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Fünftes Kapitel.
Vairasse.

Über das Leben des Denis Vairasse d'Allais – dies ist sein vollständiger Name – ist uns außerordentlich wenig bekannt. Nach der Ansicht einiger Schriftsteller war er bürgerlicher Herkunft und nannte sich d'Allais nach dem Städtchen Allais in dem Languedoc, wo die katholische und protestantische Glaubensrichtung fast in gleicher Stärke vertreten und daher auch die religiösen Leidenschaften am exaltiertesten waren; nach anderen stammte er aus einer adligen Familie dieser Provinz. Sechzehn Jahre alt, trat Vairasse in die französische Armee ein und beteiligte sich an einem Feldzuge in Piemont, gab aber bald nachher die militärische Laufbahn auf und wandte sich dem Studium der Rechte zu. Doktor geworden, begab er sich nach England, »um in die Intrigen des Londoner Hofes einzudringen und die Maximen der Regierung dieses Landes zu erforschen«. 1665 war er auf dem »Admiral von England«, den der Herzog von York im Seekriege gegen die Holländer kommandierte, mußte aber einige Zeit nachher England verlassen, da er in den Verdacht gekommen war, als Komplice eines englischen Ministers (Lord Clarendon, 1667?) an dessen Intrigen teilgenommen zu haben. Er kehrte nach Paris zurück und machte 1672 den Feldzug gegen die Holländer mit. Da er aber mehr und mehr die Feindschaft der Regierung gegen die reformierte Partei, der er angehörte, sich entwickeln sah und die Aussichtslosigkeit seiner Beförderung erkannte, quittierte er den Kriegsdienst zum zweitenmal und versuchte in Paris durch englischen und französischen Sprachunterricht sich eine Existenz zu verschaffen. Eine Frucht seiner Studien auf diesem Gebiet ist die » Grammaire méthodique, contenant les principes de cet art et les règles les plus nécessaires des la langue française dans un ordre clair et naturel, 1681, 12°", die von dem Abbé de la Roque im Journal des Savants sehr gerühmt wurde, sowie » A short and methodical Introduction to the French tongue, composed for the particular use and benefitt of the English by D. V. d'Allais, a teacher of the French and English tongues in Paris 1683, 12°".Während des Winters pflegte Vairasse auch Vorlesungen über Geschichte und Geographie abzuhalten, die von Männern der Wissenschaft sehr zahlreich besucht wurden. Die Biographie nach einem Memoire, das Thomasius in seinen »Freymüthige, jedoch vernunfft- und gesetzmäßige Gedanken über allerhand, fürnehmlich aber Neue Bücher, durch alle zwölff Monat des 1689. Jahres«, Halle 1690, S. 963 ff., benutzt hat. Vergl. noch Prosper Marchand, Dictionnaire historique, S. 10 bis 20; Biographie Universelle I, S. 490. – Le Clerc, Biblioth. Choisie, Band 25, S. 402, Amsterdam 1712, schreibt das Buch einem » Provençal Veiras«zu, der ein besonderer Bekannter des verstorbenen Locke gewesen sei, und widerlegt Heumann, der es in seinem Buche De libris anonymis et pseudonymis schediasma aus dem Englischen übersetzt sein läßt und einem d'Allais zuschreibt. Auf Le Clerc beruft sich dann Stolle, »Anleitung zur Historie der Gelahrtheit«, Jena 1727, S. 778; er nennt Vairasses Buch »ein gelehrtes und mit großem Fleiße verfertigtes Werk«. Über das Datum seines Todes ist nichts bekannt. – 1675 erschien der erste Teil des Hauptwerkes von Vairasse, der »Geschichte der Sevaramben«, ein Buch, dem wir in der französischen Literatur die Stelle einräumen müssen, die in der englischen Thomas Mores Utopia behauptet. Dieser erste Teil war von Vairasse zunächst englisch verfaßt und in London veröffentlicht worden. Das vollständige Werk erschien in den Jahren 1677 bis 1679 in Paris und erlebte sehr schnell Übersetzungen ins Holländische, Deutsche und Italienische. In Frankreich selbst erschien eine ganze Reihe von Ausgaben, ein Beweis für die Beliebtheit des Buches? Der erste Teil erschien unter dem Titel: The History of Sevarites or Sevarambi, a Nation inhabiting Part of the third Continent commonly called Terrae Australes Incognitae, with an Account of their admirable Government, Religion, Customs and Language written by one Capitain Siden, a Worthy Person, Who together with many others, was cast upon those Coasts and lived many Years in that Country. London. Printed for Henry Brome, at the Gun at the West End of St. Pauls Church Yard 1675. Der zweite Teil, more wonderful und delightful than the first 1679, stammt nicht von Vairasse und ist ein ganz unsäglich albernes Machwerk. Der Titel der ersten französischen Ausgabe lautet: Histoire des Sévarambes, Peuples qui habitent une Partie de troisième Continent ordinairement appellée Terre Australe, contenant un Compte exacte du Gouvernement, des Moeurs, de la Religion et du Langage de cette Nation, jusques aujourd'hui inconnue aux Peuples de l'Europe: Traduite de l'Anglois. Ie partie à Paris chez Claude Barbin en 1677, 12°. IIe partie à Paris chez l'Auteur, au bas de la Rue du Four, proche le petit Marché, Fauxbourg St. Germain, en 1678 et 1679, en trois volumes, 12°. Sie ist dem Monsieur Riquet, Baron de Bonrepas gewidmet. Die holländische Übersetzung erschien 1683 in 4° bei Thimoteus van Horn, Amsterdam: Historie der Sevarambes Volkeren die een gedeelte van het derde vaste Landt bewonen, gemeenlyk Zuidland genaemd; sechs Jahre später die deutsche: Geographisches Kleinod, aus zweyen sehr ungemeinen Edelgesteinen bestehend: darunter der erste: Eine Historie der neuaufgefundenen Völker, Sevarambes genannt, welche einen Teil des dritten festen Landes, so man sonsten das Südland nennet, bewohnen; darinnen eine gantz neue und eigentliche Erzählung von der Regierung, Sitten, Gottesdienst und Sprache dieser denen Europäischen Völckern biß anhero noch unbekannten Nation enthalten usw. Sultzbach, gedruckt bei Abraham Liechtenthaler 1689; eine Neuauflage zu Nürnberg bei Johann Friedrich Rüdigern 1717. Ferner die Übersetzung durch J. G. Müller in zwei Teilen. Itzehoe 1783. 8°'. Die italienische Übersetzung stammt aus dem Jahre 1728, Venedig; von französischen Ausgaben erwähne ich noch die von 1682, 5 Bände in 12°, Brüssel; die von 1702, 2 Bände in 12°, Amsterdam; die in einem Bande in 12°, ebenfalls Amsterdam; die von 1716, 2 Bände in 12°, Amsterdam; die von 1734, Amsterdam; endlich die in der Sammlung der Voyagess imaginaires etc., Band 5, nach der ich zitiere.

In der der eigentlichen Erzählung vorausgeschickten Einleitung beklagt sich Vairasse darüber, daß die Entdeckungsreisen nicht nach wissenschaftlichen Grundsätzen unternommen würden, und fordert die Fürsten auf, einen Teil ihres Reichtums dazu zu verwenden. Besonders hätten sich die Holländer nur von Gewinnsucht bei ihren Reisen leiten lassen. Trotz der vielen Fahrten, die sie nach Ostindien gemacht, wäre das Innere der Sundainseln, besonders Borneos, noch durchaus unbekannt. Auch die Küsten des dritten Kontinents wären öfters gelegentlich berührt, aber niemals genauer erforscht und beschrieben worden. Dieser Unkenntnis wolle Vairasse nun durch eine ausführliche Darstellung abhelfen.

