Paul Keller
»Sieh dich für!«
Paul Keller

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Diese zärtliche Abschweifung des Schergen benutzten die Räuber, einen Ausfall zu wagen, sie stürmten nach der Tür des Wandschranks, die ins Freie führte. Der Wandschrank öffnete sich, aber auch dieser Ausgang war besetzt. Schüsse dröhnten – der schnöde Wilhelm und der Gurgelzudrücker wälzten sich am Boden –

»In die Mitte des Zimmers, Hände hoch, eins – zwei –«

Wir stürzten nach der Mitte des Zimmers zurück und hoben die Hände hoch; wir wären sonst nach läge der Dinge augenblicklich des Todes gewesen. Nur der rote Ignaz trat dem Dietrich entgegen.

»Hört mich an, Dietrich,« sprach er, und die Stimme versagte ihm fast vor Schmerz und Wut; »hört mich an! Ich war der Wächter – und wenn ich auf meinem Posten geblieben wäre, dann wäre Euch dieser Überfall nimmermehr gelungen Aber die Liebe zu einem Weibe, zu einem herrlichen Weibe verlockte mich –«

Dietrich machte eine Handbewegung

»Der Bursche redet mir zuviel!«

Ein Schuß fiel, und der rote Ignaz lag am Boden. Er fiel dicht neben den langhingestreckten Körper des grauen Otter.

»Daß Ihr doch die Leute immer nicht ausreden lassen könnt, Ritter Dietrich!« schmollte die Prinzessin von der Stubenecke her. »Es ist nicht recht, einen Menschen mitten im Satz, bei einem beliebigen Komma durch den Tod zu unterbrechen; man soll anständigerweise immer erst den Punkt abwarten.«

»Prinzessin,« erwiderte der Führer der Polizei, »es tut mir leid, wenn ich mir durch einen Interpunktionsfehler Euren Unwillen zugezogen habe. Leider scheint er nicht mehr zu korrigieren zu sein: der Mann ist tot!«

»Nein, nicht tot!« sagte der rote Ignaz und richtete sich mühsam auf; »nur – nur – schwer verwundet – und wenn ich auf – auf – dem Posten – und wenn dieser dumme Kerl – Kerl – der hier an meiner Seite liegt – der graue Otter – der leider – leider gerade – unser Hauptmann war – nicht – nicht so – saudumm –«

Da erhob der totgeglaubte graue Otter seine Hand und versetzte dem schwerverwundeten roten Ignaz eine grauenerregende Ohrfeige, worauf er selbst in liefe Bewußtlosigkeit zurückversank.

Dietrich beugte sich über die beiden.

»Der Otter ist nicht tot,« sagte er, »denn er hat ein Lebenszeichen gegeben, den roten Ignaz aber hat er tatsächlich vollends erschlagen.«

Wir standen inzwischen immer noch mit hochaufgehobenen Händen. Da flötete die Prinzessin von der Stubenecke her:

»Dietrich, laßt die Leute nicht mehr länger so stehen; die Arme werden ihnen lahm, und Ihr dürft nicht unhöflich sein.«

»Also werde ich sie entwaffnen und binden lassen,« entschied Dietrich. Einem nach dem anderen von uns wurden die Waffen abgenommen; jeder wurde an Händen und Füßen gebunden und auf den Erdboden gelegt. Das zugedrückte Auge, das Widerstand leistete, wurde erschossen.

»Hat das nun dieser Amtsvorsteher nötig gehabt?« fragte ich mich, denn der Amtsvorsteher war ja das ›zugedrückte Auge‹. Die ganze Sachlage war ungemütlich; es roch so abscheulich nach Pulverdampf in der Stube, daß ich mir sagte, es würde mir wohler sein, wenn ich jetzt zu Hause an meinem Schreibtisch säße.

Als ich an die Reihe kam, herrschte mich Dietrich an:

»Waffen her!«

Ich übergab ihm mein Federmesser, dessen Klinge zwei Zentimeter lang ist.

»Will er mich verhöhnen?« brüllte Dietrich.

Ich sagte, außer diesem Messer besäße ich an Waffen nichts als einen originellen Zigarrenabschneider, eine kleine wendische Schere, die mir lieb und teuer sei, die ich aber auch gutwillig abliefern wolle zum Zeichen, daß ich mich gegen die Polizei nicht mit Mordgedanken trage.

