Gottfried Keller
Martin Salander
Gottfried Keller

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13

Mit der Zeit ward Martin Salander ein vielbeschäftigter Mann im Rat und außerhalb desselben und kam im Schwanken des Parteilebens, im Sichkreuzen der Anforderungen wie in einen Wirbelwind zu stehen, da ihn alle an sich ziehen wollten.

Der Kampf drehte sich nun vorzüglich um die Frage, ob die neueste schweizerische Volksherrschaft dem Andrange der sozialen Umwälzung ihren Grund und Boden zur Verfügung stellen solle, das heißt ob man dem Volke vorgeben könne, es sei das sein Zweck und sein Wille gewesen. Durch diese Frage entstand ein gelindes Schieben und Verändern der Parteibestände, während das Volk im ganzen, als ein fremder, dunkelartiger Körper betrachtet, schwieg.

Salander verfolgte den Mittelweg, die Fühlung mit dem gesellschaftlichen Umsturz abzulehnen, dagegen die Zustände durch das Verstaatlichen aller möglichen Dinge in den bisherigen Formen zu erleichtern und zu verbessern, so daß er einen Standpunkt einnahm, den er vor kurzen Jahren noch bestritten hatte, die damaligen Inhaber jedoch als einen überwundenen schon preiszugeben bereit waren.

Indessen nahmen auch diese alles Gebotene vorläufig auf Abschlag und zur heilsamen Übung entgegen; in den Gemeinden und draußen im Bunde wehte der nämliche Wind, überall wurden Ausgaben beschlossen zu Hilfs- oder Kulturzwecken; Martin Salander aber war unermüdlich, mitzuwirken und neue Erfindungen in Umlauf zu bringen.

Seine Schwiegersöhne leisteten ihm zuweilen Adjutantendienste, indem sie überall, wo sie hinkamen, seine Ideen oder solche, für die er einstand, in den Gemeinden unter das Volk warfen, auch wo niemand an eine neue Unentgeltlichkeit oder öffentliche Wohltat gedacht hatte, die nun sofort unentbehrlich schien.

Marie erbaute sich ordentlich an dem guten Herzen Martins, mit welchem er sich dieser Tätigkeit freute. Eines Tages fand sie in einem seiner abgelegten Röcke das Taschenbuch mit den Budget- und Staatsrechnungsauszügen.

»Hast du das Buch nicht vermißt?« fragte sie, ihm dasselbe zeigend; »es steckte in dem alten schwarzen Rock, den du seit einem Jahre nicht mehr anzogst.«

Salander besah das Buch.

»Hm! wahrhaftig, ich hab' es nicht vermißt! Ich brauche es auch nicht mehr so notwendig; denn erstens sind mir diese Dinge jetzt geläufiger und sodann wird unlang eine Verschiebung derselben eintreten müssen. Verschiebung, das ist eigentlich ein schlechtes Wort, welches die heimlichen Sozialisten in den Mund nehmen, wenn sie friedlich verschämt andeuten wollen, wohin sie zielen. Daß eine etwelche Verschiebung stattfinden werde, heißt es dann, sei nicht zu bezweifeln und nur eine Frage der Zeit!«

»Aber was meinst du denn damit?«

»Ich? Siehst du, ich meine es ungefähr so: durch den gebieterischen Fortschritt der Zeit wachsen die Ausgaben auf allen Punkten so sehr, daß die Einnahmen sie nicht mehr decken; wenn zum Beispiel die Gemeinden die ihnen gestellten Aufgaben gehörig lösen wollen, so werden sie zu stark belastet, und der Staat, will sagen der Kanton, muß ihnen beispringen und einen Teil seiner Einkünfte abtreten. Da aber die Kantone selbst ihre erhöhten Ausgaben zu bewältigen haben, die Steuern aber nicht ins unendliche vermehren können, so müssen sie den Bund in Anspruch nehmen, der sich zu erklecklichen Beiträgen wird verstehen müssen, wenn er seine höheren Pflichten erfüllen will. Wiederum sind die Einnahmen des Bundes nicht unerschöpflich, und es mehren sich gleichzeitig seine eigenen gewohnten Ausgaben. Also müssen wir suchen, ihm neue Quellen zu eröffnen und die Mittel zu beschaffen, die er für alle das braucht.«

»Das ist ja der reine Ringelreihen!« lachte Marie; »sehr lustig und listig zugleich, wie ich verstehe! Oder wir machen es wie der Mann, der seinen Geldbeutel den ganzen Tag von einer Tasche in die andere steckt; so kann er sich einbilden, er habe hundert Geldbeutel, und kauft sich alles, was er will. Ist es nicht so?«

»Nicht ganz so, meine Liebe! Ich kann es dir jetzt nicht näher auseinandersetzen, es sind eben nationalökonomische Dinge! Man nennt es Volkswirtschaft!«

Sein Lieblingsfeld war aber die Volkserziehung; sie galt ihm als die wahre Heimat, in welcher er seinen frühen Abfall von der Schule gutmachen müsse. In seinem heiligen Eifer ahmte er unbewußt die jüdischen Krämer nach, die das feilschende Publikum so stark überfordern, daß sie eines mäßigen Preises sicher sind. Aber das Ideal, an welchem er arbeitete, stand ihm so fest, daß er doch ernstlich an die Erreichbarkeit seiner Höhe glaubte. Jeder der rastlos auftauchenden Schrullen widmete er seine Aufmerksamkeit, half sie abrunden, zu einem annehmbaren Gebilde ausgestalten und vertrat sie dann mit allem ihm zu Gebote stehenden Einfluß in den Aufsichtsbehörden, in denen er saß, in Vereinen und bei jeder Gelegenheit im Großen Rate.

»Ich hoffe es doch noch zu erleben,« sagte er eines Tages zur Frau, »daß keiner unserer Jünglinge zu Stadt und Land vor dem Antritt des zwanzigsten Jahres aus der staatlichen Lehre entlassen wird!«

»Was sollen sie denn so lange treiben?«

»Lernen und immer lernen! Üben und wieder üben! Bedenke doch nur, wie sehr sich der Stoff häuft! Haben wir erst durchgesetzt, daß der tägliche Schulbesuch bis zum fünfzehnten Jahre dauert und ein allgemeiner Sekundarunterricht eingeführt ist, so fängt die Fortbildung an in den mathematischen Fächern, im schriftlichen Ausdrucke, in der Kenntnis des tierischen Körpers und Gesundheitspflege, vermehrten Landeskunde und Geschichte. Die stete Ausbildung im Turnen und militärischen Exerzitium ist schon vorgeschrieben, muß aber besser betrieben werden, besonders die Schießübungen müssen früher und zahlreicher stattfinden. Selbstverständlich geht neben allem her die fortgesetzte Pflege des Gesanges und der Musik, letztere, insofern sich in einer Gemeinde genug Knaben finden, die zum Spielen von Blasinstrumenten, den Trägern der heutigen Volksmusik, veranlagt sind –«

»Gottlob, dies gefällt mir am besten!« unterbrach Marie die Rede des Mannes und seinen Spaziergang im Zimmer zugleich. Mit einem »Wieso?« blieb er stehen.

