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Londons Eiland

Wiedersehn mit Shaw

 

I

Die Lust, aus Deutschland herauszukommen, war groß. Nur kämpfte sie mit dem entgegengesetzten Drang: dazubleiben; in der mörderischen Wirrnis des Geburtslandes irgendwie zu handeln und zu helfen.

Die Abreise war für Sonnabend festgesetzt. Am Vormittag fiel Walther Rathenau – der Nachbar im Grunewald. Eine Stunde vor Mitternacht mußte man dennoch weg. Mit allerschwerstem Herzen.

 

II

Am nächsten Tag an der Grenze von Holland lenken die Mißstände der Fahrt zeitweilig den Druck ab. Der deutsche Zöllner in Goch sagt: »Das Gepäck ist nicht da; Schuld der Beamten in Berlin, – die senden es über eine andre Strecke.«

Himmelbombendonnerkreuzwettersakrafuffzigeinhalb no amal!!!

Also: entweder vierundzwanzig Stunden in dem Nest Goch bleiben – oder (sagt er) die Schlüssel dalassen … der Koffer werde dann (wohlgemerkt, wenn er aufsichtslos durchwühlt ist) mit dem Schlüssel gen England nachgesandt … Merkwürdig.

Man wiederholt fünfmal hintereinander das obengenannte Wort.

(Der Koffer ist nachher frech beraubt worden. So sind die Zeitläufte.)

 

III

Als ich bei Shaw in London saß, erinnerten wir uns an das letzte Zusammensein. Neun Jahre her. Ein Jahr vor dem Krieg – im selben Zimmer.

Er wohnt, wie damals, in dem ältlich feinen, von Adams erbauten Häuschen mit dem Blick auf die Themse, – still, obwohl nur einen Schritt abseits vom Lärm der Läden und Hotels im Fremdenviertel.

Die längliche Gestalt; das länglich-weißbärtige Gesicht mit rötlichen Farben und wasserblauem Augenpaar: alles keine Spur gealtert.

Er ist von ruhiger Geklärtheit. War früher allenfalls mehr lächelnd; mehr mild.

Der Mann gleicht einem Schriftsteller in keinem Punkt. Sondern einem Oberförster.

(Fast einem Schwimmlehrer.)

 

IV

Shaw war vom Lande zur Stadt gekommen. Wir sprachen von Walther Rathenau. Noch kürzlich hatte Rathenau mir seinen Besuch bei Shaw erzählt – wie er (mitten in amtlicher Hast) bei ihm gewesen war.

Shaw sprach über den Mord mit bewegter Nachdenklichkeit. Diese Stimmung bei Skeptikern macht einen ungewöhnlichen Eindruck.

Er pries den menschlichen Zauber des Toten.

– »Rathenau war von suggestiver Kraft, auf die Gegenpartei zu wirken. Das tut heute not. Ein schwerer Schade für die Beruhigung oder Herstellung Europas, wenn man die Geeignetsten wegschießt … Bei Kriegsbeginn traf es den Jaurès – jetzt abermals den Tauglichsten für die Verhütung weiteren Unglücks … Auch Jaurès war fähig, praktische Politik zu treiben, nicht nur Ideale zu haben  …«

Shaw sah ohne Empfindsamkeit vor sich hin; sachlich. Er fuhr fort:

– »Rathenau wußte Menschen zu nehmen. (Er sprach mit meiner Frau und mir, als ob er uns seit zehn Jahren gekannt hätte) … Seltsam; seine Bestimmung war irgendwie verwandt mit ( – bei aller Verschiedenheit eines weltmännischen Denkers von einem Feuerkopf –)  … mit der Bestimmung Mirabeaus: verzweifelte, verworrene Dinge durch persönliches Fluidum entscheidend zu wenden … Er hatte das Zeug dazu. Unendlich schade!«

Shaw saß zurückgelehnt im Armsessel. Vom Fluß kam das Licht – das der Andre nicht mehr sah. Die Welt lag irgendwo … mit ihrem Schwachsinn und ihrer Roheit. –

Wir sprachen dann von Lloyd George. Wie zwei Menschen, die letzten Endes wenig für Propaganda, mehr für Erkenntnis übrighaben  …

(Fast mit einem Gefühl der Befremdung vor Agitatoren – bei allem Bewußtsein ihrer Unentbehrlichkeit.)

 

V

Shaw hatte gestern Lloyd George zum allerersten Male sprechen gehört. Er war entsetzt.