Die weitere Einkleidung der Utopie ist eine außerordentlich kunstvolle. Vairasse erzählt, daß er von einem Arzte eine größere Zahl von Papieren, die in verschiedenen Sprachen geschrieben waren, erhalten und dieselben dann zu dem vorliegenden Buche redigiert habe. Dem Arzte selbst waren die Papiere wieder von einem Kapitän Siden anvertraut, der in ihnen über seinen Aufenthalt in dem Wunderlande Sevarambien, einem Teile des australischen Kontinents, berichtet.

Nun erst beginnt der eigentliche Roman, die Memoiren des Kapitäns Siden. Auf einer Seereise nach Ostindien wird dieser mit einem holländischen Schiffe durch Sturm an die Küste des australischen, ihm unbekannten Kontinents geworfen. Es gelingt der Mannschaft, wie den Passagieren, sich zu retten. Erst nachdem sich die kleine Kolonie auf dem Lande häuslich eingerichtet und schon längere Zeit dort verweilt hatte, kommen sie in Berührung mit den Bewohnern des Landes, den Sevaramben, die sie freundlich aufnehmen. Der Darstellung des Staates und der Gesellschaftsordnung dieses Volkes ist nun das Buch gewidmet.

Der Kontinent war ursprünglich von zwei verschiedenen Völkerschaften, den Prestaramben und den Strukaramben, bewohnt, deren Gesellschaftsordnung und Sitten fast dieselben waren: sie lebten in größeren Familiengemeinschaften, von denen eine jede eine besondere Regierung hatte. Die Gemeinschaft ( communauté) wählte nämlich von Zeit zu Zeit einen Führer, der die Produktion zu überwachen und zu leiten hatte. In Verbindung mit dem Rate der Ältesten disponierte er über die Güter und Personen der Familienangehörigen. Beide Völker lebten hauptsächlich von Ackerbau, in zweiter Linie von Jagd und Fischfang. Die Leitung der Geschäfte der ganzen Nation lag in den Händen eines großen Rates, der aus den Deputierten der Familiengemeinschaften sich zusammensetzte. Zwecks der Verteidigung gegen die Nachbarvölker wurde jährlich ein Oberanführer gewählt, dem eine jede Familie ein bestimmtes Kontingent von Bewaffneten zuschickte. Nur in den Ehegebräuchen unterschieden sich die beiden Völker. Während die Prestaramben strenge Monogamie hatten, war bei den Strukaramben noch eine ursprünglichere Eheform in Kraft. »Sie machten sich kein Gewissen daraus, ihre Töchter und Schwestern zu heiraten, da sie es für ehrenvoller hielten, sich mit einer Person ihres Blutes zu verbinden als mit einer fremden. Trotzdem verheirateten sie sich mit den Töchtern ihrer Nachbarn; die Jünglinge aber verließen die Familie, zu der sie gehörten, niemals. Wenn jemand eine Frau heiratete, so war er nicht der einzige Besitzer. Ein jeder Mann der Familie konnte sich mit ihr verbinden, wenn er wollte. Wenn aber sich eine Frau mit einem Fremden oder ein Mann mit einer Fremden prostituierte, so galt dies als ein großes Verbrechen, das mit dem Tode bestraft wurde.«

Dies die Zustände der beiden Völker, als Sevaris, ein Perser, der ganz Europa und Asien bereist hatte, von Matrosen, die der Sturm an ihre Küste verschlagen, die Existenz derselben erfährt, sich zu einer Fahrt nach diesem Lande entschließt und dort mit zwei Schiffen erscheint. Wie es ihm gelingt, sich zum Herrscher über die beiden Völker aufzuschwingen, können wir hier füglich übergehen. Im Besitze der Herrschaft widmet er seine ganzen hervorragenden Geisteskräfte der Aufgabe, die gut veranlagten, aber ungebildeten Naturvölker in eine Staats- und Gesellschaftsform zu fassen, die mit der größten Kulturhöhe die größte Summe des Glückes für alle verbindet. Aus welchen Erwägungen er nun, an die bereits bestehenden Einrichtungen, besonders die Gütergemeinschaft, anknüpfend, die von uns später zu beschreibende Staatsform gewählt hat, dies hier ausführlicher darzustellen, ist von dem größten Interesse. Durch eine scharfe Kritik der Staats- und Gesellschaftsordnung im damaligen Frankreich gewinnt nämlich Vairasse das Fundament für den zu begründenden Sevarambenstaat. Die Hauptgedanken, mit denen die Sozialisten des achtzehnten Jahrhunderts, wie Morelly und Mably, das Eigentum bekämpfen, finden wir hier vorweggenommen und in anziehender, gewandter Form dargestellt.

Sevaris oder, wie ihn seine neuen Untertanen nennen, Sevarias und sein früherer Hofmeister, Giovanni, begannen ihr Werk mit einer Prüfung der ihnen bekannten Regierungsformen. Das eine und zugleich von dem letzteren und den mit Sevarias übergesiedelten Persern begünstigte System schlug in Übereinstimmung mit fast allen Nationen des Kontinents vor, das Volk in sieben Fénélon läßt ebenfalls in seinem Telemach, Band 12, den Mentor die Bewohner von Salente in sieben, auch durch die Kleidung unterschiedene Klassen einteilen. unterschiedene Klassen einzuteilen und die Ländereien zum Eigentum unter die Privaten zu verteilen. Von den sieben Klassen, von denen eine jede bestimmten Rang und besondere Kleidung hat, sollte die erste aus den Taglöhnern und Landarbeitern, die zweite aus den niedrigen Handwerkern, wie Maurer, Tischler, Weber usw., die dritte aus den geschickteren Handwerkern, wie Maler, Goldarbeiter usw., die vierte aus den Kaufleuten, die fünfte aus den reichen Bourgeois und den Angehörigen liberaler Berufe, die sechste aus dem niedrigen, die siebte endlich aus dem hohen Adel gebildet werden. Daß der Priesterstand keine Klasse für sich bildet, ist entschieden auffällig, findet aber seine Erklärung in den später von Vairasse darüber entwickelten Ideen. Von dem zu verteilenden Landbesitz sollte ein guter Teil für den gewöhnlichen Bedarf des Staates reserviert werden; nur in außerordentlichen Fällen sollte jede Klasse gemäß ihrem Range und ihren Mitteln steuern, ohne daß irgendeine von ihnen ein Privileg oder eine Ausnahme genösse. Die Kritik des bestehenden französischen und Vorschläge zu einem rationellen Steuersystem kehren in einer großen Zahl von Reisebeschreibungen, die den Leser in erdichtete Länder führen, wieder. Man vergleiche zum Beispiel des Abbé Desfontaines Le nouveau Gulliver in Voyages imaginaires usw., Band 15, S. 87 ff. Als ungerecht und jeder Vernunft widersprechend erschien es, daß die einen Mitglieder wohl den Schutz der Gesetze und die Vorteile der Gesellschaft genießen, aber nichts zum Unterhalt des Staates beitragen sollten, während der andere Teil der Staatsangehörigen mit Steuern und Lasten überladen sei. Nur für die Domäne des Fürsten solle Steuerfreiheit gelten, alle Untertanen aber zu den öffentlichen Lasten gemäß ihrem Range und ihrem Vermögen in einem gerechten Verhältnis beitragen. Außerdem sollte ein jeder, der das zwanzigste Lebensjahr überschritten hatte, zur Zahlung einer sehr mäßigen Kopfsteuer verpflichtet sein. Mit einer bestimmten Summe sollten ferner diejenigen, die das Besitzmaximum ihrer Klasse erreicht hätten und in eine höhere Klasse versetzt sein wollten, die Erlaubnis dazu erkaufen. Hier wird die feudale Ständeeinteilung durch den Besitz durchbrochen, der das Aufsteigen in eine höhere Klasse ermöglicht.