»Ei, wenn ihr erst das gute Volk mit der Kenntnis des menschlichen Körpers und der regelmäßigen Pflege der Gesundheit zu einem einzigen Hypochonder gemacht habt, so kann es sich an der Volksmusik herrlich wieder aufheitern! Und so wird die Demokratisierung der Kunst, von der du damals, erinnerst du dich? an der Hochzeit unserer Kinder gesprochen hast, immer mehr ihren wohltätigen Einfluß bewähren! Aber fahre lieber fort!«

»Ich bin bald am Ende! Nähern sich die jungen Männer ihrem zwanzigsten Lebensjahre, etwa im achtzehnten, werden sie staatsbürgerlich eingeschult. Die Verfassungskunde haben sie schon in der Alltagsschule rasch durchgemacht als Knaben; jetzt wird sie in den flüchtigeren Köpfen halb verblaßt sein. Sie wird also nochmals kräftig aufgefrischt und abschließlich sodann der ganze Kreis der Gesetzgebung für das Verständnis geöffnet, kurz ehe sie in den Genuß und die Pflichten der Volksrechte eintreten. Ich dächte, das wären Sachen genug, die Zeit auszufüllen! Schwierig wird es im Anfang wohl sein, gleichmäßig und beharrlich vorzugehen, doch es wird gehen müssen, wenn die Rechte selbst nicht eine Ironie werden sollen! Ich habe noch vergessen, daß nebenher jeder junge Bursche lernen soll, sich einen schlichten Tisch oder eine Bank zu zimmern, und daß auch hierfür auf eine Einrichtung zu denken ist!«

»Das letztere ist gut, es wird den Übermut unseres üppigen Handwerkerstandes dämpfen! Die Axt im Haus erspart den Zimmermann!« bemerkte Frau Marie.

Martin machte ein ebenso rätselhaftes Gesicht wie seine Frau, da er nicht wußte, wie es gemeint war; denn der genannte Stand war just übel dran.

»Mein Vortrag scheint nicht deine durchgehende Billigung zu haben!« sagte Martin, abermals vor ihr stehenbleibend. »Es ist dir zu vieles darin, nicht wahr?«

Aber mit ernster Miene und prüfend zu ihm aufblickend, erwiderte sie: »Nein, lieber Mann! Es fehlt mir im Gegenteil noch etwas ziemlich Wichtiges an dem Programm, was aber vielleicht nicht dazu gehört und einer besonderen Entschließung vorbehalten ist. Vergessen oder übersehen worden kann es nicht sein!«

»Was wäre denn das? Vielleicht die obligatorische Kochschule auf Staats- und Gemeindekosten? Aber die gehört in das Programm der Mädchenerziehung, das auch in Aussicht genommen ist. Du wirst ohne Zweifel in die betreffende Frauenkommission berufen werden und dich als meine Gattin nicht wohl entziehen können!«

»Das meine ich alles nicht! Ich meine den schrecklichen Kriegszug, welchen die Schweizer nach Asien oder Afrika werden unternehmen müssen, um ein Heer von Arbeitssklaven oder besser ein Land zu erobern, das sie liefert. Denn ohne Einführung der Sklaverei, wer soll denn den ärmeren Bauern die Feldarbeit verrichten helfen, wer die Jünglinge ernähren? Oder wollt ihr diese besolden, bis sie zwanzig Jahre alt sind und dann alles verstehen, nur nicht zu arbeiten, den gezimmerten Tisch und die Bank ausgenommen?«

»Aber Marie! Was soll denn das heißen?« sagte Martin mit rotüberlaufener Stirne; »du erwiderst ja mein ehrerbietiges Vertrauen heute mit lauter Satiren, und das von den bitteren!«

»Verzeih mir, Martin! Ich bin nicht bitteren Herzens, ich weiß ja, wie du in allem gesinnt bist! Ich bin bloß ein bißchen traurig, weil ich auch weiß, daß du einer großen Enttäuschung entgegensteuerst, und das tragen wir in unserm Alter nicht mehr so leicht wie früher!«

»In unserm Alter? Woher sind wir alt, wenn wir es nicht wollen sein? Und was die Illusionen betrifft, so tun sie nicht weh, so wenig als bunte Seifenblasen, die uns an der Nase platzen!«

Dies sagte er mehr zum Scherz, um den ernstgewordenen Ton der Frau abzulenken, der ihm unbequem wurde. Denn unter den zahlreichen Gegnern des so ausgedehnten Unterrichtswesens hatte noch nicht ein einziger Mann gewagt, sich in dieser Weise zu äußern.

»Lassen wir jetzt die Geschichten, die dich nicht freuen,« nahm er wieder das Wort, »und kommen wir auf die Kinder zu reden, deren Hochzeit du vorhin gedachtest! Ich wollte dich schon einmal fragen, warum man die jungen Frauen nie mehr sieht. Oder ist die eine oder andere in meiner Abwesenheit gekommen? Früher, im Anfang, trafen sie gern etwa bei uns zusammen, wenn sie die Männer in die Stadt begleiteten, das ist auch seit geraumer Zeit nicht mehr geschehen.«

Marie Salander wurde noch viel ernster, als sie schon gewesen war, sagte aber nur: »Ich weiß nicht, was es ist, es fällt mir auch auf. Aus ihren knappen Briefchen ist schon lange nichts mehr zu entnehmen, was sie näher angeht. Ich dachte, du wüßtest mehr von ihnen, weil du ja mit den Schwiegersöhnen verkehrst, die sich noch weniger hier sehen lassen.«

»Es hat auch aufgehört bei mir! Ich habe mich ihrer Dienstleistungen in ihren Bezirken vertraulich bedient; als ich aber wahrnahm, daß sie zu viel Brimborium dabei machten und namentlich jede unbedeutende Geschichte zu einer Reise und Lustbarkeit benutzten, hielt ich es als Schwiegerpapa für meine Pflicht, diese Art Verkehr einzustellen. Übrigens alles ohne üble Nachrede, denn es sind immer noch junge Leute!«

Frau Salander seufzte erst jetzt ein weniges, als sie sagte, sie wisse doch etwas mehr als der Mann, obschon nichts Erkennbares, und wolle nicht länger damit zurückhalten. Sie fuhr also fort: »Seit einem halben Jahre ist weder Setti noch Netti mehr hier gewesen; von guter Hand habe ich jedoch vernommen, daß sie untereinander sich seit länger als einem Jahre nicht mehr sehen, daß sie sich sogar zu vermeiden scheinen, so gut sie können, während sie in den ersten Zeiten ihrer Verheiratung einander jede Woche einmal besuchten, bald im Lautenspiel, bald auf dem Lindenberg zusammensaßen. Was ist nun das? Was ist geschehen? Ich weiß es nicht, und niemand will es wissen!«

