »Geist« dieser Kultur. Er ist etwas dermaßen Selbständiges, daß die Individuen, die er beseelt, kaum mehr Individuen sind: sie wirken als bloße Repräsentanten. – Was ich als äußere Anschauung schon oft erfahren hatte, das widerfuhr mir heute früh nun selbst, als ich in Begleitung eines Schriftgelehrten im Tempel Kung Fu Tses weilte.

Im Vorhofe dieses Tempels, den die Seelentafeln aller Weisen des Landes zieren, sind seit der Yüan-Dynastie die großen Staatsprüfungen abgehalten worden, und der Name jedes, der sie mit Ehren überstand, steht auf steinerner Tafel verewigt. Nebenan, in lauschiger Halle, sind die Werke der neuen Klassiker dem dauerhaften Marmor eingeprägt. Eben dort pflegte der Kaiser alljährlich seine eigenen Gedichte vorzulesen. Es weht eine Atmosphäre der Kultur an dieser Stätte, wie ich sie gleich intensiv meines Wissens nie eingeatmet habe. Unaufhaltsam drang sie durch meine Poren ein. Und indem ich mich in die Seele des Literaten hineinversetzte, der mir mit ehrfurchtbebender Stimme die Denkmäler und Inschriften erläuterte und hie und da, mit begeistert leuchtenden Augen, berühmte Stellen aus den Klassikern vorlas, beschwor ich den Geist, nach dem ich fahndete.

Welch einzigartiger Geist! Es ist, so unerwartet dies klinge, der leibhaftige Geist der klassischen Philologie, und doch kein blasses Schemen, sondern ein ganz substantielles Gebilde, mit das dichteste, das mir in dieser Sphäre seit lange begegnet ist; seine Densität scheint mir erheblich größer, als die des Literaten, der mir zum Mittler dient. Hier ist also der Geist einer bestimmten literarischen Tradition tatsächlich zur Seele einer lebendigen Menschenklasse geworden. Ich mag mich wenden wohin ich will, welche Saite ich immer will meines Wesens zum Anklingen bringen: er läßt mich nicht los. Alles erfahre ich als Ausdruck, Erläuterung, Ergänzung oder Illustration der klassischen Weisheit, und zwar in der Form, welche diese stilistisch auszeichnet. Und seltsam: ich sollte mich beengt fühlen, tue es jedoch nicht; mir ist, als seien meine Erfahrungsmöglichkeiten durchaus nicht eingeschränkt; sie erscheinen nur wie anders gefärbt. – Aber nein: natürlich bin ich eingeschränkt, nur kann ich es nicht mehr spüren; ich habe mein normales Bewußtsein gegen ein anderes eingetauscht; und sollte als Philosoph doch wissen, daß die Rose von ihrem Standpunkte zu übersehen außerstande ist, inwiefern sie unter dem Veilchen steht. Nur so viel kann ich unmittelbar erkennen, was der objektiven Kritik standhalten dürfte: ich bin ungeheuer viel eindeutiger als sonst; auf alle Eindrücke reagiere ich einem einheitlichen Plane gemäß, alle Einfälle entspringen einem identischen Quell, und beim Ausdruck zumal empfinde ich gar kein Zögern: wo ich sonst nach entsprechenden Formen mühsam suche, bilde ich mich jetzt instinktiv den überkommenen ein und habe dabei das Bewußtsein, mich durchaus eigentlich, originell und persönlich auszudrücken.

Das ist ein sehr bedeutendes Erlebnis. Generell ist es mir nicht neu: der Geist des Katholizismus besitzt einen in eben dem Sinn. Auch er gibt dem Bewußtsein weniger neue Inhalte, als daß er eine neue Bewußtseinsform erschafft, auch er ist so alldurchdringend, daß er jede einzelne Seelenregung ergreift; auch er vermag es, alles Persönliche in objektive Formen hineinzuleiten, so daß ein noch so freier Geist sich durch die Dogmen nicht notwendig beengt fühlt und der Spontanste, Lebendigste nicht selten an der Observanz überkommener Riten sein persönlich-entsprechendes Ausdrucksmittel findet; auch er schafft recht eigentlich eine besondere Menschenart. Aber beim Katholizismus erscheint dies verständlicher, denn dessen Geist stellt einen hochentwickelten und so allseitig und fein differenzierten Organismus dar, daß er die Möglichkeiten des reichsten Individuums in sich begreift. Der des chinesischen Klassizismus hingegen ist arm zu nennen; der zugrunde liegenden Wurzelideen sind wenige, und der Stamm ist wenig verzweigt und undicht ausgeschlagen. Wie kommt es, daß ich mich trotzdem nicht arm fühle, daß der chinesische Literat, potentiell wenigstens, ein Vollmensch ist? denn das ist der Puritaner nicht, das Kind eines gleich armen Geistes, das ist auch nicht der Buddhist, vom europäischen klassischen Philologen ganz zu schweigen, der im übrigen zum gleichen Genus gehört, wie der chinesische Literat. – Es liegt wiederum an dem, was ich wieder und wieder als das Hauptmerkmal östlicher Weisheit erkenne: an der Konzentration, der sie ihren Ursprung verdankt, und an der Konzentration, mit der sie studiert wird. Die Lehre der chinesischen Weisen ist karg und einsilbig nicht, weil sie ausschließt, sondern weil sie verdichtet; ihre Sätze stellen, so aufgefaßt, wie ein gebildeter Chinese sie versteht, die Essenz aller nur möglichen Erscheinung erschöpfend dar. Und dies gilt vom Ausdruck wie vom Sinne. Je tiefer ein Verhältnis erfaßt wird, desto näher gelangt man dem Schnittpunkt der Koordinaten, die zu seiner Bestimmung dienen, desto weniger Begriffe kommen in Frage. Bei unserer arithmetischen Ausdrucksweise (in der wir notgedrungen auch die chinesische Weisheit darstellen) tritt dies nicht immer deutlich an den Tag; bei der algebraischen der Chinesen liegt es auf der Hand, so daß der klassische Ausdruck als einzig-möglicher erscheint vom Standpunkte jedes, welcher den Sinn erfaßt hat. Dieses aber ist ja das Ziel und der Erfolg der spezifisch-chinesischen Schulbildung. Uns klingt es grotesk, daß einer zehn bis zwanzig Jahre beim Studium des Konfuzius allein verbringen soll: er studiert eben nicht auf unsere Weise; er meditiert jeden einzelnen Satz, bis daß der Sinn sein Innerstes durchdrungen hat, und ist er dann am Ziel, so heißt das nicht, daß er den Konfuzius in unserem Sinne begriffen, sondern daß der Geist des großen Lehrers von ihm vollkommen Besitz ergriffen hat, gleich wie eine große Leidenschaft vom Menschen Besitz ergreift. Damit erhält denn das Philologische einen neuen Sinn. Wenn der Geist einer Kultur als besessen vorausgesetzt werden darf, dann kommt wirklich nichts anderes in Frage, als alle Aufmerksamkeit dem Ausdruck zuzuwenden, und wo dieser in der klassischen Literatur vollendet vorliegt, ist philologisches Studium tatsächlich das Tor zur Humanität. Unsere Philologen erkennen europäisch-klassischen Studien die gleiche Bedeutung zu; auch sie behaupten, der klassisch Gebildete, der des Lateinischen und des Griechischen Mächtige, der Kenner des Cicero, sei allen Aufgaben des Lebens gewachsen. Aber für Europa ist das nicht mehr wahr. Der Geist Griechenlands und Roms ist gar nicht unser Geist, sondern sein Vorfahr; und so vollendet er war, anderen hilft er nicht zur Vollendung, wie der chinesische dies tut, weil er nicht gleich tief wurzelt. Dieser verkörpert den Sinn gleichsam an sich, jenseits aller Erscheinungsform, jener in Gestalt eines bestimmten Phänomens, welches qualitativ verschieden ist von dem, das unser Dasein abgrenzt. Deshalb kann der klassische Philolog im heutigen Europa kein Vollmensch sein, ist dort klassische Bildung nicht unumgänglich zur vollendeten Ausbildung der Persönlichkeit und wenig nütze zur Meisterung des Lebens, so wertvoll ihr Besitz sonst sei. In China macht sie den Menschen vollendet und überdies zum praktischen Leben geschickt. Mit Recht wurden bis zur großen Revolution alle Staatsposten von Doktoren der Philologie besetzt, galt Bestehen der literarischen Staatsprüfungen als absoluter Befähigungsnachweis. Der Chinese, der den Geist seiner Klassiker innerlich aufgenommen hatte, war dem altchinesischen Leben in allen seinen Äußerungen im selben Sinn gewachsen, wie in Amerika der, welcher bei sonst noch so mittelmäßigen Kenntnissen vom Geist der Initiative durchaus besessen ist.

