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Wall Street

 

I

Ungeheurer Kapitalismus – in Wall Street schlägt sein Herz. Hier empfängt ein irdischer Wandersmann, wenn er ein Maler ist, rätselhafte Wirkungen. Schwer vergeßbar.

Die Straße! die Straße von Newyork! Ich spreche zunächst nicht von Wall Street. Die Straße … an allen Stadtenden fährt sie fort, aufreizend und beglückend zu sein. Man lacht mitunter – ich merke jedoch im Kern, daß kein Grund zum Lachen besteht: weil dies Werben und Anpreisen (was man also Reklame nennt) ja eine Form größerer Offenheit ist. Nämlich das Eingeständnis (nicht das Vertuschen), daß jemand Geld verdienen will …

Auch Zurückhaltung, meine Lieben, ist eine Form der Reklame; die minder aufrichtige. Vom Brauch erzwungen. Ein Feingefühl, das halb Angst ist. (Und häufig den Inhaber wurmt). Seid's ehrlich … Hier aber werden Umschweife mißachtet.

 

II

Ich gehe (meilenfern von Wall Street) durch die Siebente Avenue. Zwecklos; was der beste Teil des Reisens ist …, »und nichts zu suchen, das war mein Sinn«. Und alles, alles, alles zu suchen – das war mein Sinn. Am Tag wie am Abend.

In einem Geschäft sind Leutehaufen. Durch das Fenster sieht man auf dem Ladentisch einen winzigen Zug über Schienengleis rollen; Elektrosignale, winzigklein, blitzen. Ein Mann erklärt es. Draußen Inschrift: »Treten Sie näher! Auch Ladies willkommen. Freie Vorführung.«

Vorgeführt wird ein jetzt erfundenes Mittel, Bahnunglück zu hindern. Auf Aktien. Train controller. Wer in den Laden tritt, wird angeregt eine Aktie zu kaufen – sofort. Gedruckter Nachweis, gesprochener Nachweis: daß neulich bei dem X-Unternehmen an je fünfhundert Dollars je eine Viertelmillion verdient wurde … Die Bähnchesbahn rennt, die Lichtlein blitzen.

Oder: in einem Laden liegt das Schaufenster voll Geröll. Innen wird gezeigt, wie Öl daraus zu holen ist. Aktienverkauf sofort.

Nachts um Elf bin ich am Columbus Circle. Ein Schnellmaler sitzt hinter Schaufensterglas – damit man zugleich Mitchells Motore sehn muß, die sich im Schaufenster bewegen.

 

III

Die Straße lockt, mit ihrer staunenswerten Ordnung im Getümmel – ob man zwischen den ruhigeren Steinpalästen der Fünften Avenue wandelt, ob man zur Tiefbahn am unscheinbarsten Häusereck steigt. (Dazu Gelegenheit gibt es immerfort. Nicht umständlich-festlich mitten auf dem Damm.)

Diese subway ist ein neues Wunder. (Gleich den Lifts, die immer gehn – nicht manchmal aus Gefälligkeit. Gleich dem Telephon, das immer klappt – nicht manchmal nach zwei Minuten. Der Kürze halber heißt es nur »Phone«.)

 

IV

Nach Wall Street fahr' ich mit irgendeinem Expreß unterirdisch – der also nicht überall hält. Bin ich in der Nähe, mit einem local train, – der überall hält. Die subway umfaßt nicht nur ein paar saubere Puppenwagen … Endlose Donnerzüge. Alle Türen springen am Halt gleichzeitig von selber auf. Keine verschiedenen Klassen. Ein Preis, ob Rasezug, ob gewöhnlicher Zug. Wer einmal unten ist, kann fahren, soviel er will. (Ich spreche von diesen Dingen con amore – denn es ist unwahr, daß nur »Zivilisation« dahintersteckt! Wahr ist, daß auch da Kultur und Phantasie herausgucken. Ein Fressen für den Künstler. Und für den Denker: weil Gerätekraft Menschenkraft ersetzt.)

Untergrundhöfe – kaum übersehbar lang. Alles geht im Sturm. Am Eingang wirft man einen Nickel in den Trichter, da öffnet sich (von selbst) die eiserne Kreuzbarre, die den Werfer durchläßt. Nachher wird niemand mehr belästigt … auch am Schluß nicht, wenn er hinauswill. Denn am Ausgang wird nichts abgefordert; also kein Verzögern  … Hier, die Ausgangsbarre bewegt sich ohne Nickelwurf … Überall sinnreiches Uhrwerk! Statt Menschenkraft: Gerätekraft.

