Gottfried Keller
Martin Salander
Gottfried Keller

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3

Während der Zeit hatte der Knabe im sogenannten Zeisig noch eine Weile auf die Mutter gewartet und war dann wiederholt ihr eine Strecke entgegengegangen, aber immer wieder auf seinen Standpunkt zurückgekehrt, aus Furcht, sie zu verfehlen; denn der kürzeste Weg von der Kreuzhalde nach der Stadt führte eigentlich nicht hier durch, weshalb die kleine Familie von den Leuten im Zeisig auch nicht gekannt war.

Frau Salander hatte zum ersten Male diesen Weg genommen, weil am anderen Wege der Bäcker wohnte, welchem sie zum ersten Male die aufgelaufene Monatsrechnung nicht berichtigen konnte und das eine der Töchterchen, welches sie nach Brot geschickt, unverrichteter Dinge heimkam. Das hatte sie, nachdem sie in stündlicher Erwartung des Gatten sich schon lange kärglich beholfen und gespart, wie ein Schimpf getroffen, und die harte Not war plötzlich gleich einem einsilbigen Gerichtsboten eingekehrt.

So unversehens war der schweigende Gast da, daß sie den Kindern am heutigen Tage nichts als etwas leere Milch zu verteilen imstande gewesen, am frühen Morgen; sie selbst hatte noch nichts genossen. Und heute gewärtigte sie dazu die beinah einzige Familie, welche bei schönem Wetter zuweilen noch gegen Abend kam, um den Kaffee im Freien zu trinken. Andere Gäste hatte sie seit Wochen nicht gesehen und sie besaß deshalb auch kein bares Geld mehr. Anstatt dieser Tatsache lange nachzusinnen, brauchte sie ihre Gedanken, mit den Kindern durch den Tag zu kommen, weil die andere Tatsache, die Ankunft des Mannes, auch bevorstehen mußte.

Sie lief daher nicht, von ihrem beweglichen Besitztum zu verkaufen oder verpfänden, sondern ging zum bekannten Kleinbäcker in die Stadt, von welchem sie sonst die Semmeln und dergleichen Gebäck bezogen hatte, und dem sie nichts schuldete. Ohne viel Worte zu verlieren, erhielt sie den gewünschten Vorrat von Brötchen und Hörnchen, ebenso beim Krämer ein Tütchen gerösteten Kaffee und den dazu erforderlichen Zucker, bei einem andern ein Stück guten Schinken und ein halbes Pfund frische Butter, und überall war sie wohlangesehen, weil sie eine stille, zurückgezogene Frau war, die sonst nie borgte. Nur der Bäcker in der Nähe hatte nicht mehr getraut, weil er am Wege wohnte und sah, daß fast niemand mehr hinaufging, und klüglich das Ende bedachte.

Trotz des willigen Entgegenkommens der Leute in der Stadt nahm sie aber nicht ein Lot mehr von den Sachen, als das augenblickliche Bedürfnis erheischte, obgleich es in einem hingegangen wäre, wenn sie sich auf einige Tage versehen hätte. In diesem unscheinbaren Zuge mochten drei Dinge sich vereinigen: ihre redliche Bescheidenheit, die Gewohnheit des Vertrauens auf die nächste Sonne und wahrscheinlich nicht am wenigsten ein feiner, wenn auch unbewußter Sinn, den nächsten Zweck zu schonen.

So kam denn Frau Marie Salander, einfach und sauber gekleidet, ohne Blumen auf dem Hut und eher schmal als breit, den Korb am Arme, endlich den Weg über den Zeisig heran gegangen.

»Gelt, du hast lange warten müssen, Arnold!« rief sie dem Knaben entgegen, der sehnlich aus dem Scheunenwinkel hervor sprang, wo er schließlich sich auf ein Mäuerchen gesetzt hatte. »Ich habe die Eßwaren erhalten, wenn ich sie auch nicht bezahlen konnte. Nun wollen wir schnell heimgehen, damit wir bereit sind, wenn wirklich Leute kommen! Gott sei Dank muß ich heute noch nicht sagen, es sei nichts mehr im Hause!«

»Aber wenn sie alles aufessen,« sagte der Knabe, »müssen wir dann weiter hungern?«

»Ei, sie essen ja nie alles, sie nehmen höchstens die Hälfte zu sich, und mit dem übrigen müssen mir uns bis morgen begnügen, wo ich ja dann etwas Geld habe! Kommen sie aber nicht, so trinken wir lustig den Kaffee und essen, soviel mir mögen, und morgen ist auch ein Tag!«

Bald erreichten sie die höhergelegene Kreuzhalde, wo sich die Aussicht auf die Stadt und die weite Landschaft öffnete, in der sie lag oder liegt. Sogleich kamen die beiden Schwestern Arnolds herbei, Setti und Netti, der Mutter den Korb abzunehmen; sie waren zehn und neun Jahre alt, von derselben feinen Blässe wie der Bruder, nämlich der Blässe gesunder Kinder, welche von einem unwilligen Kummer befallen sind, der ihnen unerklärlich ist. Doch glänzten die Augen der Mädchen ungeduldiger und gieriger als die des Knaben, der gelassener Art zu sein schien.

Frau Salander ging den Kindern voran ins Haus, und sie folgten höchst neugierig. Ohne Verzug entledigte sie sich des Hutes und legte eine reine weiße Schürze um, worauf sie den Korb auspackte, das Brotgebäck auf einem größeren Teller aufbaute, die Butter auf einen kleineren legte, den Schinken schnitt und eine Schüssel damit bekleidete, daß sie sich als reichlich gefüllt darstellte. Dies alles, ohne daß sie einen einzigen Bissen nach dem Munde zu führen sich vergaß, um den armen Kindern, welche die Ellenbogen rings auf den Tisch gestützt zuschauten, nicht ein böses Beispiel zu geben.