Dies war das eine Projekt einer Staats- und Gesellschaftsordnung, das sich in erster Linie durch die Tatsache dem Gesetzgeber zur Annahme empfahl, daß es in den wesentlichen Zügen in den meisten europäischen Staaten in Kraft war, nur durch ein gerechteres Steuersystem sich von diesen unterschied. Trotzdem konnte sich Sevarias nicht zur Annahme desselben entschließen. Die inneren Streitigkeiten, die Kriege und andere unzählige Mißstände bewiesen ihm, daß das System in seiner Basis fehlerhaft sein müsse, und veranlaßten ihn zu einer eindringenden Untersuchung ihrer Ursachen. Diese erkannte er in dem Hochmut, dem Geiz und dem Müßiggang.

1. Die Natur hat uns alle gleich gemacht; sie kennt keinen Unterschied zwischen einem Adeligen und einem Roturier. Denselben Schwächen unterworfen, treten wir, die einen wie die anderen, in das Leben ein; weder Reichtum noch Adel können das Leben der Fürsten und Untertanen auch nur um einen Tag verlängern. Die schönste Unterscheidung, die es unter den Menschen geben kann, ist allein die, die aus den Vorzügen der Tugend entspringt. Wo es aber in den Staaten erblichen Adel gibt, werden Hochmut und Ehrgeiz durch die Vorteile vornehmer Geburt genährt. Der Adel glaubt, daß er allein zur Herrschaft geboren sei, und fordert, daß die anderen Menschen sich ihm gegenüber in Unterwerfung bescheiden. Um also diese Übel zu tilgen, schaffte Sevarias alle Ungleichheit der Geburt ab. Er erkannte nur noch den Unterschied des Alters, sowie den zwischen Volk und Beamten an.

2. Da ferner Reichtümer, überhaupt der Besitz von Gütern die andere Ursache der Unterschiede in der bürgerlichen Gesellschaft sind, Habgier, Neid, Erpressungen und eine Unzahl anderer Übel aus der Institution des Privateigentums entstehen müssen, so verbannte Sevarias dasselbe ganz und gar aus dem Plane seines neuen Staatswesens. Alles Land und alle Reichtümer sollten dem Staat gehören, dem das einzige Verfügungsrecht darüber gebührt; seine Angehörigen können nur das besitzen, was ihnen die Beamten zuteilen. Es ist interessant, die Ansicht Prosper Marchands über die Gütergemeinschaft in seinem Dictionnaire historique, S. 14, Anm. 59, anzuführen. – »Diese Gleichheit der Geburt und diese Gemeinschaft der Güter«, sagt er, »sind einigen Leuten nur deshalb bizarr und unpraktisch erschienen, weil sie nur die Sitten ihres Landes und ihres Jahrhunderts kennen und, in diese Sitten vergeckt, sich einbilden, daß man aus keine andere Weise leben könne. Etwas Lektüre würde sie weniger bestimmt haben entscheiden lassen und sie lehren, daß jene zwei bei verschiedenen Völkern des Altertums bestehende Gebräuche waren, die sich sehr wohl dabei befanden und sehr gute Gründe dafür angaben.« Als Beispiele zitiert er die ersten Bewohner Italiens, die Lazedämonier, die alten Deutschen, und er behauptet sogar, daß ohne Zweifel die alten Völker alle diese Einrichtungen gehabt hatten, wofür ein Beweis sei, daß viele neu entdeckte Völker noch in Gütergemeinschaft lebten. Das war 1758! Mit der Einrichtung des Privateigentums, so war die Überzeugung Sevarias', werden zugleich die schlechten und verderblichen Leidenschaften der Menschen sowie die Steuern, die Zölle, die Hungersnot und die Armut verschwinden. Alle Sevaramben werden reich sein, obschon sie nichts für sich besitzen; ein jeder von ihnen wird so glücklich sein wie der reichste Monarch der Welt. Alle Bedürfnisse eines jeden werden befriedigt sein; niemals wird den Bürger die Sorge um Nahrung, Kleidung, Wohnung für sich, Weib und Kind quälen, da der Staat ohne Steuern und Zölle für alle sorgen wird.

3. Damit aber die drohenden Gefahren des Müßigganges vermieden werden, ist jedes Gesellschaftsmitglied zu nützlicher und mäßiger Arbeit verpflichtet. Der Tag zerfällt in drei Teile, von denen der eine für die Arbeit, ein anderer für das Vergnügen, der dritte für die Ruhe bestimmt ist. Von dem allgemeinen Arbeitszwang sind nur die Greise, Kranken oder sonst zur Arbeit Untauglichen befreit. Durch die mäßige Arbeit wird Körper und Geist geübt, ohne daß den einen unmäßige Arbeitsüberlastung, den anderen Sorgen und Kummer schädigen und zerstören. Die Unterhaltungen und Ergötzungen, die der Arbeit folgen, erfrischen Körper und Geist, während die Ruhe beiden die verbrauchten Kräfte zurückgibt.

So schloß sich also Sevarias in seinem Entwurf in dem wesentlichen Zuge der Gütergemeinschaft der bereits bei den Eingeborenen bestehenden Gesellschaftsordnung an und entwickelte sie in dieser Richtung nur weiter. Er vermied es auch, wie viele Gesetzgeber vor ihm, eine Weiterentwicklung der Gesetzgebung zu verbieten, sofern sie nur von dem Naturrecht und den fundamentalen Einrichtungen des Staates, in denen es zum Ausdruck gekommen ist, ausgehe und in Übereinstimmung damit bleibe.

Wenden wir uns nun zu einer Darstellung des Produktionsprozesses im einzelnen. Seine Grundlage ist die zur Ausübung eines bestimmten Produktionszweiges gebildete Genossenschaft, die Vereinigung einer größeren Zahl von Männern und Weibern in einem großen Gebäude, der Osmasie. Weshalb Kleinwächter in seinem Buch »Die Staatsromane« stets von Osmanien spricht, aber die Vertreter derselben Osmasionten nennt, weiß ich nicht. Beiläufig wäre dieser Beitrag zur Geschichte des Sozialismus und Kommunismus besser ungeschrieben geblieben. Trotz der schulmeisterlichen Überlegenheit, mit der Kleinwächter den alten Mohl behandelt, bringt er so gut wie gar nichts Neues. Seine Darstellung wimmelt dafür von Flüchtigkeiten, die dem Herrn nicht hätten begegnen können, wenn er sich im Interesse seiner Leser begnügt hätte, Mohl einfach abzuschreiben. Die Osmasie ist ein Gebäude-Quadrat von fünfzig geometrischen Schritten und vier Stockwerken Höhe, das mehr als tausend Personen Unterkunft zu gewähren vermag. Im Innern befindet sich ein großer Hof, der mit Anlagen und Springbrunnen geschmückt ist. Innen wie außen laufen rings um die Osmasien breite, von eisernen Pfeilern getragene Balkone, unter denen man vor Sonne und Regen geschützt gehen kann. Vergl. Boissel, Les services publiques. Alle diese Balkone tragen reiche Blumenvasen. Jede Stadt des Landes besteht aus mehreren Osmasien, die Hauptstadt Sevarinde aus 267. An der Spitze der verschiedenen Industriezweige stehen Präfekten, die für die Sammlung der Rohstoffe und ihre Verteilung an die industriellen Osmasien zu sorgen haben. Zum Beispiel »es gibt Osmasien, die Baumwolle, Leinen, Hanf, Seide produzieren. Die Leiter der betreffenden Industriezweige lassen nun die Rohstoffe aufspeichern und schicken sie dann zur Verarbeitung in die Städte, wo man Tuche, Garn usw. aus ihnen fabriziert. Von den Städten werden die Produkte dann überall dahin geschickt, wo man ihrer bedarf.« Eine jede Osmasie hat ihre Beamten, ferner Sklaven für die schmutzigen Arbeiten und Magazine. In diese führt sie zunächst von der von ihr erzeugten Produktenmasse den Teil ab, dessen sie selbst bedarf; der Überschuß fließt in die großen öffentlichen Magazine, die sich im ganzen Lande zerstreut finden, und die also die gesamte überschüssige Produktion der Osmasien aufnehmen, von wo aus sie dann wieder sowohl zur Bedarfsbefriedigung wie zu Produktionszwecken verteilt wird. Innerhalb der Osmasien steigt die Verteilung dann zu den einzelnen Individuen herab. Es gibt Osmasien für alle Zweige der menschlichen Tätigkeit, für das Bauwesen wie für das Schauspielwesen, für die Kindererziehung wie für den Ackerbau.