»Er verhöhnt mich wirklich!« sagte Dietrich; »man erschieße ihn!«

»Halt!« rief da die Prinzessin, »laß ihn leben! Denn siehe, er hat meine Pantoffeln an, und es wäre mir unappetitlich, wenn jemand in meinen Pantoffeln erschossen würde.«

»Wie kommt er zu diesen Pantoffeln?« fragte Dietrich finster.

Ich antwortete: »Die Ernestine hat sie mir geliehen, weil ich heut mit nassen Füßen hier angelangt bin. Im übrigen bin ich der bleiche Emil, bin aber solange nicht hier gewesen, daß alle meine Räubertaten längst verjährt sind. Ich bin ganz zufällig in diese Gesellschaft geraten.«

»Das wird die Untersuchung ergeben,« sagte Dietrich.

Auf einer Bank an der Wand saßen der Dichter und der Professor, sie waren nicht bei uns Gefangenen; sie waren Vertraute der Polizei, Spitzel. Der Professor kam nun auf uns zu.

»Laßt den bleichen Emil laufen,« sagte er zu Dietrich; »der tut Euch nichts. Überlaßt ihn mir! Er muß mir seine wendische Schere zeigen und muß mir erklären, ob die eigentümliche Federung der beiden Scherenmesser zuerst bei den Sorben aufgetaucht ist oder ob sie nicht von den Polen oder Tschechen stammt. Er muß das wissen, denn er hat einen wendischen Roman geschrieben.«

Ich sah den Polizeichef an.

»Darf ich Euch um eine Gnade bitten, Herr Ritter?«

»Was begehrst du?«

»Laßt mich totschießen, aber überantwortet mich nicht der Qual, mich von diesem Manne ausfragen zu lassen, selbst durch das Rad hingerichtet zu werden ist immer noch angenehmer als in langsamer, grauenvoller Marter an den Fragen eines solchen Professors zugrunde zu gehen.«

Da wurde Dietrich milde.

»Ich weiß das,« seufzte er; »denn ich bin in meinem Leben schon dreimal durch ein Examen gefallen. Aber hier kann ich keine Schwäche zeigen. Ich überliefere dich also diesem Manne auf zwei Stunden. Lebst du dann noch, dann schenke ich dir die Freiheit.«

Ganz gebrochen wankte ich mit dem Professor nach der Wandbank, wo er mir meine Schere abforderte, sie prüfte und sagte, die Slovaken und die Polaben hätten in alter Zeit solche Scheren nicht gehabt wie die Sorben; ich solle ihm sagen, wie ich mir diese höchst merkwürdige Tatsache erkläre.

Ich antwortete, falls der Herrgott die Weltgeschichte noch einmal um tausend Jahre zurückdrehen und mich dann noch einmal ins Leben rufen sollte, würde ich bei einem altslovakischen und einem polabischen Schneidermeister in die Lehre treten und dem Professor dann Auskunft erteilen. Bis dahin möge er sich gedulden.

In diesem Augenblick stieß mich der Dichter an und sagte:

»Ich wäre nicht abgeneigt, Ihnen für Ihre Zeitschrift eines meiner Originalgedichte zu überlassen. Aber ich muß 50 Pfennig Honorar für die Zeile fordern, denn ich bin Mitglied des Lyrischen Kartells.«

Darauf antwortete ich: das prachtvolle Gedicht von den Quallen wolle ich auf alle Fälle veröffentlichen, und den Honorarwünschen stehe nichts im Wege. Der Dichter strahlte vor Freude, bat mich um einen augenblicklichen Vorschuß, den ich gewährte, und fing dann an, in mein rechtes Ohr lyrische Gedichte zu deklamieren, während mich der Professor in mein linkes fragte, ob ich glaube, daß die Krücke des wendischen Schulzenstabes Heyka immer von Holz gewesen oder ob die Heyka auch als Waffe gebraucht und die Krücke deshalb manchmal aus Eisen gefertigt worden sei.

Während so mein Gehirn von der linken Seite einem wissenschaftlichen, von der rechten einem lyrischen Angriff ausgesetzt war, spielte sich vor meinen Augen eine interessante Szene ab.

