Gottfried Keller
Nachgelassene Erzählungen
Gottfried Keller

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Eine Nacht auf dem Uto

Durch dornichtes Gesträuch und über steiles Gestein wand ich mich an der schwarzen Felswand den krummen Pfad hinauf, den Gipfel des alten, finstern Berges erstrebend. Furchtsam in meiner menschlichen Kleinheit blickte ich an wilden, himmelstürmenden Felsen umher und suchte ihr weltaltes einsam in die Lüfte ragendes Haupt; aber mein Blick ward irre ob der Größe, ob der düstern Majestät, ich schlug ihn nieder und wandte ihn seitwärts hinab; da gähnt' ihm der schwarze Abgrund entgegen, der an des Pfades Seite sich hinabwirft. Ein fernes, unbestimmtes Tosen tönte aus der Tiefe zu mir herauf, vom Rauschen eines tobenden Waldstromes oder vom Sausen des schwarzen Tannenhorstes, in dessen verwitterten Wipfeln mein Auge tief unten sich verlor. Aber mir schwindelte, und ich mußte mich an der nächsten nackten Fichtenwurzel halten, um nicht hinabzustürzen in diesen grausigen Schlund. Ich klomm weiter und erreichte unter stetem Staunen und Starren das Ende des Weges; noch um die abgerissene Felsensäule herum, und ich war auf dem Gipfel des Berges. – Da stand ich allein in der Ungeheuern Höhe auf der öden Fläche. Nur ein Kranz nackter, uralter Fichtenstämme, die seit Jahrhunderten schon stumme, einsame Versammlung hier hielten, war Zeuge des abwechselnden Entzückens, Staunens und Bewunderns, das sich meiner hier bemächtigte; denn eben ging am fernsten Ringe der Gefilde die Sonne unter. Noch ruhte sie auf dem letzten silbernen Punkte, der am Rande des Horizontes von dem Flusse sichtbar war, dessen Krümmungen, allmählich wachsend, bald hinter Wäldern und Hügeln verschwindend, bald wieder lieblich hervorschimmernd, dem Auge sich näherten, bis sie in graugrünen Fluten am Fuße meines Berges daherwallten, sich durch drückende Felsen und waldichtes Ufer wälzend um den schwarzen, tausendjährigen Turm, die Wohnung eines nächtlichen Eulengeschlechts, bogen, dann unter der Nacht des ungeheuren Waldes sich verloren und zuletzt in den ausgedehnten Halbmond des Sees sich ergossen, über welchem, der untergehenden Sonne gegenüber, ein blasser Schimmer die nahe Ankunft des Mondes verkündete.

Ermattet brach sich der letzte Strahl der Scheidenden an den Gigantenmauern des Berges. Jetzt ist sie nicht mehr; rosiges Feuer läßt sie zurück, das sich unmerkbar in das tiefe reine Blau des unermeßlichen Gewölbes verschmilzt. Welch heilige Stille; kein Lüftchen weht, kein Wölkchen schleicht am Himmel. Klopfend atmet das Herz all diese Genüsse, trunken schweift das Auge über die weiten Auen und Hügel, über Wälder und Felder, über Strom und See; welche heroische reine Natur, von keinem menschlichen Machwerk gestört! Welch edle Formen der Berge und Gründe, vom flammenden Abendrot mit zaubrischen Farben erwärmet. Es war ein Anblick, wie Adam ihn genossen haben mochte, als er die Natur in ihrer Jugend, in ihrer Echtheit begrüßte. Hier schwanden alle Gedanken, Menschheit und menschliche Kunst und menschliche Pracht. – Hier oben muß die Nacht göttlich sein!, dacht's und warf mich unter eine riesige Fichte, die ihre entlaubten Arme in bizarren Verschränkungen über mich ausstreckte. Wie wohl war mir. Unnennbare Gefühle, sehnsüchtige Phantasien, leuchtende Bilder der Hoffnung drängten sich in meiner Seele, während der Widerschein der gesunkenen Sonne allmählich verblich und dem dunkeln Blau der Dämmerung Platz machte. Die Farben verschwammen in Grau, und Grau umhüllte die Landschaft. Die Gefilde verschwanden vor meinen Blicken, immer näher und näher, bis zuletzt nur noch der felsige Vorgrund düster herausragte. Nacht und Nebel sank auf die Erde, vom matten Scheine des hinter mir aufgestiegenen Mondes durchflimmert. Trüb und bleich, wie der Geist der gestorbenen Sonne, wollte er die nämliche Bahn durchleuchten, die sie durchleuchtet hatte; aber es war nur ihr Schatten!