»Frisch, Kinder!« sagte sie mit einem leidlich muntern Lächeln, »nehmt euch zusammen, habt Geduld! Alles nimmt ein gutes Ende, wenn der Vater kommt! Jetzt müssen wir noch ein Weilchen zusehen, wie andere essen; wir wollen doch für den Spaß probieren, ob wir trotzdem etwas tun können! Habt ihr die Ferienaufgaben wirklich fertig, nichts mehr zu rechnen, zu schreiben oder auswendig zu lernen? Nehmt einmal eure Bücher vor! Ich glaube fast, die Sprüche und Liederverse bleiben euch gerade wegen dieses merkwürdigen Hungertages besser im Gedächtnis als sonst.«

Die Mädchen wollen vom Lernen nichts hören; Setti nannte das Hohlgefühl ihres Leibes altklug einen Magenkrampf; Netti fürchtete Kopfweh zu bekommen, und beide wollten lieber häkeln, wenn sie durften, da jedes für den Vater einen Geldbeutel angefangen hatte. Nur Arnold faßte ein tapferes Vertrauen zu der Schwindelei der guten Mutter und erklärte, die Gelegenheit zu benutzen und sein schweres Lied für die nächste Kirchenlehrstunde in Angriff zu nehmen; es enthalte vier Verse von je zehn Zeilen, von denen jede sich so lang strecke, daß sie keinen Platz habe und das Ende umgebogen sei, wie die Schlinge für die Krammetsvögel. Die Mutter billigte alles und eilte in die Küche, den Milchvorrat bereitzustellen, den sie am Morgen streng abgeteilt und für alle Fälle weggeschlossen hatte. Dann holte sie aus dem Schranke den Honigtopf hervor, der infolge der schlechten Begangenschaft leider nur zu viel der Süßigkeit enthielt. Sie füllte daraus eine hübsche Kristallschale, und zugleich fiel ihr bei, daß ein Löffel des dicken kräftigen Saftes den Kindern ihr junges Leiden für eine kurze Zeit wohltätig verhüllen dürfte. Gedacht, getan, ging sie mit dem Topfe von einem Kinde zum andern, hieß es den Mund aufmachen und strich den Honig hinein.

Ermüdet ließ sie sich endlich auf einen Stuhl nieder und überblickte mit einem Seufzer die sonderbare Anstalt, mit der sie das dunkelwaltende Schicksal bestreiten oder wenigstens aufhalten wollte. Nicht nur in Feindesheeren, Erdbeben und Gewitterstürmen und allgemeinen Notausbrüchen fährt ja dasselbe einher; auch in den unscheinbarsten Vorgängen im stillen Leben eines Haushalts tritt es jählings zerstörend, ehrenrührig hervor. Wenn die heutige Vorsorge scheitert oder am Ende doch eine Beschämung herbeiführt, kann sie alsdann die Vorspiegelungen wiederholen, daß sie eine wohlversehene Wirtin sei? Schon vor so vielen Wochen muß das Schiff, das ihren Mann und sein Gut trägt, abgefahren sein; wenn es nun untergegangen ist? Mit diesem bloßen Gedanken vergaß sie sich selbst und ihr Geschick, einzig und allein das dunkle Bild des langentbehrten Gatten suchend. So in sich selbst versunken wie aus dem Grund eines Meeres, schrak sie auf, als draußen Stimmen hörbar wurden und die Gartenglocke erscholl, auch die Kinder schon an die Fenster liefen und verkündeten, daß die Professorsfamilie da sei.

Auf dem Hof- oder ehemaligen Gartenland der Wirtschaft war von einem nun verschwundenen Hain großer Bäume eine einzige Platane stehengeblieben, welche mit ihren ausgebreiteten Ästen einen letzten Tisch überschattete. Eine Familie, bestehend aus einem weißhaarigen Herrn und seiner Matrone nebst zwei ältlichen Töchtern, hatte bereits am Tische Platz genommen. Die Kinder am Fenster aber riefen: »O weh, es ist noch einer dabei, ein langer Fremder, der gewiß den Schinken aufißt!«

Und wirklich war so ein langer Überzähliger noch herangestiegen, bis Frau Salander unten anlangte und die Herrschaft begrüßte.

»Wie geht es Ihnen, Frau Salander?« empfing sie der alte Herr, »Sie sehen, wir bleiben Ihnen treu, solang noch ein Baum dasteht! Bringen Sie uns den üblichen Kaffee samt Butter wie Elfenbein und dem flüssigen Bernstein! Dies für die Damen!«

»Papa meint mit dem Bernstein den schönen Honig, den Sie uns das letztemal vorsetzten!« belehrte die Frau Professor die Wirtin, welche diese Erklärung ebenso oft gehört hatte als das Gleichnis, allein dermalen aus Zerstreutheit zu lächeln vergaß.