Aber freilich: dieser Geist ist ein erwachsener, fertiger Organismus; er kann sich fortpflanzen, betätigen – erneuern kann er sich nicht mehr; dem China, das nicht die Welt in sich beschließt, wird er nicht mehr zum Heile gereichen. Und dann ist er, bei allen seinen Vorzügen, allzusehr ein Geist der Philistrosität. Wenn der Philolog, der Schriftgelehrte, der Literat von einer Nation als Idealtypus verehrt werden kann, dann müssen die Eigenheiten dieser Menschenart irgendwie auch vom Wesen gelten. So ist es. Ich versenke mich in den Geist, der mich besitzt: ja, er ist unbeugsam, pedantisch, starr, altklug und schrullenhaft. Mein Bewußtsein ist das eines Schulmeisters, oder genauer, eines streberischen Musterschülers, welcher stolz auf sein Angeeignetes ist. Heute könnte ich nichts Leichtsinniges vornehmen, unmöglich mich verlieben, es sei denn in eine Musterschülerin; nimmer wagte ich's, einen Gedanken zu verfolgen, dessen Richtung nicht durch Autorität gewiesen wäre, der Sinn, unabhängig vom Wort, interessiert mich nicht. Und das schlimmste dabei ist, daß ich mir in dieser Gestalt sehr wohl gefalle, daß es mich gar nicht hinausdrängt aus den Schranken meines Philistertums. – Ja, ja, die Tiefe, die sich einmal ausgeprägt hat, ist eben damit zur Oberfläche geworden. Eine kurze Zeit über erscheint diese dadurch vertieft, bald aber findet eine intime Umwandlung statt, dank welcher sie wiederum verflacht; der Geist, der sich dem Buchstaben erst einbildete, löst sich nun auf in ihm. So ist die Bedeutung jedes Kulturwerts letzthin eine Frage der Zeit. Dem Chinesen, dem es ums Ewige zu tun ist, muß es drum näher als allen anderen Menschen liegen, alle Gestaltung überhaupt zu verleugnen.

 

