Gottfried Keller
Nachgelassene Erzählungen
Gottfried Keller

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Reisetage

In einer gewissen Epoche des Lebens gewähren uns wohl die reinsten und erhabensten Erholungen jene fröhlichen Fußwanderungen, welche wir etwa mit einigen Freunden von gleichen Anlagen, gleicher Lebenslust und Lebensansichten zu machen pflegen. Wie man sich in solchen Fällen in allen materiellen Bedürfnissen scherzend und liebreich aushilft, ja meistens die Kasse, ohne zu fragen, wer am meisten hineinzulegen hat, gemeinschaftlich führt: ebenso teilt man auch gebend und nehmend den schöneren Schatz des Wissens und der Erfahrung, und bald ist es der, bald jener, welcher das Amt der Belehrung über vorkommende Reisemerkwürdigkeiten übernimmt. Wie reich und anregend aber auch die Tage einer solchen Wanderung an unserm Gemüte vorübergehen, und wie reizende Bilder sie auch in dem offenen Album unsers inneren Auges hinterlassen: so bereiten uns doch die Abendstunden solcher Tage noch die gemütlichsten Freuden, wenn man, angekommen in irgendeinem freundlichen Dorfe oder in einem kleinen altertümlichen Städtlein, die gastliche Herberge aufsucht, wo man Ränzel und Stab abwerfen und, während man behaglichst ausruht, das Leben und Treiben der unbekannten und doch allwärts sich so immer gleichen Menschenkinder anschauen kann.

Mitten auf einer solchen Reise waren zwei Freunde, Plankof und Nästele, begriffen. Es waren dies zwei fröhliche Studenten, die sich beim rauschenden Gelage gefunden, bald aber auf der stilleren Stube näher kennen und lieben gelernt hatten. Sie gehörten zu denen, welche sich schon ernstlicher mit ihren Lebensaufgaben beschäftigen und, ein wenig mehr im Kopfe tragend als eben nur Bier- und Waffenkomment, sich frei, schicklich und beobachtend im Leben zu bewegen wußten und von beschränktem Studentendünkel, wie er vorzüglich auf den süddeutschen Hochschulen zu Hause ist, keine Spur an sich trugen. Daß sie aber zur rechten Zeit sich von keinem Renommisten weder unter den Tisch trinken, noch schimpflich ausschmieren ließen, konnte man ihrem gewandten und kräftigen Äußern wohl ansehen.

Plankof war ein hochgewachsener, kecker Norddeutscher, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, von feurigem Geiste und beredter Zunge, der sich sicher und gewandt in allen Verhältnissen zu bewegen wußte und schon mehrere Jahre in Berlin zugebracht hatte, eher zur Veredlung und Pflege seiner herrlichen Geistesanlagen als zu einem beengenden Brotstudium. Man konnte ihm wohl anmerken, daß er, wenn er einst im Besitz seines zu erwartenden Vermögens wäre, sich wenig um eine gute Anstellung oder um eine weitläufige Praxis kümmern, sondern seinem Drange zu poetischem und künstlerischem Wirken freien Lauf lassen würde.

Nästele aber war ein lieber, stiller Schwabe, von mittlerer, etwas beleibter Statur, mit milden, bescheidenen Augen. Als einer von den sieben Söhnen eines nur wenig bemittelten Beamten mußte er seine Studienzeit so anwenden, daß er die mit einiger Mühe gebrachten Opfer seines Vaters zur Grundlage einer festen nachherigen Existenz machte.

Auch er nährte zwar einen Funken von Phöbus' göttlichem Feuer im Herzen, aber mit stiller Resignation hoffte er einst glücklich zu sein, wenn ihm ein bescheidenes Amt nur Muße genug ließe, in den Blüten- und Fruchtgeländen anderer, auserwählter Gärtner zu wandeln und zu genießen. Könnte er dann noch im eigenen Gärtchen etwa ein verborgenes Blümlein ziehen, das einen anspruchlosen Wanderer gelegentlich erquickte, so wären seine kühnsten Wünsche sattsam erfüllt. Er lebte und webte ganz in dem mittelalterlichen Paradiese seines schönen Schwabenlandes; und wenn Plankof den sangerfüllten Trinksaal in Walhalla umschuf, sich als heldenseligen Einherier und das schlanke Kellnermädchen als mutige Walküre dachte, die ihm den Met reiche: so versetzte sich Nästele gerne als Minnesinger auf die Zinnen einer alten schwäbischen Burg, und die Kellnerin war ihm dann immer ein schönes, sanftblickendes Burgfräulein, das ihm den funkelnden Römer kredenzte.