Die Toten wurden in eine Reihe gelegt, die gefangenen und gebundenen Räuber dahinter auf den Boden gesetzt. Mit düsteren Augen starrten sie vor sich hin. Die Schergen, die bisher von draußen mit ihren Waffen die Räuber in Schach gehalten hatten, kamen in die Stube und lehnten nun in ihren schwarzen Trachten an den Wänden wie Statuen, die der Tod gemeißelt hat. Durch die Schlitze ihrer schwarzen Masken glühten strenge, unerbittliche Augen.

Ein Tisch wurde zurechtgestellt, darauf wurden zwei Totenköpfe und ein altes Schwert gelegt. Dietrich mit zwei Beisitzern nahm hinter dem Tische Platz, schlug dreimal feierlich mit dem Schwerte auf und sagte:

»Ich eröffne das Gericht.«

»Glauben sie, daß das ein niedersächsisches Schwert ist?« fragte mich der Professor leise.

Ich schüttelte den Kopf. »Polnischer Schlachtizensäbel! Paßt nicht zur Feme!«

»Das ganze ist Stilwidrigkeit,« knurrte da der gelehrte Mann und verließ unwirsch das Zimmer. Auch der Dichter verließ mich; er setzte sich zu der Prinzessin in die Ecke und begann mit ihr zu flüstern. Dietrich starrte lange auf die beiden. Auf mich vergaß er. Plötzlich nahm er sich mit einem Ruck zusammen und hielt eine längere Rede, in der er dartat, wie es nun dem ebenso geheimen wie verdienstvollen Bunde der Feme nach langen Mühen und mit Anwendung aller List und Tapferkeit endlich gelungen sei, eine schmähliche Räuberbande zu fangen und vor das Gericht zu ziehen, eine Bande, die der Schrecken der Lande und ein Greuel vor allen guten Menschen gewesen sei. Wie segensreich sei für unsere unsicheren Zeitläufte, in denen Recht und gute Sitte gewichen seien, ein Bund wie die Feme! Das Faustrecht herrsche in den Landen –

»Aber nur das geistige Faustrecht!« rief einer dazwischen; »die stärkere Intelligenz zwingt die schwächere zu Boden, deshalb haben wir das Faustrecht ausgeübt, weil wir im Bewußtsein unserer größeren geistigen Kraft –«

Der Richter hob die Hand, drei Schergen stürzten sich auf den Vorlauten und führten ihn durch den »Wandschrank« ins Freie. Ein dumpfer Schuß draußen, dann Stille! – –

»Und wenn es solche Strolche des geistigen Faustrechts gäbe,« fuhr der Richter fort, »dann wäre wie gegen kein anderes Raubgesindel ein Fembund gegen sie am Platze. Ein Bund, der alle intellektuellen Wegelagerer, die geistiges, anständiges Bürgertum ausplündern, am nächsten Baume aufknüpfte.«

Dietrich fuhr fort:

»Wir haben es hier mit veritablen Buschkleppern zu tun, heruntergekommenem Gesindel, das die Straßen unsicher macht. Dort liegt der Gurgelzudrücker, ein Kerl, der ungezählten Menschen mit seiner Bärenklaue den Odem des Lebens abgeschnitten hat; er war der erste Hauptmann dieser Bande. Hier liegt der graue Otter, schwerverwundet, er war der jetzige Hauptmann, wie eine giftige Schlange, die den Tod bringt, beschlich er den friedlich rastenden Wandersmann. Noch drei andere Banditen hat unsere Kugel der Rache zur Strecke gebracht; die anderen sind in unserer Gewalt und werden nicht entkommen, wir werden ein fürchterliches Gericht halten! Zuerst werden wir gegen den ärgsten unter allen, den Teufel in Menschengestalt verhandeln, gegen den blutigen Dolch.«

Ein Beisitzer verlas aus einer schwarzen Liste die Schandtaten, deren sich der blutige Dolch schuldig gemacht hatte. Schinderhannes war ein harmloses Kind gegen den blutigen Dolch. Es war eine greuliche Aufzählung. Überfälle, Einbrüche, Morde ohne Zahl. Eine Burg hatte er in die Luft gesprengt, Häuser angezündet, Reisende in Hinterhalte gelockt. Zum Schluß wurde ihm vorgeworfen, er habe einem Kaufmann eine Rippe gebogen, so daß dieser an einer Lungenkrankheit gestorben sei.