Am besten wird Vairasses Auffassung des Produktionsprozesses durch seine Worte selbst gekennzeichnet. »Wenn man die Art anderer Nationen zu leben betrachtet,« heißt es da, »so wird man finden, daß man im Grunde überall Magazine hat, daß die Städte von dem Lande, das Land von den Städten die Produkte zieht; daß die einen mit ihren Händen, die anderen mit ihren Köpfen arbeiten; daß die einen geboren werden, um zu gehorchen, und die anderen, um zu befehlen; daß man Schulen hat für die Erziehung der Jugend und Meister für den Unterricht in den Gewerben; daß von den Gewerben einige zum Leben notwendig sind, andere einen bequemen Unterhalt ermöglichen und andere nur für das Vergnügen wirken. Die Dinge sind im Grunde dieselben; aber die Art sie zu verteilen, ist verschieden. Wir haben unter uns Leute, die in Gütern und Reichtümern ersticken, andere, die alles entbehren. Wir haben einige, die ihr Leben in Trägheit und Vergnügen hinbringen, andere, die fortwährend sich plagen, um einen erbärmlichen Lebensunterhalt zu gewinnen. Wir haben einige, die zu hohen Würden erhoben und in keiner Weise würdig noch fähig sind, die Ämter, die sie bekleiden, zu verwalten, und wir haben Leute, die große Verdienste haben, aber in Ermangelung der Glücksgüter jämmerlich im Schmutze verkommen und zu ewiger Niedrigkeit verdammt sind.

»Bei den Sevaramben dagegen ist niemand arm; niemand entbehrt der zum Leben notwendigen und nützlichen Dinge, und jeder hat teil an den öffentlichen Vergnügungen und Vorstellungen, ohne daß er, um diese genießen zu können, es nötig hätte, Seele und Leib durch eine harte und übermäßige Arbeit zu quälen. Die mäßige Arbeitszeit von täglich acht Stunden verschafft ihm alle diese Vorteile, ihm, seiner Familie und seinen Kindern, auch wenn er deren tausend hätte. Niemand sorgt sich darum ab, daß er die Taille oder die Zölle bezahlen könne, oder daß er Reichtümer für seine Kinder, für die Mitgift der Töchter oder den Kauf von Erbschaften aufhäufe. Sie sind von allen diesen Sorgen frei und reich von der Wiege an; und wenn sie auch nicht alle zu öffentlichen Ehrenstellen gelangen können, so haben sie wenigstens die Genugtuung, nur diejenigen im Besitz derselben zu sehen, die ihr Verdienst und die Achtung ihrer Mitbürger dazu erhoben hat. Sie sind alle adlig und alle bürgerlich; keiner kann einem anderen die Niedrigkeit seiner Geburt vorwerfen oder sich mit dem Glanze der seinen rühmen. Niemand empfindet mehr die Unlust, andere in Müßiggang leben zu sehen, während er arbeitet, um ihren Hochmut und Stolz zu nähren; kurz, wenn man das Glück dieses Volkes betrachtet, so wird man finden, daß es so vollendet ist, als es in dieser Welt sein kann, und daß alle anderen Nationen im Verhältnis zu diesem Volke sehr unglücklich sind.« Hist. des Sev., S. 273 ff.

Notwendigerweise geht die Kritik der ältesten Sozialisten von der Unsinnigkeit und Ungerechtigkeit der Verteilung aus, gegen die allein sie ihre Angriffe richten können. Von diesem Punkte aus werden sie dann notwendigerweise zu einer kommunistischen Produktion geführt, als der einzigen, die imstande ist, diese gerechte Verteilung zu garantieren. In der eben zitierten Stelle spricht dies Vairasse sehr klar aus, indem er als den wesentlichen Unterschied zwischen der Gesellschaft der Sevaramben und der der europäischen Völker nicht die total verschiedene Produktion anführt, sondern die Verteilung, die bei jenen den Grundsätzen des natürlichen Rechts und der natürlichen Moral angepaßt ist. Doch drängt sich schon Vairasse an zwei Punkten der Gedanke auf, daß ein kommunistisch organisiertes Gesellschaftswesen jedem anderen auf dem Gebiet der Produktion überlegen ist. So wenn er einen Osmasionten sagen läßt, daß den Sevaramben kein Werk unmöglich ist, da der Staat alles besitzt und weder Gold noch Silber zur Durchführung großer Unternehmungen bedarf, Hist. des Sev., S. 133. oder wenn er ausführt, daß es in Sevarambien keine technischen Geheimnisse gibt, vielmehr jede Erfindung sofort der Gesamtheit zugute kommt. Ebenda, S. 170. Derjenige, der zum erstenmal in ausführlichster und genialster Weise das Sinnlose und Anarchische der bürgerlichen Produktion aufgezeigt und die Überlegenheit der sozialistischen bewiesen hat, ist Charles Fourier; die Entwicklungsreihe schließt dann mit den modernen Sozialisten, die nachweisen, daß die kapitalistische Produktion mit Notwendigkeit die sozialistische und mit ihr auch die übereinstimmende Verteilung aus sich heraus erzeugt.

Ein allen Sozialisten gemeinsamer, durchaus moderner Gedanke ist die Forderung einer unbeschränkten Arbeitspflicht, die auch in Sevarambien in aller Strenge für beide Geschlechter gilt, und von der nicht einmal die Fremden, sobald sie längere Zeit im Lande verweilen, ausgenommen sind. Nur die Kranken, dann die schwangeren und stillenden Frauen, sowie alle über sechzig Jahre alten Personen sind von der Arbeit befreit. Da aber die Arbeit bei den Sevaramben so in Ehren steht, ziehen es selbst diese vor, leichte Arbeiten kürzere Zeit zu verrichten, als ganz untätig zu sein. Die achtstündige Arbeitszeit ist für alle aufs genaueste geregelt; ihr Beginn verschiebt sich mit den Jahreszeiten.

