Gottfried Keller
Nachgelassene Erzählungen
Gottfried Keller

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Die Reise in die Unterwelt

Die Nacht dämmerte kühlend und ruhebringend hernieder, als ich unter dem niedern Fenster meines Kämmerleins saß und gedankenvoll oder auch gedankenlos in den leise wogenden Abend hinausschaute und den erquickenden lauen Wind einatmete, der durch das offene Fenster zog und die verwitterten runden Glasscheiben klirren machte. Ferne Blitze zuckten stille am Horizonte hin, die dunsterfüllte Luft widerstrahlte in seltsamen Formen vom Glanz der hinabgegangenen Sonne. Mit ihren schon oft gehörten heimlichen Tönen klang die Abendglocke zu mir herüber und rief Erinnerungen aus meinen Kinderjahren in meine Seele zurück. Ach, schon damals wie jetzt stand ich oft unter ebendiesem Fenster und harrte und staunte, bis der alte breite Turm sich in schwarzen dunkeln Umrissen ins Abendrot tauchte, oder ich blickte sehnsüchtig den vorüberfliehenden Wolken nach und freute mich kindisch, wenn ich aus den unbestimmten Formen derselben einen Drachen oder einen Riesen herausgrübeln konnte; oder ich horchte dem Klange der Glocke, die in den nämlichen, feierlich abgemessenen Tönen mein Herz rührte, damals wie jetzt. Indessen verglomm der letzte Schimmer des Tages, und ein blasses zweifelhaftes Licht zitterte nur noch durch die Natur. Stiller säuselten die nächtlichen Lüfte, jegliches Wesen in den Schlummer wiegend. Vor mir schwankte an unsichtbarem Faden eine mächtige Kreuzspinne vom Dache herab, ließ sich auf meinen Rosenstrauch nieder, befestigte da ihren Faden und schwebte wieder hinauf, ringsum die Stützen ihres Mordgewebes zu gründen. So fuhr sie mit emsiger Arbeit fort, dem unschuldigen wehrlosen Mückengeschlechte den Tod zu bereiten, und ahnte nicht, daß sie selbst in Todesgefahr schwebte, denn ich geriet stark in Versuchung, das häßliche Geschöpf zu verderben. Jedoch hatte ich dazu kein Recht; denn es ist gezwungen, zu seiner kümmerlichen Nahrung das zu tun, was wir Menschen ohne Notdurft täglich an Hunderttausenden von wehrlosen Geschöpfen ausüben, bloß um unsern leckern Gaumen zu kitzeln, und uns stehen doch so unerschöpfliche Mittel auch aus dem Pflanzenreiche zu Gebote. Die Spinne zog also ungestört ihren Faden, und ich überließ mich meinen Gedanken; aber bald verfiel ich in Schlaf und seltsame Träumereien, vom sanften Abendhauche eingelullt. Mir war jetzt, als verfolgte ich noch mit den Augen die unablässig sich jagenden, hoch auftürmenden und wieder zusammenfließenden Luftgebilde, da erregte eine wunderbare Wolke meine besondere Aufmerksamkeit.


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