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Titanenkirmes

 

I

Der Mensch fühlt ein wunderbares Erschüttertsein, wenn er nach dem Weltunglück aus einem verzwisteten, siechen Europa hier landet. Acht Jahre verflossen seit dem vorigen Besuch.

Der Sohn des alten Erdteils hinkt und schnauft um das bißchen Atem. Hier aber sinnt ein strotzender Kerl voll Überfluß und Überschwang und Übermut, was für neue Sprünge sich machen ließen. Was für Hopser von nie gekannt verwegener Art.

(Es ist ein Unterschied.)

 

II

Alles hier fluscht in Sturzbächen. Alles um das Vielfache reicher und gewaltiger als vor dem Krieg … Trotz vorübergehendem Arbeitsmangel; trotz der Trinkbeschränkung.

Ein gigantisches Zuviel. Verschwendung an Rohstoff, mit dem unbekümmerten Zug – im sommerlich glückhaften Bewußtsein wilden Reichtums. Dabei kein Raubbau: weil alles in schier aufdringlicher Menge da ist. Jeder Versuch bleibt aus dem Vollen unternehmbar … gleichviel was dabei an dicken, sehr ausnutzbaren Spänen seitwärts schnellt und liegen bleibt.

Blüte des Kapitalismus.

 

III

Für alles, alles, alles ist hier Geld zu haben. Aktiengesellschaften? Im Nu … Ein Schweizer, den ich kennenlernte, mit gutem, aber nicht ungewöhnlichem Kehlkopf, hat eine Gesellschaft mit vierundsechzig Millionen Mark für seine Stimme gegründet. Übersteigen die Konzerteinnahmen den verbürgten Mindestsatz, so fällt der Überschuß an die Aktionäre.

Rings Wagemut; leichte Hand; Erfolgsglaube; Vergeudung; Unternehmertrieb.

Ein Bankherr aus der feinen, reichen Park-Avenue sagt mir: »Das Geld liegt in Newyork auf der Straße.« Heut noch? Heut erst recht.

Dabei ist alles teurer geworden. Amerika durchlebt »schlechte Zeiten« …

 

IV

Ein heller Ingenieur, der mal in Bergedorf eine Separatorenfabrik hatte, geht vor dreieinhalb Jahren fast mit nichts nach Newyork; von da, weil ihm der Boden im Kriege zu heiß wird, nach Florida; macht am Mexikanergolf Land urbar: baut ein Wohnhaus für Weib und Kind; pflanzt dreißigtausend Feigenbäume; brütet fünftausend Hühner aus (hätt' ich fast gesagt); schafft Gehäuse für allerhand Viehzeug; setzt zwei Hotels hin; legt Schienen; kurz: zeitigt Farmanlagen, die einer Stadt ähneln … und heut ist alles im Besitz einer Aktiengesellschaft mit achtzig Milliarden Mark (zehn Millionen Dollars) – nach dreieinhalb Jahren.

(Der Hauptaktionär, Mr. Minor Keith, kontrolliert beiläufig fast jede Banane, so auf dieser Erdkugel, überzuckert oder gebraten oder frisch, in einen Mund kommt.)

Blüte des Kapitalismus.

 

V

Wer lange hier lebt, sieht auch Schattenseiten. Wem sagt man das?

Doch eben wer hineinschneit; wer die Zeit nicht abwartet, bis erste Rieseneindrücke sich stumpfen und schwächen: der hat den unterscheidlichen Blick … oder den Blick für das Unterscheidliche.

Einzelheiten verdunkeln! Auf den großen Umriß kommt es an. Der ist erschütternd – es gibt kein andres Wort.

 

VI

Denkbar, daß ein gewisses Wanken des Kapitalismus, wie das Europa jetzt erlebt (mit Streiks, Verbänden, kurz: Anfangsschritten der Enteignung) … denkbar, daß ein solcher Bröckelstoß des Kapitalismus auch den Hudsonufern einst naht. Denkbar? Todgewiß.

Aber spät. Noch blinkt und sproßt und grünt in aller Strahlsonne der starke Saftstrauch kühnster Geldunternehmungen.

Mit wieder andrem Gleichnis: es waltet hier das Hirngenie eines machtvollen Kindes. Eines (sehr arglosen und sehr gerissenen) Wunderkindes von einziger, täglich wachsender Kraft. Kummerlos, nur triebstark.

Und heiter! denn dieser Erdteil ist sozusagen blitzblank, aus festem Rohgut.

Von dem, was Amerika wegwirft, kann ein Kontinent leben.

Blüte des Kapitalismus.

 

VII

Meine Seele denkt an die Pyramiden, in einem seltsamen Zusammenhang.

Ich hatte, wenn ich in Deutschland war, stets ein soziales Gewissen. Ich hab' es auch heut … und sterbe damit. Hier liegt ja die Zukunft.