»Sodann, was uns Männer betrifft,« fuhr der Herr Professor fort, »so trinken wir allenfalls zusammen eine Flasche jenes süß abgekelterten roten Fünfundsechzigers, der durch dies Verfahren zwar kein Goethe, wohl aber ein Schiller geworden ist und angenehm prickelt, sobald er das Theatrum der menschlichen Zunge betreten hat, um seine Spiele aufzuführen. Dazu nehmen wir der Beschäftigung halber einige Schnitten geräucherter Rindszunge, wenn Sie davon noch so zarte besitzen wie neulich.«

»Zunge ist leider nicht mehr da,« sagte die Frau leicht errötend, »dafür könnte ich mit Schinken aufwarten.«

»Auch gut, bringen Sie uns Schinken!«

Sie eilte ins Haus, Kaffee und Milch zum Kochen aufzusetzen, und übertrug die Aufsicht den Mädchen, während sie mit weißem Zeug und Geschirr den Tisch so sauber deckte, als wäre das Haus im besten Flor. Bald standen auch die Speisen einladend dazwischen, nur noch der Wein fehlte. Im Keller bewahrte Frau Salander noch die letzten zwei Flaschen des erwähnten Weines, sonst war überhaupt kein Getränke mehr vorhanden als ein halbes Dutzend Flaschen abgezogenen Bieres, von welchem sie nicht wußte, ob es noch trinkbar sei. Den Wein hingegen hatte sie für den Mann beiseite gelegt, auf den sie harrte. Mit einem Seufzer nahm sie eine der Flaschen und trug sie auf, ersorgend, daß nicht nur die zweite, sondern auch eine dritte verlangt werden könnte und so eine neue Gefahr erwuchs der Offenbarwerdung ihres Unvermögens. Dann trug sie den dampfenden Kaffee hinaus und versäumte nicht, eine Flasche kühlen Wassers vom Brunnen zu holen.

Schon aber führte die Sorge sie ins Haus zurück, um die Kinder, welche aus der Türe kamen, dort festzuhalten und in die Stube zu bannen; denn sie befürchtete, die Ärmsten würden sich mit gierigen Blicken um die Gäste herumstellen und den gesprächigen Herren, sowie der kritischen Neugier der Frauen ihren Hunger verraten. Doch konnte sie nicht hindern, daß die Kinder Kopf an Kopf durch das Fenster schauten und keinen Blick von dem Tische der sich rüstig erfrischenden Leute verwandten. Sie sahen, wie die Frauen ihre Butterbrötchen schnitten und bestrichen, zu Munde führten und im eifrigen Gespräche das gleiche Geschäft immer von neuem vornahmen. Mit mehr Wohlgefallen bemerkten sie, daß der alte Herr seinen Teller bald zurückschob, um seine Zigarrentasche auszukramen; aber mit Schrecken sahen sie, wie der lange Unbekannte mit dem breiten Maule und dem Bocksbarte in den Speisen herumwütete und eine förmliche Fabrik von Schinkenbrötchen betrieb, die er auf seinem Teller im Kreise nebeneinander legte und dann eines nach dem andern ganz in den Mund steckte. Kinder schauderten, und auch der Mutter wurde es nicht wohler, als durch die Schuld des Unheimlichen die Weinflasche früh leerstand und der Professor nach der zweiten rief.

Ein neues Unheil tat sich in einer Kinderschar auf, die lärmend, mit abgerissenen Zweigen und Ruten, über den offenen Hofraum gezogen kam und alsbald vor dem Tische der kleinen Gesellschaft gaffend anhielt. An der Spitze der Truppe standen die Zwillinge Isidor und Julian, die Hände auf dem Rücken und ihre beschürzten runden Bäuchlein vorstreckend; sie beschauten sehr aufmerksam den Tisch, und die Blicke saßen auch auf den Schinkenbrötchen und fuhren mit ihnen in den Rachen des Breitmäuligen hinunter, bis dieser mit dem Geschäfte zu Ende war. Der Professor stach mit der Gabel von dem Vorrat in der Schüssel ein Scheibchen heraus und hielt es dem Zwilling Isidor vor die Nase mit den Worten: »Mund auf, Augen zu!« Dieser gehorchte unverweilt und erschnappte den Bissen samt dem Brothäppchen, das jener ihm dazu in den Mund steckte. Das gleiche geschah mit dem kleinen Julian und so abwechselnd mit beiden, die immer zuvorderst standen, bis der letzte Rest des Schinkens verschwunden war. Mit den übrigen Kleinen machten es die zwei Fräulein ebenso, indem sie ihnen Butterbrötchen in den Mund steckten und sich über die drolligen Gesichter freuten, die sie dazu machten. Binnen kurzem waren alle Teller rein und nichts Eßbares mehr auf dem Tische zu erblicken.

Frau Salander stand hinter ihren Kindern am Fenster und sah, wie auch hier der Welt Lauf erging und die einen verschlangen, was den anderen bestimmt war. Es dunkelte ihr vor den Augen, was indessen auch davon herrührte, daß eine Regenwolke unvermerkt heranzog und einzelne Tropfen bereits gegen die Scheiben schlugen. Und im Laube der Platane rauschte ein unwirscher Luftzug. Die Gesellschaft erhob sich sehr eilig. Der alte Herr pochte mit dem Stock auf den Tisch und verlangte von der herbeieilenden Frau schleunige Rechnung. Ehe sie antworten konnte, rief er: »Nun hab' ich auch noch die Börse vergessen oder gar verloren!« Vergeblich in allen Taschen suchend, nahm er den langen Gastfreund in Anspruch: »Herr Doktor! Helfen Sie uns aus der Not! Sind Sie vielleicht mit Spießen bewehrt?«

Der war aber schon so vielfach, kreuz und quer, in einen gelblichen Plaid eingewickelt, daß er mit großer Mühe suchte, zu seinem Geldtäschchen zu gelangen. Es dauerte dem Alten zu lange.

»Lassen Sie,« rief er, »wir müssen springen, wenn wir noch den nächsten Droschkenplatz erreichen wollen! Ich bezahle das nächste Mal, liebe Frau, Sie kennen uns ja!«

»Bitte, Herr Professor, das macht ja gar nichts, kommen die Herrschaften nur gut nach Hause!« sagte Frau Marie Salander mit guter Haltung, jedoch die Leute, die sich nicht mehr umschauten, mit etwas unsicheren Schritten bis zum Ausgange des Grundstückes begleitend.