Geld gibt es selbstverständlich nicht; trotzdem ist man in Sevarambien weit von jener bizarren Furcht vor den Edelmetallen entfernt, die More in seiner Utopie veranlaßte, seinen Utopiern goldene Nachttöpfe unter die Betten zu stellen und ihre Knechte und Ehrlosen mit goldenen oder silbernen Ketten zu beladen. Gold und Silber werden von den Sevaramben dazu gebraucht, wozu sie sich ihrer Natur nach besonders eignen, zu Schmuckgegenständen.

Sehr deutlich spiegelt sich in den Schriften der beiden Utopisten, Mores und Vairasses, der gewaltige Fortschritt wider, den die kapitalistische Produktionsweise aus dem Stadium der einfachen Kooperation in das des Manufakturbetriebs in den mehr als anderthalb Jahrhunderten gemacht hat. Zu Mores Zeiten herrschte noch das Handwerk; bei den Utopiern finden wir daher den mit Ausnahme der Mahlzeiten gesonderten Haushalt und gesonderten Handwerksbetrieb; bei Vairasse haben wir die Vereinigung großer, dasselbe Gewerbe ausübender Menschenmengen in einem gewaltigen Gebäude, der Osmasie. Während bei More der Einzelhaushalt der patriarchalischen Familie bestehen bleibt, fällt dieser bei Vairasse. In den Osmasien, in denen mehr als tausend Personen beiderlei Geschlechts sich vereinigt finden, die ferner auch über das Land zerstreut, nicht bloß in Städten zusammengedrängt liegen, ist für den Einzelhaushalt so wenig eine Stelle, daß Vairasse seiner nicht mit einem Worte gedenkt. Das Leben der Sevaramben spielt sich in der Öffentlichkeit ab. Zwei der täglichen drei Mahlzeiten sind gemeinsam, das Frühstück und das Mittagessen; das Abendessen kann für sich im engeren Kreise der Familie oder im weiteren der Freunde eingenommen werden. Die Zubereitung der Speisen geschieht aber nur in der gemeinschaftlichen Küche der Osmasie. Damit ist denn die Frau durchaus von der Führung jedes Haushalts emanzipiert und ihre Gleichstellung mit dem Manne, die auch in der gleichen Militärpflicht für beide Geschlechter zum Ausdruck kommt, mit der einen Ausnahme vollendet, daß die Frauen nicht Beamte werden können. Es ist diese zwar nirgends direkt ausgesprochen, aber die Tatsache allein, daß den Beamten in Vielweiberei zu leben erlaubt ist, scheint uns mit hinreichender Klarheit für diese Auffassung zu sprechen.

Von der Erkenntnis der großen Bedeutung durchdrungen, die die Erziehung der Jugend für die Existenz des Staates hat, hatte bereits Sevarias, der Gründer des sevarambischen Staates, ihr von Anfang an seine Aufmerksamkeit zugewandt. Er richtete deshalb öffentliche Schulen ein, um in ihnen alle Kinder ohne Unterschied durch auserwählte und geschickte, von Liebe oder Abneigung nicht voreingenommene Lehrer unterrichten und zum Haß des Lasters und zur Liebe der Tugend führen zu lassen. Damit aber die Eltern keine Gegeneinflüsse bei der Erziehung ausüben könnten, verlangte er von ihnen, nachdem sie ihren Kindern in den ersten Lebensjahren die ersten elterlichen Sorgen erwiesen und ihre elterliche Zärtlichkeit bezeugt hätten, den Verzicht auf ihre elterliche Autorität und deren Übertragung auf den Staat und die Beamten, die politischen Väter des Vaterlandes. Haben nämlich die Kinder ihr siebentes Jahr erreicht, so werden sie im Tempel der Sonne der Gottheit geweiht und erhalten den Namen »Kinder des Staates«. Nach Beendigung dieser Festlichkeit werden sie in die öffentlichen Schulen geschickt, wo sie vier Jahre lang im Lesen, Schreiben, Tanzen und Waffengebrauch unterrichtet werden. Daran schließt sich ein dreijähriger Unterricht in der Landwirtschaft in den auf dem Lande gelegenen Osmasien. Nach dem vollendeten vierzehnten Lebensjahr erlernen sie die Prinzipien der Grammatik und haben sich für ein bestimmtes Gewerbe zu entscheiden. Wenn eine Probezeit sie als dafür geeignet erwiesen hat, erhalten sie von den Meistern die sorgfältigste Anleitung; andernfalls aber läßt man ihnen die Wahl zwischen Maurer und Tagarbeiter. Nur diejenigen Kinder, welche eine außerordentliche Begabung zeigen, werden für die Künste und Wissenschaften bestimmt. Sie sind von körperlichen Arbeiten befreit und werden in besonderen Schulen erzogen. Aus ihrer Zahl werden diejenigen gewählt, die von den Sevaramben zu den auswärtigen Völkerschaften der anderen Kontinente geschickt werden, um deren Sprachen und Fortschritte in den Wissenschaften und Künsten sich anzueignen. Die Mädchen werden in derselben Weise wie die Knaben erzogen, aber in besonderen Osmasien. Sie erlernen die Gewerbe, die ihrem Geschlecht angemessener sind und nicht so viel körperliche Anstrengung erfordern.

Nach Vollendung des neunzehnten Lebensjahres ist es den Knaben, nach Vollendung des sechzehnten den Mädchen erlaubt, an Liebe und Hochzeit zu denken. Die Jugend sieht sich auf Bällen, auf der Jagd, auf militärischen Revuen, bei öffentlichen Festen und kann alle diese Gelegenheiten zum Liebeln, zu Liebeserklärungen und -werbungen benutzen. »In den Versammlungen der Mädchen und Jünglinge spielt die Liebe ihre große Rolle.« Hier ergeht sich nun der galante Franzose in liebenswürdigen und belebten, heiteren und geistreichen Schilderungen dieses Liebestreibens des jungen Volkes der Sevaramben. Die Liebe, rein und frei von allen Rücksichten kalter Vernunftüberlegung, nicht bestimmt durch Reichtum, Adel, hohe Stellung usw., ist es allein, die die Verbindungen bestimmt; sie ist es, die mit ihrem leuchtenden und wärmenden Feuer, erregt durch Poesie und Musik, die achtzehn Monate, welche die Liebeswerbung dauert, verschönert. Am Ende dieser Zeit erfolgt die Versprechung und dann die öffentliche Hochzeit an einem der vier jährlichen Termine.

Die Ehe ist monogamisch; nur den Beamten ist eine größere Zahl von Frauen gestattet, um den Mädchen, die keinen Freier finden, durch die Wahl eines Beamten die Möglichkeit einer Ehe zu verschaffen. Bleibt eine Ehe fünf Jahre kinderlos, so darf der Mann sich wieder verheiraten oder eine Sklavin als Konkubine nehmen. Es ist die größte Ehre für eine Frau, möglichst viele Kinder aufzuziehen. Daß die Folge davon eine rapide Vermehrung der Bevölkerung sein und sehr bald Übervölkerung eintreten müsse, kann sich Vairasse nicht verhehlen. Seine Sevarambier werden aber einem solchen Ereignis durch Ausdehnung ihres Gebietes und Gründung von Kolonien vorbeugen. Damit ist für Vairasse, wie auch für More, das Bevölkerungsproblem erledigt. Die Tatsache, daß noch unbebautes Land in Hülle und Fülle für die Menschen vorhanden ist, genügt beiden. Sie denken gar nicht daran, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was geschehen müsse, wenn alles unbebaute Land einmal in Kultur genommen sein wird.