Viele Stunden jedes Tages verbringe ich mit Ku Hung-Ming und dessen Freunden und Anhängern. Der Mann ist überaus geistreich und so feurigen Temperamentes, daß ich manches Mal an einen Romanen gemahnt werde. Heute setzte er des Langen und Breiten auseinander, wie unrecht die Europäer, und besonders die Sinologen täten, die chinesische Kulturentwickelung ganz für sich, ohne Vergleich mit der okzidentalischen, zu betrachten: denn tatsächlich seien beide nach einem identischen Schema abgelaufen. In beiden habe es ein gleichsinniges Altertum und Mittelalter gegeben, Renaissance und Aufklärung, Reformation und Gegenreformation, in beiden hätten Hebraismus und Hellenismus (um mit Matthew Arnold zu reden), Rationalismus und Mystizismus abwechselnd vorgeherrscht; ja, die Parallele ließe sich bis ins einzelne verfolgen: so hätte es z. B. auch in China einen Bayard gegeben. Ich kenne die chinesische Geschichte nicht genügend, um die Stichhaltigkeit der Vergleiche nachzuprüfen, und habe Ku Hung-Ming, gleich den meisten seiner Landsleute, im Verdacht, einem etwas zu billigen, an den süditalienischen gemahnenden Intellektualismus zu huldigen. Aber so viel ist allerdings wahr: alle historischen Zustände sind durch besondere Umstände bedingte Sondererscheinungen der einheitlichen Naturformen des Menschenlebens, und da die möglichen Konstellationen von Umständen um einige wenige Typen herumschwanken, deren Folge einer Regel unterworfen scheint, so kann es nicht fehlen, daß alle Völker von vergleichbarer Anlage auch durch vergleichbare Stadien hindurchgehen. Nun sind Westeuropäer und Chinesen durchaus vergleichbar; sie gehören in einer wesentlichen Hinsicht einem identischen Grundtypus an, dem des Ausdrucksmenschen, zu dem die Inder z. B. und die Russen nicht gehören. Also kann es nicht fehlen, daß sich in der Geschichte Parallelen nachweisen lassen. Immerhin stehe ich dem Wert solcher Vergleiche recht skeptisch gegenüber. Die Zeit mag einsinnig sein an sich selbst – sicher ist sie es nicht in bezug auf den Menschen; die Chinesen sind langatmig, wir kurzatmig, uns ist die Bewegtheit, jenen die Ruhe der Normalzustand: wie soll man da gegenständlich vergleichen? Wir brüsten uns unseres schnellen Fortschreitens: eben dank dem werden wir vielleicht auf immer Barbaren bleiben, da Vollendung nur innerhalb eines gegebenen Rahmens möglich ist und wir den unserigen fortwährend wechseln. Auch halte ich es noch nicht für ausgemacht, daß wir lange im gleichen Tempo fortschreiten werden: jede Lebensrichtung ist innerlich begrenzt, auch wir werden irgendeinmal am Ende sein, und wahrscheinlich früher als wir denken. Oft habe ich, zumal in Indien, das Urteil vernommen: da alle Kulturen, die wir nachweisen können, in relativer Höhe anheben – und das ist richtig –, so müßte als Grundlage derselben eine außerordentlich lange Zeitspanne langsamen Aufsteigens vorausgesetzt werden. Mit nichten. Jedem geistigen Einfall sind seine sämtlichen Konsequenzen nicht nur in der Theorie, sondern de facto eingebildet; sie drängen ins Aktuelle hinaus, verkörpern sich, wo der Stoff es nur irgend erlaubt, so daß, sobald der Geist überhaupt in Bewegung gerät, der Prozeß mit großer Geschwindigkeit abläuft. Daher kommt es, daß, wo das Bewußtsein schlummert, Äonen vergehen mögen, bis irgend etwas Neues geschieht, sei es im Urzustand oder, wie in China, auf einer bestimmten einmal erreichten Kulturhöhe; wo es aber einmal erwacht ist, die Entwickelung ungeheuer schnell verläuft. Wie lange hat es gewährt vom Erwachen des Griechengeistes bis zu seiner Vollendung? Hundert Jahre. Wie lange von der Entdeckung des Gleitflugprinzips bis zu seiner vollendeten praktischen Anwendung? Keine zehn. Im gleichen Sinn mag es wohl sein, daß auch wir demnächst am Ende sein werden, Halt machend auf einer Entwickelungsstufe, die derjenigen Chinas nicht entfernt so weit voran sein wird, als wir erwarten. Denn im modernen Sinne fortschrittliche Menschen sind ja auch wir erst seit einem Jahrhundert.

Ku Hung-Ming läßt übrigens keine Gelegenheit verstreichen, wo er Laotse eins am Zeuge flicken kann. Seine Grundthese ist die, daß Konfuzius deshalb der sehr viel Größere sei, weil er den Sinn ebenso tief verstanden habe wie jener, sich aber nicht zurückgezogen habe aus der Welt, sondern in ihrer Meisterung seine Tiefe zum Ausdruck gebracht hätte. Wenn Konfuzius das wirklich gewesen wäre und geleistet hätte, was Ku von ihm behauptet, dann wäre er freilich der ungleich Größere. Allein das war er nicht. Es scheint den Naturnormen zu widersprechen, daß ein gleicher Mensch ganz in der Tiefe lebte und sich als mächtiger Gestalter der Oberfläche erwiese; zu jeder dieser Aufgaben bedarf es einer besonderen physiologischen Organisation, und ich wüßte von keinem beglaubigten Fall, wo ein Mensch beide in gleichem Maße besessen hätte. Kung Fu Tse und Lao Tse stellen die entgegengesetzten Pole möglicher Vollendung dar; jener die Vollendung in der Erscheinung, dieser die Vollendung im Sinn; jener diejenige im Gestalteten, dieser die im Ungestalteten; daher sind sie mit einem Maße nicht zu messen. Aber freilich muß Konfuzius den Chinesen größer erscheinen, weil sie als Nation extreme Praktiker sind und insofern zum Tiefen als solchen kein unmittelbares Verhältnis haben. Je mehr ich von den Chinesen sehe, desto mehr fällt mir auf, wie uninteressant ihre Gedanken sind. Das Denken ist eben nicht ihr Eigentliches: ihr Dasein ist der Ausdruck ihrer Tiefe. So ist auch Ku Hung-Ming als Mensch viel bedeutender denn als Schriftsteller und Denker.

 

Es ist doch wahr: der durchschnittliche Taoist steht tief unter dem durchschnittlichen Konfuzianer. Der Chinese, wie er sich heute darstellt, ist eben wesentlich (fast möchte ich sagen: physiologisch) Konfuzianer; verleugnet er den Geist, des Kind er ist, so übt er damit Untreue gegen sich selbst. Dies zeigt sich schon rein äußerlich an der Brüchigkeit der volkstümlichen taoistischen Theorie, selbst wo sie von allen magischen und fetischistischen Beimengungen frei erscheint. Heute setzte mir ein angesehener Priester auseinander: das Tao sei zwar das Ungestaltete, aber immerhin sei der Sinn der Welt ihre prästabilierte Harmonie; so daß Versenkung nicht eigentlich zur Vereinigung mit dem schöpferischen Urgrund führt, sondern zum Unisono mit der objektiven Weltordnung. Auch dieser taoistische Priester war, ohne es zu wissen, Konfuzianer. Hat man sich einmal mit seinem tiefsten Selbst identifiziert, dann weiß man von keiner gegebenen Ordnung mehr; vom Atman her stellt sich das vermeintlich abgeschlossene Dasein als schöpferische Entwicklung dar, und das Schöpferische liegt jenseits aller Normen; für jeden Brahmanen verstünde sich dies von selbst. Dem Taoisten aber bleibt, trotz des Tiefsinns der taoistischen Lehre, die konfuzianische »Harmonie« seine Grundidee. Er weiß nur Objektiviertes zu fassen; als reines Subjekt erleben kann er nicht.