Zurückkehrend sah sie noch, wie die Zwillinge die Zuckerbüchse vollends ausräumten und mit ihrem Gefolge gleichfalls davonstoben. Der Honig war auch ausgelöffelt.

Ihre eigenen Kinder hatte sie vorhin eingeschlossen und den Schlüssel eingesteckt; so stellte sie jetzt ohne deren Hilfe das sämtliche Geräte auf das große Kaffeebrett, legte das Tischtuch ordnungsgemäß zusammen, nahm es unter den Arm, trug das Brett mit einigem Klirren ins Haus und ging dann zu den Kindern hinein, die an einem Häuflein standen.

Als sie sahen, daß die Mutter mit Kummer auf einen Sessel sank, unterdrückten sie den Ausdruck ihrer kindlichen Ansprüche auf die Vorsorge und den Schutz der Mutter, die sich heute zum ersten Male als unzuverlässig erwiesen. Ihr leises Weinen wurde durch das Rauschen eines tüchtigen Regenschauers übertönt, der jetzt herniederfiel und die Luft verdunkelte, und so blieb es eine gute Weile still in dem dämmernden Gemach. Frau Marie benutzte den Augenblick, ihre Lebensgeister zu versammeln. Sie beschloß, bis zuletzt auszuhalten und mit den Kindern für diesmal lieber ungegessen schlafenzugehen, als den Ruf des heimkehrenden Mannes durch weiteres Verraten ihres zerrütteten Zustandes zu gefährden.

Der Himmel selbst schien ihr zu Hilfe zu kommen, denn es ward heller um sie her; die sinkende Sonne beherrschte wieder das Feld und hatte die Regenwolke den Berghang hinauf an den Waldrand getrieben, wo sie als eine dunkle graue Wand hängenblieb, auf welcher der breite Fuß eines Stückes Regenbogen sehr kraftvoll leuchtete, indem er auf einer frischbetauten funkelgrünen Waldwiese stand. Es war ein so starker Farbenschimmer, wie man ihn nur wenige Male im Leben sieht und dann fast immer im Gedächtnis behält. Da die Erscheinung ziemlich nah aufglühte, sah man links und rechts ein paar schlanke Birken oder Eschenbäumchen sich abheben und deren Kronen in dem bunten Glanze verfließen.

Ohne langes Überlegen benutzte die Mutter sofort das schöne Farbenspiel, die Gedanken der Kinder womöglich von ihren Kümmernissen abzulenken und zu beschäftigen, bis vielleicht die Dunkelheit heranschliche und nochmals den lieben Schlaf brächte. Für diesen Fall wollte sie zugleich die Kinder mit den Schilderungen einer herrlichen Schmauserei unterhalten und ihre Phantasie ganz damit anfüllen, weil sie schon hatte sagen hören, daß hungernde Leute, wenn sie im Schlafe von guten und leckeren Dingen träumen, die Nacht soweit ganz leidlich durchkommen; und sie hoffte sogar selbst ein bißchen mitzuschmausen.

»Seht doch, welch ein schöner Regenbogen!« rief sie und weckte damit die Kinder aus ihrem Brüten. Sie guckten auf und staunten die Pracht mit großen Augen an, die darüber trocken wurden.

»Die habend dort jetzt besser als wir, wenn das Märchen wahr ist!« rief sie wieder.

»Wer denn? Wer denn?« die Kinder.

»Nun, die kleinen Leutchen aus dem Berge! Habt ihr noch nichts davon gehört? Die Erdmännchen und -weibchen, die so alt werden, daß sie eine kleine Unsterblichkeit auf ihren Buckelchen haben, natürlich nur im Verhältnis; denn sie sind nicht größer als ein mittlerer Finger. So um tausend Jahre herum sollen sie alt werden. Wenn sie nun merken, daß ihr Geschlecht ausstirbt in einer Gegend, so kommen die letzten hundert Leutchen in den besten Feierkleidern zusammen und halten ihren ewigen Abschiedsschmaus unter einem Regenbogen oder vielmehr im Erdgeschoß desselben, das ein wahrer Zaubersaal ist. Seht nur, ihr könnte von außen merken, wie das inwendig in allen Farben glitzern muß! Auch noch aus einem andern Grunde sollen sie einen solchen Abschied feiern; nämlich wenn das große Volk im Lande anfängt auszuarten und dumm und schlecht zu werden und die gescheiten Leutlein unten ein betrübtes Ende voraussehen, dann beschließen sie auszuwandern und dem Ende aus dem Wege zu gehen. Auch dann kommen sie in vielen Regenbogen zusammen und sind noch ein Stündchen vergnügt. Sei dem wie ihm wolle, so weiß ich nicht, welchen Anlaß wir hier vor uns haben. Es wird sich wohl um ein Aussterben handeln, und da sind es, wie gesagt, höchstens hundert Männlein und ihre Frauen, die dort sind. Den ganzen Tag haben sie in ihren Felsstuben, im Waldesdickicht und an den verborgenen Bachquellen gebacken und gebraten und gebraut und alles Gute vorausgeschickt, und nun sind sie hineinspaziert, jeder sein goldenes Schüsselchen in einem seidenen Säcklein mit einem Quästlein auf dem Rücken tragend, für uns nicht größer als ein alter Batzen, für Zwerglein aber ein gehöriger Teller. Lange Tische sind mit dem feinsten Tuche bedeckt, das über einige Dachschindeln gespannt ist. Da ziehen sie in feierlichem Zuge herum. Voran marschieren zehn geharnischte Ritter in rotgesottenen Krebsnasen als Brustpanzer und die übrigen Schalenringe als Arm- und Beinschienen umgelegt; als Helme haben sie zierlich gewundene Schneckenhäusel auf den Köpfen. Sie tragen die alten Silber- und Goldkannen und andere Kleinode des Geschlechtes. Wie die Erdleutchen nun um die Tische herumgehen, zieht jeder seine Schüssel aus dem Säcklein, legt sie an seinen Platz und setzt sich dahinter, und jeder schüttelt seinem Nachbar ernsthaft die Hand. Freilich folgt nun ein desto fröhlicheres Essen, daß die goldenen Teller, die feinen Messer und Gabeln nur so klingen. Zuerst kommt der delikateste Reisbrei mit Rosinchen, belegt mit kleinen Bratwürstchen, die aus Feldlerchen und zartem Ferkelfleische gemischt und gehackt sind. Herrlich sind diese Würstchen geröstet. Je drei oder vier Mann haben zusammen eine Bowle vor sich, nämlich einen prächtigen reifen Pfirsich, aus welchem der Kern genommen, das dadurch entstandene Loch aber mit Muskatwein gefüllt ist. Ihr könnt euch denken, wie sie mit ihren Löffelchen da hineinbohren!«