– »Bei welchem Anlaß?«

– »Bei einem Erinnerungsfest für Meseinei.« – »Für wen?« – »Für den Italiener Meseinei.« – Ich wußte nicht Bescheid. Shaw nahm ein Blatt, schrieb das Wort auf. Es hieß »Mazzini«. Ach so.

Nach Shaws Ansicht war Mazzini beinahe Sozialist. »Aber dieser Lloyd George«, sprach er, »hatte die Frechheit (the audacity) zu erklären, daß die Landkarte von Europa heut ungefähr so aussieht, wie der Italiener es gewünscht … Ach, und diese Klischee-Plattheit eines Advokaten!« (sprach Shaw) – »solche billigen Aussprüche wie: Bisher dachten wir an den Schutz vor unsren Feinden, jetzt denken wir an den Schutz unsrer Feinde … Gräßlich … Lloyd George war immer ein Rhetor, vielleicht ein Taktiker, nie ein Staatsmann.«

(Ich berichte nur Shaws Meinungen.)

Er fuhr fort: »Lloyd George ist eine Parlamentspflanze; mit allen Salben geschmiert – aber darum lange kein Politiker von schöpferischem Inhalt … Er kam im Grunde hoch, nicht indem er die Kaste der Herrschenden bekämpfte, sondern ihr diente … Lloyd George hat vor Jahr und Tag die englischen Junker (Shaw sprach dieses Wort auf deutsch) angegriffen – aber seine Laufbahn hat er nicht gegen sie, sondern mit ihnen gemacht …«

– »Haßt ihn die Rechte nicht?«

– »Nein. Bloß Northcliff; aus persönlicher Abneigung  … Dieser Northcliff ist übrigens heute fast geisteskrank und todgezeichnet.« (Anmerkung: er ist seitdem gestorben.)

 

VI

Shaw sprach das alles nicht mit Leidenschaft; sondern mit unscheinbarer Festigkeit … obschon er hier als ein »fanatic« gilt.

Da ich Lloyd George ambivalent nannte, zog Shaw für ihn das Wort »ambiguous« vor – also »zweideutig«. (Andre glauben, daß Lloyd George zum eignen Schmerz einem Zwang unterliegt, als Koalitionsminister …)

– »Es ist«, sprach Shaw, »kein Kunststück, es ist sogar das allerleichteste, während eines Kriegs zu regieren; das kann schließlich sogar ein Hindenburg« (ich wiederhole nur Shaws Worte) – »wenn das Gesetz halb aufgehoben ist und immer bloß derselbe Punkt betont wird: Krieg fortsetzen, Krieg fortsetzen … Aber damit ist der Welt nicht genützt, Lloyd George hat in solcher Art regiert. Männer wie ihn und Clémenceau sollte man gleich nach dem Krieg auf ein Sankt Helena schicken.«

(Ich wandte mich komisch-beschwörend gegen die Wahl dieser Örtlichkeit – er lachte.)

Die großen Photos wertvoller Leute, nämlich Rodins und Einsteins, guckten vom Bücherbrett über das vormittägliche Zimmer – wie eine Tröstung.

Shaw setzte sich im Lehnstuhl etwas nach vorn … und nahm weiter Lloyd George auseinander. Er sprach unerregt – nur wie ein Mensch, der gewisse Realwelten verachtet.

 

VII

Shaw sagte: »Was mit Versailles zusammenhängt, ist eine einzige Lächerlichkeit … Zwei Dinge verlangte man im kritischen Augenblick von Lloyd George. Erstens: den Kaiser zu hängen. Zweitens: Deutschland zahlen zu lassen. Er sah sich also vor zwei Aufgaben gestellt  … Das erste ging nicht. Und das zweite? … Womit zahlen? – – Anfangs hieß es: Deutschland soll Schiffe für England bauen. Da tobten« (sprach Shaw lächelnd) »die britischen Schiffbauer … Folglich sah Lloyd George davon ab.«

(Shaw habe sich auf einer Reise durch die Nordstädte selbst überzeugt: Schiffsingenieure, Besitzer, Arbeiter fürchteten ausgeschaltet zu werden.)

– »Womit also zahlen? … Jetzt hieß es: mit deutschem Stahl. Da tobten Englands Stahlfabrikanten. Lloyd George sah wieder davon ab  … Aber womit? – Jetzt sollte Deutschland Kohlen an Frankreich liefern. Da tobten die Gruben in Wales … und Lloyd George sah wieder davon ab. – Schließlich sagten seine Sachverständigen, es bleibe nur etwas übrig: Deutschland muß mit Pottasche zahlen!« (Shaw lachte mit dem ganzen, langen, wie frischgescheuerten Gesicht.)