Mutlos, aber treu, schaute er in die verdunkelte Schöpfung, ein Bild der hoffnungslosen Liebe. Melancholische Gedanken weckend, betrat er seine Bahn, warf einen schimmernden Blick auf den unter ihm ruhenden See und lockte einige Sternchen ans Firmament. Noch erreichte sein schwaches Licht die Höhe meines Berggipfels nicht, ich lag in dämmerndem Dunkel; frische Winde wehten über den Berg, kühlten die brennenden Wangen und flatterten wohltuend durchs Haar. Morpheus streute Körner auf meine Augen. Ich schlummerte ein ins Reich der Träume. Es war mir, als betrachtete ich noch einmal den herrlichen Sonnenuntergang und die paradiesische Landschaft; da trat ein freundlicher Greis vor mich hin, von Ehrfurcht erregendem Ansehn; der silberne Bart umfloß seine milden aber tiefen Züge und fiel in sanften Wellen auf das weiße blendende Gewand; majestätische Weisheit thronte auf der hellen Stirn, aus den Augen leuchtete immerwährende jugendliche Kraft, gepaart mit heiligem Ernste des Alters; es leuchtete die Ewigkeit aus ihnen! »Was sinnst du?« sprach er zu mir mit unaussprechlicher Güte, in einer niegehörten und doch von jedem Wesen verstandenen Sprache. »Ich forsche nach dem, der dieses alles geschaffen hat«, antwortet ich schüchtern. »Du wirst es sehen«, sprach er und verschwand. Da ward das Felsenhaupt des Berges zu einem flammenden Altar, um den die ganze Menschheit, von Anfang bis ans Ende, auf den Knien lag. Auf dem Altare strahlte ein geheimnisvolles Licht von unbestimmter Gestalt und unbekanntem Namen, aber erquickende, belebende Wärme ging von ihm aus, es verbreitete goldenen, sonnigen Schein durch die ganze Natur. Zu diesem Lichte beteten alle Menschen, die da waren. Alle Nationen aller Zeitalter und aller Religionen verehrten dasselbe, nur unter verschiedenen Namen. Da zitterten Römer und Griechen vor ihrem Jupiter, und Ägypter opferten dem Osiris und der Isis; dort büßten Juden vor Jehovah und erwarteten den Messias, während römische, kalvinische, lutheranische Christen mit allen ihren Sekten ihren Erlöser lobpriesen. Der Türke schwur bei Mohammed und der Chinese beim Fo. In buntem Gemische sangen menschenschlachtende Mexikaner, rohe Kannibalen und feueranbetende Perser ihre Andacht, der Indier betete zu Brahma und der Irokese zu seinem Manitu – sie alle glaubten an das Licht, und über alle ergoß es seine wärmenden Strahlen – nur ein Häuflein armseliger Kreaturen kroch im kalten Schatten und warf höhnische, verächtliche Blicke auf die gläubige Menge. Dies war die Rotte der kurzsichtigen Freigeister, der Gottesleugner. Sie glaubten die Geheimnisse der Natur ergründet zu haben und schrieben den Gang des Weltenlaufs, des Lebens allein den verschiedenen Kräften zu, die in derselben wirken. Die Toren! sie zergliederten in ihren Mäuseköpfen das große Uhrwerk und leiteten die Verrichtungen der Natur vom ewigen Gange der Räder und Getriebe her, ohne zu bedenken, daß eine Hand nötig war, um das Ganze in Bewegung zu setzen. Diese Geschöpfe verlachten den vernünftigen Glauben; aber sie spotteten ihrer selbst, denn das Dasein eines Schöpfers zu leugnen, ist größerer Unsinn als der finsterste Aberglaube; auch waren sie samt ihrer Philosophie zehnmal unglücklicher als der einfältigste der Gläubigen. – Plötzlich verteilte sich das Licht, und in der blendenden Strahlenfülle schwebte der Greis, den ich gesehen hatte. Er sprach mit väterlich huldreicher Stimme: »Erforschet meine Werke, und ihr werdet mich erkennen!« und die Menschheit erkannte ihren Schöpfer! Ich erwachte und blickte verwundert um mich herum. Welche Pracht bot sich mir dar! Es war Mitternacht geworden, der Mond stand mitten am Himmel und goß sein mildes Licht auf des Berges Scheitel, auf der ich lag. Ringsherum verbreitete sich die Herrlichkeit des ganzen Firmamentes. Tausend und tausend Sternbilder strahlten in ewiger Harmonie von ihrer Bahn; hoch über mir zog sich die Milchstraße über den unermeßlichen Plan. Ich sprang auf und wandelte wonnetrunken zwischen den versilberten Fichtenstämmen umher, welche, auf den hellen Rasen kräftige Schatten werfend, wie Tempelsäulen zum flimmernden Gewölbe emporstrebten. Feierliches Schweigen ruhte auf der ganzen Natur, kein Wesen atmete außer mir; nur aus dem Tale herauf drang ein leises, fernes Murmeln vom vorbeifließenden Strome, aus welchem der Widerschein des Mondes wie ein Stern aus der dunkeln, verworrenen Tiefe heraufglänzte.