Nun scheint mir die spezifische Form des Taoismus überhaupt wenig geschickt, einen höheren Menschentypus zu gestalten; sie ist zu weit, zu vieldeutig dazu; insofern hat es nicht viel zu sagen, daß der taoistische Mönch unter dem buddhistischen sowohl als dem christlichen steht. Aber daß alle Chinesen, mit denen ich zu verkehren Gelegenheit habe, die Taoisten mit inbegriffen, der wundersamen Lehre Laotses so gar kein tieferes Verständnis entgegenbringen, läßt immerhin auf eine typische Schwäche des Subjektiven bei ihnen schließen; ihnen fehlt es an metaphysischem Bewußtsein. Das befremdet mich nicht. Bei allen Völkern, deren typisches Streben auf Konkretion ging, war, in geringerem oder höherem Grade, Gleiches der Fall; bei den Hellenen z. B. und den Franzosen. Wessen Grundinstinkt die Tendenz zum Ausdruck ist, der wird sein Sein wie kein anderer objektivieren, wird je nach seinen besonderen Anlagen der größte Künstler, der edelste Mensch, das vollkommenste politische Wesen sein, aber verstehen wird er sich nicht tief; sobald er nachdenkt, gerät er außer sich und nimmt nur das Äußere wahr. So kommt es, daß die Denker der Völker, welche die größten Künstler hervorbringen, in der Regel Rationalisten sind. Bei den Griechen trat dieses Verhältnis nicht eindeutig zutage, wegen des Dionysischen in ihnen, das gerade im Fall ihrer Philosophen dem Apollinischen vielfach die Wage hielt; bei den Chinesen äußert es sich in extremer Form, weil eben die Chinesen extreme Ausdrucksmenschen sind. Es gibt wohl keine innerlichere, tiefsinnigere Kunst als die von China, aber nirgends wirkt das Denken trockener. Wie unerträglich langweilig und dürr sind die Reden des Mencius! Unwillkürlich zaubern sie einem das Bild des pedantischesten aller Schulmeister vor Augen. In Wahrheit aber war Mencius gewiß ein gar feingebildeter Herr, von vollendeter moralischer Kultur, von nuanciertestem Formensinn, bei dem alles Äußerliche von innen her beseelt erschien. Nur war ihm das Denken kein entsprechendes Ausdrucksmittel; denkend konnte er sein Selbst nicht zur Darstellung bringen.

Das Philosophieren ist den Chinesen gewissermaßen unnatürlich, obschon sie von allen Menschen der Welt das philosophischeste Leben führen; ihre Weisheit äußert sich in dem, was sie lebend darstellen, nicht in den Gedanken, die sie sich über das Dargestellte machen. Trotzdem haben sie einige der tiefsten Denker hervorgebracht, von denen wir wissen. Was mögen das für Menschen gewesen sein? Ich denke mir, sie hatten viel vom Narren und Charlatan; es müssen typische, ja extreme Beispiele des Zusammenbestehens von großer Weisheit und großer Unzulänglichkeit gewesen sein. Wenn der Weise im Tao-Teh-King ausruft ( Vom Sinn 20, »Abseits von der Menge«, nach Wilhelms Übersetzung): »ich bin unschlüssig, ohne Zeichen für mein Handeln, wie ein Kindlein, das noch nicht lachen kann; ich habe das Herz eines Toren. Ich bin unruhig, wie das Meer, bin müßig wie ein Taugenichts« – so ist das, glaube ich, nicht nur ironisch zu verstehen; er wird, mit jenem seltsamen Mangel an Eitelkeit, der Chinesen so häufig auszeichnet, ein getreues Bild seiner selbst entworfen haben. Jedenfalls gibt es zu denken, daß das chinesische Volk, dessen Sinn für menschliche Größe an Sicherheit unerreicht dasteht, die taoistischen Weisen mehr als Zauberer denn als »Edele« und »Vollendete« fortverehrt.

Dennoch könnte es taoistische Heilige gegeben haben, die als die größten aller gelten dürften. Im Taoismus liegt eine Überlegenheit vorgebildet, wie weder im Buddhismus, noch im Christentum, noch auch im Brahmanismus: er bezeichnet nämlich das einzige Yoga-System, das Vollendung und Seligkeit nicht in Gleichung gesetzt hätte. Wie sehr hat es den indischen und christlichen Yogis zum Verhängnis gereicht, daß sie ein Zusammenfallen des höchsten Zustandes mit dem glückseligsten fordern! Diese Erwartung vereitelte ihr Bestreben, von sich selbst wirklich frei zu werden. Glückseligkeit kann nur in Funktion des Egoismus definiert werden; sie ist kein möglicher Zustand dessen, der sein Ich überwunden hat. Das haben die Taoisten allein erkannt. Hat es je einen gegeben, der diese Erkenntnis in Leben umzusetzen wußte, so dürfte dies wohl der überlegenste aller Heiligen gewesen sein.

 

Wie die Natur aller Schemen spottet! Ich bildete mir ein, die Möglichkeiten des Literaten im Geist erschöpft zu haben, und nun begegnet mir ein Mann, dessen bloßes Dasein meine Verallgemeinerungen Lügen straft: ein Literat mit glühender Seele, von sublimiertester Spiritualität! In China, wie überall, sind viele Schwarmgeister heute damit beschäftigt, eine neue Weltreligion ins Leben zu rufen, und hier, wie überall, sind diese Propheten meist uninteressant. Es sind Gelehrtennaturen, welche die (vermeintliche) Erkenntnis des einheitlichen Sinnes, der allen höheren Religionen zugrunde liegt, berauscht hat, und die daraufhin, anstatt harmlose Lehrbücher der vergleichenden Religionskunde zu schreiben, als Weltverbesserer auftreten. Der Mann nun, mit dem ich diesen Nachmittag verbrachte, ist von echter Religiosität beseelt; er erinnert in vielem an Calvin, nur – was in China allein wohl möglich scheint – durch manchen franziskanischen Zug besänftigt. Er sieht das Grundgebrechen Chinas in eben dem, was jedem nachdenklichen Besucher als erstes auffällt: daß der Sinn in der Form erstorben ist, und lebt nur für das eine, neuen Geist dem Buchstaben einzuflößen. Der Geist, den er meint, ist dem johanneisch-christlichen nahe verwandt. Aber selbstverständlich sieht er im Konfuzianismus die Form, in der sich der Sinn am besten verwirklichen läßt. Er ist eben Chinese und ein gebildeter dazu, und er wäre es nicht, wofern er anders dächte. Ihm ist das Lose des Taoismus, das allzu Weiche des Buddhismus nicht kongenial. Was aber das Christentum betrifft, so seien, meinte er, dessen freilich unantastbare Wahrheiten in einer dem Chinesen fremden Sprache ausgedrückt. Übersetze er sie nun in die seinige, so ergäbe sich nichts anderes als – der Konfuzianismus, vielleicht nicht der traditionelle, aber der, welchen er meint; weswegen von einer Einführung des Christentums füglich abgesehen werden könne.