Amerika scheint auf diesem Feld – nicht unmoralisch (es ist mehr philanthropisch, als Europäer wissen). Aber mit Rücksicht weniger durchsetzt als wir. Die Pyramiden, die mein verblüfftes Auge vor dem Wüstenmund einst sah, sind von Sklaven erbaut. Menschenmillionen schmachteten – damit ein Gedenkmal voll Zauberkraft möglich sei … Sklaven gibt es in Amerika nicht; es hat ja die Sklaven befreit. Immerhin; mit Altersversorgung, verbotener Nachtarbeit und Stundenbeschränkung war die Gigantik Newyorks nicht zu machen.

Ich glaube nach wie vor an den Weg des Menschenschonens: er scheint nicht nur sittlicher, auch rentabler …

Doch jenseits vom Sittlichen wie vom Rentablen sieht man hier die Leistung, die Leistung, die Leistung.

Und ist erschüttert.

 

VIII

Kann jemand vom Anblick einer Untergrundbahn fast religiös erschüttert sein? Kann jemand, wenn in den Gleitschacht des ungeheuren Pennsylvania-Bahnhofs die Autos rollen, fliegenklein und massenhaft, – kann jemand hiervon erschüttert sein? Kann jemand, wenn er hoch in einem Gigantenhaus wohnt, und der Sturm Zaubermusiken heult, abermals in der Seele tief erzittern … und die Hände hinstrecken?

Kann er, wenn aufflammendes Licht am jungen Abend hunderttausendfach über die Dächer Newyorks hinglüht, in beinah erfüllter Sehnsucht eines zum Ziel Gekommenen, der eine neue Schönheit sah, tiefste Rührung empfinden? Ist das möglich?

Es ist unabwendbar.

 

IX

Das Gewimmel hat sich nach dem Kriege namenlos gesteigert. Verkehr im Kubik. Gasthöfe, himmelhoch, wurden fertig. Bahnhöfe kamen jetzt voll in Gang. Die Straße scheint ein Jahrmarkt für Zyklopen. (Aber mit hundertfach geschmeidigter Zwischengliederung.)

Newyork ist die großartigste Stadt der Welt.

Alles das hat – in wechselnder, dabei halb gleichartiger Phantastik – mehr Ähnlichkeit mit einem halbsüdlichen Städtetraum als mit irgend was Mitteleuropäischem. Brie à brac; pittoresk; hinreißend.

Ein Gigantenprater. Eine Simsons-Schau.

Newyork ist nicht, wie Paris, der künstlerisch-heiterste, der sehnsüchtigste Eindruck manches Daseins (vergleiche Hebbels Tagebuch) – doch der wachste, der umwerfendste. Die wahrhaft neueste Welt.

Man verstummt vor diesem nun ganz fertigen Pennsylvania-Bahnhof … aus Gestein. Oben verästeltes Eisen, wie Laubenrankenwerk. Lichtfreundliche Dome von gebändigtem Fels und Stahl. Von Alabaster und Marmor. Neue Peterskirchen am Schienenbeginn. Schmauspaläste dabei. Jenes packende Gefäll! In der Unterwelt sind Feen-Schaufenster. Wenn Elektrodroschken tief hinabgerollt sind, wölben sich Kirchenschiffe, Kathedralhöhen. Noch tiefer von hier unter die Erde! Neue Läden, unterirdisch mit Früchten, Drogen, Tabaken, Kodaks, Hüten, Koffern, Büchern … und neue Eingänge zu noch tiefer gelegenen, taghell gleißenden Unter-Erd-Rasezügen durch die Stadt.

Das sind Erschütterungen … der Seele.

Oder: die schon vor dem Krieg fertige, heut gewaltig belebte Grand Central Station. Wieder keine Zweckscheune. Sondern ein marmornes Monument und ein Mirakel. Doch ohne Aufhebens mitten in die Hausreihe der Straßen gegliedert.

(Also nicht ein großer Platz mit Anlauf davor – und wenig dahinter) …

Das sind die neuen Dome – der hastenden Glücksucher; der reisenden Menschen, umgewirbelt für kurze Erdenzeit.

 

X

Die Treppen und Säulen eines Posthauses … mammutgrandios und einfach.

In der neuen Architektur ist nicht Woolworth Building (der höchste Wolkenkratzer, wo ich vor acht Jahren im vierundfünfzigsten Stockwerk stand) das Wesentliche – nur das Höchste. Gleicht zu sehr einer Kitschkirche.

Doch neugeartet, mit jetzt geborenem Stil, sind rechteckige Massivgoliaths aus Stein, verhältnismäßig schlank bei unendlicher Gedrungenheit: von muskel-edler Wucht …

Wer niemals die neue Architektur auf Avenuen und Straßen Manhattans erblickt hat: dem bleiben die letzten Wonnen der Baukunst versperrt.

Auch neue Hotels in Newyork haben den eignen Baustil. Was bietet so ein Hünengasthof dem Blick?

Rechteckiger Grundbau, vielfenstrig und vieltürig und schon sehr hoch. Hierauf erwachsen in Himmelshöhe, auf seinem tragfähigen Buckel gewissermaßen, vier hohe, helle, rechteckige Schornsteine, nachgepreßt, mit unermeßlicher Fensterschar. Diese heiter leuchtenden, senkrechten Flachriesen mit vielem Glas und immer Glas und wieder Glas steigen in den Äther.

