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Die Haltung zu Deutschland

 

I

Ein Deutscher, der jetzt nach England geht, stößt nirgends auf Unfreundlichkeit.

Ein Franzose kaum auf bessere Freundlichkeit als wir. Ein Amerikaner vielleicht – aber es ist nicht zu merken … Denn der Engländer bleibt groß im Verkneifen der Gefühle. Sachlich sein.

Ist er sachlich: so ist er doch nicht starr. Ihn dafür auszugeben, bildet ein Unrecht. In Wahrheit ist er … nicht liebreich – aber hilfreich. Nicht zutraulich – aber schaffensrasch.

An den Mauern las ich ein Wort (für Geldsammlungen): »Help is better than sympathy«. Der Schlüssel zu seinem Wesen.

(Außerhalb der Politik.)

 

II

Also der Deutsche findet hier keine Spur von Feindschaft. Was denn? Freundschaft? wer erwartet sie! Doch willigstes Entgegenkommen.

Je toller Frankreich Amok läuft, je fester. Was zwischen Engländern und Deutschen jetzt besteht, ist … nicht ein unterirdisches Verbundensein (das wäre viel zu viel). Nicht mal ein halb freimaurerisches Einverständnis; das wäre noch viel zu viel. Aber hie und da was Ähnliches …

Hassen die Engländer Frankreich? – Sie würden, wenn sie sich überhaupt äußerten, die sachliche Abweichung von ihrem Waffenfreund buchen. Sie sagen also das Gegenteil, weil sie Politiker sind.

So ist, nach allem, was ich gefühlt und gewittert und gesehn, die Lage.

 

III

Ich sprach mit Stützen Lloyd Georges. Erstens mit Parlamentariern. Dann mit seinem engeren Mitarbeiter. Dann mit Abgeordneten der Gegenseite. Hier erstens mit Liberalen; zweitens mit Staatssozialisten; drittens mit Marxisten; viertens mit Arbeitern weiter links … Ich gebe Proben. Sie sind seelisch fesselnd – über die Politik hinaus.

John Murray, Unterhausmitglied, Partei Lloyd George, vormals Professor in Leeds. Mitte vierzig. Fast seelsorgerisch ernst. Aber nicht salbungsvoll. Wir sprechen im Parlament lange Zeit. (Zwischendurch kommt sein Fraktionsfreund Moreing.)

Murray (nachdem er sich gegen Shaw und englische Sozialisten erklärt hat): »Wer Ihnen hier sagt, er sei prodeutsch, oder wer prodeutsch ist, hat politisch nicht den geringsten Einfluß …« Er spricht (in dem einen Punkt) sehr offen. Sonst manchmal taktisch.

Murray zeigt sich, wie Moreing, überaus freundgewillt. Sendet mir, ohne daß ich darum bat, Empfehlungsbriefe nach andren Städten. Schickt auch, da er in Deutschland gewesen ist, Abzüge seiner jetzt erscheinenden Artikel über unsere Lage. Dann sein frisch erschienenes Buch: »The truth about Germany«. Darin schildert er Deutschlands nicht erschwindelte, sondern echte Not. Dennoch im Gespräch nicht das geringste Zugeständnis … Britisch.

Er sagt: »Rein sachlich gesprochen: für England ist Deutschlands Aufbau nur bis zu einem gewissen Punkt wichtig.« (Er fürchtet, wir könnten den Grad von Englands Abhängigkeit überschätzen.)

Späterhin: »Englands Haltung ist heute die eines Sportsmanns, der seinen Gegner geschlagen hat – er besitzt keinen Grund mehr zur Feindschaft.« (Dauernd zeigt er einen innerlichen Anteil für Deutschland – während er Englands Verpflichtungen eingrenzt …)

Ich sage: »Sentimentalität erwarten wir nicht – aber Eurem Handel muß an Deutschlands Auferstehung liegen.«

Er (taktisch): »Deutschlands und Rußlands Kundschaft zusammen beträgt noch nicht ein Fünftel des englischen Handels.« – Ich: »But a fifth!« Aber doch ein Fünftel!

Er schweigt. Dann sagt er: »Für die Beziehungen der zwei Völker ist es wichtig, daß Deutschland ein starkes government hat – Rathenaus Ermordung schuf leider Schwächung, Unsicherheit« … Rathenau ist ihm die schöpferische Gestalt, welche Deutschland seit dem Krieg hervorgebracht.