Er sah Verfahrenheit, Wahn, Wirrnis … übelster Sorte.

– »Frankreich«, sprach er, »macht Erpressungen (black mail); Frankreich weiß, daß der Vertrag unerfüllbar ist  … Lloyd George wieder weiß, daß Frankreich weiß, daß der Vertrag unerfüllbar ist … Alles ein grauenhafter Unsinn. So wird heute die Welt eingerenkt.«

 

VIII

Er sprach nicht wie ein Mensch, der es heiter findet. Sondern dem die Seelenart der Zeitgenossen unfaßbar und unerduldbar wird.

Ist er ein »fanatic«? Nur ein Träger hellen Verstandes  … und des Willens zum Recht.

Er sagte, weit mehr grüblerisch als belustigt, und mit etwas stillerer Stimme: »Das feeling der Engländer, ihr Empfinden gegen das treu verbündete Frankreich ist in Wirklichkeit heute schlimmer als bei Waterloo …«

 

IX

Frau Shaw trat ins Zimmer. Still; bürgerlich; schmucklos. Sie fragte, mit fast mütterlicher Besorgtheit, wie um dem Gast ihr Beileid zu bieten: ob monarchistische Schlächtereien die Deutsche Republik erschüttern würden.

Alle drücken ja hier einem Deutschen etwas wie Beileid aus – zu dem dunklen Rückschlag, den Deutschland von den eignen Landsleuten erfährt.

Haß gegen uns ist nirgends mehr zu spüren. Bei dem ungeheuren Arbeitsmangel erkennt man auch, daß Deutschlands Emporkommen wichtig für England ist.

(Abgeordnete der Lloyd-George-Partei haben es mir dann bestritten. Davon später.)

 

X

Einmal sprachen wir über die Sowjets. Shaw redet von diesen Russen mit ernster, nicht kritikloser Zuneigung.

Er sagt: »Sie waren ja zunächst Studenten, Idealisten, Nichtpolitiker, – sie hatten sich erst einzuarbeiten; verlangt nicht gleich Unmögliches; ihr Werk war übermenschlich schwer, und noch ist nicht aller Tage Abend … Eines muß man lieben: sie sind keine bloßen Taktiker, – sondern wollen bis ans Ende gehn.«

Wir sprachen von Strindberg; Shaw erzählt mir ein komisches Zusammensein mit ihm. (In Stockholm.) Vorausgegangen war ein Brief Strindbergs – englisch, deutsch, französisch, durcheinander. Strindberg zeigte sich dann überaus scheu; was ein Näherkommen hinderte. Plötzlich sprach der Schwede, mit einem Blick auf die Uhr, den auffallenden deutschen Satz (Shaw wiederholte den Satz auf deutsch): »Um … zwei … Uhr  … werde … ich … krank … sein« … So gingen sie auseinander.

Von Hauptmann verehrt Shaw sonderlich die »Weber«, das »Friedensfest«, die Werke der ersten Zeit. Auch mit ihm ist er zusammengetroffen – und empfing einen wundervollen menschlichen Eindruck.

 

XI

Wovon wir auch redeten – triebmäßig kam Shaw auf Walther Rathenau zurück. Mit einem Ton, ernster als der kühle Klang seiner Schriften.

Er brauchte für den Gefallenen das Wort: charming.

(Ich erfuhr nachher in England, welche Wirkung selbst auf die Widerhaarigen im Parlament Rathenau geübt hat.)

Zwischen Shaw und mir wich das Gespräch zeitweilig einem gewissen Dämmern.

Zuvor auf der Straße war zweierlei Nachdenkliches aufgefallen. An den Mauern hafteten große Druckblätter mit der Inschrift: »Das englische Pfund ist nur noch elf Schillinge wert«. Und Zeitungshändler riefen: »Bürgerkrieg in Irland« …

 

XII

Noch in Bernhard Shaws gefriedeter Wohnung, zwischen Büchern, Bauerntellern, Töpfereien, Bildnissen, spürte man, daß eine Welt (die Welt, in der ein Heutiger die kurze Frist des Hierseins zu verbringen hat) auf der Kippe steht.

*

Dennoch blüht hier ein verhältnismäßig glückliches Land.

Ich will fernerhin schildern, was auf dieser Insel heute vorgeht – auch ihre Heiterkeiten, ihre Pracht … und ihr unentwegt kräftiges Essen.


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