Nur ein Geldwechsler, manchmal ein Negro zum Überwachen. Doppelter Vorteil: Ersparnis an Knipsern, Ersparnis an Behelligung.

 

V

Eine ganze Stadt unter der Stadt. Macht man einen Übergang zu Fuß zwischen zwei Linien desselben Riesenbahnhofs, mit Treppen, Gängen, Unendlichkeitshallen: so gibt es nicht Wandschriften, phantasielos, halb theoretisch, etwa des Inhalts: »Der Übergang vom X-Zug zum Y-Zug befindet sich in südwestlicher Richtung halbrechts« usw. … sondern oben von der Decke hängen fortlaufend (wagrecht) grüne, schwarze, rote Zeigebalken durch das Gewimmel, handgreifdeutlich, die noch den Stupidesten mit stets wiederholter Aufschrift zu seinem Punkt inmitten der Wirrnis führen. Klarheit und Knappheit … ( Klarheit ist Phantasie; Knappheit ist Kultur.)

 

VI

Übrigens bleibt es eine Legende, daß in Amerika alle Herren für Damen aufstehen. Ich sah dies ein einziges Mal … Und das war ich.

Aber sehr gern, – Frauen und kleine Mädels von Newyork! Mit euren kurzen Burnusmänteln und angemalten Backen. Ja, zierlich und angemalt. Newyorkerinnen sind sozusagen bloß ein »Herz« (oder was Ähnliches) auf zwei zarten Beinen …

Zwischendurch schwarze Frauvölker, weich, blühfrisch, seidig – und halbschwarze, bemoost, schrumplig, mit Messingbrillen. (Eine alte, sorgliche Negerin hat was Ergreifendes.)

 

VII

Genuas Paläste welken vor Wall Streets verwegenen Steinhäusern. Wer Newyork nicht sah, kommt um die letzten architektonischen Wonnen.

Stellt euch an die Ecke zwischen Wall Street und William Street; guckt in diesem Viertel durch Nassau Street, Cedar Street, Broad Street, Fulton Street, Hannover Street, Pine Street. Es ist ein Gipfel – für den Maler. Auch ohne Kenntnis, daß hier das Geldhirn der Menschheit schwitzt.

William Street ist schmal, riesenhoch. Eine wundervolle Sachlichkeit. Ersten Ranges. Ich dachte zurück … in Deutschland war mir in einer verhältnismäßig kleinen Stadt Verwandtes begegnet: in Essen. Die Hauptstraße von Essen wirkt amerikanisch; wenn auch in puppigem Umfang.

Wall Street ist breiter als der enge, schöne, grandiose Tiefpaß William Street … Schrägüber, wie ein Beet im Schacht, die alte schwarzsteinerne Kirche mit ihrem Friedhofszaun, vergessen aus entflossener Zeit. Trinity Church. Stumme Gräber zwischen grellen Giganten … Abermals erscheint Newyork als die Stadt der höchsten Wunder, die einem Erdensohn gewissermaßen vor den Schießlauf des Auges und der schreibenden Hand kommen kann. Ein Fressen für den Künstler.

 

VIII

Das Wirtshaus Savarin – im Keller sitzen hier hunderte von Bankmenschen, auf Böcken, am Bartisch; sie lunchen hastig. Hunderte; jetzt hundert neue.

George Washington starrt in diesem Viertel irgendwo steinern in den Aufruhr der Geldmächte.

Nicht eine Börse besteht … sondern vier Börsen. Für Bonds. Für Waren. Für Baumwolle. Und für Papierchen. Die letzte: Stock Exchange, – das Auge, das Herz, der Magen des Erdkapitalismus.

Stock Exchange: klassische Säulen; drunter hübsche Altanerl'n aus Gestein; drüber ein Höchstrelief; noch drüber eine Balustrade von behauenem Fels, zwei Wolkenhäuser verbindend … Innen steigt und fällt allerhand. Jedes deutsche Pfund Butter richtet sich danach.

 

IX

Ich spreche mit »Otto Eetsch«. (Nämlich »Otto H.«) Vertrauliche Abkürzung für einen der Lenker von Wall Street. Die Familie süddeutschen Ursprungs. Jeder hier, dem sein wirtschaftliches Werk bekannt ist, sagt: »Ein großer Mann!«

Er ist grauhaarig; schöne dunkle Augen; im Knopfloch eine Blume; der Europa-Schnurrbart nicht gekappt. Die Muttersprache nicht veryankeet. Er spricht manchmal wie der Schauspieler Bassermann – zum Verwechseln.