Während ich ihm zuhörte und das Mienenspiel seines wunderbar durchgeistigten Antlitzes verfolgte, dessen Sprache ich unmittelbar verstehen konnte, mußte ich voll Beschämung der Missionare gedenken, welche solche »Heiden« zu »bekehren« wagen. Wenn sie doch erst lernen wollten, bevor sie lehren! Gewiß: ganz recht hatte mein Unterredner nicht; das Äußerste des Christentums geht im Konfuzianismus nicht auf. Aber dieses Äußerste werden die Chinesen wohl nie begreifen, ebensowenig wie die Europäer jemals in das Innerste der Inderreligion eindringen werden; hier liegen biologisch-historische Schranken vor. Allein, diese Schranken beengen ja nicht das religiöse Erleben, sie schränken nur das geistige Gesichtsfeld ein. So kann ein orthodoxer Konfuzianer Gott gerade so nahe sein und dem Göttlichen in ihm genau so wahrhaftigen Ausdruck verleihen, wie der erleuchtetste unter den Indern; er kann es gerade, sofern er im Rahmen seiner Natur verbleibt.

Wie schön ist ein guter Chinesenkopf! Hier sieht man Äußerstes an Ausdruckswert erreicht – und mit wieviel einfacheren Mitteln als bei unsereinem! Der Europäer muß schon bedeutend aussehen (z. B. kantige Züge, wirre Haare, einen verbeulten Schädel besitzen), wenn er bildnerisch wirksam sein soll; die Chinesen sind über das Bedeutendaussehen hinaus. Hier ist in einfachen Kurven, in gelassenen, ungespannten Zügen eine höchste Bewegtheit verdichtet. Ein guter Chinesenkopf wirkt, so seltsam dies klinge, neben einem gleich guten europäischen als der klassischere.

 

Überhaupt fehlt es hier, was immer von der Irreligiosität der Chinesen behauptet wird, nicht an Männern und an Vereinen, die ihre Kraft in den Dienst einer religiösen Erneuerung Chinas gestellt haben. Dennoch kann ich jetzt vollkommen verstehen, daß die Missionare die Chinesen als irreligiös beurteilen: denn kirchlich-religiös ist keiner, selbst unter den eifrigsten Reformern nicht; keiner scheint einer neuen Konfession zum Siege verhelfen zu wollen. Wahrscheinlich ist solches Militieren dem Chinesentemperamente zuwider: so intransigent-konservativ der Konfuzianismus gesinnt sei – praktisch hat er den Buddhismus auf die Weise bekämpft und schließlich überwunden, daß er die fremde Lehre in sich hineinbezog, daß er behauptete, sie sei ein Ausdruck eben seiner, der konfuzianischen Weltauffassung. Wohl sind von Zeit zu Zeit Verfolger und Eiferer aufgetreten, und man hat sie gewähren lassen, wie alles in diesem Reich, bis daß sie von selber aufhörten; aber der durchschnittliche gebildete Chinese ist nicht weniger tolerant als der Inder. Immer muß ich an ein Gespräch zurückdenken, das ich mit einem ungewöhnlich eifrigen, polternden alten Konfuziuspriester hatte: freilich, sagte er, sei der Konfuzianismus der absolut vollkommene Ausdruck für die Wahrheit; aber die Wahrheit an sich, dem inneren Sinn nach, besäßen wir Christen selbstverständlich auch; darüber sei kein Wort zu verlieren. Man halte solche Gesinnung der eines lutherischen Pastors gegenüber, der mit einem Katholiken zu verhandeln hätte!

Die neuen religiösen Stimmungen in China scheinen mir nun ganz wesentlich durch ihr Akonfessionelles, durch ihre Unkirchlichkeit ausgezeichnet. Das ist die natürliche Folge jener typisch-chinesischen Auffassung, auf die ich schon in Kanton hinwies, daß die Kirche als »Anstalt« betrachtet wird, als eine praktische, äußerliche Institution, die mit der religiösen Gesinnung nichts innerlich zu schaffen hat. Wie protestantisch ist auch dieser Zug! Dem Protestantismus war die Kirche immer eine »Anstalt«, von Gott eingesetzt, um die Welt in Ordnung zu erhalten; so konnte es nicht fehlen, daß jede Neubildung im Zeichen der Innerlichkeit die Tendenz zur Loslösung von der Kirche in sich trug, was innerhalb des Katholizismus, dem der Kult ein Innerliches bedeutet, nie der Fall war. Was im Schoß des christlichen Protestantismus wohl mehr und mehr geschieht, aber nur selten offen eingestanden wird, ist der selbstverständliche Weg des chinesischen. Hier sieht man, wie nüchterne Überlegung unter Umständen zum gleichen Ziel führen kann wie schöpferische Intuition. Unzweifelhaft ist das religiöse Gefühl beim Chinesenvolke schwach entwickelt; dennoch hat dieses von allen vielleicht am klarsten erfaßt, was für die Religion nicht wesentlich ist. Im Prinzip hat die Kirche mit der Religion tatsächlich gar nichts zu schaffen; die Verknüpfung dieser zwei Dinge ist (im begrifflichen Verstande) ein Sekundäres; Gottesdienst ist unter allen Umständen Magie. Nun ist Magie eine überaus wichtige Naturwissenschaft und in der Ausübung ein edles Kunstgewerbe, aber sie hat keine religiöse Bedeutung. Religiös sein heißt, nach höchster Selbstverwirklichung streben; mit dem göttlichen Licht alle Erscheinung durchleuchten wollen. Solches Streben kann durch Magie gefördert werden, aber diese an sich bleibt ein rein Technisches. Wo nun die Grundanlage eine nüchterne ist, wie beim Chinesen und beim Nordeuropäer, wo überdies das Selbständigkeitsgefühl so hoch entwickelt ist, daß der Mensch nicht mehr Hilfe annehmen will, als er schlechterdings nicht entraten kann, dort führt die Entwickelung mit Unvermeidlichkeit immer weiter fort von der Magie; mithin von Kirche, Kult und Konfession.

