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II.
Das persönliche Erlebnis.

Wenn ein Jude über die Erlebnisse seiner Kindheit und seiner Jugend sprechen will, dann muß er an den Anfang seines Berichtes eine Angabe stellen, die auf den ersten Blick ziemlich banal erscheint: er muß genau die Lage seines Geburtsortes und das Jahr seiner Geburt bezeichnen. Er muß den geographischen Bezirk angeben, in dem er zu einer bestimmten Zeit seine Kindheit und Jugend verbrachte. Das wird an sich jeder Mensch tun, der aus irgend einem Grunde biographische Dinge mitteilen will, schon um das Land und das Klima mit seinen besonderen Einflüssen und den allgemeinen kulturellen Rahmen zu bezeichnen, die ihn geformt haben. Aber wenn ein Jude es tut, dann ist es doch nicht ganz das Gleiche, als wenn es der Angehörige eines normalen Volkes tut. Der Jude muß Ort und Zeit der Geburt angeben, um damit klar zu stellen, wie gerade damals er und die Seinigen sich numerisch und räumlich und allgemein-politisch zu denjenigen verhielten, die nicht die „Seinigen“, die also Nichtjuden waren.

Das ist deswegen entscheidend, weil sich für einen Juden vollkommen andere Erlebnisketten ergeben, je nachdem er in Frankreich oder England oder Deutschland oder Galizien geboren wird. Sind zum Beispiel die Seinigen im Verhältnis zu den Nicht-Seinigen numerisch relativ zahlreich, wie früher in Osteuropa, so leben sie fast ohne Ausnahme in dichteren Massen zusammen. Das hat zur Folge, daß ein verhältnismäßig starker Innenbezirk geschaffen wird, eine dichte Innen-Atmosphäre, die einen wesentlichen Teil der Jugenderlebnisse produziert und zugleich auch konsumiert. Von da aus wird der junge Mensch mit Erlebnissen gespeist, sowohl mit solchen, die positiven, wie mit solchen, die negativen Charakter haben. Und ein wesentlicher Teil dieser Erlebnisse ist eindeutig nach innen gerichtet, zum Bezirk der Seinigen hin, und er hat mit dem, was man Umwelt nennt, garnichts zu tun. Und das hat eine weitere Folge: je stärker der Innenbezirk, der die Menschen bindet, desto geringer die Berührungsfläche des Einzelnen mit der Umwelt.

Ganz anders wird das Bild aussehen, wenn ein Jude – sagen wir – irgendwo in Norddeutschland geboren wird. Da sind die Juden dünn gesät, absolut und relativ. Sie stellen einen ganz geringen Prozentsatz der Bevölkerung dar, und sie leben in kleinen Gruppen über weite Gebiete verteilt. Der Innenbezirk und damit die Innenatmosphäre sind also viel schwächer als im Osten Europas, weil sie von einer viel geringeren Maße getragen werden. Der innere Erlebnisraum ist dementsprechend viel weniger intensiv; aber dafür ist die Berührungsfläche des Einzelnen mit der Umwelt viel größer.

Berührung mit der Umwelt ist ein Begriff, den man sonst nur gebraucht, wenn man sagen will, daß das Individuum, der auf sich selbst gestellte und in sich selber beruhende Einzelmensch sich zur umgebenden Welt in Beziehung begibt, oder wenn er in diese Beziehung hineingedrängt wird. Für den Juden ist dieser Begriff zweifach vorhanden. Er hat eine Umwelt nicht nur als Einzelwesen, sondern auch als Zugehöriger zu seiner jeweiligen Judengruppe. Er hat eine doppelte Umwelt, die nicht identische Inhalte haben. Sie sind aber auch nicht immer klar von einander getrennt. Im Gegenteil: je größer die Berührungsfläche mit der Außenwelt ist, desto leichter überschneiden sich diese Beziehungen. Aber es bleibt unweigerlich eine zweifache Beziehung. Der Mensch eines normalen Volkes kennt nur jeweils ein Geleise, wenn er sich in die Umwelt begibt: die Geleise, die zwischen ihm und seiner Gesamtheit verlaufen. Der Jude kennt zwei Geleise: zu seiner engeren Gemeinschaft, und zu der Gesamtheit der Umwelt, die nur insofern seine Gesamtheit ist, als sie es ihm jeweils gestattet.

