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X.
Rekonstruktion.

Ich habe keineswegs die Absicht, hier so etwas wie die Geschichte des Aufbaus eines jüdischen Palästina zu schreiben. Dieses Buch ist an seinen Zweck gebunden: dem Nichtjuden einen allgemeinen Begriff zu vermitteln, was ein Jude ist und wie die historischen Bedingungen aussehen, die ihn formten, Bedingungen, die niemand außer Acht lassen darf, der sich überhaupt eine Betrachtung des Judenproblems erlauben will. Diese Darstellung der historischen Bedingungen konnte natürlich nicht daran vorübersehen, daß ein sehr wesentlicher Teil der Ursachen unserer heutigen Gestaltung nicht bei uns liegt, sondern – historisch ausgedrückt – bei den Vorfahren des Lesers, an den ich mich wende. Damit soll nicht die Frage von Schuld oder Nicht-Schuld berührt werden. Das wäre lediglich eine Einstellung des Ressentiments. Sondern es geht hier um die Frage der Voraussetzungen, unter denen wir einander begegnet sind. Und zwar gibt es zwei Voraussetzungen, die beide geschichtliche Fakten sind: das Leben des Juden in der Fremde, und die Reaktion des Europäers auf den Fremden.

Das Zusammentreffen dieser beiden Fakten hat ein Problem erzeugt, das unter den Bedingungen von heute keine Möglichkeit einer Lösung in sich birgt. Ich erkenne an, daß an verschiedenen Orten der demokratischen Länder Kräfte am Werke sind, die einer größeren Objektivität und Humanität das Wort reden. Ich glaube sogar an die Möglichkeit, daß dadurch eine gewisse Entlastung der Spannung eintreten kann. Wenn z. B. Nichtjuden sich bemühen, die Unsachlichkeit der Rassentheorien in ihren eigenen Kreisen darzustellen, so vermindert das zweifellos das Gewicht eines negativen Werturteils gegen den Juden. Zugleich vermindert es auch für die anderen die Gefahr, die sie aus der hemmungslosen Propaganda solcher Ideen für sich selber haben entstehen sehen. Und es läßt sich die Spannungssituation weiter dadurch entlasten, daß man – jedenfalls den geistig anständigen Menschen gegenüber – für die Vergangenheit mit gewissen historischen Unwahrheiten aufräumt, sagen wir mit der Behauptung, daß die Juden seit je das Händlervolk kat exochen gewesen wären, oder daß sie zur Herstellung von Mazzoth unbedingt Christenblut brauchten. Aber das heißt im besten Falle, daß gewisse Auswüchse beseitigt werden. Es kann nicht heißen, daß das Problem gelöst werde, das auf der Begegnung unter anormalen Voraussetzungen beruht.

Nun gibt es gerade unter den Juden der entschlossenen Assimilation viele, die trotz aller Ereignisse an das ständige Wachstum einer „Humanität“ glauben, die das Problem lösen wird. Ihnen bleibt nichts anderes übrig als dieser Glaube, da sie ja zwischen zwei geschichtlichen Welten leben: von der eigenen mit Wille abgelöst, (und doch nicht befreit), und von der anderen mit Willen abhängig. Darum will ich ihnen ihr Vertrauen auf das Wachstum der Humanität nicht antasten. Nur bin ich nicht bereit, auf dieses Wachstum zu warten und solange die Menschen meines Volkes jedem Unheil in der Welt auszusetzen. Das wäre nichts anderes als Mittäterschaft am Mord eines Volkes.

