Paul Keller
»Sieh dich für!«
Paul Keller

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Ein behagliches Gefühl überkommt mich. Die kleine Petroleumlampe wirft ihr gelbes Licht auf die gedunkelten Wände und über die niedere, braune Holzdecke. Neben dem uralten blinden Spiegel taste ich nach Flinten- und Pistolenkugeln, die in der Wand stecken.

Dort im Winkel ist ein Wandschrank, das heißt, es sieht nur so aus, als ob es ein Wandschrank sei; seine Tür führt direkt ins Freie. Da hinaus entwichen die Wirte vom »Sieh dich für!« in höchster Not. Sonst ist dieses Zimmer das uninteressanteste des ganzen Hauses, weil es eben die öffentliche Gaststube ist und sich da nicht allzuviel machen läßt.

Die Ernestine hat vergessen, die Fensterläden zu schließen; ein Schein fahlen Abendlichtes dringt immer noch von draußen herein. Als ich einmal zum Fenster schaue, fahre ich erschrocken zusammen.

Ein Kerl beobachtet mich von draußen. Ein wilder Kopf ist hinter den Scheiben sichtbar; verwitterte Züge, ein großer Bart, stechende Augen, über dem verbundenen Schädel ein spitzer Filz mit einer Hahnenfeder.

Das Herz schlägt mir, und die Hände werden mir kalt. Mein Urvater Bartholomä?

Nun ist die Erscheinung verschwunden, vorsichtig schleiche ich nach dem Fenster und spähe hinaus, Da – da geht er dahin. In der bunten Kriegstracht der alten Zeit und stützt sich auf ein Schwert. Aber er geht müde und langsam, und ich höre, daß er ächzt. Bei dem Ziehbrunnen, auf dessen Holzarm zwei schwarze Krähen sitzen, bleibt er ein Weilchen stehen, dann geht er weiter und verschwindet drüben im grauen Turm.

»Mach' die Fensterläden zu, mein Söhnchen!«

Die Ernestine ist wieder hereingekommen.

»Ernestine, da – da hat einer hereingeschaut – einer mit einem verbundenen Kopfe und in ganz alter Tracht –«

Die Ernestine lacht.

»Und da bist du erschrocken und hast an den Bartholomä gedacht? O, mein Söhnchen, die Großstadt hat dich doch nicht verdorben; du passest noch immer in den ›Sieh dich für‹. Es war aber nicht der Bartholomä, es war bloß der Franz.«

»Der Franz? wie kommt er zu solchem Aussehen?«

»Das hängt mit der Zigeunerprinzessin zusammen; das wirst du noch hören. Da – ich hab' dir was aufgehoben.«

Sie wickelt etwas aus einem weißen Tuche und setzt es auf den Tisch.

Es ist ein Totenkopf.

Das gelbe Licht der Lampe fällt auf den blanken Schädel. Ich schüttele mich ein bißchen.

»Was soll ich damit?« frage ich.

»O, du kannst ihn dir auf deinen Schreibtisch stellen, es ist ein sehr schön erhaltener Kopf. Ich denke, die Dichter und Gelehrten haben immer solche Köpfe in ihren Zimmern.«

»Ich bin nicht dafür, Ernestine; mir ist es lieber, wenn ich beim Arbeiten ein paar Blumen vor mir habe.«

»So werden wir ihn begraben. Es ist auch besser, der Mensch kommt endlich mal zur Ruh.«

»Woher ist er?« frage ich.

»Franz hat ihn besorgt,« sagt sie, »daher rühren auch seine zerbrochenen Rippen. Das wirst du alles hören. Es ist merkwürdig, ich grusele mich vor so was nicht.«

»Ich auch nicht,« sage ich, »das ist, weil wir beide ein gutes Gewissen haben, Ernestine!«

»Ja,« sagt die Ernestine, »wenn man kein gutes Gewissen hätte, könnte man es im ›Sieh dich für‹ nicht aushalten.«

Ich hatte das Gefühl, daß mich jemand von irgend woher scharf ansehe. Richtig, durchs Fenster grinst wieder der Kerl mit dem verbundenen Kopfe.

»Also, das ist der Franz?« frage ich schüchtern. »Dein Knecht?«

»Freilich ist es der Franz. Ich hätte es dir nicht sagen sollen.«

»Wie war das doch mit dem Totenkopfe, den der Franz ›besorgt‹ hat und der ihm die gebrochenen Rippen eingebracht hat?«

»O, das war eine ganz dumme Geschichte. Franz wirbt doch schon seit fünfzehn Jahren um die Barbara. Alle drei Tage macht er ihr einen Heiratsantrag, und immer läuft die Geschichte schlecht aus für ihn. Doch so schlimm wie diesmal war's noch nie. Der Franz hat der Barbara das Alleinsein vergruseln wollen. So hat er ihr heimlich den Totenkopf und ein Gerippe ins Bett gelegt. Den Kopf und das Gerippe hat er hier in der Nähe ausgegraben. Abends, als die Barbara in ihre Kammer gegangen ist, hat sie so gellend geschrien, als ob ihr eine Maus ins Gesicht gesprungen sei. Ganz zittrig ist sie heruntergekommen und hat so mit den Zähnen geklappert, daß ich mich hab' kaum halten können vor Lachen. Der Franz aber hat ihr flink wieder einen Heiratsantrag gemacht. Da hat sie die große Rübenkeule genommen und sie ihm in die Seite gehauen, daß ihm drei Rippen gebrochen sind.«

»Damit wollte sie also gewissermaßen andeuten, daß sie seine Werbung ablehne?«

»Freilich,« lachte die Ernestine, »das hat sie ihm begreiflich machen wollen.«

»Und hat sich das der Franz so einfach gefallen lassen?«

»I wo! Er hat sie in den ›kurzen Prozeß‹ fallen lassen.«

»Ich denke, das ist lebensgefährlich?«

Ernestine schüttelte traurig den Kopf.