Seltsam und sehr englisch: Moreing, als er eine Stunde mit mir spricht, braucht wieder den Sportvergleich. »Deutschland war ein guter Verlierer« (a good loser). England sei bereit, ihm zu helfen – aber langsam.

Das betonen hier alle: nur langsam. Ich: »Warten heißt sinnlose Verzehnfachung der Aufgabe!«

Alle wiederholen: Es geht nur langsam.

 

IV

Wer zu Lloyd George hält, versichert (es ist nicht nur Manöver): »Auf eine Trennung zwischen England und Frankreich zu hoffen, wäre der stärkste deutsche Irrtum.« Moreing war kürzlich in Deutschland; in Oberschlesien; in Breslau. Er kennt unsre Not. Englands Politik ist aber durch Frankreich gebunden … Deutschland könne trotzdem hoffnungsvoll sein.

Diese Lloyd-George-Männer haben in ihrer Haltung etwas von – scheinbaren Gegnern, die bedauern, vor der Hand nicht anders sprechen zu dürfen.

Über die, von mir eingeworfene, Fülle der Arbeitslosen in England gleiten sie weg …

 

V

Downing Street. Sir Edward Grigg, Lloyd Georges rechte Hand.

Diese office Lloyd Georges liegt gegenüber vom Hauptgebäude, über die Straße weg, in der kleinen Nr. 10.

Schmucklos: verbrauchte Stuben, mehr als einfach. Wie bei einem bescheidenen Rechtsanwalt. So dürftig-kahl sieht also der Ort aus, wo über die Zukunft des Kontinents … nicht entschieden (entschieden wird sie wohl in Washington), aber mitentschieden wird.

Grigg ist ein einnehmender, ziemlich großgewachsener Mann, Ende Dreißig. Mit Merkmalen der Innerlichkeit. Ein ehrlich Ringender – auf dem allerhand Zwiespältiges der englischen Lage wuchtet: die heikle Pflicht, Auswege zu finden zwischen einem bedrohsam irrsinnig gewordenen Freund  … und einer bedrohten Menschengruppe.

– »Ihr Briten seid unsre Gläubiger – es muß euch also dran liegen, daß wir nicht untergehn.«

Er: »Wir sind die Gläubiger fast jeden Volks« … (Aber wir sind nicht jedes Volk.)

Er sagt: »Die Stimmung in England gegen Deutschland ist vorläufig nur negativ auszudrücken: Schwund des Hasses. Wir wollen kein zweites Österreich – aber was sollen wir tun?!«

Man bekommt hier immer den Eindruck: England selber ist in einer Zwangslage. Es klingt nicht hochmütig, wenn er versichert: »Wir müssen ja nicht nur Deutschland beistehn, sondern allen Völkern.«

 

VI

»Erscheint euch die französische Macht nicht zu groß?« – No, Frankreich sei keineswegs übermächtig  … (Kein Wort ist wahr.)

Ich: »Frankreich hat zu viel Furcht vor Deutschland – und England zu wenig Furcht vor Frankreich.«

Er schiebt das Ausbleiben eines britischen Eingriffs auf die public opinion. (Er kann ja nicht von Lloyd Georges doppelter Gebundenheit sprechen.) Englands öffentliche Meinung sei zu schlecht über Deutschland unterrichtet.

Die Presse dort sei zum Teil misrepresenting, gibt falsche Darstellungen der politischen Wirklichkeit. »Die Northcliffpresse«, sagt er, »ist weder ein Ausdruck der Regierung noch der öffentlichen Meinung.« Ich: »Warum wird sie dann so viel gelesen?« – Er: »Nicht wegen Politik.«

(Darin hat er recht; die »Times« hat sich heut aus ihrer Starrheit fast in ein volkstümliches Unterhaltungsblatt gemausert; sich durch Herablassung vor dem Eingehen bewahrt. Sie wirkt immer noch stark.)

 

VII

Auch an Grigg läßt sich unterirdisch folgendes beobachten: das Gefühl gegen die Deutschen, welches nur ein Mangel an Abneigung sein will, ist zwar … noch längst kein Überfluß an Zuneigung. Jedoch er weiß, daß uns Unrecht geschieht. Er leugnet es nicht, – aber gibt es ebensowenig zu … Alles das bleibt mit den Fingerspitzen anzufassen.