Um einen volkstümlichen Begriff zu geben: auf einer gemeißelten Zigarrenschachtel ragen vier Zigarettenschachteln quergestellt, auf ihre schmale Seite gestellt; sie schießen parallel mit Tausenden von Glasfenstern luftwärts.

Dort wohnen, abermals, bis hinauf, Erdsöhne, herumwirbelnde, witternde, reisende, schaffende, suchende.

 

XI

Die Säulen der Amerikaner setzen Antikes fort. Man lacht in Europa, wenn ein Stadtname dort »Memphis« heißt – in Newyork hört so ein Lachen auf, denn das Gefühl kommt: Rhamses kann sich begraben lassen.

Auf der Brücke von Brooklyn stand ich zum zweitenmal im Leben. Ein Wort Napoleons, das auf den Denkstein in Cherbourg geschrieben ist, ging mir durch den Kopf. »Je veux renouveler les merveilles de l'Egypte.« Armer Provinzler!

In der Schwebewucht so eines Brückenbaues, auf dem Riesenpfad über rollenden Riesenwässern, ist Altertum und Neuzeit überwunden.

Großartigste Stadt der Welt.

 

XII

Am Abend … Nach dem Krieg hat sich auf dem Broadway der Lichterglanz verhunderttausendfacht. Broadway – das ist eine Straße, vier deutsche Meilen lang. Dreißig Kilometer. Wie vom Dönhoffplatz bis Potsdam … innerhalb eines Teils von Newyork. Das gibt es.

Am Abend jetzt eine millionenfache Lockung von Glühfarben.

Rotes, Silberndes, Blitzblaues schreit, kreischt, rast, winkt, zuckt, lacht, symphont, sprießt, stirbt, flimmert, neckt (alle Gleichnisse gehen hier durcheinander), schielt, blinkt, funkt, blitzt, stockt, braust, züngelt, pfeift. Licht kann trillern …

Eine Blendflut mit Crescendosternen, Leuchtmagien, Strahlwundern, Wolkenfeuern.

(Wo nehmen sie das Geld her!)

 

XIII

Am Times Building, dem schmalen Himmelsbau der Zeitung »Times« von Newyork, geistern Lichterzuckträume den Broadway hinab und hinauf.

Am Broadway – diese Eßstuben alle! Das Gewimmel um elf Uhr nachts. Diese Schaufenster. Diese Ströme von verzuckerten Früchten im weiß-rötlich-violetten Schein; von parfümierten Zuckerln, durchmandelten Schokoladeklümpchen, Karamellpaarungen, Duftbonbons. Schlaraffenland! Diese Fenster alle mit Torten, Hummern, Hühnern, Kompottgläsern, Biskuitstapeln, Ananashäuptern. Diese Fenster, wo bei grape fruits tausend süße Cremekuchen liegen und Spargelbünde und Austern und clams. Diese Fenster mit Heuwagen von Zigaretten, Tabakbüchsen, Havannastielen. Diese leuchtenden Mitternachtfenster mit rohen Fischen, Erdbeerbergen, schwärzlichen Langusten, Poularden, Konditorfelsen. Fenster mit Hüten, Seidenhemden, Lackschuhen, Florkleidern. Hinter Schaufenstern sieht man die Leute vor Mitternacht schmausen. Und alles in Bewegung. Auf dem Damm zehntausend apfelsinenfarbene kurze Autos – die mit Insektenflinkheit surren, auf den Wink stehn, fortschießen, tänzeln, stoppen, flitzen, wenden, mit den Vorderrädern gleichsam in die Luft langen. Und es nimmt kein Ende.

Rasende Lebenspracht. Eine Titanenkirmes.

Eine Ewigkeitskirmes.

 

XIV

Und nebenher gibt es noch Italienerstädte, Chinastädte, Negerstädte, Polenstädte, Deutschenstädte, Judenstädte, Franzosenstädte, Sozialistenstädte.

Und wenn die Menschen so einer durchtrödelten Straße tagsüber geschachert und geschuftet und gewerkt und gekauft und geräumt und geschafft und geschrien, somit (halb analphabetisch) die dringendste Notdurft verdient haben, das Essen und die Bleibe: dann stehn Abendschulen offen für sie; für alle, kostenlos, faxenlos, frei von Ballast, bar von Hokuspokus … und von hier kann der Lump, der Bettler, der Paria mit dem Funken im Hirn ein Anwalt werden oder ein Arzt oder ein Bauherr – oder ein Präsident.

Am Spätabend kehrt er ein mit seiner Mappe … und man nennt das high school.

Und wer diesem amerikanischen Volk, diesem herrlichen Jugendvolk nur die sogenannte Zivilisation zubilligt, aber nicht Kultur: der ist mit unheilbarer Kurzsicht geschlagen.

Die Kraft fehlt ihm, statt der Einzelheiten den Umriß zu sehn.


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