Das Problem kann seiner Lösung nur dadurch nahe gebracht werden, daß man diejenigen normalen Bedingungen wieder herstellt, unter denen eine normale Begegnung möglich ist. Aufseiten des jüdischen Volkes ist die Bedingung klar: der Rückzug aus der Fremde und die Konzentration der Kräfte auf einen eigenen Raum des nationalen Lebens. Der Ort dafür müßte nicht unbedingt Palästina sein. Schon wenn es irgendwo auf der Welt möglich wäre, Juden in so großen Massen zu sammeln, daß sie ein Eigenleben führen und ihre eigenen internen Angelegenheiten besorgen und von ihren eigenen wirtschaftlichen Tätigkeiten leben und ihre eigene Sprache sprechen und ihre Kinder in ihren eigenen Schulen erziehen können: schon dann wäre ein Entscheidendes erreicht. Es wäre aus dem Schicksal des Juden die Doppelgleisigleit entfernt, mit der er heute leben muß. Er brauchte nicht mehr zu schielen und unsicher zu sein. Er wäre vor sich selber verantwortlich und nicht mehr vor einer anonymen Mitwelt. Er könnte der Welt sagen: „Kümmert euch nicht um meine häuslichen Angelegenheiten; ich lebe ja nicht von eurer Gnade und eurer Erlaubnis.“ Es würde ihm also die Unabhängigkeit der eigenen Wertung wieder gegeben, und das wäre schon viel.

Aber es ist doch nicht genug. Wer weiß: vielleicht wird der Jude eines Tages vor der Notwendigkeit stehen, einen „Territorialismus“ zu treiben, d. h. zu versuchen, zu geschlossenen Wohngebieten zu kommen, die ihm eine Eigenexistenz erlauben. Aber selbst wenn das der Fall sein könnte, wäre es immer nur möglich in Abhängigkeit von dem einen Territorium: Palästina. Denn der Rückzug aus der Fremde kann kein mechanisch-technischer Vorgang sein. Er kann weder eine rein wirtschaftliche noch eine rein politische Aktion sein. Die Aufspaltung und Deformation unseres Volkes hat nicht vermocht, den alten Untergrund des Herkommens, die geschichtliche und geistige Erbschaft, ganz zu zerstören. Wenn manche Juden vom „Lande der Väter“ nur in der täglichen Liturgie sprechen und es dabei bewenden lassen, so denken doch manche diesen Begriff als eine Wirklichkeit, die man wieder anstreben muß. Massen von Juden könnte man irgendwo hin retten. Aber ein Volk von Juden kann man nur in Palästina wieder entstehen lassen, weil dieses Volkstum geographisch und geistig eine Einheit darstellt. Das materielle und das geistige Leben dieses Volkes sind von Anfang an konzipiert worden in der Verknüpfung mit einem bestimmten Lande. Das Land ist darum mehr geworden als eine geographische Tatsache. Es ist ein grundlegendes Faktum der Volksexistenz, seines religiösen Erlebens, seiner Kultur, seiner Aufgabe als Volk geworden. Die Trennung von diesem Lande ist der Ausgangspunkt des Problems von heute. Also kann nur die Rückkehr in dieses Land der Ausgangspunkt der Lösung des Problems sein.

Von hier aus gesehen verlangt der Aufbau Palästinas sein Interesse auch von den Nichtjuden. Dieser Aufbau ist noch sehr jung und hat wechselvolle Schicksale gehabt. Er ist mit inneren Problemen belastet, die einstweilen nur uns alleine angehen, weil sie unsere Geburtswehen sind. Aber er hat schon einige Ergebnisse gezeitigt, die der Anormalität einer Existenz in der Fremde entgegengesetzt sind und die deswegen auf unsere zukünftige Begegnung mit der Welt Einfluß haben können. Wir sind mitten in dem Prozeß begriffen, die Anormalität unserer wirtschaftlichen Schichtung aufzulösen. Hier, wo zum ersten male seit Jahrhunderten die große Unsicherheit der Existenz von morgen ausgeschaltet wurde, hat der Jude auch wieder vom Boden Besitz ergriffen und einen breiten Stand von Landwirten erzeugt, wenn sie auch noch nicht im eigentlichen Sinne Bauern geworden sind. Das Bedürfnis nach der Scholle ist so stark, daß es sogar die politische Unsicherheit, die uns immer noch bedroht, aus dem Bewußtsein verdrängt. Nebenher sei erwähnt, daß die Leistungen dieser jüdischen Landwirte als gut zu bezeichnen sind.