»Vielleicht ist es eine Kinderei,« meinte Salander einigermaßen betroffen, »vielleicht doch mehr!« setzte er nach einer Minute Nachdenkens hinzu; »am Ende hat sich der Zwillingswahn, von dem sie besessen waren, in eine andere Idee verwandelt oder ein Junges bekommen, da sie selbst noch kein Kind haben!«

»Vielleicht und am Ende«, entgegnete die Frau, »wäre es ein Glück, wenn sie überhaupt keine Kinder bekämen. Es will mich eine Ahnung beschleichen, als ob etwas nicht in Ordnung wäre und die Kinder nicht wagten, sich uns anzuvertrauen, namentlich mir, weil sie nur ihrem Willen gefolgt sind.«

»In diesem Falle müßte man doch suchen, dahinterzukommen und ihnen zu helfen!«

»Das habe ich schon gedacht; aber wie, ohne mehr zu schaden als zu nützen?«

»Ich glaube, das einfachste wäre, sie beide eines schönen Tages mit unserer Heimsuchung zu überraschen, die wir den Leutchen sowieso schuldig sind; wir waren erst einmal bei jeder Partei! Wenn wir bei gutem Wetter mit einem Morgenzuge nach Unterlaub führen, zu Setti hinauswanderten und uns dort ein oder zwei Stunden aufhielten, so würden wir zunächst ungefähr merken, wie es dort steht oder ob etwas zu erfahren ist. Dann kutschieren wir auf der Kreuzbahn nach Lindenberg hinüber und fordern Setti auf, mit uns zu Netti zu kommen. Wir werden ja sehen, ob sie's tut oder was sie sagt und was sich weiter begeben wird. Abends sind wir bequem wieder hier.«

Der Frau Salander war dieser Vorschlag willkommener wie auch die Besorgnis tiefer, als sie erraten ließ. Sie verschoben die Fahrt deswegen aber keineswegs; an einem der nächsten Tage reisten sie nach der Station bei Unterlaub und gingen zu Fuß in das sogenannte Lautenspiel. Als sie die liebliche Lage des Hauses in dem lichten Buchenbestande, der es zur Hälfte umgab und vom Finkenschlag widerhallte, mit neuem Wohlgefallen erblickten, sagte Martin Salander: »Es müßte doch nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn in diesem idyllischen Frieden ein ernstliches Unheil gedeihen könnte! Wie reinlich ist der Kies auf dem ganzen Platz geharkt; und auch das Parkgehölz ist in sauberstem Zustande, und darüber weg sieht man noch eine mächtige Kronenfülle des eigentlichen Forstes sich links die Höhe hinanziehen!«

»Ja, es ist schön hier!« antwortete Frau Marie, »vielleicht nur zu schön für müßige Herzen!«

Sie gingen um das Haus herum, wo an der hinteren Türe wie an der vorderen eine kleine Orangerie in alten Kübeln aufgestellt war. Bei einem der Bäumchen stand Frau Setti Weidelich in schönem Kleide, mit dem Ausbrechen abgängiger Blätter beschäftigt. Ihr Gesicht schien im Profil schmäler als früher, blasser und vor allem freudlos.

»Da sieh!« flüsterte Marie Salander, den Mann am Arme berührend.

Er blieb einen Augenblick stehen und sah die Tochter, ging dann aber um so rascher vorwärts, so daß Setti die im feinen Kiese knirschenden Schritte hörte und sich wendete. Kaum erblickte sie Vater und Mutter, so strahlte ungewohnte Freude auf ihrem Gesichte, einen Schleier der Wehmut durchbrechend, der sich gleichzeitig darüber verbreiten wollte. Aber nur zögernd trat sie ihnen entgegen, bis sie sah, daß die Eltern die Schritte beschleunigten, und ihnen nun in die Arme flog.

»Muß man dich aufsuchen, wenn man dich einmal sehen will?« fragten sie, »und Netti auch? Was ist das für eine Aufführung?«

Setti errötete stark und schlug die Augen nieder.

»Ich weiß nicht, ich komme nicht von Hause weg,« entgegnete die junge Frau verlegen, »aber habt ihr denn Netti auch nicht gesehen?«

»So wenig wie dich! Wo fehlt es denn?« fragte die Mutter.

»Wo sollte es fehlen? Auch die zufälligen Ursachen können sich ja gleichen und überall dieselben Folgen haben! Aber wollt ihr nicht ins Haus kommen und ausruhen, liebe Eltern? Wie sehr erfreut ihr mich! Darum hat es nur auch so schön geträumt in der vergangenen Nacht!«

»Geträumt? Und was denn?« fragte der Vater.

»Es war mir, als sei ich ein kleines Kind, das auf der Landstraße wandert und nicht weiß, wohin. Am Arme trug ich ein Säcklein, worin sich ein Apfel und ein Stück Brot befand. Ich hatte Hunger und setzte mich auf einen Stein; allein das Säcklein war so fest zugeschnürt mit einem verwickelten Knoten, daß ich nicht zu dem Brote gelangen konnte und mir sehr weinerlich wurde. Da sah ich plötzlich mir gegenüber ein Haus in einem prächtigen Blumengarten, in welchem Musik ertönte und ein großes Tellerklappern und Gläserklingen, und denkt euch! an eines der offenen Fenster traten ein Herr und eine Frau mit Blumensträußen in den Händen, und das war niemand anders als Herr und Frau Salander, die Hochzeit hielten; jung und sehr hübsche Leute waret ihr und sahet, daß ich mein Säcklein nicht auftun konnte und dazu weinte; so rieft ihr mich zu euch hinauf. Ich kam sogleich, und der Vater sagte: ›Zeig' her dein Säckchen, wir wollen dir's aufmachen.‹ Du löstest den Knoten und hieltest es geöffnet der Mutter hin, die griff hinein und zog das Regenbogenschüsselchen hervor, das sie uns Kindern einst gezeigt, als wir ungegessen ins Bett sollten. Es war aber eine ordentliche goldene Schüssel oder vielmehr ein Teller. ›Potztausend!‹ rieft ihr beide, ›wie heißt du, kleines Mädchen?‹ Als ich es sagte, hieß es: ›Der Name ist uns nicht unbekannt! Wir wollen dich an Kindes Statt annehmen um dieses schönen Tellers willen.‹ Da mußte ich zwischen euch an dem Tische sitzen, bekam herrliche Krebssuppe auf den goldenen Teller, daß der Nasenzipfel des Heinricus Rex kaum noch durchschimmerte. Die Krebssuppe, von der ich geträumt, hängt offenbar mit den Krebsschalen zusammen, mit welchen die Erdmännchen im Märchen der Mutter geharnischt waren. Merkwürdigerweise war ich auf meinem Sessel als Kind so groß wie alle anderen Leute!«

So plauderte Setti vergnügt und zufrieden die Treppe hinauf. »Träume sind Schäume,« sagte der Vater. »der deinige soll dir indessen bedeuten, daß wir dich jederzeit von neuem adoptieren! Nicht wahr, Marie?«

Die Mutter nickte nur, und da sie zugleich in die Stube traten, fragte sie: »Wo ist denn dein Mann? Darf man denn in die Kanzlei gehen, ihn zu begrüßen?«

Die Tochter wurde sofort wieder ernster und errötete abermals, als sie erwiderte, Isidor sei ins Dorf gegangen, wo er Geschäfte habe und zuweilen einen Frühschoppen nehme, besonders wenn etwas Politisches um den Weg sei. Er werde wohl bald kommen, sie wolle übrigens den Schreiber schicken, ihm zu sagen, wer da sei.

