Paul Keller
»Sieh dich für!«
Paul Keller

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Im November 19.. war ich wieder einmal im »Sieh dich für!«. Es war ein trüber Regentag, und das Wandern auf der Chaussee machte keinen Spaß. An den Telegraphendrähten, die sich längs der Straße hinzogen, hingen dicke Tropfen, als hätten diese Drähte nichts zu melden als Krankheit und Tod, gestürzte Kurse und abgesagte Stelldicheine und müßten nun selber weinen über so viel Trauriges.

Aber als ich in die alte Landstraße einbog, da wurde es besser. Der Weg nicht! Der wurde so sumpfig, daß ich tief einsank mit meinen hohen Stiefeln. Aber meine Freunde, die Pappeln, sangen ihr Sturmlied. Und die Weiden waren da. Der Wind zauste sie an ihren Struwelköpfen, und sie schnitten ängstliche Gesichter wie gezüchtigte Gassenjungen. Die Nebelhunde rannten übers Feld und schnüffelten in den Gräben, und es gab viel Kurzweil.

O, wie tot war aber doch die Straße selbst! Die Krähen und Spatzen saßen lieber drüben an der Chaussee, wo Pferde vorbeizogen und ander nahrhaft Getier, hier war tiefe Einsamkeit.

In alter Zeit war es anders. Da war die Landstraße die belebteste im ganzen schlesischen Lande. Da fuhren hier die Breslauer Kaufherren ihre Waren bis hinauf in die Berge und bis hinüber ins Böhmische, nach Prag. Da gab es auch noch richtige Räuber und verrufene Herbergen, und das Reisen war nicht so langweilig wie heut, wo einem ja auch das Geld abgenommen wird, aber ohne alle Romantik. Von den verrufenen Herbergen war an dieser Straße die verrufenste der »Sieh dich für«. Es war ein ganz herrliches Spitzbubenidyll. Der Weg führt dort in einer Krümmung durch tiefen, dunklen Wald, und es war in alter Zeit da meilenweit weder ein Dorf noch eine Stadt in der Nähe. Da war das Rauben und Totschlagen ein wahres Herzensvergnügen.

Die alte Ernestine sagt, einer meiner Ahnen sei – so vor zwei- oder dreihundert Jahren – auch einmal Wirt im »Sieh dich für« gewesen, sie deutet da auf ein altes Bild, das sie besitzt und worauf einer einen verbundenen Kopf und über dem wilden Barte ein paar gut durchtriebene Äuglein hat. Und der heißt Bartholomä Keller. Mit der Ernestine mag ich über historische Dinge nicht streiten; sie ist mir zu überlegen, und der Gedanke, unter meinen Urvätern einen richtigen Räuber zu haben, war mir eigentlich immer interessant und schmeichelhaft. So suchte ich in meinen Ferien oft den »Sieh dich für« auf. Die erste Nacht, in der ich als Kind dort schlief, kam ich aus dem Zähneklappern nicht heraus. Diese Nacht ist eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens.

Tratsch, platsch – der Weg ist miserabel. Ich stöhne. O, alter Bartholomä, wenn du wirklich mein Urvater bist, was wirst du zu diesem Stöhnen sagen?

Das wirst du sagen:

»Tintenfisch, was bist du für ein Schwächling! Sieh, bei solchem Wetter kommen die Leute in die Herberge. Müssen kommen, weil das Viehzeug nicht weiter kann. Und dann –«.

Er reibt sich seine Hände, die voll von Warzen, Haaren und blutigen Striemen sind. Wenn es die Pietät nicht verletzte, würde ich sagen, er sei eigentlich ein greulicher Kerl. Da – jetzt wird der Wald schon höher und dunkler. Jetzt kommen schon die Steinkreuze am Wege, die stummen Denkmäler für Leute, die hier »verunglückt« sind. Und jetzt noch eine scharfe Biegung, und da liegt das Gasthaus zum »Sieh dich für«, neuerdings genannt »Die Schreckensburg«.

Das Stallgebäude und die Scheune sind neu und fallen ganz aus dem Bilde; aber das Wohnhaus ist uralt. Es ist »aus mütterlicher Erde gestampft«, ein riesiges, unheimliches Gebäude mit einem runden, stumpfen Turme an der einen Flanke. Das langschleppende Strohdach reicht fast bis auf die Erde und umrahmt einen hohen, spitzen, drohenden Giebel. Die Fenster sind winzig klein, bilden eine ganz unregelmäßige Reihe. Die Tür ist so niedrig, daß ich mich schon als Knabe bückte, wenn ich hindurchwollte. Vor dem Hause ist ein Ziehbrunnen, der streckt seinen großen Arm unheimlich in die abendliche Luft.