»Der ›kurze Prozeß‹ ist dahin. Verdreckt! Die Dienstmädel sind seit langem zu faul gewesen, das Gemülle in den Hof zu tragen, und haben es in den ›kurzen Prozeß‹ geschüttet. So ist fast die ganze Fallgrube gefüllt. Aber geschrien hat doch die Barbara greulich, als sie hinabgesaust ist, und wie ein Aschenpudel ist sie herausgekrabbelt und eine Hand hat sie sich verstaucht. Es gibt immer was zu lachen bei uns.«

»Diese Liebesgeschichte ist interessant,« sagte ich und nickte mit dem Kopfe. »Sie weicht von den anderen Liebesvergnügungen des 20. Jahrhunderts in der äußeren Form ab. Ich werde mal etwas darüber schreiben.«

»In eine Zeitung?« fragte Ernestine erschrocken. »Du, dann mach' uns nicht zu schlecht.«

»Ernestine,« sagte ich, »dein Grog ist gut und deine Strümpfe sind warm, aber bestechen laß' ich mich nicht; wenn ich erst etwas schreibe, schreibe ich die Wahrheit.«

»Es kommt dabei zuviel heraus,« meinte sie bedenklich und traurig.

»Na, da tröste dich, Ernestine; es gibt eine ganze Menge ›Sieh dich für‹, und welchen ich meine und wo er ist, werde ich nicht verraten, oder ich werde es doch nur sehr vertrauenswürdigen Leuten sagen.«

Sie sah starr auf den Tisch, »wenn du's schon tun willst, tu's halt!« sagte sie niedergeschlagen. »Für immer läßt sich ja so etwas doch nicht verheimlichen.«

Ich beobachtete sie. Ihre Augen waren scheinbar fest auf die Tischplatte gerichtet? aber ich bemerkte, daß sie ein paarmal blitzschnell die Wimpern hob und nach dem Fenster sah. Da wandte auch ich mich rasch dorthin und sah, daß der Kerl immer noch draußen stand und der Ernestine Zeichen machte. Ich tat, als sei mir nichts aufgefallen. Die Ernestine stellte sich nun recht ruhig, fragte ganz gleichmütig und immer auch ganz wohlwollend, wie es mir in den Jahren, die wir uns nicht gesehen hatten, ergangen sei.

Aber sie hatte eine nicht völlig bemeisterte Unruhe dabei, und plötzlich stand sie auf und sagte, sie müsse nun mal nach der Küche sehen. Als ich sie begleiten wollte, wehrte sie ab. Sie käme gleich wieder, sagte sie.

Da ging etwas vor. Da planten sie etwas gegen mich selbst. Hier galt es, vorsichtig zu sein. Ich trat ans Fenster. Franz stand nicht mehr dort, aber von den Pappeln her schlich nach dem Schatten des Stallgebäudes ein anderer Kerl. Er hatte den Mantelkragen hoch aufgeschlagen und eine Pudelmütze tief in die Stirn gezogen. Und er ging auf den Zehenspitzen.

Auf alle Fälle wollte ich die Tür abriegeln. Ich hatte keine Waffe, nur einen Regenschirm, der tropfend am Ofen lehnte.

Eine bedauerliche Lage! Ich nahm einen Taschenkalender heraus und sah nach dem Datum. 15. November! Und in der Tasche hatte ich eine Zeitung mit einer Betrachtung über die kommende preußische Steuervorlage. Ich lebte also doch in meiner Zeit und ich erlebte die Geschichte wirklich; es war nicht eine der albernen Sachen, die man hinterher nur geträumt hat.

Ich wollte mir einige Notizen in mein Taschenbuch machen, aber ich merkte, daß mir die Hand zitterte. Ich war auch jetzt viel zu aufgeregt, um klare Gedanken zu fassen.

Leise schob ich den kleinen Riegel vor die Tür und ging nach der Mitte des Zimmers zurück. Von dort aus sah ich nach dem Fenster. Da fuhr mir plötzlich eisiger, scharfer Wind in den Rücken, die Lampe erlosch, dichte Finsternis war um mich her, und eine halbe Minute später war ich zu Boden geworfen und gefesselt.

»Da hätten wir ihn ja – den Spion,« hörte ich die Ernestine sagen.

»Er hat nicht an den Wandschrank gedacht,« kicherte ein Mann. »Soll ich ihm einen Knebel machen? Dann gib mal ein sauberes, weißes Taschentuch her!«

»Keinen Luxus mit sauberen Taschentüchern, das bitt' ich mir aus!« sagte die Ernestine. »Ein Knebel ist auch nicht nötig, er mag brüllen, soviel er will, es hört ihn ja niemand.«

»Wohin woll'n wir ihn sperren?«

»In die kalte Küche.«


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