»Durchaus nicht! Laß ihn nur ungestört!« sagten die Eltern gleichzeitig.

»So bitte ich, zu befehlen, was ihr für den Augenblick genießen mögt, ein Glas süßen Wein, eine Tasse Tee oder Bouillon? Auch Schokolade haben wir.«

»Wenn die Fleischbrühe schon kräftig genug ist, so gib uns ein paar Löffel voll, der Vater nimmt sie auch am liebsten, wie du weißt«, entschied die Mutter; »mach indessen keine Umstände mit uns, wir wollen uns keineswegs gütlich tun! Und für den Mittag triff nun gar keine weiteren Anstalten, hörst du? Wir sind mit allem zufrieden!«

»Liebe Mutter, ich muß doch etwas dazu holen lassen, nur ein Stückchen Fleisch, ein paar Fische aus unserm Weiher, schon des Mannes wegen; er würde sich sonst geniert fühlen. Bitte, laß mich machen!«

»Nun, so mach zu, du mußt es besser wissen!« versetzte Frau Marie, »sag aber: du kleidest dich im Haus ja wie eine Prinzessin! Dreh dich einmal um, das ist ja ein Staatsrock! Der Tausend, was für Garnituren! Und hast nicht einmal Besuch erwartet!«

Wiederum blickte Setti zur Seite, als sie berichtete, der Mann wolle es so haben und sie müsse es des lieben Friedens willen tun. Nun sei sie es gewöhnt und wisse kaum noch, daß sie hübsch gekleidet gehe.

Martin Salander fragte, ob ihr Schwager Julian es auch so mache, worauf sie erwiderte: »Freilich! Sie tun in allem das gleiche, und ich glaube nicht, daß sie es verabreden!«

»Was, diese jungen Schnaufer?« warf die Mutter dazwischen. »Auf diese Weise braucht ihr ja die Zinsen von eurer mäßigen Mitgift allein für die Kleider?«

»Ich glaube, wir wissen beide nicht, was wir eigentlich brauchen; denn die Männer heben alles auf den Kanzleistuben in den feuerfesten amtlichen Kassenschränken auf, und alles, was zu bezahlen ist, holen sie dort.«

Die Frau Notarin ging hinaus, ihr Geschäft zu besorgen, worauf die Mutter zu Herrn Salander sagte: »Da haben wir nun die mütterlich liebevollen, die Jünglingsmänner so wohltätig beeinflussenden Gattinnen!«

»Ich bin ganz stupid!« entgegnen er, »das sind ja verfluchte Kerls von Tyrannen! In dem Punkte haben die Mädchen, wie es scheint, völlig recht behalten: sie werden bald Männer sein! Wenigstens ihren Weibern sind sie gewachsen!«

Als Setti zurückkam, sprach die Mutter zu ihr: »Wir haben uns vorgenommen, nach dem Essen nach Lindenberg zu fahren, um auch deine Schwester Netti zu sehen. Wir rechneten darauf, dich mitzunehmen, um euch beieinander zu haben. Du kannst doch abkommen? Du fährst abends hierher zurück!«

Die Tochter erschrak sichtlich bei dieser Eröffnung und erbleichte. »Ich weiß doch nicht,« meinte sie, »ob ich heute weggehen kann. Isidor hat von Geschäften gesprochen, die er nachmittags irgendwo zu verrichten habe. Wenn niemand da ist, so schleicht sich der Schreiber auch weg.«

»Und da mußt du die Kanzlei hüten?«

»Jedenfalls das Haus; es steht so abgelegen, daß ich die Magd nicht allein darin lassen kann; auch weiß ich den Leuten, die dies oder das zu fragen kommen, eher Bescheid zu geben. Zuweilen arbeite ich sogar ein wenig für die Langeweile, wenn die Kanzlei leer steht, und habe schon manche Hofbeschreibung kopiert!« Das ließ sich alles hören; allein sie brachte es so ängstlich vor, daß eine gewisse Scheu, mit nach Lindenberg zu gehen, nicht mehr zu verkennen war. Aus der letzten Bemerkung schöpften die Eltern überdies den Verdacht, die Tochter werde zum Abschreiben angehalten, so unwahrscheinlich es sie sonst gefunden hätten, daß sie es leiden würde. Genug, die Mutter vermochte nicht länger die Zeit zu verlieren, dem Ziele ihres Ausfluges näherzukommen, und sagte, die Hand der jungen Frau ergreifend, mit milden, aber eindringlichen Worten: »Sag' uns jetzt den wahren Grund, warum du nicht mitgehen willst! Wir sind deshalb gekommen und wollen erfahren, was zwischen euch vorgefallen ist, daß ihr nicht mehr miteinander verkehrt und euch bei uns nicht mehr blicken laßt! Warum bist du so gedrückt, ja traurig, wirst rot und bleich, und vielleicht finden wir deine Schwester im gleichen Zustand!«

»Rede nur, Kind, es muß sein, wir gehen nicht fort, ohne Klarheit zu haben!« fügte der Vater hinzu.

Die Tochter stand da, ohne ein Wort hervorzubringen. Die Eltern wurden selbst verlegen und wußten nicht, sollten sie weiter in die Tochter dringen oder nicht. Zuletzt sagte Salander noch aufs Geratewohl: »Ist vielleicht das Glück ausgeblieben oder schon verschwunden, auf das ihr hofftet?«

»Ja, so ist es!« antwortete Setti fast tonlos. Sie zog ihre Hand aus derjenigen der Mutter, suchte nach dem Taschentuch und bedeckte sich Mund und Augen, indem sie ein krampfhaft ausbrechendes Schluchzen zu ersticken suchte. Sie ließen die Arme sich etwas erholen, ehe sie weiterforschten. Endlich fing sie von selbst wieder an.

»Es ist nichts mit ihnen! Sie haben keine Seelen! O Gott, wer hätte das denken können!«

»Wer? Ihr selbst!« sagte die Mutter, die sich die Tränen zornigen Mitleidens aus den Augen rieb.

»Wir wissen es und schämen uns vor Vater und Mutter, und an den jungen Bruder mögen wir gar nicht denken! Aber auch vor uns selber schämen wir uns gegenseitig und können uns nicht ansehen. Sobald wir der schrecklichen Täuschung recht innegeworden sind, haben wir uns fliehen müssen wie Menschen, die eine gemeinsame Untat verübt haben. Und doch habe ich Heimweh nach der Schwester und sie gewiß auch nach mir! Aber wenn wir zusammen sind, so ist es, als ob jede zwei böse Gewissen in sich fühlte!«

Martin und Marie Salander gingen aufgeregt nebeneinander hin und her.