Nästele hatte seinen Freund beredet, die Herbstferien mit ihm zu einem Besuche in sein väterliches Haus zu verwenden, und so waren sie, nachdem sie die Post bis Köln benutzt hatten und von da den Rhein aufwärts zu Fuße wanderten, an einem schönen Septemberabend in ein kleines Städtchen eingerückt, wo sie zu übernachten beschlossen.

Sie kehrten im vornehmsten Gasthause, zur blauen Lilie beschildet, ein, und nachdem sie von den höflichen Leutchen, sogleich als Kinder aus gutem Hause erkannt, in die große Gaststube geführt worden, warfen sie ihre Tornister und ihre breiten Strohhüte froh auf eine lange Ofenbank und machten sich alsobald mit jugendlicher Heiterkeit über die indessen aufgestellten Erfrischungen her. Wer so einen sonnigen, heißen Tag munter und behende auf der Reise in einer reizenden Gegend, zumal wie am Rhein, wo die Rebenhügel uns von allen Seiten bedeutsame Grüße zuwinken, zugebracht hat, der weiß, wie einem dann das Abendbrot in einem reinlichen und wirtlichen Gasthause so trefflich mundet; und so wird es der freundliche Leser unsern jungen Wandersleutchen gewiß nicht übel auslegen, wenn sie die Flasche Affenthaler, welche sie vor sich sahen, ein wenig schnell um ihren feurigen Inhalt gebracht hatten.

Als aber der geschäftige Wirt, so ein rechter, etwas dicker Überall-und-Nirgends, keuchend herankam und eine zweite Flasche bringen wollte, verbaten sie sich dieses bis auf das eigentliche Nachtessen, indem der eben eingenommene »Bissen und Trunk« nur so eine Art Vorläufer und Quartiermacher gewesen sei. Sie ließen sich nun auf ihr Zimmer führen, kleideten sich dort ein wenig um und ergötzten sich dabei höchlich an der baumwollenen Pracht in Gardinen, Betten und an den geschmackvollen Wandbildern, die man gewöhnlich in solchen Gasthofzimmern antrifft.

Um beschaulich und ruhig zu verschnaufen, legten sich unsre beiden Studenten unter das Fenster, daß auf die Hauptstraße des Städtchens ging, und erfreuten sich da weidlich an den altertümlichen, bald bemalten, bald mit gotischer Steinhauerei bedeckten Häusern, zwischen welchen hie und da gar vorwitzig dünkelhaft ein modernes blankgeweißtes Kaufmannshaus hervorstach. Es währte jedoch nicht lange, so hatte der scharfsichtige Plankof schon ein paar niedliche Mädchenköpfe hinter einem Fenster über der Straße entdeckt, welche neugierig und vielleicht ein wenig sehnsüchtig die fremden Jünglinge belauschten, während der gutmütige Nästele vergnügt den Lärm der Kinderlein beobachtete, die unter den Augen ihrer plaudernden Mütter in der Straße spielten.

Der schöne Abend ließ indessen unsern beiden Freunden nicht lange Ruhe, und sie beschlossen, noch ein bißchen hinauszugehen ins Freie. »Die uralten Stadtmauern und Türme solcher Nester«, meinte Plankof, »gewähren einem meistens mehr Unterhaltung und geben dem malerischen oder poetischen Sinn bessere Nahrung als der ganze Menschenquark, den sie umschließen.« Und Nästele stimmte ihm hierin vollkommen bei, nur fügte er noch hinzu, daß besagter Sinn an dem Innern Treiben solcher Städtlein hinwiederum doch mehr Nahrung fände als in unsern großen heutigen Hauptstädten, welche weder interessante Einwohner, noch merkwürdige verfallene Ringmauern hätten. »Hast auch wieder recht, Junge!« antwortete Plankof, »anstatt der mit Efeu und wunderlichen Türmchen und Schießscharten versehenen Mauern finden wir dort Vorstädte voll Hunger und Elend mit nüchternen Barrieren und traurigen Gendarmen, und die Einwohner sind dort bei ihrem unnatürlich aufgeklärten Wesen und äußerlicher Gefühllosigkeit darum nicht weniger kleinstädtisch schwatzhaft, verleumderisch und neugierig. Und dann, wo findest du jene blühenden, bescheidenen, so unaussprechlich anmutigen Mädchengesichter, wie wir schon einige vis-à-vis gesehen haben, eh wir nur eine halbe Stunde hier waren?«

