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In Wien traf Kerner unerwartet seinen Freund Varnhagen, den er schon längst in Italien glaubte. Auf welche seltsame Art sie sich fanden, beschreibt Varnhagen in seinen Denkwürdigkeiten. Er kaufte in einem Laden besonders gestaltete Scheren zum Ausschneiden von Silhouetten, worin er Meister war. »Während des Suchens nach solchen«, erzählt Varnhagen, »sagte der Kaufmann zu mir: Was es doch für hübsche Talente gebe! so habe er eben auch ein ganz gewöhnliches Werkzeug unter Händen, für das ihm aber ungewöhnliche Genauigkeit anempfohlen sei, eine Maultrommel nämlich, und gewiß, der Herr, der sie bestellt, wisse ihr wahre Zaubertöne zu entlocken.« – »Mir schlug das Herz«, fährt Varnhagen fort, »ich dachte gleich an Justinus Kerner und an die Möglichkeit seines Hierseins. Die Antwort auf meine raschen Fragen bestätigte meinen Verdacht: Name und Wohnung des Bestellers waren zwar unbekannt, aber er mußte ja wiederkommen, und dann sollten nähere Angaben gefordert werden. Noch desselben Tages kehrte ich in den Laden zurück; es war richtig, Doktor Kerner hatte die Maultrommel abgeholt und auf Befragen, wo und wann er zu treffen sei, eine Abendstunde im nahen Kaffeehause angegeben; er dachte nicht an mich, er meinte, irgend ein Landsmann aus Schwaben möchte seine Spur entdeckt haben. Ich traf ihn am bestimmten Ort, er saß gleichgültig da, das Geräusch und Gewühl um ihn her schien er nicht zu bemerken; er sah mißtrauisch vor sich hin – da fällt sein Blick auf mich, er springt heftig auf, schreit meinen Namen und liegt in meinen Armen.«
In Wien machte Kerner, teilweise durch Varnhagen, manche interessante Bekanntschaften, auch die Friedrich Schlegels und dessen geistreicher Gattin Dorothea und des schon damals berühmten Tonkünstlers Beethoven, mit welchem er längere Zeit an einem Tisch aß. Ein junger israelitischer Arzt aus Königsberg, David Assur, der zugleich mit Kerner zur weiteren praktischen Ausbildung die Hospitäler besuchte, trat den beiden Freunden durch seine poetische und humoristische Begabung näher. Er ging später zum Christentum über, nannte sich Assing und wurde der Gatte von Varnhagens Schwester, Rosa Maria. – Eine andere Bekanntschaft war der Dichter Joseph Stoll, der Sohn eines berühmten Wiener Arztes. Er war ein origineller Mensch, der sich sehr an Kerner anschloß. Er brachte es infolge politischer Verhältnisse zu keiner rechten Lebensstellung und starb trotz seiner Talente bald in sehr dürftigen Umständen. Unland machte auf ihn nach seinem Tod das bekannte Lied: »Auf einen verhungerten Dichter«. Kerner unterstützte ihn oft mit Geld, obgleich er selbst nicht dessen zu viel hatte, und oft erzählte er, wie er, wenn er mit Stoll in den Prater oder sonst wohin ging, demselben manchmal in einem sogenannten Durchgang die Schuhe, aus welchen die Zehen hervorsahen, mittelst englischen Pflasters aus seinem Verbandzeug zugeklebt habe.
In das Theater kam er mit Varnhagen öfters. Mit der größten Begeisterung erzählte er noch in später Zeit vom Mozartischen Don Juan, den er dort gehört hatte. Auch die edle Poesie vernachlässigte er nicht. Uhland schreibt an Karl Mayer: »Kerner, der bis zum Frühjahr in Wien bleibt, hat wieder Herrliches produziert. Er hat bereits den größten Teil seiner Reise in phantastisch humoristischen Schattenbriefen geschrieben.«
Im Frühjahr 1810 verließ Kerner das ihm so lieb gewordene Wien, von dem er noch in späten Tagen mit großer Freude sprach. Die Rückreise ging wieder über München, Regensburg, Nürnberg nach Augsburg zu Rickele. In Augsburg hatte er die Freude, seinen Freund Breslau, der an den dortigen Spitälern beschäftigt war, zu treffen. Nach kurzem Aufenthalt daselbst hatte Kerner das Glück, zugleich mit Rickele die Reise in die Heimat antreten zu können.
Nachdem er Rickele zu ihrer Mutter nach Schorndorf gebracht hatte, nahm er seinen Wohnsitz als Arzt in Dürrenzimmern. Dort war er aber nur wenige Monate, denn schon im Oktober 1810 siedelte er als Badearzt nach Wildbad über.