 

Weshalb erreicht der konfuzianische Mensch so oft einen so hohen Grad der Vollendung? diese Frage drängt sich mir mehr und mehr auf, mit je mehr gebildeten Chinesen ich zusammenkomme. Einen wahrhaft großen Mann, einen »Edelen« nach dem Sinn des Konfuzius, habe ich bisher wohl nicht kennen gelernt; von keinem meiner Bekannten kann ich behaupten, er hätte mir als Natur imponiert. Aber befremdlich viele unter den Herren stehen doch auf einer menschlichen Höhe, wie ich solcher in anderen Breiten nur ausnahmsweise begegnet bin. – Das muß wohl am Konfuzianismus liegen. Ich will diese düstere Dämmerstunde eines Tages, an welchem plündernde Soldaten ein Ausfahren nicht ratsam erscheinen lassen, mit der Durchdringung dieses Problems verbringen.

Der chinesische Idealmensch wird definiert durch das Kulturideal seiner Nation: das Ideal der Konkretisierung; der innerste Sinn soll in der Erscheinung erschöpfend zutage treten. Nun hat jeder einzelne am Tao teil und bezeichnet als besonderes Phänomen ein Glied der universalen Harmonie: also kann er sich selbst nur dann verwirklichen, wenn er im Einklang mit der Weltordnung handelt, und das will weiter sagen: indem er sein Leben strikt nach objektiven Normen regelt. Darf ich nun weiter voraussetzen, daß das Befolgen der Normen, die ich anerkenne, tatsächlich das höchste Maß von Selbstverwirklichung bedingt, dann kann nicht ausbleiben, daß ich, indem ich ihnen gemäß handele, vollendet werde, wer immer ich als Individuum sei. Hiermit wäre mein Problem wohl gelöst: der konfuzianische Mensch steht so häufig auf einer ungewöhnlich hohen Kulturstufe, weil sein höchstes Ideal ein Ideal der Norm ist, so daß jeder Normalmensch prinzipiell als berufen gilt, es zu verwirklichen; und weil ferner die gegebene Fassung des Ideals dem Chinesen unmittelbar den Weg zu seiner Verwirklichung weist.

Alle Völker und Religionen haben Ideale aufgestellt, welche allen vorbildlich sein sollen. Jeder von uns sollte Christus gleichkommen, jeder Inder wie Krishna oder Buddha sein. Aber jeder kann nicht zum Heiligen werden, er strebe noch so inbrünstig darnach, weil es hierzu einer besonderen Begabung bedarf, die er nicht hat, daher speziell die Christen es für ausgeschlossen halten, daß sie ihr höchstes Vorbild je erreichen könnten. So bleibt es praktisch in der Regel unwirksam. Wirkt es aber, so tut dies den meisten nicht gut: keinem tut es gut, sein zu wollen, was seiner Natur nicht gemäß ist. Der katholische Priester ist in der Idee dem protestantischen unstreitig überlegen; der Geistliche sollte so weit sein, daß er versuchungslos im Zölibat leben kann, sein Geschlechtstrieb sollte restlos umgesetzt sein, aller natürlichen Bindungen sollte er entraten, rein für andere leben können. Aber in der Mehrzahl der Fälle kann er es nicht, um so seltener, als die religiöse Anlage ausnahmslos mit einer starken Sinnlichkeit zu paar geht, weswegen es gut war, daß mit der Reformation ein anderer, billigerer Priestertypus die offizielle Sanktion erhielt. Der konkrete Wert eines Ideals hängt schlechterdings davon ab, wie es sich zu den gegebenen Möglichkeiten verhält; nur solche, die zur Natur in günstigem Verhältnis stehen, die erreichbar sind im Prinzip – nur solche fördern. Letzteres nun trifft für die Chinesen in wundersamem Maße zu. Ihr Ideal setzt keine außerordentliche, sondern eine durchschnittliche Natur voraus, wie sie jeder sich zutrauen darf, realisiert sich in der vollendeten Ausbildung einer durchschnittlichen Anlage. So schreckt es a priori keinen ab, ist keinem von Natur aus unerreichbar, verhilft vielmehr jedem, der ihm ernstlich nachstrebt, zur Verwirklichung dessen, was er ist. Es ist höchst merkwürdig, wie Konfuzius alles Abnorme einfach von sich weist. Er sagt: »Das Unerkennbare erkennen, Außerordentliches leisten; überhaupt Taten vollbringen, die den kommenden Jahrhunderten Bewunderung einflößten: das ist etwas, was ich nie versuchen würde.« Und anderweitig: »der Weg des Tao liegt nicht außerhalb oder abseits vom normalen Menschenleben.« Ausdrücklich rät er ab von einer Überschätzung des Ideals. Im Tschong Young sagt er: »jetzt weiß ich, weshalb wahrhaft moralisches Leben ein so seltenes ist; die Weisen halten das moralische Ideal für etwas Höheres als es tatsächlich ist, und die Toren wissen es nicht zu würdigen; die Edelen streben zu Hohes an, wollen hoch über ihr normales Selbst hinausleben, und die Unedlen sind nicht strebsam genug.« Konfuzius scheint ängstlich darum besorgt, daß das Ideal überschätzt werden könnte. Nicht der Himmelsstürmer sei der Idealmensch, sondern der, welcher das nächstliegende tut, der Bescheidene, der nur vorstellen will, wozu er berufen ist; nicht das Genie sei der höchste Mensch, sondern wer in seiner beliebig beanlagten, aber bis zum äußersten durchgebildeten Person die Norm vollkommen zum Ausdruck bringt, denn das Einzeldasein sei Spiegel der universalen Harmonie. Desto größeren Nachdruck legte er auf den Ausdruck. Ein Weiser, der innerlich hoch stehe, dürfe doch nicht als vollendet gelten: er müsse sich mit Würde geben; der Weise, welcher sich mit Würde gäbe, dürfe auch noch nicht als vollendet gelten: die Würde müsse zur Anmut sublimiert sein. Die Tiefe könne erst als Tiefe gelten, wenn sie die ganze Oberfläche durchleuchtet. – Wie soll einer, dem die Lehre Kung Fu-Tses Gottes Wort ist, dessen Erziehung so angelegt ward, daß dieses Wort ihm sein eigenstes Lebensprinzip bedeutet, nicht den Weg zur Vollendung betreten? Wie soll er, sintemalen dieses Wort tatsächlich die Essenz aller praktischen Lebensweisheit einschließt, der Vollendung nicht häufig nahe kommen? Jeder Normalmensch muß als Konfuzianer weiter gelangen, denn als Brahmane oder als Christ; nur die Unnormalen bleiben ungefördert. Der Unternormale bleibt tiefer unter der Norm zurück, als er unter christlichen Voraussetzungen bliebe, weil diese ihm mehr Hoffnung geben; die Entwicklung des Übernormalen wird gehemmt; und der Abnorme findet gar kein Verständnis. So sind unter Chinesen die Originale seltener als anderswo, die ungebildete Masse ist stumpfer, die gescheiterten Existenzen sind preisgegeben. Aber die Norm erreicht häufiger einen höheren Grad der Vollendung, als irgendwo in der ganzen Welt.

