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Im Mariposa-Hain

Hier stehen die gewaltigsten Bäume der Welt. Gegen sechshundert Exemplare der Sequoia gigantea, zwei- bis dreihundert Fuß hoch, fünf bis zehn Meter stark, bilden zusammen einen heiligen Hain, wie ihn ehrfurchtgebietender keine Romantik erdichten könnte. Es ist düster drinnen und kühl, trotz der Augustsonne, die im Mittag steht, ihre Strahlen finden den Weg durch die buschigen Kronen kaum hindurch; wie in ewiger Abendbeleuchtung glänzt das Rot der Stämme durch die Dämmerung. Die Giganten stehen da, aufrecht und frisch, als wären seit dem Tage ihres Aufkommens nicht Jahrtausende dahingestrichen. Nicht einsam, denn unter ihnen drängt sich das junge Volk; nicht abgestorben der Gegenwart, denn Jahr für Jahr fällt ihre Saat zur fernen Erde hernieder; nicht alt, denn ihnen droht kein natürlicher Tod.

Mich überquillt eine Welle tiefsten Glücksgefühls. Die Erde ist doch noch nicht altersschwach! Noch vermag sie Gewaltiges zu erhalten, Gewaltiges zu schaffen! Zum ersten Male schaue ich ohne Wehmut zu Großem auf. Nie habe ich in paläontologischen Sammlungen ohne Bitternis die Reste vorsintflutlicher Herrlichkeit betrachtet, nie ohne Schmerz der Riesen gedacht, die unsere Zeit noch hie und da, aus Atavismus oder Zufall, hervorbringt: denn nur zu sicher dünkte es mir, daß die Schöpferkraft unseres Planeten abstirbt, daß bald nur mehr Zwerge und Kümmerer auf ihm werden dauern können. Nun sehe ich, daß der jüngste der Erdteile noch die Urkraft der Urzeit besitzt. Dankbar begrüße ich ihn als den Hort unserer Zukunft.

Keine Menschheit war je so sehr von physischen Verhältnissen abhängig, wie die weiße von heute; das ist, weil diese sich ein Problem gestellt hat, wie keine vor ihr: sie will sich ad indefinitum fortverändern. Anstatt sich an vorgegebenen Zuständen Grenzen zu setzen, strebt sie über alle hinaus, so daß keine erfolgte Anpassung ihr ein Endgültiges bedeutet. Nun ist aber nur der jugendliche Körper veränderungs- und anpassungsfähig, und auch er nur bis zu einem gewissen Punkt; deshalb kristallisieren alle Erwachsenen irgend einmal aus, haben alle Kulturvölker ihre Entwickelung an irgendeinem Punkte eingestellt, ferneres Neuwerden frischerem Blute überlassend. Für uns ist ideell keine solche Grenze abzusehen; der besondere, flüssige Charakter unserer Zivilisation läßt jedes feste Ziel, jeden Stillstand undenkbar erscheinen, verlangt Neueinstellung schier jeden Augenblick, mutet jedermann zu, solange er mittun will, veränderlich zu bleiben – dies aber bedeutet: vollkommen jung zu bleiben sein Leben lang. So ist unser Problem in erster Linie ein physisches. Das ahnen viele: wie nie vorher wird heute das Körperliche idealisiert. Schon werden Evangelien gepredigt, in welchen Gesundheit eben die zentrale Stellung einnimmt, wie die Liebe im christlichen. Aber was diese Apostel meist vergessen, ist, daß der Mensch als physisches Wesen tief verwoben ist in den Zusammenhang der Natur und ohne sie wenig vermag. Schon Verjüngung gelingt selten anders als durch Verpflanzung in jüngeren Boden: ewige Jugend wäre nur denkbar in einer Welt, welche selbst ewig jung bliebe. Um Körper zu gewinnen, wie wir sie heute brauchen, von grenzenloser Spannkraft, von nie versagender Plastizität, bedürfte es einer unendlich vitalisierenden Umwelt, einer Welt, so jung, wie sie am fünften Schöpfungstage war. – Diese scheint hier vorhanden; die amerikanische Natur besitzt noch ungeschwächt der Urzeit Schöpferkraft. Wie sie es schon vermocht hat, widerstehendste Rassen einzuschmelzen und in kurzer Frist aus schier beliebigen Typen Amerikaner zu machen – keine Menschenvarietät, sondern eine richtige Menschenart –, so mag ihr auch zugemutet werden, daß sie den Körper erschafft, welcher der stetig steigernden geistigen Spannung gewachsen und fähig wäre, sich immerdar fortzuverändern.