»Die Regierung Sevarambiens ist monarchisch, despotisch und heliokratisch, das heißt die höchste Gewalt und Autorität ruht in einem Monarchen, welcher einziger Herr und Eigentümer aller Güter der Nation ist, – und dieser König und absolute Herrscher ist die Sonne (zugleich der Gott dieses Staates). Wenn man aber die Staatsverwaltung von dem Standpunkt der Menschen aus betrachtet, so wird man finden, daß dieser Staat eine despotische Wahlmonarchie ist, gemischt mit Aristokratie und Demokratie.« Der Vizekönig, der Repräsentant der Sonne, des Gott-Monarchen, wird durch das Los aus vier vom großen Rat bezeichneten Mitgliedern desselben gewählt – dies der aristokratische Bestandteil. Durch direkte Wahl des Volkes werden die Vorsteher der Osmasien, die sogenannten Osmasionten gewählt, die den allgemeinen Rat bilden – dies der demokratische Bestandteil. Je acht Osmasien werden durch einen Brosmasionten im gewöhnlichen Rat ( conseil ordinaire) vertreten. Aus den Brosmasionten gehen der Anciennität nach die vierundzwanzig Senatoren hervor, die den großen Staatsrat bilden und den Vizekönig in allen Geschäften unterstützen. Sie heißen Sevarobasten und werden am besten mit den heutigen Ministern verglichen. Je ein Sevarobast hat die Leitung des Heerwesens, des Bauwesens, des Lebensmittelwesens, der Opfer, des Schulwesens, des Schauspielwesens usw. Die Gouverneure der Provinzen und größeren Städte werden aus den Brosmasionten gewählt, denen aber wie auch den Senatoren noch ein spezieller Rat zur Seite steht. Außer diesen wichtigsten Ämtern gibt es noch eine Reihe von untergeordneten Ämtern, von denen das eines Erziehers der Kinder das geachtetste ist.

Eine ganze Reihe von Vorzügen sind mit der Magistratur verbunden. Die Beamten haben zunächst das Recht, mehrere Frauen zu besitzen und eine Anzahl von Sklaven zu ihrer Bedienung zu haben. Außerdem erhalten sie bessere Wohnung, Nahrung und Kleidung als die Privaten.

Die Macht des Vizekönigs, des Repräsentanten der Sonne, ist souverän und wird am besten durch die Worte bezeichnet, mit denen Sevarias, der Gründer des Reichs, die Huldigung des Volkes für seinen durch das Los bestimmten Nachfolger verlangt. »Er stellte ihnen vor allem vor, daß die größte Pflicht der Untertanen in der Achtung, dem Gehorsam und der Treue bestände, die sie der souveränen Autorität erweisen müßten; daß, obwohl ihre Stimmen und ihre Einwilligung zur Errichtung derselben notwendig wären, sie dennoch nicht glauben sollten, daß ihr Wille die Hauptursache davon sei; daß die Vorsehung viel größeren Anteil an der Einsetzung der Fürsten hätte als die Ordonnanzen der Beamten, und daß man sie hienieden als die lebendigen Bilder der Gottheit betrachten müsse; daß, selbst wenn sie ihrer Pflicht nicht recht nachkämen, die Untertanen sich deshalb doch nicht von ihnen entfernen dürften; daß der Himmel oft die ungerechten Handlungen der Souveräne autorisiere, um die Völker zu bestrafen, wenn sie durch ihre Fehler und Vergehen die Wirkungen seines Gerichts auf sich gezogen hätten; daß sie seine Züchtigungen ohne Murren und ohne auf rebellische Ratschläge zu horchen hinnehmen sollten; daß Rebellion nicht nur das verabscheuungswürdigste aller Verbrechen, sondern auch die größte Torheit sei, da sie, anstatt denen, die sich mit ihr einlassen, die Freiheit zu verschaffen, sie gewöhnlich nur in eine noch härtere Knechtschaft stürze, nach welcher Seite sich auch der Sieg neige; daß es nicht nur die Pflicht der Untertanen sei, sich der gesetzmäßigen Autorität zu unterwerfen, sondern auch ihr solidestes Interesse.« Hist. des Sev., S. 251. Wie reimt sich aber mit dieser Proklamierung des Gottesgnadentums der Könige, wie es selbst Ludwig XIV. nicht absoluter hätte vertreten können, die Existenz eines Verfahrens gegen schlechte Fürsten? Wenn nämlich der Vizekönig sich gegen die fundamentalen Gesetze des Staates vergeht oder überhaupt ein gottloses und tyrannisches Regiment führt, so wird man zunächst versuchen, ihn zur Vernunft zurückzuführen; bleiben aber alle Versuche erfolglos, so entscheidet der allgemeine Rat die Einsetzung eines Vormundes für den Vizekönig, das heißt es wird die Fiktion gemacht, daß der König seinen Verstand verloren hat. Der als Wahnsinniger behandelte König wird so lange in seinem Palast gefangen gehalten, bis er sich bekehrt. Dieser Widerspruch zieht sich durch das ganze Buch hindurch; einem ähnlichen werden wir bei der Behandlung der Religion begegnen. So stellt zum Beispiel Vairasse einen Vergleich zwischen dem Vizekönig und den Königen anderer Länder an, der natürlich ganz und gar zugunsten des ersteren ausfällt, was die Fülle und Sicherheit seiner Macht angeht. »Er ist absoluter Herr aller Güter der Nation; keiner seiner Untertanen kann ihm den geschuldeten Gehorsam verweigern oder irgendein Privileg vorschützen. Er gibt und nimmt, wenn es ihm gefällt; er führt Krieg und schließt Frieden, wenn er es für passend hält. Alle Welt gehorcht ihm, und keiner würde es wagen, seinem Willen zu widerstehen. Er ist keinen Rebellionen und Volkserhebungen ausgesetzt; niemand bezweifelt seine Autorität ... Denn wer würde es wagen, sich gegen die Sonne und ihre Diener zu erheben?« Hist. des Sev., S. 275, 276. Wenige Seiten später aber heißt es, daß die Sevaramben an den Gehorsam gegen die Gesetze gewohnt sind und sich ihnen um so lieber unterwerfen, je mehr sie sie der Prüfung durch ihre Vernunft unterwerfen und dabei finden, daß sie gerecht und vernünftig sind. In geradezu lächerlichem Gegensatz zu dieser Allmachtstheorie der Vizekönige steht auch ihre wirkliche Tätigkeit. Alles, was uns Vairasse von ihren Regierungsleistungen zu erzählen weiß, beschränkt sich auf die Ausführung von Bauten, Straßen, Aquädukten usw. Dem einzigen Versuche, den Dumistas, der vierte Vizekönig machte, Eroberungspolitik zu treiben, trat der Rat aufs energischste entgegen und setzte ein für allemal als Grundsatz der äußeren Politik fest, keine Eroberungskriege zu führen, vielmehr in Fällen, wo die Bevölkerung zu groß für das Territorium geworden ist, das nötige Land von den Nachbarn zu kaufen. Der Einfluß des Rats geht so weit, daß nichts ohne ihn von dem Vizekönig unternommen werden kann. Hist. des Sev., S. 354. Damit ist die Fürstenallmacht direkt negiert. Wie sind nun diese einander diametral entgegengesetzten Auseinandersetzungen Vairasses zu verstehen?