Er sagt, indem er sich innerlich windet: für das englische Volk sei die Losung heut nicht »peace«, sondern »justice«; nicht »Friede«, sondern »Gerechtigkeit«. Er gibt leider keine Auskunft, als ich sage: »Justice? Ihr scheidet ja nicht zwischen dem Deutschland, das den penetranten Krieg gewollt, und dem andren, das ihn verflucht.«

Das Gespräch geht eine Stunde lang mit Heftigkeit. Grigg ist kein Engländer nach dem Fibelbuch, denn er kann warm werden. Er sieht unsre Lage durchaus nicht hoffnungslos. Er sagt, während er meine Hand hält, Deutschland solle (wie oft noch!) Geduld haben.

Ich: »It will be too late« …

Ja, der Eindruck dieser fast stürmischen Auseinandersetzung ist: Ratlosigkeit auch in England. Im Grunde wissen sie nicht, wo ihnen der Kopf steht. Ein fast sehnsüchtiger Wille, die Sorgen der Welt (sprich: Deutschland) zu lösen. Und jenes entsetzliche Motto: Geduld!

 

VIII

Kenworthy ist der Schrecken des Unterhauses. Widersacher Lloyd Georges; unabhängig-liberal. Ein früherer Seeoffizier. Deutschfreundlich. Er hat etwas Verträumt-Willensstarkes.

Kenworthy spricht (wie alle hier) von Rathenaus Tod als einer schwachköpfigen Schädigung des eignen Landes. Daraus gezogener Schluß: »Die Junker-Monarchisten sind also noch so stark, daß mit Deutschland schwer zu arbeiten ist.«

( Jean-Paulsches »Extrablättchen«: Lange vor dem Mord, beim Aufenthalt in Amerika, bat mich die »Newyorker Staatszeitung« um eine Charakteristik des jetzigen Deutschlands; ich schrieb dort, in einem Umriß Eberts, Wirths, Rathenaus: »Er (Rathenau) trat in die Bresche, wenngleich er das Bewußtsein hat, eines Tages möglicherweise wie Erzberger zu enden.« (So am 30. April, »Newyorker Staatszeitung«.) Die duftende »Deutsche Zeitung« leerte gegen diese Wahrheit mehrere Kübel … und schrieb wörtlich:

»Der Abgeordnete Erzberger ist ermordet worden. Von wem und aus welchen Gründen, weiß bisher außer den Tätern niemand. Wie kann unter diesen Umständen Dr. Rathenau, dem kein Mensch in Deutschland je ein Haar gekrümmt hat, das Bewußtsein haben, möglicherweise wie Erzberger zu enden? Weil irgendein Politiker von Unbekannten aus unbekannten Gründen (!) erschossen wird, hat ein anderer das »Bewußtsein«, ebenfalls so umzukommen? Das wäre doch reiner Verfolgungswahnsinn« …

(»Deutsche Zeitung« vom 23. Mai. Nach vier Wochen war er tot.)

 

IX

Der Saal des Unterhauses bleibt mit dem altväterischen Wort »Landstube« besser zu bezeichnen. Wirklich nur eine große, viereckige Stube – mit aufsteigenden vier Sesselreihen rechts und links. Für die Einführung war ich dankbar.

Mit schriftlich niedergelegten Fragen bereitet der lieutenant-commander Kenworthy der Regierung Lloyd Georges öfters Annehmlichkeiten … Eine große Partei steht vorläufig nicht hinter ihm; er geht allein aufs Ganze. In dem für das Unterhaus jener Tage gedruckten »order book« zeigt er Neugier wegen gewisser Abmachungen mit Poincaré  … Dann stellt er offen den Antrag: daß der Pakt von Versailles als unausführbar und schädlich geändert werde.

Das Zusammensein mit diesem Mann gibt Erfrischendes und Tröstliches. Manche schimpfen auf ihn. Wackrer Kenworthy! Er hat eine Zukunft, sagen andre. Dann hat die Vernunft eine.

(Mehrfach war er in Deutschland. Sieht aus wie Anfang Vierzig. Ein starknackiger Mensch von gewinnendem Trotz. Kenworthy, feste!)

 

X

Im Parlament sprach ich mit Sozialisten. Die Lloyd George-Gruppe schilt sie »uneducated« und erfahrungslos. Mit einem Wort: sie vertreten gleichfalls die Vernunft.