Auch die Berufe der Industriearbeiter und Handwerker nehmen schon wieder ihren normalen Platz ein. Vielfach rangieren dort Menschen, die erst in reiferen Jahren aus irgend einem anderen Berufe sich umgeschichtet haben, und das Experiment kann als gelungen bezeichnet werden. Es hat zugleich den Erfolg gehabt, daß die starre Wertung der sozialen Unterschiede, die in europäischen Ländern herrscht, hier weitgehend verwischt sind, zuweilen sogar zu sehr verwischt. Auf der anderen Seite bedingt gerade diese „Umschichtung“ eine vorläufige Unstabilität der Berufe. Das Land ist insofern Kolonial-Land, als die jeweilige wirtschaftliche Konjunktur die Menschen noch dazu anreizt, Berufe zu ergreifen, von denen sie zwar nichts verstehen, die aber von der zeitlichen prosperity getragen werden. Jedenfalls stehen wir hier seit endloser Zeit zum ersten male wieder der Möglichkeit gegenüber, aus den Bedingungen des alltäglichen Zusammenlebens zu einer eigenen Struktur und zur Gestaltung einer eigenen Gesellschaft zu kommen.

Nun ist der Begriff Gesellschaft ein überaus labiler. Er wird überall in der Welt durch die besonderen Bedingungen und geistigen Voraussetzungen der einzelnen Völker geformt. Im klassischen China gehörte zur Gesellschaft der Beamte, der durch viele Examina gegangen war. In Indien ist Gesellschaft gleichbedeutend mit dem Schicksal, das den Einzelnen in diese oder jene Kaste hineingeboren werden läßt. In anderen Ländern entstand Gesellschaft sehr oft durch Familien, deren Urahnen sich im Straßenraub auszeichneten und die es vermochten, ihren dadurch erworbenen materiellen Standard in Form eines sozialen Standard auf ihre Nachkommen zu übertragen. Bei uns ist Gesellschaft einstweilen noch ein landsmannschaftliches Nebeneinander von Gruppen, ein Zwitterzustand, bedingt durch die vielfach geschichteten Ströme der Einwanderung und durch die gesellschaftlichen Vorstellungen, die sie gerade mit sich gebracht haben. In einer Beziehung aber ist sie schon heute entschieden uneuropäisch. Der geistige und der wirtschaftliche Standard haben wenig mit einander zu tun. Die „Reichen“ sind in keinem Sinne die eigentlichen Träger von Bildung und Kultur, und die „Armen“ sind in keinem Sinne Illiteraten. Die eigentliche kulturtragende Schicht ist vielmehr ein breiter Mittelstand, der auf ziemlich schmaler wirtschaftlicher Basis lebt.

Aber diese Formung ist nicht endgültig. Vor allem, hat sie noch kein eigenes Gesicht, das heißt: sie ist noch nicht das Ergebnis einer im Lande selber gewachsenen Vorstellung von Lebensidealen. Der Nichtjude, der sich die Mühe nehmen würde, die Menschen hier im Lande nach ihrem „Ideal“ zu befragen, würde wahrscheinlich hülflos vor der Fülle der Antworten stehen. Man würde ihm nach einander sagen, daß es darum ginge, das jüdische Gesetz wieder zur absoluten Herrschaft zu bringen, oder einen nationalen Staat – wie alle anderen – zu gründen, oder die Herrschaft des Proletariats aufzurichten, oder ein Zentrum der hebräischen Kultur zu schaffen usw. Es gibt eigentlich nur zwei Dinge, über die wenigstens eine prinzipielle Einigkeit besteht: das Land im weitesten Umfange als Aufnahmeraum einer möglichst großen Anzahl von Juden zu betrachten, und die hebräische Sprache zur Grundlage der Kultur des Landes zu machen.