Ist die konfuzianische Alternative in einer Welt, die nun einmal nicht rund ist, nicht die bestmögliche, einmal gesetzt, daß es ein allgemeingültiges Ideal geben kann? – Vollendung ist das Äußerste, was Sterblichen anzustreben gewährt ist, also muß auf sie aller Nachdruck gelegt werden. Das ist auch das Humanste, was sich tun läßt, denn Vollendung ist jedem prinzipiell erreichbar, ferner das Weiseste insofern, als unter Voraussetzungen, die solche Entwickelung begünstigen, Menschen groß werden können, die es unter keinen anderen würden; man gedenke der Größe und Tiefe, welche unbedeutende Frauen manchmal auszeichnet, jener naiven unschuldigen Größe, vor der sich der weiseste Mann so gerne beugt. Und hier nun komme ich auf das letzte Moment, das entscheidend für den Konfuzianismus spricht: dieser schafft die potenziertesten Menschen. Fast immer ist das Wachstum der weiblichen Seele den äußeren Hemmungen des Familienlebens zu danken gewesen: im gleichen Sinn verdanken die Konfuzianer ihr hohes Menschheitsniveau ihrem ungeheuerlich starren System. Nie wären die Herren, die ich meine, in westlichen Breiten geboren und auferzogen, zu einer annähernd gleichen Durchbildung gelangt; diese danken sie ihrer statischen Weltanschauung. Nach chinesischen Begriffen steht das Weltall still; es ist vollkommen an sich, nicht zu vervollkommnen; so scheint im letzten nichts zu wollen möglich. Nun drängt aber das Leben unaufhaltsam aufwärts, bleibt ein progressiv-dynamisches Prinzip, auch wo es statisch gedeutet wird; so findet trotz allem ein Fortschreiten statt. Nur verläuft es nicht nach außen, sondern nach innen zu. Es kumuliert sich die psychische Energie, die in der Initiative keine Auslösung findet, weshalb durchschnittliche gebildete Chinesen durch eine innere Gespanntheit ausgezeichnet sind, wie im Westen nur hie und da ein Ausnahmemensch.

Die Chinesen danken ihre Überlegenheit ohne Zweifel dem konfuzianischen »Ideal der Norm«. Ein ersprießlicheres allgemeines Ideal läßt sich nicht denken. Auch dem Westen beginnt dies neuerdings einzuleuchten: mehr und mehr wird von der öffentlichen Meinung das Normale dem Abnormen vorgezogen, das asketische oder Heroenideal durch das der Naturgemäßheit ersetzt, die Vollendung über den Zustand gestellt. Die Kanonisierung, die Goethe fortschreitend in deutschen Landen erfährt, beruht zum großen Teil auf eben dem Umstande: von allen großen Männern, die wir haben, ist er am meisten Normalmensch gewesen, schließt er am wenigstens Existenzen aus. Wird der Konfuzianismus einmal zu uns gelangen? Unmöglich ist es nicht. Er ist die Weltanschauung der Norm, und tief und wesentlich verstanden, dem Geiste und nicht dem Buchstaben nach aufgefaßt, zweifelsohne die beste Weltanschauung für alle Massen. Über eines darf man sich aber keinen Illusionen hingeben: die Weltanschauung der Norm zieht nicht hinan, begünstigt keinen hohen Idealismus, steigert nicht. Alles, was den höchsten Stolz des Westens ausmacht, verdankt er dem, daß er Unmögliches begehrt hat; der Konfuzianer will immer nur das Mögliche. Hier muß man sich eben für eine von zwei Alternativen entscheiden: entweder man will den Übermenschen – dann nimmt man keine Rücksicht auf die Masse; so war es bis vor kurzem im Okzident; alle äußersten Ideale, die christlichen inbegriffen, waren auf eine auserwählte Minderheit zugeschnitten. Oder man will die Masse, wie sie ist, der Vollendung zuführen – dann sieht man von den höheren Typen ab. Es ist kaum zu bezweifeln, daß unsere demokratische Welt früh oder spät die letztere Alternative, deren Ideal der vollendete Normalmensch ist, ergreifen wird, falls sie sich überhaupt ein Vorbild konstruiert. Und das wird sie tun. Weniger als je ist sich die Menschheit heute dessen bewußt, daß die Ideale gar nicht Vorbilder sein sollen, die jeder einzelne nachzuahmen hätte, sondern Verkörperungen der Grundtöne des Lebens, auf die hin jeder seine persönliche Note abstimmen soll; weniger denn je scheint sie heute reif dazu, das Postulat der Uniformität zu verleugnen und sich jenem höchsten Zustande zu nähern, wo jeder Ton nur als er selbst erklingen will, im harmonischen Verhältnis zu den Grundtönen, die ihrerseits mächtig und rein ertönten; ferner denn je ist das moderne Leben dem Ideal einer Symphonie ... – Immerhin wäre es selbst dann, wenn das Ideal der Norm zum absoluten proklamiert würde, ein Fehler, den Konfuzianismus, so wie er ist, nach Europa einzuführen: um in Konfuzius die Norm idealisiert zu sehen, muß man Chinese sein. Nur Individuen von geringer Individualisiertheit können so viele Bestimmungen als allgemeingültig anerkennen, nur Geister von geringem Schwung der Phantasie durch ein so nüchternes Vorbild begeistert werden, nur Wesen von großer Ausdrucks-, aber geringer Begriffsanlage an einem so dürftigen System Befriedigung finden. So seltsam dies lauten mag: je mehr Menschen, abstrakt verstanden, ein Ideal der Vollendung zuzuführen geschickt ist, desto weniger allgemeinvorbildlich erscheint der jeweilige konkrete Ausdruck. Christus und Buddha verkörpern wahre Menschheitsideale, so wenig ihnen die allermeisten unmittelbar nacheifern dürfen; Konfuzius kann nur Chinesen ein Vorbild sein; unsere Begeisterung weckt er nicht. Dies spricht nicht gegen ihn, sondern beweist nur einmal mehr die Ausschließlichkeit alles Konkreten. Engländer verstehen unseren Goethe-Kultus schwer; es befremdet sie, daß ein ausgesprochener Pedant, ein umständlicher, schwerfälliger Kleinstädter einem Volk das menschlich Höchste bedeuten kann; und wirklich war Goethe unter anderem auch das, was jene an ihm auszusetzen finden. Aber in eben dem Sinn erscheint uns ungeheuerlich, daß England seinen Abgott an – Dr. Johnson fand; einem unoriginellen, dickköpfigen Durchschnittsbriten, der mehr Vorurteile hatte, als irgendein Angelsachse nach ihm, dem Begründer jenes Voreingenommenheitskultus, der seither wie nichts anderes zur Charakteristik des englischen Mittelstandes gehört, dem roi des cuistres, wie Sainte-Beuve ihn treffend benannte, dem Manne, der wohl von allen, deren Erinnerung die Menschheit aufbewahrt, mit der größten, tiefsten Überzeugung am meisten Gemeinplätze ausgesprochen hat. – Das ist das Schicksal jedes konkretisierten Ideals der Norm.