Vairasse befolgt hier eben auch in politischen Fragen ein Verfahren, wie es bei den Schriftstellern früherer Jahrhunderte, soweit sie ketzerische Ansichten vertraten, sehr beliebt war. Man stellt die beiden entgegengesetzten Ansichten, die herrschende und die neue einander gegenüber, stützt sie anscheinend unparteiisch mit Gründen und überläßt dann dem Leser, zwischen den Zeilen die wahren Ansichten des Verfassers zu lesen; ja viele Schriftsteller ängstlicherer Natur gehen so weit, im Dialog mit dem Neuerer persönlich die alten, anerkannten Regeln und Ideen scheinbar siegreich zu verteidigen. So werden wir denn auch wohl nicht fehlgehen, wenn wir in dem absoluten Vizekönig, dem Repräsentanten der Sonne, dessen Macht allmächtig scheint, der tatsächlich aber gänzlich vom Rate der Minister abhängig ist, eine versteckte Satire auf den König »Sonne«, Ludwig XIV. sehen, Prosper Marchand, Dictionnaire historique, La Haye 1758, S. 16, sagt: Einige hätten in dem Buche Vairasses »nur einen amüsanten Roman, andere guten Glaubens die Erzählung einer neuen Entdeckung, noch andere, die tiefer eingedrungen wären, hätten darin ein gefährliches Werk zu entdecken geglaubt, das unter dem Schleier der Erdichtung direkt die Religion und die Regierung angriffe«. der sich nicht weniger absolut dünkte, und nicht weniger in den Händen seines Generalkontrolleurs und seiner Intendanten war. Die außerordentliche Beliebtheit dieses Buches, besonders auch die Neuauflagen desselben in den letzten zwanzig Jahren der Regierungszeit Ludwigs XIV., in denen sich die Opposition gegen diesen und sein System zu rühren beginnt, sprechen sicherlich für eine solche Deutung.

Ebenso einfach wie die innere Politik gestaltet sich die Rechtspflege. »Da sie nichts im Eigentum haben, gibt es bei ihnen keine Zivilprozesse.« Hist. des Sev., S. 318. So bleibt also nur die Kriminalgerichtsbarkeit übrig, welche in den Händen der Osmasionten für solche Fälle liegt, die in ihrer Jurisdiktion, das heißt in der Osmasie begangen sind. Dem Osmasionten stehen zwei Gehilfen zur Seite und drei Greise, die der Angeklagte sich wählen kann. Im Falle die Parteien verschiedenen Osmasien angehören, kommt der Prozeß vor einen Brosmasionten usw. Vairasse unterscheidet nicht weniger als vier verschiedene Gerichtshöfe, deren Funktionen wir hier nicht auseinanderzusetzen brauchen. Auf Todesstrafe kann nicht erkannt werden, dagegen gibt es Gefängnisstrafe, die durch harte Arbeit und körperliche Züchtigung verschärft werden kann. Prompt, sagt Vairasse, werden die Prozesse erledigt, da man weder Profit oder anderen Gewinn darin findet, sie in die Länge zu ziehen! Vairasse ist in der Tat nicht mehr fern von der Erkenntnis Morellys, Mablys und der anderen Sozialisten, daß das Privateigentum die Basis des bestehenden Gesellschaftssystems mit seiner Profitjagd, all seinen Fehlern ist.

So wenig ausführlich uns der Verfasser der Utopie den Produktionsprozeß schildert, so genau und eingehend stellt er die Religion der Sevaramben dar, die eine Mischung von Deismus und ursprünglicher Verehrung der Sonne ist. Prosper Marchand, Dict. hist., S. 15, Anmerkung 67, bemerkt hierzu: »Übrigens stimmen die beiden ersten Artikel der Religion der Sevaramben so überein mit dem, was man von der Religion der Peruaner erzählt, daß Sevarias sehr wohl nur eine Kopie des Manco Capac, ersten Inkas von Peru und Gründer dieses Reiches, sein könnte. Nachdem dieser Prinz die Indianer vereinigt, zivilisiert und überzeugt hatte, daß er der Sohn der Sonne sei, lehrte er sie innerlich und als höchsten, aber unbekannten Gott Pachacamas, das heißt die Seele oder die Stütze des Universums, und äußerlich als einen untergeordneten, aber sichtbaren und bekannten Gott, die Sonne, seinen Vater, anbeten.« Marchand verweist deshalb auf Garcilasso de la Vega, Histoire des Yncas, Buch 2, Kapitel l, 2, 3, S. 109 bis 130. Es wäre überhaupt interessant, einmal die Einflüsse, die der peruanische Inkastaat auf die Verfasser politischer Werke gehabt hat, ausführlicher aufzuzeigen. Daß sie sehr bedeutend waren, unterliegt meines Erachtens keinem Zweifel; wir treffen sie bei allen Nationen wieder. So auch zum Beispiel in der Utopie des James Burgh: An Account of the first settlement, laws, form of government and police of the Cessares, London 1764, S. 34 bis 37. Es sind die von Vairasse ausgesprochenen religiösen Ansichten, besonders aber die Erzählung von dem Religionsstifter und Schwindler Strukaras, die unserem Autor die durchaus unmotivierte Anklage auf Atheismus von seiten verschiedener Autoren zugezogen haben. Da hier aber nicht die Stelle ist, auf die religiösen Streitigkeiten der damaligen Zeit, den Jansenismus und Kalvinismus in ihrem Verhältnis zum Ultramontanismus einzugehen, müssen wir uns mit der Behauptung begnügen, daß die von Vairasse vertretene Ansicht ein reiner, nur auf vernünftiger Erkenntnis beruhender Deismus ist. Vergl. Morhoff, Polihystor I, Kapitel 8, S. 75: Toto vero hoc libro nihil aliud ille (Vairasse) agit quam ut ostendat unam esse religionem naturae rerum conformem, quae Deum supremum, atqus eius quasi vices in orbe hoc inferiore repraesentantem solem veneretur. Quare data occasione adversus trinitatem et Christianismum disputant ... Illud vero ingenium hominis prodit, quod stratagemata sacerdotum gentis eius quam Stroukaros vocat, ad miraculorurn, quae in Pentateucho habentur, formam confinxerit: quo manifeste patet illum historiae sacrae illudere. Dieser Angriff auf das Christentum beweist natürlich in den Augen der Orthodoxen seinen Atheismus. Thomasius hat ihn in der oben zitierten Schrift »Freymüthige Gedanken«, S. 968 bis 1005, gegen diese Beschuldigung des Atheismus in Schutz genommen. Vairasse war Deist.