»Für jetzt wollen wir es genug sein lassen! Du mußt mit uns kommen, Setti; ihr sollt euch wieder zurechtfinden, so wird es schon besser gehen. Jetzt wasch die Augen aus, der Mann kann jeden Augenblick erscheinen, und wir dürfen uns nichts merken lassen, eh wir alles überlegt haben und wissen, was wir tun wollen!«

»Es wird nichts zu tun sein!« entgegnen Setti etwas gefaßter, »es steht eben nicht so, daß wir nach Brauch und Sitte vor der Welt einen Grund zur Trennung fänden.«

Sie begab sich hinaus, den Rat des Vaters zu befolgen und das Gesicht abzukühlen; gleich darauf kam Isidor gestürmt, der unterwegs erfahren, welchen Besuch er zu Hause finden werde. Er war sehr aufgeräumt und begrüßte die Schwiegereltern als eine ihm sehr schmeichelhafte Überraschung, entschuldigte sich aber sogleich, daß er schnell noch in der Kanzlei nachsehen müßte, lief aber statt dessen in die Küche und das Speisezimmer, um das Geköche und den Tisch zu untersuchen, ob auch seine Ehre gewahrt und trotz des Zuwachses für seine eigene Eßlust gesorgt sei.

Am Tische ließ sich von dem, was vorausgegangen, keine Spur entdecken. Frau Setti schien die Gelassenheit selbst, welche durch die Gegenwart der Eltern und das ihnen abgelegte Bekenntnis noch erleichtert und vermehrt wurde. Die Mutter erkannte als Frau aus dieser vollkommenen Ruhe und Selbstbeherrschung, wie nichtig der junge Mann für das Herz seiner Gattin geworden sein mußte. Sie konnte ihn ertragen, wie man ein böses Geschick erträgt, das man selbst verschuldet hat.

Der Vater mußte seine Aufmerksamkeit mehr dem Notar zuwenden, und er wunderte sich, wie ihm nicht früher schon die Schuppen von den Augen gefallen seien. Es fiel nicht ein rundes oder, wie man zu sagen pflegt, nicht ein vernünftiges Wort von seinen Lippen. Der schlaue junge Streber hatte Amt, Haus und Frau; darüber war seine Persönlichkeit schon zu Ende geraten und konnte sich nur noch im Geräusche von vielen ihresgleichen geltend machen. In der Stille des Hauses, wo man die einzelnen Worte vernimmt, war nichts mehr an ihm.

»Wir haben vor,« teilte Salander dem Notar mit, »diesen Nachmittag auch die Leute am Lindenberg zu besuchen, und wollen unsere Tochter mitnehmen. Sie haben doch nichts dagegen, Herr Sohn? Sie sagt uns zwar, Sie hätten auch auswärtig zu tun, es wird sich aber vielleicht beides für einmal vertragen?«

»Ei warum nicht, Herr Vater? Ich hätte Lust, selber mitzugehen und bitte nur um Dispens!«

Isidor war froh, daß er mit guter Manier seiner Wege gehen konnte, denn das prüfende Auge der schweigsamen Schwiegermama tat ihm nicht wohl. Dagegen begleitete er die Frau und ihre Eltern eine kleine Strecke weit, als sie aufbrachen.

Auf dem Hofe bewunderte Salander wieder das Buchenwäldchen und die dahinter emporragenden Wipfelmassen des größeren Forstes, eine Umgebung, die nicht mit Geld zu bezahlen sei.

»O ja, es macht sich nett!« sagte der Schwiegersohn. »Nur wird es nicht mehr so lange stehenbleiben, als es schon steht. Der Wald gehört der Gemeinde Unterlaub und soll in ein paar Jahren geschlagen werden; die Holzhändler sind schon dahinter her. Da werd' ich unsere Buchen auch darangeben, es geht in einem zu, und sie tragen ein schönes Geld ein!«

»Sind Sie bei Trost?« rief Salander. »Ihre Buchen schützen ja allein Haus und Garten samt der Wiese vor den Schlamm und Schuttmassen, die der abgeholzte Berg herunterwälzen wird!«

»Das ist mir Wurst!« erwiderte der jugendliche Notar in nachlässigem Tone. »Dann zieht man weg und verkauft den ganzen Schwindel! Es ist ja langweilig, immer am gleichen Ort zu hocken!«

Salander dachte sein Teil und gab keine Antwort. Frau Setti ließ während Isidors Mitteilung ein paar Worte des Erstaunens hören und verriet so, daß sie von dem bevorstehenden Holzschlage noch gar nichts wußte, was ein neues Anzeichen von des Mannes Lebensart war. Sie schwieg daher auch und sagte nur noch: »Adieu, du schönes Lautenspiel!«

»Woher heißt es eigentlich hier ›im Lautenspiel‹?« fragte die hinzutretende Mutter.

»Das mag der Henker wissen, ich könnt' es nicht sagen! In den Grundbüchern heißt es nur: ›Haus und Hofstatt genannt im Lautenspiel‹, und ebenso in meinem Kaufschuldbrief«, erklärte Isidor.

»Hast du denn nicht gehört, was sie in der Gegend davon erzählen?« fragte Frau Setti.

»Nein, ich habe gar nie danach gefragt! Woher soll es denn kommen? Woher heißt es denn bei uns ›im Zeisig‹ und ›im roten Mann‹? Von irgendeiner Dummheit!«

»Es soll hier vor etwa zweihundert Jahren«, erzählte Setti, »ein geiziger Junker gehaust haben, um seine sechs schönen Töchter vor der Welt zu verbergen, damit sie nicht zum Heiraten kämen und er sie nicht ausstatten müsse. Sie hätten alle sechs wunderschön die Laute gespielt und dazu gesungen, aber zusammen nur drei Lauten besessen, mit denen bei schönem Wetter je die Hälfte in den schönen Buchenwald hinausgegangen sei und sich dort sattgespielt und gesungen habe, worauf die anderen drei Fräulein sie ablösten und mit frischen Kräften weiterspielten. So habe das Gehölz stets von dem Saitenspiel und Gesang getönt, und die Vögel hätten dazu mitgeholfen. Durch den Klang seien endlich vorbeiziehende Herren, Jäger und Reiter, angelockt worden, seien in das Gehölz eingedrungen und mit den musizierenden Fräulein in Verkehr getreten, und allmählich sei eines um das andere doch zum Heiraten gekommen und habe der Alte mit der Aussteuer hervorrücken müssen. Als aber nur noch drei Töchter und die drei Lauten übriggeblieben, habe er sie mit den Instrumenten in das obere Stockwerk des Hauses gesperrt und den Schlüssel stets bei sich geführt. Die drei gefangenen Töchter haben dann in hellen Mond- und Sternennächten erst recht so rührend und laut an den offenen, aber vergitterten Fenstern gesungen, daß die Kavaliere von weither angezogen und verliebt worden sind. Sie stürmten ordentlich das Haus, das umwohnende Volk half ihnen dabei, die drei Töchter hatten die Wahl, und der Junker mußte sie auch noch aussteuern. Dadurch sei sein Gut so vermindert worden, obgleich er wohl noch hätte leben können, daß er sich aus Verzweiflung ums Leben gebracht habe. Davon rühre auch das Sprichwort her, das man jetzt noch etwa von alten Leuten in dieser Gegend hört: ›Er kann sich ja hängen, wie der Junker im Lautenspiel!‹ Hast du auch dies nie gehört?«