Holztafelgemächer. Rings in der Luft sozusagen irgendwas Künstlerisches. Gute Stiche. Hie und da newyorker Ansichten aus vergangener Zeit. Dann große Bildnisse von Begründern, von Mitinhabern, von Vorgängern, oder so … Nebenan mit Lampen ein feiner, gedehnter Raum. Wie ein sehr langes, erlesenes Schreibzimmer für Damen. (Doch sitzt nur eine drin. Ich gucke nach der lockenden, dunklen Person mit oliviger Gesichtshaut.)

Wir sprechen über die Stellung Amerikas zu Deutschland. Die Gebärde dieses wichtigen Wallstreeters ist nicht steif oder kalt. Ernste Gutwilligkeit. Der Haß gegen Deutschland schwillt ab, findet er. Ja, es habe niemals Haß gegen das deutsche Volk bestanden – bloß gegen Junker und Kriegsführer. Das begründet auch die politische Haltung des Sprechers im Krieg. Sein Bankhaus lieh seitdem verschiedene Milliarden, heißt es, an Deutschland.

Jetzt, erzählt er, ist Richard Wagner wieder obenauf; nach dem Krieg die große Mode Newyorks. Das Gespräch haftet an der Kunst. Er spricht von allem, was die Bühne der neuen Welt zeitigt. Er hofft, Eugen O'Neill (das ist Amerikas junger Dramatiker) könne sich in kommenden Stücken klären; die Begabung sei groß. Er spricht von Richard Strauß, den er kürzlich gesehn. Er findet sein Wesen »milder geworden«.

Ja, ein dauernder Magnet für diesen Mitbestimmer der Weltfinanz ist: Musik.

In die Lampenerleuchtung des Raums dringt, halb abgeblendet, der Mittagsschein des Billionenviertels.

 

X

Ich hole mir Dollars, in einer andren Bank.

Marmornes Pantheon, Marmorboden, Marmorsäulen, – mit marmornen Sakramentsschränken, diese dick vergittert … es sind die Kassen.

Wächter, große Kerle, gehn rum.

Ich sitze dann in einem abgetrennten Teil, auf die Scheine zu warten. (Doch Abtrennung in Amerika erfolgt nicht gern durch Wände, lieber durch Schranken; stets viel verschiedene Tätigkeit in einem Raum.) Auf dem Tisch, an dem der Geldempfänger wartet, liegen (keine Gelegenheit auslassen!) Empfehlungen für Reiseschecks dieser Bank. Abstecher zur Sommerzeit nach Alaska. Ein trip nach Havanna. Nach Mexiko … Noch auf dem Löschblatt empfiehlt die Bank ihr Stahlfach für den letzten Willen. Mit dieser Begründung: »Sie könnten Ihr Testament verlegen. Oder Unbefugte könnten es erblicken. Geben Sie das Schriftstück in eine sichere Box. Die Kosten sind lächerlich (The cost is trivial).«

Man kriegt förmlich Lust, Kodizille zu machen.

 

XI

Noch ein Bankhaus. In einer Halle des zweiten Stocks … was ist das für ein großes Ding seitwärts? Es deckt eine ganze Wand. Leute sitzen davor – um die Mittagszeit.

Das ist ein fortlaufend bewegtes Börsenabbild, vier Meter hoch, die Mauer entlang.

Buchstabenabkürzung für Eisenbahnwerte, für die wichtigen Papiere sonst. Oberhalb dieser Metallbuchstaben stehn die (fortlaufenden) Kurse von gestern, in senkrechter Folge. Unterhalb der Metallbuchstaben die heutigen Kurse, fortlaufend, seit zehn Uhr. Mehrere Ferndrucker (Ferndrucker gibt es überall, mit kilometerlangen Papierstreifen, die sich rollen, in einen offenen Korb hineinsinken, wo man beliebig Langes herausholen kann) … wollte sagen: Ferndrucker zeigen die Kurse dauernd an. Boys schieben die Zahlen-Täflein sogleich unter die passenden Buchstaben an dem Wand-Abbild.

Also man sieht einen Extrakt der Börse mit ihren Schwankungen – ohne doch an der Börse zu sein … Davor sitzen auf Sesselreihen die Kunden.