Eine Bekehrung der Sevaramben zum Christentum war unmöglich, »weil sie sich so sehr auf die menschliche Vernunft verlassen, daß sie alles, was uns (den Christen) der Glaube lehrt, verspotten, wenn es nicht durch die Vernunft unterstützt ist ... Sie verspotten die Wunder und sagen, daß es für diese nur natürliche Ursachen geben könne, obschon die Wirkungen, die aus ihnen hervorgehen, für uns erstaunliche wären und von uns als Wunder betrachtet würden; daß aber vom Standpunkt der Natur alles in einer geregelten Ordnung sich vollziehe, gemäß den Anlagen (dispositions), die sich in den natürlichen Dingen finden.« Hist. des Sev., S. 395. Mit dem Deismus verbindet sich eine ganz außerordentliche Toleranz, die so weit geht, daß zu bestimmten Zeiten des Jahres in den Schulen große religiöse Disputationen abgehalten werden, wobei jeder vollständig frei seine Ansichten entwickeln kann. Auch bei der Wahl zu den Staatsämtern spielen die religiösen Ansichten einer Person gar keine Rolle, sondern nur ihr Charakter und ihre Rechtschaffenheit. Dies geht so weit, daß nicht einmal die Geistlichen von der Bekleidung eines zivilen Amtes allein deshalb ausgeschlossen sind, weil sie eben Geistliche sind. Ebenda, S. 379: Er (der Priester) ist deshalb nicht weniger ein Mitglied des Staates und nimmt nicht weniger als die anderen an der Regierung und bürgerlichen Gesellschaft teil. Gewiß ist dies die Konsequenz des Satzes von der Scheidung des Staates von der Kirche, daß der Geistliche ebensogut Privatmann ist wie jeder andere auch. Aber in dem Staate Sevarambien muß sich hier ein Gegensatz und Widerspruch entwickeln, da es ja in ihm eine staatliche Religion gibt, die allein vom Staate nicht nur anerkannt, sondern auch unterhalten wird. Ebenda, S. 378: Es gibt nur einen äußerlichen Kult, der erlaubt ist. Die Priester sind also schon Beamte, und diese noch mit zivilen Ämtern bekleiden, heißt eine Häufung von Ämtern vornehmen, die sonst nicht vorhanden ist. Nun gestattet aber auch Vairasse seinen Priestern selbst eigene Ansichten ( opinions particulières) über die Religion zu haben, wofern sie nur äußerlich die Pflichten ihres Amtes erfüllen und als ehrbare, anständige Menschen leben. Damit sinkt aber der ganze Sonnenkult zu einer lächerlichen Farce herab – wollte Vairasse zeigen, daß jede geoffenbarte Religion im Laufe der Zeit durch die Entwicklung des Sektarianismus zur Farce werden und mit sich selbst in inneren Widerspruch geraten muß? Was er an Gründen für das friedliche Zusammenleben der Sevaramben trotz der Glaubensverschiedenheit anführt, daß nämlich die Staatsreligion mehr Philosophie und menschliches Räsonnement als Offenbarung und Glauben enthielte und daher mit größerem Gleichmut traktiert würde, spricht wohl für eine Bejahung dieser Frage und zeichnet seine Stellung als die eines jeder Offenbarung feindlich gesinnten Denkers. Auch More schreibt seinen Utopiern einen staatlichen Kult zu, der aber, da alle in der Verehrung des göttlichen Wesens übereinkommen, in nichts den Gebräuchen widerspricht, die jeder Sekte eigentümlich sind und von ihren Angehörigen in ihren Häusern ausgeübt werden.

Die Stärke des Vairasseschen Buches liegt überhaupt weniger auf ökonomischem als moralphilosophischem Gebiet. Seine schönen Ideen über Religion und Toleranz stellt sich ebenbürtig die geistreiche Darstellung des Einflusses an die Seite, den die kommunistische Gesellschaftsordnung auf die Charakter-, Geistes- und Körperentwicklung der Angehörigen einer solchen ausübt. Die beiden hervorstechenden Charaktereigenschaften der Sevaramben sind die Wahrheitsliebe, mit der sich eine außerordentliche Offenheit der Gefühle verbindet, und ein edler Ehrgeiz, wohlzutun und sich Achtung zu erwerben, in den eine kluge Erziehung die ursprüngliche Leidenschaftlichkeit ihres Temperaments verwandelt hat. Der ständige Verkehr von Bürgern und Bürgerinnen untereinander, bei der Arbeit wie bei der Ruhe, bei den Festen wie im alltäglichen Leben, hat eine feine Freiheit der Sitte bei ihnen hervorgebracht, in der sich schamhafte Bescheidenheit und offenes Sichgeben in Worten und Gefühlen aufs glücklichste vereinen. »Sie versuchen, sich die Liebe und Achtung eines jeden zu erwerben, weil nur dies das Mittel ist, zu Ehrenstellen zu gelangen; weshalb man auch unter denen, die sich um Ämter bewerben, einen ehrenvollen Wetteifer sieht, der sie veranlaßt, sorgfältig alle ihre Handlungen zu beobachten, aus Furcht, ihren Ruf zu schädigen. Klatschereien und Verleumdungen werden streng bestraft, und wenn wirklich jemand einen Mitbürger anklagen sollte, ohne seine Anklage beweisen zu können, so wird er nicht nur mit Infamie gekennzeichnet, sondern auch streng von den Gesetzen bestraft.« Hist. des Sev., S. 290, 291. Die Wahrheit zu sprechen wird daher auch die Kinder von Jugend auf gelehrt, und da weder Armut noch Hoffnung auf Gewinn, weder das Verlangen, ihren Vorgesetzten zu gefallen, noch die Furcht, ihnen zu mißfallen, sie treibt, so ist es nicht zu verwundern, daß sich bei ihnen keine oder nur wenig Lügner finden. Die beiden einzigen Laster, zu denen sie am meisten von Natur zuneigen, sind die Liebe und die Rache; aber die erste hat eine kluge Gesetzgebung in das Bett früher Ehe geleitet, der anderen weiß eine kluge Erziehung dadurch vorzubeugen, daß sie zu heftigen Stolz durch frühen Verkehr mit Gleichaltrigen in Schranken zu bannen weiß.

Ein schöner Geist in schöner Hülle gilt auch für die Sevaramben. »Sie sind stark und erfreuen sich einer guten Gesundheit, wovon ihre Geburt, ihre Lebensart und ihre Heiterkeit die Ursache sind.« Ebenda, S. 292. Ihre Geburt, weil ihre Väter und Mütter, welche allein die Liebe zusammengeführt hat, sich viel mehr lieben als die, welche sich aus anderen Gründen heiraten. Daß Kinder der Liebe, nicht gezeugt in träger, widerwillig geübter und ekelhaft empfundener Ehebettumarmung, besser sind, ist eine alte volkstümliche Anschauung. Daher auch dieser Gedanke bei vielen Utopisten das Ehesystem modelt; die Campanellasche Zuchtwahl, die keine Rücksicht auf die Liebe der Individuen nimmt, ist eine einzige Ausnahme. Ihre Lebensart, weil sie in Nüchternheit leben, ohne Hunger und Durst zu leiden; weil sie von Ausschweifungen sich fernhalten und alle körperliche Arbeit leisten, ohne überarbeitet zu werden. Ihre Zerstreuungen und ihre Heiterkeit, denn sie haben weder Sorgen noch Habgier, von denen »die Seelen derjenigen verzehrt werden, die gezwungen sind, täglich für ihre augenblicklichen oder zukünftigen Bedürfnisse zu sorgen«. Hist. des Sev., S. 293. Sie entbehren nichts, und ihre größte Sorge ist, mit Mäßigung die rechten Freuden des Lebens zu genießen. »Alles aber, was zur Gesundheit der Sevaramben beiträgt, tut dies nicht weniger zu der Schönheit beider Geschlechter; denn, wenn man auch dort nicht die seinen und zarten Schönheiten unserer Zeit, die mehr Wachspuppen gleichen, findet, so sieht man dafür Männer und Frauen mit schönen und regelmäßigen Zügen, zarter und glatter Haut, starken und wohlgerundeten Körpern, lichtem und lebhaftem Teint und mit einer männlichen, gesundheitstrotzenden Haltung, die man bei uns selten findet.« Ebenda, S. 294.

So interessant und nutzvoll es wäre, einen eingehenderen Vergleich zwischen dem Engländer More und dem Franzosen Vairasse zu veranstalten und zu zeigen, weshalb in diesen beiden so durchaus verschieden veranlagten Geistern sich auf den von scharfer Kritik behauenen Quadern so verschiedene Idealbauten erheben mußten, so müssen wir uns leider bei den diesem Abriß enggesteckten Grenzen mit den kurzen Andeutungen begnügen, die wir an einigen Stellen einzuflechten vermochten.


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