»Niemals! Oder ich hab' nicht darauf geachtet! Ist auch nicht schad' darum!«

Vater und Mutter saßen nun mit der älteren Tochter in dem Bahnzuge, der nach Lindenberg führte. Setti fühlte sich halb froher zumut, halb wieder furchtsam, da sie nicht nur die Schwester, sondern auch deren Mann sehen sollte und das Wort, daß Leidensgefährten dem Unglücklichen zum Troste gereichen, hier nicht zutraf. Das durchgehende Doppelwesen verdoppelte auch die Reue, anstatt sie zu vermindern; denn nicht nur sah jede der Schwestern in der andern sich selbst wieder, sondern auch im Gatten derselben den eigenen Verdruß.

Gemächlich stiegen die drei Personen, am Ort angekommen, die Berglehne empor, bis sie die sogenannte Landschreiberei erreichten. Auch hier war ein Sitz der Ruhe und des Naturgenusses; nur bot statt des Laubwaldes eine ausgedehnte Fernsicht dem Gemüte jene Ruhe, insofern es für sie offen stand. Aus einem wohlgepflegten Gemüsegarten kam die Magd gegangen, zu sehen, wer da sei, als die kleine Gesellschaft sich ein wenig verschnaufte, und aus einem Fenster des Erdgeschosses guckte ein halbwüchsiges Schreiberlein mit einem Zigarrenstümmelchen im Munde, welches der Herr Notar weggelegt haben mochte. Die Magd aber führte die angelangten Leute, die sie nicht kannte, um die Hausecke herum nach einer Laube, wo die Frau mit Plätten beschäftigt sei.

Auf einem Tische lagen frischgewaschene Kragen, Manschetten und anderes feineres Weißzeug; am Boden stand ein glühendes Kohlenöfchen. Die Frau Netti aber stand an einer fensterartigen Öffnung des Laubwerkes und schaute, die Hand über der Stirne, in die Ferne, nach dem blauen Höhenzuge bei Münsterburg. Auf der Rückseite mußte die Kreuzhalde sein, während aus dem halb zugewandten Scheitel des Berges eine leise grünliche Tinte, von der westlichen Sonne gestreift, jene Waldwiese ahnen ließ, wo der Vater die Mädchen mit den Zwillingen tanzend gefunden hatte! Stille Trauer webte um die reglose Gestalt, und was man von dem halbgeöffneten Munde sehen konnte, war ziemlich weinerlich beschaffen.

Um sie aus dem schweren Traume zu wecken, rief die Mutter, in die Laube tretend, die Tochter beim Namen. Wie heute morgen ihre Schwester, so erblickte auch Netti mit freudigem Erschrecken die Eltern und flog ihnen sogar entschlossener entgegen. Allein sobald sie hinter ihnen die Schwester stehen sah, blieb sie auch stehen und ließ erbleichend die Arme am Leibe niedersinken, wobei sie nur die Worte hören ließ: »Ach, Setti!«

Auch diese Büßerin war dies erstemal, wo sie sich wiedersahen, befangen und sagte ebenso kleinlaut: »Ach, Netti!« Doch als diejenige, welche mit den Eltern ihren Frieden schon gemacht, war sie schneller gefaßt und bot der armen Schwester die Hand, und Netti ergriff sie so furchtsam, als ob es eine Geisterhand wäre.

»Sie wissen schon alles und meinen es gut mit uns wie früher!« sagte Setti noch. Aber so tief war das Gefühl der gemeinsamen Vergangenheit und des Irrens in derselben, daß sie auch jetzt noch nicht sich zu umhalsen wagten. Martin und Marie Salander umarmten jetzt beide verirrten Kinder zusammen und gingen mit ihnen ins Haus.

Die Mutter musterte die jüngere Tochter, die so schön gekleidet war wie die ältere, nur daß sie zudem ein massives goldenes Armband trug, das ihr einst die Eltern geschenkt hatten.

»Du bist hoffärtig geworden, daß du das Armband zum Plätten trägst!« sagte sie versuchsweise, um zu erfahren, ob auch hier der Wille des Mannes schuld sei. Netti stammelte etwas Unverständliches, Setti sprang ihr bei und bestätigte die Vermutung der Mutter, daß der demokratische Volksmann Julian das Armband sehen wollte, wenn er daheim war.

»Ist er nicht da, daß er sich nicht blicken läßt?« fragte der Vater.

»Er ist schon am Morgen früh in den Wald hinaufgegangen,« erwiderte Netti, »er hat dort einen Vogelherd und bringt zuweilen einen halben oder ganzen Tag droben zu. Er fängt auch viele kleine Vögel, die er gebraten sehr gern ißt.«

»Fängt deiner auch Vögel?« fragte er die andere Tochter.

»Nein, er fischt!« sagte sie.

»Gottlob, das gibt mir etwas Mut!« murrte Martin, »ich habe die Herren schon für zu dumm für solche Künste gehalten, womit ich indessen nicht behaupten will, daß jeder Vogelsteller oder Fischfänger notwendig ein Genie sein müsse!«

Beide Töchter schreckten über den harten Worten leicht zusammen, und die Mutter, es bemerkend, sagte zur jüngeren: »Du könntest uns dann bald für einen guten Kaffee sorgen, daß wir uns nicht übereilen müssen; denn wir wollen ausgiebig bei dir plaudern!«

Als der Kaffee genossen wurde, gestaltete sich die Plauderei zu einer allgemeinen Beratung, an welcher die beiden Landschreiberinnen mit Verstand und beruhigtem Blute Anteil nahmen, nachdem sie sich an das langgefürchtete Zusammentreten gewöhnt hatten. Und dies war unter den Augen der nur von der Sorge um sie bewegten Eltern leichter geschehen, als sie geglaubt.

Für Martin und Marie Salander handelte es sich zunächst um die Frage, ob sie die Töchter ohne weiteres wieder zu sich nehmen sollten, oder abzuwarten sei, was die Zeit etwa brächte. Die jungen Frauen lebten eigentlich nicht schlecht oder geplagt in den Häusern ihrer Männer; hundert Weiber wären froh gewesen, nur die ganze Woche die schönen Kleider tragen zu dürfen, die diese verlangten. Ihr Unglück war, daß sie die Liebe zu den Zwillingsnotaren verloren hatten, ohne daß dieselben es fühlten oder der Beachtung wert hielten. Dadurch zeigten sie erst recht die traurige Blöße des Innern und blieben von der zerflossenen Traumwelt der Frauen als leere Schemen übrig.