 

Die letzten Tage, die ich für Peking übrig habe, verbringe ich auf Ausflügen in die Umgebung. Wie großzügig ist diese Natur! wie mächtig erweitert sie das Selbstbewußtsein! Die rhythmische Einförmigkeit der Landschaft gibt ihr den Anschein unbegrenzter Ausdehnung; die klare, trockene Luft macht alle Entfernung illusorisch; mir ist, als reichte mein Blick bis an die Grenzen der Welt. Wäre ich zu Peking als Erbe des Drachenthrons geboren – mir erschiene es wohl selbstverständlich, daß ich der Gebieter des Erdballs bin; zumal es der Beweise nicht bedürfte. Aus der Geschichte des Altertums erhellt, daß das bloße Dasein des Kaisers genügt, um die Welt in Ordnung zu erhalten. Von der Wiege auf würde mir Schun als Vorbild vor Augen gehalten werden. Dieser heilige Mann hat nur dagesessen, sein Antlitz gen Süden gewandt; und es herrschte vollkommene Harmonie. Die Jahreszeiten hielten ihre Fristen ein, alle Söhne dienten ihren Vätern, alle Gatten liebten einander, alle Beamten waren redlich und treu. Mir würde immer wieder versichert: wenn ich nur meine Person zur Vollendung brächte, dann würde der Kosmos sich von selber richten. Und wenn ich mir klar machte, was das sagen will, welch' ungeheure Bedeutung mir innewohnt, und dann hinausblickte in die weite Natur ringsum, dann dächte ich freilich: ich bin groß!

Allein ich dächte es ohne Hybris, in aller Bescheidenheit; ich dächte es vielleicht in aller Demut. Ich hätte das gleiche Gefühl, das den Bergbesteiger überkommt, wenn er endlich vom Gipfel seiner Sehnsucht um sich blickt: des Großseins, ja, aber inmitten eines so ungeheuer viel Größeren, daß er tatsächlich vielmehr im Bewußtsein seines Kleinseins schwelgt. Ich, der Kaiser, bin ja nur ein Rad im unendlichen Weltmechanismus; das größte, das Schwungrad vielleicht, aber doch nur ein Glied im Betriebe. Und in Demut gedächte ich daraufhin der Unbeschränktheit meiner Gewalt. Weswegen heißt man mich unbeschränkt, wo ich doch für die ganze Schöpfung verantworte, wo eine geringfügige Nachlässigkeit meinerseits unsägliches Unheil zur Folge hätte? Man heißt mich unbeschränkt, weil Keiner über mir steht. Irgendwo muß die letzte Instanz doch erreicht sein. Alle moralische Wirksamkeit fußt auf Autorität, wo diese nicht unbedingt ist, dort fehlt sie ganz. Die Barbaren, die Christen, so vernehme ich, schieben jene unbedingte Autorität auf einen Gott ab, den niemand jemals gesehen hat. Das muß die Erfindung eines schlauen, aber ungerechten Kaisers gewesen sein, der es sich leicht machen wollte; oder bei dem der moralische Sinn nicht genügend ausgebildet war. Ich würde mich schämen, die äußerste Verantwortung nicht zu tragen.

– Ich fahre hinaus aus der Psyche des Himmelssohns und hinein in einen der vielen, die als Neugierige, vom Fernen Westen daherkommend, die Kaiserstadt des Fernen Ostens heimsuchen. Welch' überraschende Entdeckung! Von einem ganz Großen bin ich in einen ganz Kleinen hineingewandert und finde, daß dessen Selbsteinschätzung um ein Vielfaches größer ist. Er erkennt nichts über sich an; er hält sich für den höchstdenkbaren Menschen, den berufenen Weltbeherrscher. Überdies aber für unverantwortlich; er steht außerhalb des Naturzusammenhangs. – Welcher Autokrat ist der ehrwürdigere, der Kaiser, der bewußt die Verantwortung für den Weltprozeß trägt, oder der freie Amerikaner, der sich des rühmt, die Welt zerschmeißen zu können?

 


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