Es gibt nichts natürlicheres als die Idee, aus Palästina ein Zentrum des Judentums zu machen. Historische Verknüpfungen, geistige, und religiöse Tradition und äußere, dringende Notwendigkeiten weisen alle in die gleiche Richtung. Darum hat sich hier ganz logisch ein Kern von Menschen gesammelt, der wieder seine eigene Geschichte leben will. Schon daß es eine solche Vorstellung gibt, wird die Denkinhalte des Juden in der Galuth entscheidend umformen. In dem Maße, indem sich dieser Gedanke unter den Juden der Welt durchsetzt, wird ganz zwangsläufig auch eine Änderung im inneren Habitus des Juden eintreten. Es kann nicht spurlos an ihm vorübergehen, daß es irgendwo auf der Welt ein Zentrum gibt, das von Menschen seiner eigenen Gemeinschaft geführt und gestaltet wird. Wenn seine Einstellung positiv ist, wird – mit Bewußtsein oder gegen sein Bewußtsein – die nationale Komponente seines Jude-Seins eine Stärkung erfahren. Er wird immer aufs neue gezwungen sein, mindestens seinen Standpunkt gegen jene zu verteidigen, die diese Entwicklung nicht wollen, sei es, daß sie darin eine Störung ihres assimilatorischen Daseins sehen, sei es, weil sie schon in die hohen Sphären der „Weltbürger“ und der „Guten Europäer“ eingegangen sind. Im Effekt wird die Vertiefung und Ausbreitung des nationalen Gedankens dazu beitragen, eine reinlichere Scheidung anzubahnen zwischen denen, die ihren Frieden mit der Welt gemacht haben, und denen, die genau wissen, daß man diesen Frieden erst machen kann, wenn man durch eigene Konzentration und Konsolidation zu einem Partner des Friedensschlusses geworden ist. Man tut gut, nicht an der Tatsache vorüber zu sehen, daß die Besiedlung Palästinas und der Aufbau eines jüdischen Kerns kein zufälliges kolonisatorisches Unternehmen sind, sondern einen historischen Prozeß darstellen. Solche Prozesse haben ihre Eigenlebigkeit und ihre eigenen schöpferischen Energien. Sie werden leben, auch wenn man ihr Leben nicht will.

Sie haben allerdings auch ihre Widerstände, die von parallelen oder entgegengesetzten historischen Prozessen ausgehen. Dazu gehören auch gewisse politische Widerstände, die gegen das Jüdische National-Heim bestehen, bzw. mit Vorbedacht erzeugt werden. Auf sie kann in diesem Buche nicht eingegangen werden, weil sie nichts unmittelbar zum Thema beitragen. Nur in einem Sinne sind sie doch ein Beitrag zum Thema: es existiert eine Ideologie, die sich der Aufrichtung des Nationalheims im Interesse anderer Bewohner des Landes widersetzt. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, daß das zugrunde liegende Motiv durchaus nicht die Sympathie für andere ist, sondern ein tief verborgener Widerstand, eine traditionelle Antipathie, die auf das Nebengeleise einer scheinbaren Gerechtigkeit verschoben wurde.

Die Wirksamkeit des nationalen Gedankens hat noch vor dreißig Jahren darunter gelitten, daß er wesentlich theoretisch war und zuwenig Wirklichkeiten aufwies, die ihm einen Rückhalt gaben. Das hat sich geändert. Es besteht jetzt schon in Palästina eine beachtliche Fülle materieller Tatbestände, die ohne die Tätigkeit und die materiellen Opfer von Juden ganz zweifellos nicht existent wären: Städte, Dörfer, Wälder, Pflanzungen, Brunnen, entwässerte Sümpfe, bebaute Wüsten, Wege, hygienische Einrichtungen, Hospitäler, Schulen, Kunststätten, Fabriken und so fort. Wenn nicht die mannigfachen Hemmungen von außen und von innen beständen, wären diese materiellen Tatbestände noch weit größer und weit bedeutsamer, zumal das daran interessierte Judentum der Welt ganz beträchtliche Kapitalien in das Land hineingebracht hat, die durchaus nicht uns alleine zugute gekommen sind. Ich will alle diese Dinge gewiß nicht überschätzen. Wenn sie auch mit vielen Mühen und Opfern erkauft worden sind, gehören sie doch zu den normalen Funktionen, die ein jedes Volk erfüllen muß, das ein halbwildes und total vernachlässigtes Land kolonisieren will. Aber diese äußeren Tatbestände erzeugen wieder innere Tatbestände, die für uns bedeutsam sind, weil sie uns jahrhundertelang verwehrt waren. Zunächst einmal vertiefen sie unseren moralischen Anspruch auf das Land. Sodann vertiefen sie unsere Beziehung dazu. Ein Wald, den wir selber gepflanzt haben und der uns Schatten gibt; ein Dorf in schöner Lage, in dem wir unsere Ferien verbringen können; eine Lehrstätte, die wir begründet haben und der wir unsere Kinder anvertrauen: das und vieles andere schafft ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Gemeinschaftsgefühl, dessen sich der Einzelne garnicht bewußt zu sein braucht, das aber alle jene Widerstände automatisch ausschaltet und alle jene Ressentiments erledigt, für die wir in der Welt so mannigfache Energien hergeben und verschwenden müssen. Wir gelangen zu Dingen, die unbestritten unser Eigentum sind, mag es nun eine Universität oder ein Dorfbrunnen sein.

