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Zweiter Teil.
Der utopische Sozialismus und die kommunistischen Versuche in den Vereinigten Staaten Nordamerikas

Von Morris Hillquit

Einleitung

Die Theorien des utopischen Sozialismus haben häufig zu Versuchen mit kommunistischen Niederlassungen geführt, und wir können hinzufügen, daß diese Theorien in dem Maße Popularität in den Vereinigten Staaten fanden, wie ihr Entwurf, mehr oder weniger eng, mit solchen Experimenten verbunden war. So fand das System des großen französischen Utopisten Charles Saint-Simon, dessen hauptsächliches Ziel die Organisation nationaler und internationaler Industrie auf wissenschaftlicher Basis bildete, und das eine allumfassende Sozialphilosophie war, die keine Miniaturexperimente zuließ, kein Echo in den Vereinigten Staaten. Robert Owens Philosophie, in der zwar Gemeinden kein wesentlicher Bestandteil sind, aber doch eine bedeutende Rolle als Vorbereitungsschulen für das kommunistische Regime und als Vorbilder kommunistischer Lebensweise spielen, gewann eine bedeutende Stellung in den Vereinigten Staaten, obzwar sie nicht dieselbe Macht erlangte oder in gleichem Maße den Gedankengang der Gesellschaft beeinflußte, wie in ihrem Geburtsland England. Anderseits entwickelte das System des französischen Utopisten Charles Fourier, das insbesondere auf gesellschaftliche Organisationen in kleinem Maßstabe gegründet war, größere Lebenskraft in Amerika als in Frankreich, wohingegen die ikarische Bewegung mit ihrer Bevorzugung des Experiments trotz ihres Ursprungs in Frankreich ihre praktische Anwendung ausschließlich in den Vereinigten Staaten fand.

An Ursachen mangelte es nicht, daß die Vereinigten Staaten zum Schauplatz für die Versuche der utopistischen Sozialisten aller Nationen gemacht worden sind.

Alle, die soziale Experimente anstellten, hofften in der Regel, daß sich ihre Gründung nach und nach zu einer vollkommenen Gesellschaft mit höherer Zivilisation entwickeln würde. Zu diesem Zwecke benötigten sie gewaltige Strecken billigen Landes an Orten, die den verderblichen Einflüssen des modernen Lebens entrückt waren; und Amerika hatte am Anfang und in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Überfluß an solchem Lande.

Ferner hatten die industrielle und agrikulturelle Zukunft des jungen Landes, seine politische und Gewissensfreiheit einen unwiderstehlichen Reiz für diese Pioniere einer neuen Ordnung der Dinge.

Was die Zahl der in diesem Lande während des neunzehnten Jahrhunderts gegründeten kommunistischen und halbkommunistischen Kolonien betrifft, so läßt sich darüber nichts Sicheres feststellen.

Noyes, » History of American Socialisms« von John Humphrey Noyes. der 1869 schrieb, berichtet von ungefähr 60 Gemeinden, ausschließlich der Shakergesellschaften. Nordhoff » The Communistic Societies of the United States«, von Charles Nordhoff. zählte 1875 18 Shakergesellschaften, die 58 besondere »Familien« oder Gemeinden umfaßten, und 12 andere, hauptsächlich religiöse Gemeinden, unter denen sich jedoch drei finden, die schon bei Noyes erwähnt sind; und drei Jahre später zählte Mr. Hinds » American Communities«, von William A. Hinds. Der größere Teil des ersten Abschnittes dieses Buches war schon geschrieben, als eine zweite, durchgesehene und vermehrte Ausgabe von Mr. Hinds' Werk bei Charles H. Kerr & Company, Chicago, erschien. Diese neue Ausgabe enthält auch einen Bericht über die owenistischen und fourieristischen Versuche, deren in der ersten Ausgabe keine Erwähnung getan war; sie verfolgt die Geschichte der bedeutendsten religiösen, wie auch der ikarischen Gemeinden bis heute, fügt mehr als 20 neue Gemeinden zu den von früheren Autoren beschriebenen hinzu, und ist nunmehr als der sorgfältigste und vollständigste Bericht über amerikanische Gemeinden anzusehen. 16 neue, teils bestehende, teils werdende Gemeinden. Mr. Shaw » Icaria, a Chapter in the History of Communism«, von Albert Shaw, Ph. D. versicherte im Jahre 1884, bei seinen Forschungen mindestens 50 Gemeinden gefunden zu haben, die nach 1870 organisiert waren, und Rev. Mr. Kent » Cooperative Communities in the United States«, von Rev. Alexander Kent, im Bulletin of Department of Labour, Nr. 35, Juli 1901. der im Jahre 1901 schrieb, schilderte 25 neue Gemeinden und Bruderschaften, die in unseren Tagen gegründet worden waren.