Der ehrliche Mr. Spender von der »Westminster-Gazette« gibt offen zu, was Zunftpolitiker nutzlos leugnen …

Auch Mrs. Snowden ist eine Hoffnung auf dem guten Weg. Neununddreißig Jahre. Bildhübsch. Jedes Jahr hält sie über hundert Reden. Sie nennt sich »Sozialistin, aber nicht Marxistin«. Sie sagt: »In Deutschland würde man mich nicht Sozialistin heißen.« Allerdings nicht …

Und nun kommt das scheinbar Erstaunliche: sie hält zu Lloyd George. Immerhin in einem verschmitzteren Zusammenhang.

Sie sagt: »Ich weiß, daß er im Herzen radikal ist – nur gebunden durch seine pledges an Frankreich … In spätestens einem Jahr geben Neuwahlen den Ruck nach links – dann führt Lloyd George eine ganz andre Koalition (ohne die Konservativen). Mit Liberalen, labour party (hierzu gehört die holde Snowden) und Marxisten« … In einem Jahr? – Zu lange für uns.

Lloyd Georges Adlatus Sir Edward Grigg sei gegen Deutschland nicht kühl. »Ich sprach ihn gestern – er scheint nur kühl gegen Deutschland, ist aber heiß gegen Frankreich! nämlich furious gegen Poincaré.«

Lloyd George selber hat ihr seinen radikalen Willen versichert – er werde letzten Endes doch gegen den Chauvinismus jedes Volkes kämpfen  … Sie sagt: »Frankreichs Luftdienst ist viel stärker als Englands – das bleibt der springende Punkt!« (Sie hat recht. In dieser Woche gab es eine Schaustellung des englischen Luftdienstes – als Wink nach Paris.)

Frau Snowden hat ein kluges, in der Denkart reines Buch verfaßt: »A political pilgrim in Europe«. Vorn ist ihr Bild.

Man fände die Frau reizend, auch wenn sie politisch Falsches äußerte. Wie reizend muß man sie erst finden, da sie zufällig auch noch Richtiges äußert. (Lloyd George ist indes unterlegen.)

 

XI

Nach dem Helfer Lloyd Georges; nach seinem Parlamentsanhang; nach der Opposition; nach vernünftigen Schriftstellern: nach alledem griff mir etwas ans Herz, was Wochen darauf ein Arbeiter in Edinburgh sprach.

Am Abend; die Spaziergänger der berühmten Princes Street sammelten sich um einen sechzigjährigen, stoppligen Mechaniker (das war er wohl) mit Stahlbrille – der eine Rede hielt. Es war noch hell; um elf liest man dort im Freien.

Der breite Mann, unter Mittelgröße, von ruhigem Ernst, ohne Furcht vor Lächerlichkeit (auch ohne hier diese Furcht haben zu müssen), stand fünf Schritt vor seiner Mütze, die er auf den Boden geschleudert, holte beim Sprechen mit den Armen aus, rang um Worte mit knackender Gehirnarbeit – und fand Bezeichnungen für etwas, das offenkundig sein ganzes Dasein bestimmte.

Er sprach von der Torheit dieser Politik wider Germany and Prussia. (In Edinburgh! Abends! Auf der Straße!) Er sah darin bloß einen Teil des allgemeinen Irrens. Er sprach von dem Weltwahnsinn – und rief: nur der Zusammenschluß der Arbeiter könne noch Rettung bringen … Das kam aber nicht wie Nachgesprochenes heraus, vielmehr wie etwas in schwerer Kümmernis Errungenes. Ihm waren die Rückwirkungen auf das Los der workers zwischen Glasgow und Edinburgh bewußt. Sie, sprach er, haben es zu spüren.

Wohlhabende standen in guten Überziehern herum. Er ging zwischendurch zum Wasserquell, der aus einem Denkstein lief, trank (dort standen seine paar Gefährten), trat wieder in den Kreis und sprach fort.

 

XII

Ich ging zu ihm, als er fertig war. Er versicherte: die schottischen Zustände seien hart wegen der infamen Friedenspolitik. In der unblutigen Revolution liege die Zukunft. Leider seien Schottlands Arbeiter sektiererisch gespalten.

Eine Weile schwatzten wir … in dem seltsam schwindenden Licht jenes Nordlandes, wo um halb elf die Sonne untergeht. Es war im Juli.

In der späten Dämmerung sprach er zuletzt: »Now I'll go home – good night.« Er drückte mir die Hand und ging mit seinen Kameraden wie bekümmert davon; die Zuhörer waren schon weg.

 

XIII

Auf dem Fels verschwammen die Säulen. Es wurde dunkel. Und ein Erdteil harrte seines Schicksals.


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