Was uns damit in Palästina geschieht, bleibt nicht auf dieses Land beschränkt. Auch der Jude außerhalb Palästinas wird diese materiellen Tatbestände des jüdischen Aufbaus in immer weiterem Umfange in seine Vorstellungen hineinnehmen. Er kann jetzt schon im Rahmen gewisser Wirklichkeiten denken. Er wird sogar bereit sein, sie zu überschätzen, zumal er sie meistens nur kennen lernt im Zusammenhang mit einer Propaganda, die im wesentlichen an der Aufbringung weiterer Mittel interessiert ist. Er wird noch eine gewisse Wegstrecke zu gehen haben, bis auch die geistige Seite dieser neuen Wirklichkeit für ihn mehr ist als eine Theorie, über die sich diskutieren läßt. In Palästina besteht bereits der Anfang solcher geistigen Wirklichkeit, und ihr sichtbarer Ausgangspunkt ist die hebräische Sprache. Und in diesem Stadium der Entwicklung, in diesem absoluten Frühstadium des Produktiven, das in mancher Beziehung noch ein Frühstadium des Primitiven ist, kommt es auf die Sprache entscheidend an. Man darf die Einwirkung einer Sprache auf den geistigen Habitus einer Gemeinschaft nicht unterschätzen. Jede Sprache hat ihre eigene Welt der Begriffe, der Bilder, der Symbole und Assoziationen und Vergleiche. Ihr Pathos oder ihre Nüchternheit entsprechen dem Pathos oder der Nüchternheit des Volkes, das sie spricht. Gewisse Sprachen haben keine Worte für Begriffe, die andere Sprachen sehr wohl kennen.

Die hebräische Sprache beginnt jetzt wieder, gesprochen zu werden. Schon das ist wesentlich, denn hier wird ein Instrument geschaffen, das geeignet ist, die Abkömmlinge verschiedener Sprachbezirke in einen einheitlichen sprachlichen Rahmen zu bringen, sodaß sie sich wenigstens mit einander verständigen können. Und das wieder ist die Vorstufe dafür, daß sie im gleichen Rhythmus einer gemeinsamen Sprache zu denken beginnen. Das Medium der Sprache wird dazu dienen, die übersteigerte Differenzierung im Habitus unseres Menschenmaterials entscheidend auszugleichen und langsam einen Typus zu schaffen, der auf eigenen Bedingungen und nicht auf denen der Fremde beruht.

Das Denken dieser Menschen wird allerdings nie auf gewisse Elemente verzichten können, die die Sprechenden, bezw. die Erzieher der Jugend, bei ihrer Wanderung durch Europa aufgenommen haben: technische, wissenschaftliche, philosophische Begriffe und solche, die aus dem allgemeinen zivilisatorischen Bestand Europas kommen. Aber ihnen wird damit zum ersten male die Möglichkeit gegeben, von Europa Abstand zu nehmen, die Erscheinungen Europas an ihren eigenen Begriffen zu messen, an jenen fundamentalen Begriffen, mit denen im Judentum die Bezirke von Leben und Tod, Mensch und Gott, Einzelner und Gemeinschaft gedacht worden sind. Da liegt eine große produktive Möglichkeit. Mögen alle sachlichen Leistungen noch so wesentlich sein, um uns als Volk zu stabilisieren, so werden sie doch nie solches Quantum erreichen können, daß wir daraus irgend einen Wert für uns ableiten können. Wir werden uns nie aus der Quantität motivieren können, sondern immer nur aus der Qualität. Es wird immer darauf ankommen, wie wir die Dinge tun und denken.