»Oho Bursche«, erwiderte Kästele, »mich dünkt, du habest in Berlin doch auch etwas der Art entdeckt, oder was hat dich denn so oft in den schwarzen Frack gejagt, den du sonst nicht ausstehen kannst? War etwa die Schwarze in der Mittelstraße nicht unaussprechlich anmutig?«

»Nun ja«, sagte Plankof etwas verlegen, »das ist eben eine interessante Dame, und wenn man solche gewöhnlich nur in größern Städten findet, so laufen sie doch auch nicht dutzendweise herum.«

»Concedo«, versetzte Nästele, »und ich möchte die Behauptung aufstellen, daß der Typus jener deutschen frommen und lieblichen Mädchengestalten, die uns in den Werken der altdeutschen Maler so sehr entzücken, durchaus nur noch in den kleinern Städten anzutreffen sei.«

»Und woher kommt das?« klagte Plankof, »woher anders, als weil die einfältigen Dinger nicht mehr wissen und merken wollen, was sie ziert und anziehend macht in den Augen eines echten Mannes; aber wer ist schuld daran? Wir selbst! Und solang wir unsere Kleider und Sitten noch aus Paris beziehen, solange werden auch unsere Weiber nicht gescheiter werden. Die Franzosen tun sich wunder was zugute auf ihren Louis XIV., aber nicht seiner etwaigen anderweitigen Eigenschaften wegen, sondern weil er ein geschmackloser, unnatürlicher Kauz war und den Fluch der Kleideretikette aufbrachte. O Frack! o du herrlicher Seidenhut! o buttergelbe Glacehandschuh! O Zuckerwasser und –!«

Nästele unterbrach ihn hier mit einem herzlichen Gelächter. »So tröste dich einstweilen noch in deinem Zorn; diesen Herbst werden wir es in den leichten, weiten Reisekleidern schon noch aushalten, und im Winter wollen wir eine Revolution des Kostüms anzetteln. Wir werden die Schneider in Enthusiasmus setzen, daß sie lieber die Kunden verlieren als ferner eine französische Hose oder Weste machen; wir werden Bildersturm erheben gegen alle Mode-Journals; dann, o Lieber, werden wir wieder einherwandeln im faltigen Samtkleid und Lederwams, Schwert an der Seite, die schwanke Feder wird wieder fröhlich fliegen wie ehemals; die Mägdlein werden in schweren Seidenstoffen, Kränzlein im Haar, zur Kirche ziehen; güldene und silberne Ketten und Spangen die Menge; denn daß der Wohlstand mit der alten Sitte zurückkehren wird, versteht sich von selbst! Indessen vergiß deinen Harm, und laß uns das allerliebste Krämerstöchterlein dort näher ins Auge fassen.«

Sie waren während diesem Gespräche auf die Straße gekommen und sahen in einem Laden, in welchem alle menschlichen Bedürfnisse wie in einer Arche Noä für den Fall einer zweiten Sündflut aufgetürmt zu sein schienen, wirklich eine schlanke Jungfrau sitzen in einem knappen hellgrünen Hauskleide, gar emsiglich allerlei alte Chroniken in Düten umwandelnd. Dann und wann schien sie aufmerksam in einem der unglücklichen Blätter zu lesen oder etwa einen Holzschnitt daraus, der vielleicht keinen geringern Meister als Dürer oder Martin Schön zum Urheber hatte, für das kleine Brüderlein beiseite zu legen, welches im dämmernden Ladenwinkel sein Spielzeug nach und nach unvermerkt in die holde Nachbarschaft der Weinbeeren- und Mandelnbehälter praktiziert hatte.


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