So fuhr sie mit eifriger Mühe fort, nicht nach den Geboten der Wahrscheinlichkeit, sondern nach ihrer Kenntnis der kindlichen Gelüste das Bankett der Wichtelmännchen auszumalen, bis sie nichts mehr wußte und darum den Schluß herbeiführte, zumal der Regenbogen verblichen war und der letzte Abendschein der Dämmerung wich.

»Haben sie nun genug gegessen und getrunken und von ihren jungen Tagen, mittleren Jahren und alten Erfahrungen gesprochen, so stehen sie unversehens alle miteinander auf, schütteln sich abermals, und zwar durcheinandergehend, die Hände und sprechen etwas kleinlaut: ›Wünsche wohl gespeist zu haben!‹

Plötzlich aber suchen sie das Loch, wo sie hereingekommen sind, und fangen an hinauszudrängen, sich auf die Fersen zu treten und in den Rücken zu knuffen, bis alle verschwunden sind und die Tische im Saal mit allem, was darauf steht, verlassen sind. Ein einziges lediges Weiblein, das allerjüngste von etwa zweihundert Jahren, was bei unsereinem einer Person von ungefähr zwanzig Jahren gleichkäme, ist noch dageblieben. Es hat die Pflicht, das ganze Geschirr zu reinigen, trocken zu reiben und in eine eiserne Truhe zu verschließen, die sie an der Stelle, wo der Regenbogen stand, in den Boden vergräbt. Hierbei helfen ihr die zehn Ritter, die mittlerweile draußen noch zurückgeblieben sind und ihre Pfirsichbowlen ausgeschlafen haben. Und wie Bauern, wenn sie Marksteine setzen, vorher rote Ziegelscherben als sogenannte Zeugen in die Grube legen, so werfen sie die Krebsschalen mit hinein und gehen dann auch fort, sich schlafen zu legen. Was tut aber nun das letzte Weiblein? Es nimmt das Säcklein, worein sein eigenes Goldschüsselchen gewesen, auf den Rücken, einen Stecken zur Hand und wandert seelenallein in die Ferne, um einem andern Volk dieser Art das Gedächtnis des ausgestorbenen zu überbringen. Es soll schon vorgekommen sein, daß eine solche Person sich in der Fremde noch glücklich verheiraten konnte bei einem jüngeren Geschlechte.«

Hier schwieg Frau Marie Salander, doch etwas betroffen über die Flunkerei, die sie den Kindern vorgemacht, während diese sich noch ein Weilchen still verhielten und dem Märchen nachschauten, das wie der Regenbogen verduftete. Kaum sahen sie noch das letzte Fräulein mit Stab und Schüsselchen in Gras und Ackerfurchen dahinziehen.

Da richtete sich die Mutter auf; von einem Einfall ergriffen, schritt sie rasch auf ihr Kommodenschränklein los, öffnete die Türlein, zog die Lädchen und aus einem derselben eine kleine Schachtel hervor, welche etwas Goldschmuck enthielt. Als Brautgeschenk ihres Mannes war der bescheidene Hort unantastbar und nicht das, was sie suchte. Aber unter anderm Kleinzeug lag auch ein Papierwickelchen dabei, das sie packte und aufmachte. Ein glänzendes, goldenes Regenbogenschüsselchen trat zutage, nämlich eine uralte Hohlmünze, Brakteat genannt. Solche Münzaltertümer wurden ehedem gern in wohlbestehenden Familien aufbewahrt und als besondere Gunst nur etwa zu Patengeschenken verwendet. Auch Marie Salander hatte das Stück, das sie in Händen hielt, bei der Taufe ins Wickelband bekommen und nun sich unvermutet an dessen Besitz erinnert. Auf den vertieften Grund war ein unvollkommener Mannskopf geprägt und neben dem Bilde in zerstreuten Zeichen die Inschrift »Heinricus rex«. Auf dem Papierschnitzel stand von der Hand Salanders die Notiz geschrieben, der Goldwert betrage zehn Franken, der Verkaufswert könne aber auf das Zehnfache und höher steigen.

Sie wunderte sich, daß sie nicht früher an diese Zuflucht gedacht. Beinahe kam sie sich vor, als ob sie das ausgewanderte Erd- oder Bergweibchen wäre, das im fremden Lande ein Trüppchen Kinder erworben hat und nun die ererbte Goldschüssel verkaufen muß, um sie füttern zu können.