Der blutige Dolch hörte die Aufzählung aller seiner Übeltaten mit einem Grinsen an. Fragte ihn der Richter, ob er sich zu dieser oder jener Tat schuldig bekenne, so gab er zynische Antworten. Er rühmte sich seiner Greuel. Hielt ihm der Richter vor, er habe bei einem Überfall zwei Pfeffersäcke und vier Knechte erschossen, so sagte er, es seien drei Pfeffersäcke und sechs Knechte gewesen; er wisse das so genau, weil er eine genaue Registratur führe. Nur, daß er dem einen Kaufmann die Rippe gebogen und dieser darauf an einer Lungenkrankheit gestorben sei, das bestritt er. Es gab nun ein langes Hin- und Herverhandeln. Alles Zureden, doch diese eine an sich geringfügige Tat zuzugestehen, da ein solches Geständnis ja an seinem Schicksal nichts mehr ändern würde, prallte an dem Dolch ab. Jemandem eine Rippe zu biegen, sei unartig, sagte er, und er denke nicht daran, sich seinen guten Ruf schmälern zu lassen. Ein Zeuge war bei der Tat nicht zugegen gewesen, und schon wollte der Richter diesen Fall aufgeben, als durch die Wand ein Gespenst erschien.

Es war plötzlich da. Es schob mit seinen Geisterhänden zwei Schergen bei Seite und schwebte auf den Richtertisch zu. Fledermausgraue Tücher hüllten die Gestalt ein, verhüllten auch den Kopf. Das Gespenst verlöschte alle Lichter bis auf eine einzige Kerze, legte die Hand auf den Richtertisch und sagte: »Ich will Zeugnis geben gegen den blutigen Dolch. Ich bin der Geist des Kaufmanns Leonardo aus Pisa, dem er den Tod gebracht hat, als er nächtlicherweile ihn im einsamen Walde überfiel. Ich war ein starker Mann, als ich noch am Leben war, ich entwand dem Räuber seine Waffen und schleuderte sie beiseite.«

»Das ist Schwindel!« schrie der blutige Dolch dazwischen; »das Gespenst renommiert! Mir hat noch niemand meine Waffen entrissen!«

»Und wo hast du jetzt deine Waffen?« fragte ihn das Gespenst voll Hohn. Da schwieg der Dolch.

Das Gespenst aber fuhr fort:

»Wir waren ganz allein im tiefen Wald. Nur der Mond jagte durch die Wolken. Irrlichter leuchteten über dem Moor, und ein paar Käuzchen schrien. Wir kämpften auf Leben und Tod, und ich wäre wohl Sieger geblieben in dem Ringkampfe, da ich viel stärker war als der Dolch –«

»Affe!« knirschte der Dolch dazwischen. Da erhob sich der Richter und bemerkte mit juristischem Takte:

»Angeklagter, Sie dürfen den Herrn Zeugen nicht beleidigen.« Und das Gespenst fuhr fort:

»– viel stärker war als der Dolch –«

»Ich bitte das Gericht, diesen Gespensterzeugen, dessen Nationale nicht mal festgestellt ist, als nicht glaubwürdig zu betrachten.«

Da langte aus den fledermausgrauen Tüchern eine gespenstische Hand heraus und legte etwas auf den Richtertisch.

»Das ist der Beweis.«

Es war eine Röntgenphotographie. Der Richter hielt sie gegen das Licht, und der Dolch sank mit dem Ausruf: »Jetzt bin ich verloren!« auf die Seite. Hoch aufgerichtet stand das Gespenst, die Richter traten beiseite zu kurzer Beratung; sie kehrten langsamen, feierlichen Schrittes an den Tisch zurück. Dietrich schlug dreimal mit dem Schwerte auf und verkündete:

»Im Namen des Gerichts: Der blutige Dolch wird dadurch vom Leben zum Tode befördert werden, daß ihm das Gespenst eine Rippe nach der anderen in die Lungen hineindrückt.«

Das Gespenst stieß ein scheußliches Gelächter aus, ging auf den gebundenen Räuber zu, der laut aufbrüllte in seiner Todesangst, und warf sich über ihn. Ein wilder Schrei nach dem anderen. Und das Gespenst höhnte: »O, mein Söhnchen, bist du so kitzlich?« Das alles war sehr unfein, mitzuerleben.


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