 

XII

Ferndrucker überall. In einem Nebengemach arbeiten im Treffpunkt unendlicher Geräusche Männer rundum. Hier münden eigne Telegraphendrähte von San Francisco, Chicago, Cincinnati, Cleveland. Es kommen fortwährend Mitteilungen, Aufträge … Daneben sprechen mehrere operators mit direktem Draht zur Börse.

Die Streifen quellen und winden sich. Die Ticker knacken. Das »Phone« fragt. Tippende heischen Auskunft … Alle halbrund um ein Hufeisen. Die verschiedenen Lärmlaute mit Windsbrautwirbel durcheinander. Es ist ein Märchen aus dem Jahre 3000 – während Europa noch im Jahre 1922 … nicht lebt, sondern vor dem Kriege gelebt hat.

Mein freundlicher und kluger Führer, der vorhin, als ein Kunde gemeldet war, bloß rief: »Put him in the next room!« »Nebenan stupsen!« – der Bankherr sagt mir, daß in London tausend Beamte für so einen Betrieb nötig wären, hier hundertdreißig … weil Gerätekraft Menschenkraft ersetzt.

 

XIII

Ich nehme das Mittagsfrühstück hoch oben, im bankers club. Ich sitze mit jemandem in der endlos langen Reihe der schweren Wandsessel. Wir trinken den Kaffee. Alles hier ist mammutlang. Der Klub liegt im vierzigsten Stock. Säle mit riesenhaft rechteckigen Säulen. Raumluxus. Der Eichensaal am mächtigsten. Was Elchhaftes … Beim Essen hat man den Blick über die Stadt mit Luftkratzern und Hafen. Alles zugleich ruhend und wild-phantastisch. Die Freiheit, das Erzbild, hebt sich tief unten grün und fern durch den Dampf der Schiffe.

Brausen über der Stadt. Mittagslicht in der hohen Luft. Seltsame Lebensstimmung …

Auch hier (man sieht es im Vorbeigehen, wenn man den Hut nimmt) quellen Streifen mit neuem Inhalt in den Korb.

 

XIV

Im Wallstreetviertel unten – ein Menschengestapf. Ein Füßegeström. Ein Gehaste.

Zwischen den Ätherkolossen.

Im Wallstreetviertel, im Schacht zwischen Enaksmauern, liegt jenes Kirchlein.

Ich sitze hier im Friedhofsgarten. Eine Rast im Rasestrom.

Betagtere Grabsteine. Viel kleine Mittagsmädel hocken zwischen hundert Jahr' alten Gräbern, auf Stufen, auf Bänken, und essen ihr Frühstück. Umtost vom Dröhngesumm des Geldblocks. Von der Wildheit nah hinschießenden Getümmels. Vom Gefauch einer schulterhoch ratternden Eisenbahn. In Brunnentiefe gleichsam, zwischen den Goliathsbauten.

Und auf der niedrigsten Seite, hinter dem Bahngerüst, guckt eine Universität auf den Friedhof; auch eine Warenbörse: der Curb Market.

Jedoch ein Stockwerk tiefer, unter der schulterhohen Eisenbahn, stehn in dem unteren Straßenzug Autos; Menschen eilen, Trams rollen. (Alles unterhalb, – denn der Kirchgarten liegt in der Höhe des ersten Stocks.)

 

XV

Die Mädels essen ihr Mittagsfrühstück zwischen den Grabsteinen.

Ich lese: »Hier liegt der Leichnam von Jonathan, dem Sohn von Jonathan und Ann Woodruff. Starb am 3. August 1748; acht Monat' und sechzehn Tage alt.« Kerlchen! vieles blieb dir vorenthalten. Mein kleiner Michael ist schon älter als acht Monat'.

– »Hier liegt der Leichnam von Mrs. Hester Weyman, Gattin von Mr. William Weyman; die ihr Leben verlor am 4. Oktober 1760« … Sie schläft gut.

– »Dies Grab ist dem Andenken von Charles Stewart geweiht, der sein Leben ließ am 8. Mai 1819. Vierunddreißig Jahr' alt.« Armer Bursche, was war schon 1819 los?! – Ich bin immerhin älter geworden. Möchte gern erst anno 5922 sterben.

Am Zaun des Totengartens strömen schwarze Wogen von Menschen, dunkle Meere von Menschen vorüber, vorüber, vorüber.

 

XVI

Vorüber …


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