»Nun ist's gut!« sagte sie zu ihnen, »noch diese kurze Nacht heißt es gefastet oder vielmehr geschlafen; morgen früh aber reisen wir in die Stadt, verkaufen den Denkpfennig und leben wie an der Kirchweih!«

Die Kinder blickten sie zweifelhaft an; sie mochten die Rede für eine Fortsetzung des Märchens halten, dessen Glaubwürdigkeit mit dem wieder erwachenden Hunger abzunehmen schien.

Da klang die Hausglocke. Es war Martin Salander, der nach allen Umtrieben wegen seines Vermögens noch seine Reisekoffer und Kisten auf dem Bahnhofe geholt und durch zwei Männer hatte herbringen lassen, um nicht ganz ohne Habe bei den Seinigen zu erscheinen; eine seltsame, aber verzeihliche Selbsttäuschung.

Noch ehe die Frau Licht angezündet hatte, stand er in der offenen Stubentüre und sagte in das Halbdunkel hinein, in welchem er nur undeutliche Gestalten erkannte, mit bewegter, nicht lauter Stimme: »Guten Abend!«

Seinen Ton erkennend, erhob die Frau die Arme und ging ihm, vom Schreck gelähmt, langsam entgegen und fiel ihm um den Hals, nicht lange danach vor Freude weinend.

»Ach, mein lieber Mann!« sagte sie mit halb erstickten Lauten, »kommst du? Bist du endlich da?«

»Ja, meine gute Marie! Und ich fühl' es, eh' ich dich sehen kann, du bist meine treue, liebe Hälfte, jeder Zoll mein Weib!« sagte er, als er sie fest in den Armen hielt und ihre Schultern, ihre Arme streichelte und die schönflächigen Wangen.

Sie schloß ihm den Mund mit Küssen und rief, ohne den Mann fahren zu lassen: »Kinder, zündet doch die Lampe an, damit der Vater euch sieht!«

Das taten die beiden Mädchen, und als es hell wurde, standen sie mit dem Bruder in der Reihe. Die Mädchen waren zur Zeit der Trennung zwei und drei Jahre alt gewesen und besaßen noch ein schwaches Erinnerungsbild des Vaters; sie erkannten ihn deshalb bald mit Hilfe ihres kindlichen guten Willens. Traulich und neugierig schauten sie ihn an. Der Knabe Arnold hingegen war erst einjährig gewesen und konnte den Vater nicht erkennen, soviel die Mutter von ihm erzählt hatte. Er schlug daher verschüchtert die Augen nieder und blickte dann doch wieder von der Seite auf den fremden Mann, der ihm jetzt entgegenschritt, ihm das Kinn aufhob, dann den Töchterchen, eh' er alle in die Arme nahm und abküßte, sie immer von neuem betrachtend.

»Du gute Frau,« flüsterte er, sie abermals umarmend, »wie liebe, hübsche Kinder hast du mir da herangezogen! Und wie froh bin ich, auch noch etwas mithelfen zu dürfen!«

»Sie sind auch brav!« sagte sie ihm ins Ohr und voll Vertrauen nachdem sie ihn während der Kindererkennung bei Licht gesehen, wie er von der Tropensonne wohl gebräunt, aber kaum älter erschien als vor sieben Jahren, und nichts Fremdes an ihm haftete.

Die Männer, welche das Gepäck gebracht, klopften an der Türe, ihre Abfertigung begehrend. Frau Salander wies den Platz für die Sachen an, der Mann lohnte sie ab und entließ sie, worauf er in veränderter Gedankenrichtung, doch in guter, fast vergessensfroher Laune rief: »Aber nun, Frau Wirtin! Was hast du etwa zu essen und zu trinken für deinen Mann? Ich habe Hunger wie ein Wolf und seit heut morgen nicht viel genossen!«

»Wir alle haben heute, aber gewiß zum erstenmal, noch gar nichts gegessen!« sagte die Frau mit einem Lächeln, das ihm die Bitterkeit versüßen sollte; »wir sind just, eh' du kamst, vollständig abgebrannt; allein sei sicher, wir haben noch keine Schulden gemacht, als für einen Monat Brot-Milchgeld!«

Mit starren Augen maß er Frau und Kinder der Reihe nach, sprachlos, doch innerlich seufzend: Das kommt immer besser! bis er rief: »Aber um des Himmels willen, Marie, warum hast du mir denn seinerzeit geschrieben, ich solle dir kein Geld mehr schicken, du könntest es machen?«

»Weil ich es früher auch konnte,« erwiderte sie, »und weil ich wünschte, daß du allen deinen Erwerb zusammenhalten und um so wirksamer damit schalten möchtest!«

»Das kann uns jetzt nichts helfen, wir müssen essen, vor allem die Kinder und du! Ihr habt also nichts im Hause?«

»Nicht einen Bissen!«

»Dann wollen wir augenblicklich in die Stadt, ein gutes Wirtshaus aufsuchen und ein Nachtessen bestellen. Ihr armen Tröpfe, jawohl! Eilt euch, zieht an, was nötig ist! Haben die Kinder Jacken und Hütchen?«

Schon flogen sie hinaus und kamen bald mit Sonntagskittelchen, Krägelchen und Hütchen zurück. Die Mutter setzte auch den besseren Hut auf, schlug ein Tuch um und zog Handschuhe an.