Wenn wir unsere Schätzung auf die fragmentarischen Berichte dieser Schriftsteller gründen, so können wir mit Sicherheit annehmen, daß im Laufe des letzten Jahrhunderts in verschiedenen Teilen der Vereinigten Staaten einige hundert Gemeinden bestanden haben, und daß die Zahl derer, die an den verschiedenen Versuchen zu dieser oder jener Zeit teilnahmen, sich auf Hunderttausende belief.

Die Geschichte dieser zahlreichen Gemeinden ist ebenso verschieden, wie ihre Klassifikation nach ihrem Ursprung und ihren besonderen Zwecken; hier beschäftigen uns nur solche, die Teil einer allgemeinen, direkt oder indirekt mit einer bestimmten Schule des utopischen Sozialismus verbundenen Bewegung waren. Wir können sie in folgende vier Hauptgruppen einteilen:

1. Sektierergemeinden.

Diese Gruppe umfaßt die Shakers, die Perfektionisten, und etliche von deutschen Einwanderern organisierte Gemeinden. Ihr Hauptziel war in allen Fällen die freie und ungehinderte Ausübung ihrer besonderen Religionsbekenntnisse. Ihr Kommunismus war nur ein sekundärer Zug; er bildete in einigen Fällen einen Bestandteil ihres Religionssystems, in anderen ein Mittel, um die Reinheit ihrer Sekte zu erhalten und ihre Mitglieder von den Einflüssen der ungläubigen Welt fernzuhalten.

Sie hatten keine allgemeinen Theorien einer sozialen Rekonstruktion, sie machten keine Propaganda für den Kommunismus und gründeten ihre Niederlassungen nicht zur Belehrung ihrer Nachbarn, sondern als Zufluchtsort für sich selbst. Sie werden in der einschlägigen Literatur gewöhnlich als »religiöse Gemeinden« bezeichnet, doch dürfte diese Benennung kaum ihre Ziele und ihren Charakter richtig ausdrücken. Was sie von anderen Gemeinden unterscheidet, ist nicht die Tatsache, daß sie religiös waren – denn religiös waren auch viele Gemeinden der anderen Gruppen –, sondern der Umstand, daß ihre religiösen Bekenntnisse und Übungen besonderer und sektiererischer Art waren.

Diese Gemeinden waren der Zeit nach die frühesten, der Zahl nach die stärksten, und viele von ihnen bestehen heute noch. Doch spielen sie in der Geschichte der sozialistischen Bewegung nur eine untergeordnete Rolle, und aus diesem Grunde wollen wir uns hier auf eine kurze Darstellung der bedeutendsten und typischsten unter ihnen beschränken.

2. Die Owenschen Gemeinden.

Hierher gehört eine Gruppe von Gemeinden, die entweder von Owen selbst oder unter dem Einfluß seiner Agitation gegründet wurden. Sie waren die ersten Gemeinden, die in Nordamerika zur Förderung einer allgemeinen sozialen Theorie und als Mittel zur Propaganda gegründet wurden. Nur zwölf von ihnen sind der Vergessenheit entrissen, obwohl aller Wahrscheinlichkeit nach viel mehr existierten. Diese Versuche umfassen die Zeit von 1825 bis 1830.

3. Die fourieristischen Gemeinden.

Diese Gemeinden wurden von amerikanischen Jüngern Charles Fouriers gegründet. In ihrem Organisationsplan bemühten sie sich, dem Ideal der in Fouriers System als »Phalangen« bezeichneten industriellen Gemeinden möglichst nahe zu kommen, und die meisten von ihnen nannten sich Phalangen.

Der Fourierismus war das erste sozialistische System, das sich zum Range einer nationalen Bewegung in den Vereinigten Staaten erheben sollte. Die Bewegung dauerte ungefähr ein Jahrzehnt, von 1840 bis 1850, und brachte mehr als 40 soziale Experimente in verschiedenen Teilen des Landes hervor.

4. Die ikarischen Gemeinden.

Die ikarischen Niederlassungen waren eine Reihe von Versuchen, die aus ein und demselben Unternehmen des Franzosen Etienne Cabet herauswuchsen, und obzwar wir sie in fünf verschiedenen Staaten, zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Namen antreffen, müssen wir sie als eine einzige Gemeinde betrachten.

Die Urgemeinde »Ikaria« wurde im Jahre 1848 gegründet, und ihre zahlreichen Ableger, die aus einem ständigen Prozeß der Spaltung und Wanderung hervorgingen, fristeten beinahe ein halbes Jahrhundert lang ihr Dasein.

Die ikarische Bewegung entwickelte in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine gewisse Kraft, war aber nach dieser Zeit nur von geringer Bedeutung. Obwohl der Versuch auf amerikanischem Boden unternommen wurde, so war er doch fast ausschließlich auf Franzosen beschränkt, und hatte wenig oder gar keinen Einfluß auf die modernen Reformbewegungen.


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