Im Augenblick sind wir allerdings heftig damit beschäftigt – vor allem in unserem internen politischen Leben – all dasjenige Gedankengut fortzusetzen, das in Europa längst bankerott gemacht hat. Insbesondere ein gewisser Typus unserer palästinensischen Sozialisten ist schlechthin der Konkursverwalter der europäischen Sozialdemokratie. Andere – zu ihnen gehört eine Gruppe von Intellektuellen aus Deutschland – bemühen sich eifrig, der zerstörten deutschen Kultur eine Insel aufzubauen, von der aus sie sich wieder regenerieren kann, wenn erst der Nazismus beseitigt ist, der so garnicht zum deutschen Volke paßt.

Aber vielleicht ist alles das notwendiger Übergang. Vielleicht kann man Erbschaften nicht einfach in die Ecke legen, sondern muß sie eines natürlichen Todes sterben lassen. Aber man kann ihren Tod beschleunigen, vor allem dadurch, daß man ihnen unzuträgliche Nahrung gibt, sodaß sie an geistiger Unterernährung sterben. Damit soll folgendes gesagt sein: wir können uns, wenn wir als Juden wieder ein produktives Volk aufbauen wollen, nicht damit begnügen, die Erben des europäischen Denkens zu sein. Wir können uns auch keineswegs damit begnügen, mit stolzer Gebärde das zu präsentieren, was unsere Vorväter einmal gedacht haben. So etwas gibt uns keinerlei Anspruch. Das gibt uns im Gegenteil ein äußerstes Maß an Verpflichtung. Denn wenn es sich bei diesem nationalen Aufbau überhaupt um die Fortsetzung eines einmal abgelenkten historischen Prozesses handelt, so muß es sich mit zwingender Notwendigkeit auch zugleich um die Fortsetzung derjenigen geistigen und seelischen Linien handeln, die für die Entstehung und den Verlauf des historischen Prozesses entscheidend waren. Ein Volk als biologische Gemeinschaft fortsetzen zu wollen, ohne seine Motive fortsetzen zu wollen, ist nichts anderes als geistiger Selbstmord. Die klassischen Völker des Altertums sind auch nicht biologisch untergegangen, sondern haben sich – wenn auch mit fremden Einschüssen – fortgesetzt. Aber sie haben keinen eigenen geschichtlichen Willen mehr aufbringen können, weil sie keine eigenen Motive für die Begründung ihrer geistigen, religiösen, kulturellen Existenz mehr hatten. Völker sterben als kulturtragende Gemeinschaften am Verlust ihrer Lebensmotive.

Wir werden jetzt, in diesen kommenden Generationen, den Beweis dafür zu erbringen haben, ob wir uns auf eine biologische Existenz beschränken müssen, oder ob wir es zustande bringen, uns wieder mit einem eigenen, im entscheidenden Sinne eigenen Motiv in das Leben der Völker hineinzustellen. Europa kann für uns kein geistiges Motiv mehr sein. Es hat diejenige Erbschaft, die es über das Medium des Christentums hinweg aus dem Judentum hätte übernehmen können, nicht angetreten; oder wenn es sie angetreten hat, so ist es schmählich daran gescheitert. Ich meine damit diejenige Erbschaft, die lehren kann, wie man das Leben von Menschen und Gemeinschaften auf der Ebene der Gerechtigkeit ordnet. Wir sind also nicht gehindert, diese unerledigte Erbschaft wieder aufzunehmen und zu versuchen, sie in einem Leben der vorbildlich geordneten Gemeinschaft zu realisieren. Es geht dabei um jenes große Erbe, das die Propheten uns hinterlassen haben: die Gestaltung eines Lebens, dessen Grundlagen nicht die zufälligen Formulierungen einer wandelbaren Gesellschaftsmoral sind, sondern unwandelbarer Prinzipien der Ethik. Das Gedankengut der Propheten, in ihrer alten Sprache gedacht, wäre eine – wenn nicht die einzige – Aufgabe, die wir hier uns selber und der Welt gegenüber erfüllen könnten.