»Gelt, das geht uns heut noch besser, als wir gedacht!« sagte sie froh gerührt zu den Kleinen, die sie fröhlich zu atzen hoffte. Dann ergriff sie den Arm des Mannes, die Kinder voranschickend. Als er aber auf dem Flur die gebrauchten Eß- und Trinkgeräte vom Nachmittage stehen sah, sagte er, einen Augenblick stehen bleibend: »Da ist jedoch gegessen und getrunken worden, oder woher kommt denn das Geschirr?«

»Ja, es wurde gegessen und getrunken, aber wir haben zugesehen! Komm, ich will dir morgen erzählen, was ich für eine Wirtin bin!«

So gingen sie aus dem Hause; die Mutter schloß die Türe, und lebhaft ging es den Bergweg hinunter, so matt sie sich eben erst gefühlt hatten. Die Frau freilich stützte sich tüchtig auf den Arm des Mannes, von dessen Mühsalen sie nichts ahnte. Indessen steuerte er nach einer Gegend, wo er mit Henne und Hühnchen ungestört zu sein hoffte; als sie aber an einem großen, hellerleuchteten Garten vorüberkamen, in welchem Musik gemacht wurde und viele Leute saßen, gelüstete es die Kinder, ihren Hunger unter Geigen und Flötenklang zu stillen; denn sie standen still und schauten sehnsüchtig durch das Gitter, wo sie übrigens auch überall an gedeckten Tischen essen sahen.

»Sie haben recht!« sagte der Vater zur Frau, »warum sollen sie heute nicht eine Tafelmusik haben? Bleibe hier einen Augenblick mit ihnen stehen, ich will sehen, ob ich nicht einen Winkel für uns finde, wo wir unter uns sind!«

Er ging in das Haus und fand im Erdgeschoß des Gebäudes einen Saal mit offenen Fenstern, in welchem einige Leute saßen; ein kleineres Nebenzimmer jedoch war ganz leer, obgleich ein gedeckter runder Tisch darin stand. Sogleich holte er Frau und Kinder herein und ließ sie den Tisch einnehmen, über welchem ein Gasleuchter hing.

O wie zufrieden blickten die Kinder nun drein, als sie die Hände auf dem Tischtuche übereinander legten, zuweilen mit den Fingern ein wenig trommelnd.

Martin Salander gab seiner Frau, die neben ihm saß, die Hand, dann über den Tisch reichend auch den Kindern, einem nach dem andern. Er sagte nichts dazu und war glücklich, alles andere vergebend. Ein Kellner kam, nach dem Begehr fragend.

»Marie, befiehl du, was du wünschest und für die Kinder gut ist! Ich werde dann mit Erlaubnis hintendrein schon nachbessern, wenn du zu knauserig bist!« sagte Salander.

»Warme Suppe ist jetzt wohl nicht da?« fragte sie den Kellner.

»O ja, an Konzertabenden werden nach Belieben ganze Soupers serviert!« versetzte jener.

»Das ist ja ganz unser Fall,« meinte Salander, »da brauchen wir uns nicht die Köpfe zu zerbrechen, nicht wahr, Marie?«

»Ich bin sehr zufrieden!« antwortete sie, froh, des weiteren enthoben zu sein. Schnell legte der Kellner die Gedecke auf, die übrigen Zubehörden glänzten in blankem Christoffel schon auf dem Tisch. Bald erschien er auch mit der Schüssel, in welcher eine würzige Suppe dampfte.

»Setzen Sie das Ding nur auf den Tisch!« sagte Salander, »und beeilen Sie sich auch mit den übrigen Speisen nicht, wir wollen uns Zeit lassen! Es soll nicht Ihr Schade sein!«

»Sehr wohl!« empfahl sich der Kellner und ließ die Herrschaft vorderhand mit der Suppe allein. Als Salander bemerkte, daß die Gattin so wohlig im Stuhle zurücklehnte und sich eben aufraffen wollte, die Teller zu füllen, hielt er sie zurück und schöpfte an ihrer Stelle die Suppe, welche wie Ambrosia duftete. Und wie sie die Löffel zur Hand nahmen, fiel im Garten draußen das Orchester mit einem gewalttätigen Musikstück ein, daß die Kinder in dem Posaunen- und Paukengewitter die ersten Löffel mit einer seltsamen Mischung von Heißhunger und Herzensjubel zum Munde führten. Auf den anfänglichen Lärm folgte jedoch bald ein Pianissimo, dem das Publikum im Garten lautlos lauschte; die drinnen löffelten achtlos fort, ein »Sch!« zischte draußen, worüber Frau Marie erschrak, die Kinder lachten und Martin Salander das Fenster schloß.

»Eßt fort, kümmert euch nicht darum!« mahnte er. So geschah es, und als eine kleine Stunde vorbei, vergnügten sich die Kinder wohlgesättigt an dem ungefährlichen Nachtisch. Jedes hatte ein Glas Wein bekommen, die Mutter aber deren drei getrunken, und nun dünkte der Mann sich im Paradiese zu sitzen, als die aufblühenden, leicht sich rötenden Antlitze mit frohen Augen ihm entgegenglänzten, wohin er blickte, als wollten sie ihm sagen, was das Glück sei, eine Art Kräutlein Kommnichtum!

Wenigstens sagte er sich in seinen Gedanken: Dies, was ich sehe, ist die Wahrheit, und nicht das, was ich weiß!

Die Kinder wurden immer munterer; Arnold hatte sich dicht an die Seite des Vaters geschmuggelt und sagte plötzlich: »Aber Vater, weißt du nicht, daß ich dich heute schon gesehen habe, bei dem Brunnen, wo die Weidelichbuben mich auslachten, daß ich nur eine Mutter und keine Mama habe!«

Salander hatte über den nachherigen Ereignissen den Auftritt und das Gesicht des Knaben gänzlich vergessen; er nahm es jetzt in die Hände und rief: »Bei Gott, es ist ja wahr! Wo hab' ich nur meine Gedanken! Hätt' ich doch gewußt, daß ich meinem Blute so nah' war!« Erstaunt schaute Frau Marie auf.

