Paul Keller
»Sieh dich für!«
Paul Keller

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Auf der Fahrt nach Hause

Der Eilzug donnert durch die herbstliche Landschaft. Draußen an den Telegraphendrähten hängen dicke Tropfen, als hätten diese Drähte nichts zu melden denn Kampf und Streit, Kummer und Herzeleid und weinten über ihren traurigen Beruf.

Es gibt viel Trübes in der Welt. Mir gegenüber im Wagen sitzt ein vierzehnjähriger Knabe. Er ist blaß und trägt eine Brille. Sein Gesicht hat etwas Müdes, Greisenhaftes, seine Augen sind alt und kalt. Neben ihm seine Schwester sieht gelangweilt zum Fenster hinaus. Sie ist wohl zwölf Jahre alt; aber sie jauchzt nicht, wenn draußen Rehe stehen; sie staunt nicht einmal über die große steinerne Windmühle mit den fünf Flügeln. Ach, wie müde – ach, wie blasiert!

Da wäre ich also bei der Melodei, die alternde Leute anstimmen: »Als ich jung war, war eine bessere Zeit! Die gute, alte Zeit!«

He, du greises Gymnasiastlein mit den ledernen Oberlehrerrunzeln auf der Stirn, wirst du je in den »Sieh dich für« ziehen? wird sich je in deinem überanstrengten armen Hirn soviel wunderschöne Verrücktheit, in deinen Muskeln soviel tolle überschüssige Kraft ansammeln, daß du auf Raubtaten ausziehen mußt in den finstern Wald? Oder wird dir deine Jugend nur widerhallen von grammatischen Regeln, und werden all deine jungen Gedanken nur auf die Lösung mathematischer Aufgaben gerichtet sein, bis du durch all deine Examina gekommen – und am Ende halt einen schmal bezahlten Beruf und irgendeinen Titel hast?

Armes Gymnasiastlein! Als ich jung war ...

Da war eine kleine Kneipe in einer Hintergasse, dort wurde das schlechte Bier gut und die billige Zigarre köstlich, weil sie für uns verboten waren. Und dort sprachen wir von allen großen Dingen der Welt und lösten die schweren Probleme der Menschheit zu Dutzenden. Da war es auch, wo ich meinen Kameraden zum erstenmal vom »Sieh dich für« erzählte, von der Ernestine, vom kurzen Prozeß, von der kalten Küche, von der Höhle, vom Turm. Daß der »Sieh dich für« im Laufe der Zeit ein solides, wenig einträgliches Wirtshaus geworden sei, verschwieg ich. Ich berichtete nur das Romantische, die Räubergeschichten aus alter Zeit, da sich der Verkehr noch auf einsamer Landstraße abspielte. Von den wirklichen Marterln am Wege, von den Kirchenchroniken, in denen ich über diese interessanten Greueltaten gelesen hatte, erzählte ich. Hei, wie die Wangen brannten! War nicht der junge Schiller unser geistiger Führer? Waren nicht seine »Räuber« unser literarisches Evangelium? War nicht dieser junge Friedrich Schiller der einzige deutsche Dichter, den wir ganz verstanden, der uns herzinnig nahe stand, den wir anbeteten?

Wir beschlossen, wie Karl Moor in die Wälder zu gehen und eine Räuberbande zu gründen. Der Name, den wir wählten, war »Die Schreckensburger«. Geisterheinrich wurde zum Hauptmann gewählt. Der erste Plan wurde aufgestellt, wir wollten den »Sieh dich für«, den ich von Jugend auf kannte, überfallen, »erobern«, wir wollten ihn zur »Schreckensburg« erheben und die dort jetzt hausende Besitzerin, Witfrau Ernestine, tribut- und dienstpflichtig machen, sie aber im übrigen, da wir ???»Ekdelräuber« waren, anständig, ja gnädig behandeln. Die Bande wurde organisiert, wobei ein gräßlich anzuhörendes Gelübde der Verschwiegenheit geleistet werden mußte; jeder erhielt einen stark nach Blut, Leichen und Galgen riechenden Namen, der »Plan« wurde gefaßt. Alles war bereit. Drei Tage darauf wurde ich meinem Gelübde, zu schweigen, untreu. Ich bekam Bedenken. Die Ernestine, die Wirtin vom »Sieh dich für«, war zwar die lustigste Frau von der Welt, kannte mich von Kindheit an, aber –