In Amerika, wenn irgendwo, werden wir unsere Entwickelung vollenden. Bald wird Europa sein letztes historisch-bedeutsames Wort gesprochen haben. Tradition an sich ist eine Fessel, die von Geschlecht zu Geschlecht fester bindet, zuletzt erstickt, und Europas Geschichte ist schon so lang, daß ein radikales Frei- und Neuwerden auf seinem Boden kaum mehr glücken wird, mögen sich seine Einwohner noch so sehr verjüngen, durch noch so gewaltsame Umwälzungen dem Verhängnis zu steuern trachten. Auch dieses Mal wird sich die alte Wahrheit erweisen, daß neue Kulturen nur auf neuem Boden wachsen; auch am jüngsten historischen Wendepunkt wird das Problem der neuen Form nicht vom Reifsten, sondern vom Rohesten gelöst werden. Und daß es so kommen muß, leuchtet für diesen Fall unmittelbar ein: indem wir Abendländer es unternahmen, nicht, wie alle Kulturen bisher, unser Leben bloß am Ideenreich zu orientieren, sondern dieses dem Erdreich einzuverleiben, beginnen wir recht eigentlich eine neue Schöpfungsepoche; wir heben als geistig-seelische Wesen eben dort an, wo die Physis in der Trias anhub. Deshalb paßt der neuweltliche Mensch in den Sequoia-Hain, diese Oase der Vorwelt, besser hinein, als in die Ruinenfelder Roms.

Ich blicke die Baumriesen entlang: wie symbolisch ist diese Gestaltung! Persönlichkeiten wie sie brauchen Raum; sie können nicht so dicht nebeneinander wohnen, wie geringere Wesen, sind notwendig hochfahrend und exklusiv. Das Unterholz des Mariposa-Hains, verkümmert, zukunftslos, würfe gewiß, wenn es denken könnte, die soziale Frage auf. In den Tropen verfiele es nie darauf. Dort ist es nicht soweit individualisiert, um aus dem Naturzusammenhang hinauszustreben, wird sich darum etwaiger Bedrücktheit kaum bewußt. Weshalb hat das Ideal der Gleichheit den Westen entzündet, wo es unter den bedrücktesten Orientalen noch nie aufrichtige Anhänger fand? Weil unsere Entwickelungsrichtung immer wachsender Ungleichheit zuführt, im Orient hingegen die äußerste Gleichheit der Gelegenheiten besteht, die auf Erden überhaupt denkbar erscheint: der Zustand, wo jeder, wer er auch sei, an der Stelle verharren muß, in der er geboren ward, wo keiner besondere Chancen hat. Im modernen Westen darf jeder das Äußerste wollen; dieses erreichen immer nur ganz wenige, und die übrigen murren dann. Unsere Art, das Problem des Lebens zu stellen, ist nicht falsch, aber sie schließt eine endgültige Lösung aus. Will man keinen statischen Gleichgewichtszustand unabänderlich ungleicher Lebenslagen gelten lassen, so muß man sich immerdar fortbewegen, denn Gleichheit im Sinn eines statischen Gleichgewichtszustandes unabänderlich gleicher Lebenslagen kann es nicht geben; sie widerspricht der Natur der Dinge. Die modern-okzidentalische Stellung des Lebensproblems – gleiche Gelegenheiten für jedermann – bedingt ewigen Kampf.

 


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