Aber es bleibt die eine Voraussetzung bestehen: Konzentration auf ein eigenes Land. Solche Ideen der Gemeinschaftsgestaltung brauchen den natürlichen, mit Spannungen geladenen Untergrund eines eigenen Volkslebens. Solche Ideen schweben nicht in der Luft und nicht über den Grenzen. Und es genügt nicht, sie zu denken und darüber zu predigen. Wenn sie nicht realisiert werden, sind sie zweckloser Ballast. Eine Realisation können sie nur da erfahren, wo sie sich an der eigenen Wirklichkeit abschleifen und erproben können. Und je größer der Menschenbestand ist, je zahlreicher die Varianten, desto breiter die Basis für das Experiment. Und desto größer auch die berechtigten Erwartungen der Welt, daß das Judenproblem seiner Lösung näher gebracht werde. Nach dem, was sich in unserer Gegenwart abgespielt hat, müßten die Völker der Welt diesen Lösungsversuch im eigenen Interesse freudig begrüßen. Und insofern haben wir auch ein Recht dazu, ihre Entscheidungen zu bedrängen. Alles andere in ihrem Verhalten gegen den Juden muß man ihnen selbst überlassen, weil das ein ausschließlich interner Vorgang ist. Wir haben die Grundeinstellung der Welt uns gegenüber seit 2000 Jahren nicht ändern können, und werden es auch heute nicht. Darum nimmt der Verfasser es auch gelassen auf sich, daß derjenige, der zum Widerstand gegen Juden und alles Jüdische von vornherein entschlossen ist, aus dieser Darstellung und diesem Bekenntnis die Schlüsse zieht, die ihm angemessen erscheinen. Er würde sie auch ziehen, wenn das Bekenntnis zum entgegengesetzten Ergebnis gekommen wäre. Aber eine Waffe wird ihm langsam aus der Hand gewunden werden. Er konnte bislang ein genial einfaches System befolgen: das Positive, das er an einem individuellen Juden fand, hat er im besten Falle auf das Privatkonto dieses Einzelnen geschrieben, (sofern er es nicht der Einfachheit halber auf sein eigenes nationales Konto übertrug); und alles Negative, das er bei einem Juden entdeckte, hat er unbedingt auf das Konto der Gemeinschaft des jüdischen Volkes geschrieben. In dem Maße, wie wir uns in Palästina unsere eigene Wirklichkeit bauen, (ich gebe zu: es ist ein langer, langer Weg!) wird er gezwungen sein, uns das Böse und das Gute auf ein gemeinsames Konto zu schreiben.

Aber wir werden uns im einen wie im anderen nicht mehr vor ihm zu verantworten haben, sondern nur unserem Gewissen. Wir können von der Welt das Recht erlangen, mit jener Distanzierung behandelt zu werden, die sie auch anderen Völkern gegenüber aufbringt. Sie kann uns bei diesem Versuch, unser eigenes Leben wieder herzustellen, allerdings Hülfe leisten, wenn auch zunächst nur durch etwas Negatives: dadurch, daß sie uns in Ruhe läßt. Aber sich selbst und uns zugleich kann sie helfen, indem sie das, was hier nur in Schlagzeilen getan ist, einmal in einem ganz breiten Rahmen unternimmt: die uralte Beziehung zwischen dem Juden und dem Nichtjuden unbefangen, sachlich, mit dem Willen zur Klärung eines Phänomens zu erforschen und darzustellen.

Vielleicht wird der Nichtjude anfangen, uns zu verstehen, wenn er wissen wird, was alles in einer Begegnung von 2000 Jahren enthalten ist und enthalten sein kann. –

Haifa, Oktober 1943


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