»Bist du denn nachmittags schon hier in der Nähe gewesen und nicht zu uns gekommen?« fragte sie, fast bekümmert. Er fühlte jetzt, daß seine üble Lage doch eine Wirklichkeit war, faßte sich jedoch, weil es sein mußte und er das neue Unglück nicht hier und zu dieser Stunde verkünden konnte. Er gehörte zu denen, welche dergleichen lieber verschweigen möchten, wie ein Vergehen, das ihnen selbst und nicht fremder Schlechtigkeit zur Last fällt.

»Freilich,« sagte er, »bin ich schon um zwei Uhr oben gewesen, auf dem Wege zu euch! Im Zeisig traf ich einen alten Bekannten, den Möni Wighart, der schleppte mich mit Gewalt in den ›roten Mann‹, dort fiel uns ein, wir wollten mein Gepäck auf dem Bahnhof holen, damit das abgetan sei; dann mußte ich die Verzollung besorgen, wobei sie mir Umstände machten; dann wechselte ich unterwegs englisches Geld aus, das ich bei mir hatte, auch kamen noch andere herzu, kurz, wie es geht, die Zeit verzettelte sich und es wurde Abend. Aber nimm es nicht für ungut auf, es geschah von selbst, wie der ganze Weltlauf!«

Sie war schon lang zufrieden und im Innern froh, daß der Weltlauf sich so gefügt, der Mann nicht zu ihrer sonderbaren Bewirtung kam und die Fremden zu unwillkommenen Zeugen des Wiedersehens wurden.

Erst gegen elf Uhr traten sie den Rückweg nach der Kreuzhalde an. Der Mond war inzwischen aufgegangen, und in seinem hellen Scheine zogen sie dahin, die Kinder voran, welche bald zu singen anfingen, zur Erbauung des Vaters mit gutem Ton und Gehör und frischen Stimmen. Die Frau verließ den Arm des Mannes nicht, fragte, erzählte, plauderte und überließ sich ganz dem Genusse einer freundlichen Schicksalswendung.

Aber je näher sie dem Hause kamen, desto schwerer wurde dem Manne wieder das Herz; denn der Augenblick nahte, wo er die arme Frau aus ihrem Himmel reißen mußte.

Nein, heute nicht mehr, sagte er sich, sie soll diese Nacht noch einen guten Schlaf in Glück und Sorglosigkeit tun, den sie so lang verdient hat! Morgen ist ein neuer Tag!

Das Haus lag im Mondschein still vor ihnen; sie schlossen auf, die Kinder sprangen wieder voraus und machten Licht, und die Stube ward so belebt wie lange nicht zu dieser Stunde. Die Mutter sah ihr Regenbogenschälchen im Papierchen am Boden liegen, hob es unbemerkt auf und machte sich am Schränkchen zu schaffen, um es im stillen wieder zu verwahren. Es tat ihr im Glücke wohl, an das artige Besitztum und Abenteuer einen kleinen Aberglauben zu heften, daß es auch künftig vielleicht Heil ankündigen möge, solange es da sei.

»Nun macht, daß ihr zu Bett kommt, Kinder! Morgen beizeiten müßt ihr ausfliegen und für den Vater und uns das Frühstück herbeischaffen. Späterhin reis' ich selber aus.«

Hiermit trieb sie die aufgeregte Jugend in die Kammer, wo sie mit den Kindern zu schlafen pflegte. Der Vater kam mit, um zu sehen, wo sie hausten, und ihnen die Decke über die Nasen zu ziehen. Es sah nicht aus wie bei Leuten, die soeben nichts mehr zu beißen hatten, sondern alles war in reinlicher, guter Ordnung, noch mehr in dem Zimmer daneben, wo die Frau das Lager des Mannes schon seit Monaten bereit hielt.

»Wenn du heute nicht gekommen wärst,« sagte sie scherzend, »so hätte ich morgen mit deinem Bette den Anfang gemacht und es als überflüssig verkauft, das siehst du wohl ein!«

»Vollkommen! Hättest du's nur schon früher getan, anstatt solche Teufelei und Hungersnot anzustellen! Aber ich wollte schon ein paarmal fragen,« fuhr er fort, aus dem offenen Fenster auf das mondhelle Umgelände hinausdeutend. »Wo sind denn nur die vielen schönen Bäume hingeraten, die sonst vor und neben dem Hause standen? Hat sie der Eigentümer abschlagen lassen und verkauft, der Tor!? Das war ja ein Kapital für die Wirtschaft!«

»Man hat ihm das Land weggenommen oder eigentlich ihn gezwungen, Bauplätze daraus zu machen, da einige andere Landbesitzer den Bau einer unnötigen Straße durchgesetzt haben. Nun ist sie da, jedes schattige Grün verschwunden und der Boden in eine Sand- und Kiesfläche verwandelt; aber kein Mensch kommt, die Baustellen zu kaufen. Und seit die guten Bäume dahin sind, ist auch mein Erwerb dahin!«

»Das sind ja wahre Lumpen, die sich selbst das Klima verhunzen. Nun wollen wir aber auch zur Ruhe. – Du, Marie!«

»Was, Martin?«

»Eines, will ich wetten, hast du gewiß vergessen!«

»Was denn?«

»Meinen alten Stiefelknecht!«

»Hier ist er!«

Sie zog ihn unter dem Fußende des Bettes hervor.


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