Ich blickte über den Rand des Berges in die Nacht hinab, blickte ringsum in die Nacht hinaus und blickte mit irrendem Auge an das Sternengewirre über mir. Das ganze Altertum mit allen seinen Fabeln, Göttern und Helden tat sich mir auf beim Anblick dieser ewig leuchtenden Denkmale der alten Mythologie. Unverwandt starrte ich empor, entsetzt über diese Unendlichkeit, über diese Größe, diese ewige Harmonie der Systeme, und fand, daß die Sternkunde die erhabenste der menschlichen Wissenschaften sei.

Es war der köstlichste Moment, den ich je genossen hatte, als ich so dastand auf dieser abgeschiedenen Höhe, vom Monde beschienen und ringsum schwarze Nacht, aus welcher unbestimmt und dämmernd die Umrisse der näheren Gegenstände hervorschauten, als ich so ganz allein auf diesem Berge stand und über mir die sternbesäete Decke. – Unheimliches, zitterndes, staunendes Entzücken ergriff mich, heißer Stolz flammt' in mir auf und schmolz in demselben Augenblicke in Demut und Anbetung vor dem, der dieses alles geschaffen hatte, der mir diese Nacht schenkte. Ich brannte vor Begierde, meine Seligkeit einem gleichfühlenden Wesen mitzuteilen, mein Entzücken in den Augen desselben zu lesen, aber ich war allein, mußte meine Lust und meine Wehmut in mich verschließen. Ich lehnte an einen Stamm und durchwachte schwärmend und träumend den übrigen Teil der Nacht. Der Mond nahte dem Ende seines Weges, langsam durchmaß er ihn, die Gestirne rückten weiter und verschwanden allmählich den Blicken. Über dem See lichtete ein grauer Streif die Nacht, welcher sich vergrößerte, sowie der Mond auf der entgegengesetzten Seite sich der Erde wieder näherte. Die Dämmerung verdrängte die Nacht, der Tag die Dämmerung; die Aussicht lag wieder vor mir, aber nicht mehr die abwechselnde gestrige, sondern eine einzige graue Nebelfläche, wie ein Meer, aus dem mein Berg wie eine Insel hervorragte. Doch bald glühte das Morgenrot und warf die ersten Farbentöne in die Schöpfung; der Nebel schmolz, und in verjüngter, erfrischter, verherrlichter Kraft lachte die Natur mich an, als die Sonne heraufstieg und ihr Feuer über den goldenen See hinschoß. Da sandte ich die letzten sehnsüchtigen Blicke rings über die Täler (ich konnte beinahe nicht scheiden ) und entstieg mit gefülltem Herzen dem Gipfel. Tau beglänzte meinen Weg, überall feierten die Wesen, jegliches Würmchen und jegliches Gräschen an der Quelle, den Morgen. Alle die Stellen, die ich im Abendscheine gesehen, die mich erfreut hatten, erschienen mir wieder im Morgenglanz, und bald durchwandelte ich die herrlichen Gefilde und genoß jede Schönheit einzeln, die ich im harmonischen Ganzen vom Berge aus bewundert hatte.


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