Der Verdacht lag nahe, daß auch diese bloßen Schemen die Frauen roh und schlecht behandelt hätten, wären diese nicht die Töchter eines reichen Mannes gewesen; oder vielmehr tauchte der alte Skrupel wieder auf, sie hätten von Beginn an eine Spekulation herzloser und dazu unreifer Burschen dargestellt, der sie durch den verblendeten Eigenwillen zum Opfer gefallen seien. Nun aber stimmten sie darin überein, daß sie ihr Schicksal hinnehmen und nur froh sein wollten, wenn nicht davon gesprochen wurde, solange nichts Schlimmeres hinzutrat; und wenn nur der Verkehr mit dem Elternhause und unter sich selbst wiederhergestellt war, so hofften sie durch die Macht der Zeit ein Los allmählich tragen zu lernen, das so vielen Frauen nicht besser beschieden sei.

Die Eltern wußten hiergegen vorderhand nichts einzuwenden. Von einem Einwirken auf die jungen Männer konnte gar nicht die Rede sein, da diese sich nicht geben konnten, was sie nicht hatten, und die Sache gar keine greifbare Seite darbot. Sie beschränkten sich also darauf, die in ihren idyllischen Träumen so arg verunglückten Kinder in dem löblichen Vorsatze der Geduldübung zu bestärken und ihnen für alle Notfälle Schutz und Hilfe zuzusagen. Vor allem jedoch verlangten sie, daß die Töchter ihre Eltern nun fleißiger besuchen sollten, so oft als möglich, allein und zusammen, wie es komme, ohne sich abhalten zu lassen. Das versprachen sie gern und nahmen sich auch vor, es zu tun und sich selber gegenseitig wieder heimzusuchen, so oft es sie freute.

Auf diesem Punkte angelangt, wurde die Beratung durch die Ankunft Julians geschlossen. Verwundert grüßte er die Gesellschaft, die er so unvermutet vorfand, und bedauerte höchlich, gerade an diesem Tage in den Wald gegangen zu sein. Einem Bauernknaben, der ihm Proviantsack und Weidtasche nachtrug, nahm er die Sachen ab.

»Glücklicherweise«, rief er, »bringe ich noch wenigstens etwas Gutes zum Abendbrot! Hast du für mich auch noch einen Schluck Kaffee, Frau Großrätin? Ja so, ihr seid ja euer drei da und könnt uns zwei Herren überstimmen! Hier, wollt' ich sagen, ist nun was zu braten, was bald geschehen sein wird, wenn das Zeug nur erst gerupft ist. Da will ich mich aber selber dranmachen!«

Er schüttelte die Weidtasche auf den Tisch aus, und über dreißig arme Vögel mit verdrehten Hälschen und erloschenen Guckaugen, Drosseln, Buchfinken, Lerchen, Krammetsvögel und wie alle hießen, lagen als stille Leute da und streckten die starren Beine und gekrümmten Krällchen von sich.

»Sie werden sehen, Mama, die Dinger schmecken Ihnen wie Marzipan, wenn sie mürb und gut geraten sind! Ich will aber selbst zusehen! Hat's etwas Speck in der Küche, Frau?«

»Bitte, Herr Sohn, beeilen Sie sich nicht!« sagte Frau Salander, »wir essen jedenfalls nicht mit, mein Mann und ich, wir sind vollkommen satt und wollen noch mit dem letzten Zuge fort!«

»Aber, Meister Julian,« schaltete Martin dazwischen, »wissen Sie denn nicht, daß die Jagd auf Singvögel verboten ist? Sie, als Mitglied des Großen Rates?«

»Herr Vater, ich habe nicht gejagt, sondern das Garn gespannt, und da sind allerdings ein paar Finklein dazwischengekommen, die nicht geladen waren. Übrigens wird sich wohl kein Wächter des Waldes an mich machen!«

»Gleichheit vor dem Gesetze, nicht wahr?« erwiderte Salander auf Julians Rede, der offenbar auf den Schutz seines Ansehens als Ratsmann anspielte, allerdings sehr ungeschickt.

»Nun, mag essen, wer will, ich lass' es braten, denn ich habe Hunger!« sagte er und trank die Tasse aus, welche die Frau ihm eingeschenkt; dann raffte er die Vögel bei den Füßen zusammen, je fünf oder sechs zwischen zwei Fingern, und zog mit diesen hängenden Vogelbuketts von dannen.

Als einige Zeit später die Schwiegerleute und Setti abreisen wollten und den Flur entlang gingen, kam er zum Abschied aus der Küche gelaufen, eine weiße Schürze vorgebunden und das Messer in der einen Hand, in der andern eines der nackten aufgeschnittenen Tierchen. Die blutigen Finger vorweisend, entschuldigte er das Unvermögen, in besserer Form ein Lebewohl zu bieten, als daß er den rechten Handknöchel oder Ellbogen darstreckte.

Die Weggehenden sahen sich so gezwungen, den gekrümmten Arm zu berühren und sanft daran zu rütteln, um den Händedruck zu ersetzen.

Seine Frau Nettchen war sehr verlegen und tat, als ob sie die Ungeschliffenheit des gefräßigen jungen Gemahles nicht bemerkte, indem sie rascher voranging; die Mutter Marie wunderte sich, wie schnell die beiden Brüder sich vergröbert hatten, und dachte, das werde mit der Zeit ein Paar recht takt- und gefühllose Philister abgeben.

Den empfangenen Eindruck verarbeitete Martin Salander nach anderer Seite hin. Zur Tochter Netti, die Eltern und Schwester bis zur Station hinunter begleiten wollte, sagte er: »Hat dein Mann so viel Zeit in seinem Berufe, daß er ganze Tage solchen Liebhabereien nachgehen kann?«

»Was das betrifft,« antwortete Netti, »so ist der Geschäftsandrang ungleich; aber ich könnte nicht mit Wahrheit sagen, daß ich glaube, er vernachlässige wirklich etwas. Er arbeitet leicht, soviel ich sehe, ohne sich lange zu besinnen, und dann macht er sich nichts daraus, wenn mehr zu tun ist als gewöhnlich, die halben Nächte hindurch in der Kanzlei zu sitzen und anhaltend zu schreiben. Erst neulich war er den Tag über fort, in Münsterburg, und als er abends um halb zehn Uhr heimkam, ging er nicht ins Bett, sondern auf die Kanzlei, obgleich er nicht mehr munter schien. Als es drei Uhr schlug und er immer noch nicht in seinem Bette lag, glaubte ich, er sei unten eingeschlafen; ich stand auf, um nachzusehen, schon wegen der Lampe, damit nichts Ungeschicktes geschehe. Aber er saß noch und arbeitete. Er hatte eine ganze Reihe Hypotheken oder Pfandbriefe, Grundbuchauszüge und dergleichen, was sonst die angestellten Gehilfen tun müssen, selbst ausgefertigt, alles sauber geschrieben, sogar die Überschriften in sorgfältiger Fraktur. Eben war er daran, die Urkunden zusammenzufalten und die kanzleimäßigen Titel auf die Rückseiten zu setzen, alles in guter Ordnung. Dies tat er alles, weil der Schreiber und der Lehrling nicht vorwärtsgekommen waren und er einen Schub vorarbeiten wollte, damit es besser flecke. Er hatte nicht einmal gern, daß ich dazukam und sah, wie er eigentlich Arbeit verrichtete, für die er die Leute bezahlt.«