Also kurz und gut, ich schrieb der Ernestine heimlich einen Brief, sie möge es nur nicht übelnehmen: ich hätte mit noch acht Kameraden eine Bande gegründet, um ihren »Sieh dich für« in der ersten Feriennacht schlag zwölf Uhr zu überfallen. Es sei ja bloß Spaß, und sie möchte, bitte, nicht erschrecken, mich aber auch nicht verraten, da ich sonst »total verratzt« sei. Darauf bekam ich einen Brief mit Ernestinens charakteristischer Schrift: »Lieber Paul! Komme nur ruhig mit deiner Bande. Verraten wird nichts. Auf fröhliches Wiedersehen! Ernestine.« Der »Überfall« geschah. Unterwegs kriegten zwei von uns Bedenken. Sie erwogen die Frage, ob wir, wenn die Sache herauskäme, »geschaßt« würden oder nur das »consilium abeundi« bekämen. Unser Häuptling Geisterheinrich verwies die Kleinmütigen aufs strengste. »Geisterheinrich« ist heute ein ausgezeichneter Schulaufsichtsbeamter im Provinzialschulkollegium. Damals war »Geisterheinrich« der gefährlichste aller Banditen. Er war es, der das Haus beschlich, er war es, der mit der Faust an die Tür donnerte und mit seiner tiefen, schrecklichen Altstimme brüllte: »Aufmachen! hier steht »Geisterheinrich« mit seiner Bande!«

Da geschah etwas Grausiges. Die Tür öffnete sich; eine riesige, ganz in weiße Tücher eingehüllte Gestalt erschien und legte eine lange Flinte auf uns an.

»Halt! wer sich rührt, ist des Todes!«

Alle standen wie erstarrt. Fünf Minuten später war die ganze »Bande« in der »kalten Küche« eingesperrt.

Als sich aber noch in selbiger Nacht nach einiger ausgestandener Angst das Gespenst als eine sehr gemütliche, humorbegabte, prachtvolle Ernestine und ihre Flinte als eine alte Knarre entpuppte, die aus dem Siebenjährigen Kriege stammte und schon bei Kolin nicht losgegangen war, da wuchs der Mut wieder, Reden und Geberden wurden tollkühn, und als die Ernestine Kirschkuchen spendierte, gelobten alle, daß der »Sieh dich für« unsere ständige Räuberburg sein und bleiben sollte.

Und so war es. Wir machten unsere Studien und wuchsen heran. Oft aber in holden Ferientagen waren wir im »Sieh dich für«, und jedesmal lag »eine neue Idee« zugrunde, und es war immer aufregend, schauerlich, blutig – und riesig gemütlich. Einmal schrieb ich da einem Freund auf einer Postkarte die Worte, die ich dieser losen Erzählung vorangesetzt habe:

»Alle Tyrannen der Welt werden am Ende lächerlich; auf dem Schindanger grasen die Gänse.«

»Spielen die Kinder« hätte ich lieber sagen sollen. Wir machten Schule. Trotz des »gräßlichen Gelübdes«, zu schweigen, sprach sich allgemach die Sache herum.