Ein wütender Hund kläfft, sonst ist alles totenstill. Ich nähere mich vorsichtig der Haustür. Gleich hinter der Tür im Hausflur drin ist eine Fallgrube. Sie heißt seit alter Zeit »der kurze Prozeß«. Wer unvorsichtig über die Schwelle tritt, wenn die Grube offen steht, fällt in die Tiefe und wird nicht mehr gesehen.

Ich taste von draußen mit dem Stocke nach dem »kurzen Prozeß«. Er ist geschlossen, und ich gehe über ihn hinweg in die dichte Finsternis des Hauses. Der Hund heult, und irgendwo klirrt eine Kette. Dann tönt ein Ächzen aus dem Dunkel. Ich taste mich nach rechts, da ist die Tür zur Gaststube. Beklommen trete ich in den niederen Raum. Das fahle Abendlicht fällt durch die kleinen Fenster. Da erhebt sich aus einem Winkel eine gewichtige Gestalt.

»Was wollen sie?« fragt eine tiefe Frauenstimme. Ich rege mich nicht.

Nun kommt die Gestalt auf mich zu, stutzt, faßt mich mit derben Fäusten und schiebt mich zum Fenster. Dort bricht sie in ein schallendes Gelächter aus.

»Wahrhaftig, jetzt dacht' ich nich Wunder, wer kommt; dabei is es bloß der Keller Paul!«

»Jawohl, Ernestine, er ist es!« lache auch ich.

»Mensch, du bist übergeschnappt,« sagt sie nun wohlwollend besorgt, »den Schnupfen, den du dir heute holst, wirst du bis Ostern nicht los. Na, wart' mal, da müssen wir gleich trockene Strümpfe und Schuhe besorgen.«

Sie geht hinaus, und ich bleibe allein. Draußen stöhnt es wieder, und ich höre deutlich, daß es ein Mensch ist.

»Is dir recht, du Kujon!« höre ich jemand sagen.

Dann Stille.

Nur der Hund heult. Jetzt kommt die Ernestine zurück, sie bringt eine kleine wackelige Petroleumlampe. In dem Halblicht heben sich die riesigen Dimensionen dieser Frau gespenstisch ab. Unter dem Kopftuch quellen weiße Haare hervor, aber das Gesicht ist immer noch frisch rot und fast ohne Runzeln.

»Es ist verrückt von dir, daß du bei dem Wetter kommst,« sagt sie, »aber es ist doch höllisch hübsch, daß du da bist. Gib mal die Stiefel her!«

Sie zieht mir die durchnäßten Stiefel und Strümpfe aus.

»Ich hab' dir Strümpfe von mir mitgebracht,« sagt sie. »Zu klein werden sie dir nicht sein, und graul'n brauchst du dich auch nicht; es sind meine Sonntagsstrümpfe, und ich habe sie erst dreimal angehabt.«

Damit streift sie mir zwei rote Strümpfe, die größer als Kürassierstiefel sind, bis weit über die Knie. »So,« lacht sie, »und dazu nun persische Pantoffeln.«

Sie stülpt mir zwei Pantoffeln von reizender orientalischer Arbeit auf die Füße.

»Einen Grog braue ich dir auch. Echter Hennessy mit drei Sternen.«

»Hör' mal, Ernestine, Ihr habt wohl wieder einen kolossalen Fang gemacht im »Sieh dich für?«

Sie lacht.

»Es geht an. Es gab Zeiten, in denen das Geschäft schlechter ging.«

»Von wem sind die Pantoffeln?«

»Von einer Zigeunerprinzessin. Sie liegt im Turm.«

»Schon lange?«

»Hm. Sechs Monate. Können auch sieben sein.«

»Und der feine Kognak?«

»Von einem fahrenden Magister.«

»Du drückst dich sehr gewählt aus, Ernestine.«

Sie lacht wieder.

»Man lernt das so. Mit geringem Volke geben wir uns hier schon lange nicht mehr ab.«

Ich nicke, denn ich weiß das schon.

»Wo ist denn der Magister?«

»In der Höhle unten mit noch einem anderen.«

»Was ist das für einer, der andere?«

»Ein Hanswurst. Aber er glaubt, er sei ein Sänger.«

»So, das ist ja interessant. Da ist es doch gut, daß ich wieder einmal hergekommen bin.«

»Du wirst mir meine Gefangenen hoffentlich nicht entführen.«

»Du kennst mich doch, Ernestine.«

»Natürlich! Einer, der vom alten Bartholomä stammt, tut so etwas nicht.«

Wir lachen uns an. Von draußen tönt wieder das Stöhnen.

»Wer stöhnt denn draußen so jämmerlich?« frage ich.

»Ach, es hat nichts auf sich: nur drei gebrochene Rippen. Und schon eingepflastert.«

»Ja, ja,« sage ich, »ihr seid human.«

»Muß man auch, muß man auch, sonst verlöre man am Ende die Konzession,« sagt die Ernestine. Dann entfernt sie sich, um mir den Grog zu brauen.


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