»Da ist doch eine gewisse Gutmütigkeit darin!« meinte Salander. »Ist dein Isidor auch solch ein Nachtarbeiter, Setti?«

»Ja, er treibt sich auch zuweilen lange in der Kanzlei herum,« erwiderte Frau Isidor Weidelich, »ob er mit seiner Arbeit den Angestellten unter die Arme greift, weiß ich nicht. Ich habe nur gesehen, daß er die Bücher durchmustert und sich Notizen daraus macht.«

Auf der Bahnstation Lindenberg mußten sie sich trennen. Die Eltern stiegen sogleich nach Münsterburg ein, während Setti und Netti noch in dem Wartesälchen zusammenblieben, um mit schwermütig verlorenen Worten leise zu plaudern, bis der nach Unterlaub fahrende Zug herankam.

Martin und Marie Salander saßen zu Hause vor dem Schlafengehen sich auch nicht in rosiger Laune gegenüber. Sie hatten sich nun überzeugt, daß das Leben der blühenden Töchter verödete, und das um so trost- und endloser, wenn es im gegenwärtigen Zustande beharrte und sich zu einem ewigen Landregen anließ.

Marie stützte ihren Kopf auf den Arm und sah in Gedanken verloren vor sich hin.

»Nun haben wir noch den Arnold, um eine Hoffnung zu nähren,« sprach sie eintönig, »und wie leicht kann auch die verlorengehen!«

»Er ist aber nicht dazu da, daß wir an diese Möglichkeit denken sollen,« ließ sich Martin hören, »er lebt und ist da, und auch die Töchter leben ja und werden ihres Daseins auch wieder froher werden! Arnold kann übrigens nun bald heimkehren, wenn er will; glücklicherweise ist er gesund geblieben und wird es hoffentlich ferner bleiben!«

»Ich wollte, er wäre schon da! Morgen schreibe ich ihm einen Brief!«

Nachdem er von seinen verlängerten Studienreisen zurückgekehrt, war der Sohn zunächst in die Handlung eingetreten, sich gründlicher darin umzusehen und einzuüben. Es dauerte auch nicht lange, bis er so viel Einblick und Urteil gewann, die Notwendigkeit oder wenigstens das Nützliche einer persönlichen Reise nach jenen Zonen zu erkennen, wohin die hauptsächlichen Beziehungen des Hauses sich richteten. Hierin traf er mit den Wünschen des Vaters zusammen, welcher längst das Bedürfnis nach einem zuverlässigen Stellvertreter empfunden, da er selbst den Gedanken zeitweiliger Reisen aufgegeben hatte. Seit einem Jahre oder etwas länger befand sich Arnold in Brasilien und hatte in der Tat schon gute Dienste geleistet durch glückliches Auge und rasche Hand.

»Die Aufgabe, unseren dortigen Grundbesitz an geeignetem Pflanzland zu erweitern,« sagte Salander, »hat er unter den obwaltenden Umständen möglichst gut lösen können, so daß wir, wie auch die Konjunkturen sich wenden, schon langehin einen sicheren Haltpunkt haben. Für Betrieb und Aufsicht hat er einen rührigen und treuen jungen Landsmann gefunden, den wir gelegentlich beteiligen können, so daß wir keine fremden Pächter mehr brauchen. Und was die übrigen Geschäfte angeht, so hat Arnold nach Briefen, die ich habe, bei den Handelsfreunden überall sich schicklich und klug benommen und einen guten Eindruck hinterlassen. Er hat's freilich leichter als ich, da ich mit meinem abgebrannten Lichtstümpfchen in den Kolonien herumhausieren mußte. Was mich aber freut, ist, daß wir einen Sohn und Genossen besitzen, der tüchtig gelernt und die Welt mit Land und Leuten gesehen hat. Und da er dazu unabhängig sein wird, oder es schon ist, so wird ein Wirkungskreis im schönsten Sinne des Wortes ihm zuteil werden, der uns mit zur Ehre gereicht!«

»Mag er leben, wie es ihm gegeben ist,« sagte Marie, »und nicht anders, so wird er zufrieden bleiben! Wär' er nur erst zurück!«

Nach dieser Erbauung am Sohne kehrten ihre Sorgen wegen der Töchter wieder an Ort und Stelle zurück, eine längere Stille herbeiführend. Sein trübes Nachsinnen schloß Martin ab: »Eines kann ich mir am wenigsten reimen! Wenn ich zurückdenke, wie die Mädchen in dem nächtlichen Garten, wo ich sie mit den zwei Gesellen zuerst belauschte, die Burschen am Bändel führten, daß sie gehen und stehen mußten, wie sie es wollten; wie sie ihnen nachher den Verkehr versagten und jene gehorchten – und wenn ich jetzt sehe, wie sie nicht den kleinsten Einfluß mehr haben und die Lümmel tun und lassen, was ihnen beliebt, den jetzigen Frauen sogar wie orientalischen Sklavinnen Putz und Kleider vorschreiben und diese sich fügen, während sie doch die Männer nicht mehr lieben und achten, so muß ich immer fragen, wie hängt denn das zusammen und wie ist es möglich?«

»Da hilft das Grübeln nicht viel!« entgegnete die Frau Salander. »Man könnte sagen, es seien auf beiden Seiten nicht mehr die gleichen Leute da, nachdem die Träume der Willkür zerronnen. Dort sind aus den knabenhaften Traumfiguren junge Männer geworden, welche die rohe Seite hervorkehren und überdies zu jenen gehören, welche von einem Bubenalter ins andere fallen; hier wurden die Mädchen zu verheirateten Frauen; das erträumte Phantasieglück ist verflogen und nur der Anstand geblieben, der ihnen verbietet, das Elend auch noch mit täglichem Zanken und Streiten zu verbrämen; denn daß dieses das einzige Ergebnis jeden Versuches wäre, einen erneuten Einfluß zu gewinnen, wissen sie natürlich wohl. Es ist ja schon jene frühere Gewalt über die jungen Leute auch nur ein Teil des Phantasielebens gewesen. Allein alles das ist schon zu viel gesagt! Wir haben es mit einer unerklärten Unregelmäßigkeit, mit einem Phänomen zu tun, wie du dich schon ausgedrückt hast!«

»Es wird wohl so sein,« versetzte der Mann melancholisch, »es gibt dergleichen in der moralischen wie in der physischen Welt! Der Himmel möge uns in Gnaden bewahren!«


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