Hei, als die Schauspieler, die Maler und anderes Gesindel auf den Ulk kamen! Da hat es wilde Räubertaten gegeben, und die Ernestine hat gute Geschäfte gemacht. »Junge,« sagte sie mir einmal, »seit du die Bande gegründet hast, bin ich wohlhabend geworden; denn ohne Räuber kann nun einmal ein ›Sieh dich für‹ nicht bestehen.«

Nach und nach bildeten sich geheime ›Sieh dich für‹-Gesellschaften, die sich als ›Räuber‹, als ›Pfeffersäcke‹, als ›Femritter‹, ›fahrende Sänger‹ u. dgl. ausgaben und sich untereinander befehdeten. Manche zogen auf längere Zeit zu Ernestine ins Quartier wie die photographierende ›Prinzessin‹ und der ›Professor‹, von dem ich noch jetzt nicht weiß, ob er echt oder gemimt war. Mich selbst wirbelte das Leben herum, brachte mir viel Ernst und viel Arbeit. Selten nur noch kam ich in den ›Sieh dich für‹.

Aber manchmal überkommt mich's wie Heimweh nach jungen Tagen, nach sorgloser Laune und spielendem Übermute. Dann muß ich hin nach dem alten Räuberhause im Walde. Die Menschen, die ich dort finde, sind mir fast immer unbekannt. Es ist schon zu lange her.

Neue Menschen – aber die alte, kinderselige Torheit, liebes, närrisches Spiel! Die besten Menschen gerade haben die Sehnsucht, manchmal am Jungbrunnen der Phantasie die alten Kleider abzulegen, hineinzutauchen in die kühlen Wunderwellen und als andere Menschen emporzutauchen zum Lichte. Und wenn es auch nur Stunden sind, es ist doch Gewinn für Herz und Leben, einmal der elenden, grauen Wirklichkeit zu entschlüpfen.

Darum die Faschingsmaskeraden; darum die Träume, die den armen Fabrikarbeiter zum Könige, den König zum Vagabunden machen. Waret ihr noch nie auf Maskenbällen? War euch da nicht wohl? Freilich, wer's nicht fühlt, der wird es nicht erjagen. Wer immer in ein und derselben Haut stecken bleibt, darf sich nicht wundern, wenn er dumpf wird. Habt ihr wohl von der Gesellschaft der Berliner »Pankgrafen« gehört, die in ritterlicher Ausrüstung hoch zu Roß mit Schwertern und Hellebarden Städte überfallen, nachdem sie dem Magistrat einen ganz offiziellen »Fehdebrief« geschickt haben. Im Jahre 1928 erst mußte noch das »hochmütige« Stralsund und das »meineidige« Schwerin daran glauben. Ha, wie die überfallenen Bürger heulten – vor Freude!

Ich erinnere mich noch deutlich einer unserer Gerichtsverhandlungen anläßlich des fünfundzwanzigsten Stiftungsfestes unserer Schreckensburgerbande. Der arme Schlucker, der auf der Anklagebank saß, war des Hochverrats bezichtigt. Das Los hatte mich zum Staatsanwalt bestimmt. Ich gestehe, daß ich mich nie in einer Rolle strammer gefühlt habe als in dieser. Den Vorsitz führte einer unserer bedeutendsten deutschen Lyriker; ein bekannter Justizrat amtierte mit etwas brutaler Gewissenhaftigkeit als Gerichtsdiener, während ein berühmter Berliner Philosoph, der in Schlesien zu Gaste war, die Verteidigung übernommen hatte. Damals ist ein Mann, den man auf allen Theatern Deutschlands kennt, wegen »ungebührlichen Verhaltens im Zuhörerraum« an die Luft befördert worden; ein »Arzt« verordnete dem Angeklagten, der wiederholt ohnmächtig wurde, mehrere Kognaks und »Berliner Weiße« auf Gerichtskosten, und acht Stunden tobte der Kampf um das Schicksal des Hochverräters, den ich gern an den Galgen gebracht hätte, der aber mit einer gelinden Geldstrafe davonkam, dank des glänzenden Plaidoyers seines Anwalts.

Nicht wahr, lieber Herr Philister, gesetzte Männer sollten sich schämen, solchen Mummenschanz zu treiben? Wir aber wollen uns vertragen, wollen sagen: Bleib du, wie du bist, und laß uns bleiben, wie wir sind! – – –


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