Ob ein Jude es will oder nicht: es gibt für ihn zwei Bezirke, die nicht völlig identisch sind, die – mit Variationen gemäß dem geographischen Ort – von einander unterschieden sind; zuweilen aus seinem eigenen Willen, zuweilen aus dem Willen der Anderen, und zuweilen aus dem Willen beider. Und er mag sich mit den Anderen noch so sehr identifizieren wollen, es bleibt unweigerlich ein Begriff bestehen: „die Anderen“.

Der Ort, in dem ich 1890 geboren bin, war eine mittlere Großstadt irgendwo im Nordwesten Deutschlands. In dieser Stadt durften bis um die Mitte des 19. Jh. Juden überhaupt nicht wohnen. Eine geringe Anzahl jüdischer Familien saß in den umliegenden kleinen Dörfern. Man erlaubte ihnen, tagsüber in die Stadt zu kommen und dort ihre regulären Geschäfte zu betreiben, bis abends die Tore geschlossen wurden. Dann mußten sie wieder hinaus. Ein Verwandter, den wir Großvater nannten, (er war damals schon ein Neunzigjähriger), erzählte uns Kindern, daß an einem der Stadttore der Spruch gestanden habe: „Jud und Schwein Darf hier nicht rein“. Er erzählte das ohne Ressentiment, beinahe belustigt, mit einem Achselzucken wie über eine skurrile Gebärde der Leute von damals. Und viel anders empfanden wir Kinder es auch nicht.

Es leuchtet also ein, daß die Judensiedlung dieser Stadt jung war und keine eigentliche Tradition besaß. Andere Judensiedlungen haben mindestens alte Lehrstätten, auf die sie stolz sein können, oder alte Friedhöfe, die für den Wechsel vieler Generationen zeugen. Die Juden meines Geburtsortes hatten nichts dergleichen. Sie hatten nicht einmal eine besondere wirtschaftliche Bedeutung, denn diese Stadt war eine altgefügte Handelsstadt mit einem stark konservativen, fast monopolartigen Aufbau. In dieses Gebäude konnte der Jude nicht eindringen, weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich. Die Bezirke blieben getrennt. Es gab in der Stadt 99% Protestanten, und in den Rest teilten sich wenige Katholiken und noch weniger Juden.

Diese kleine Judensiedlung war in jedem Sinne ohne charakteristische Züge. Sie hatte auch nicht den Anflug eines gesellschaftlichen Gefüges. Als die Stadt für die Besiedlung durch Juden geöffnet wurde, kamen aus der näheren Umgebung einige Familien, die dem Zug in die Großstadt folgten. Einige blieben auf dem Wege ihrer Auswanderung aus Osteuropa in dieser Hafenstadt hängen, und Zufall oder Verwandtschaft verschlugen den Rest dorthin. Sie ernährten sich alle ausreichend. Es gab unter ihnen keine eigentlichen Armen; es gab aber auch keine Reichen in jenem Sinne, den die Legende dem Juden andichtet. Sie zeichneten sich weder durch hervorragende Persönlichkeiten noch durch ein besonderes geistiges Niveau aus. Die Siedlung war klein und bescheiden und uninteressant. Ich wüßte aus dem Leben dieser Gemeinschaft nichts zu erinnern, was mich irgendwie beeindruckt oder geformt hätte.

Das Elternhaus fügte sich in den Rahmen dieser kleinen Judengruppe reibungslos ein. Es war in nichts verschieden und in nichts ausgezeichnet. Die Lebensformen, die im Hause gewahrt wurden, waren die einer gemäßigten jüdischen Orthodoxie, jene Art der traditionellen Frömmigkeit, die sich mehr an Formen als an tiefe Inhalte des Glaubens anklammert. Aber diese Formen werden als wesentlich empfunden, und mögen sie auch zuweilen unbequem sein, so hält man sie dennoch nach Möglichkeit aufrecht, denn sie geben dem Leben dieser mäßig orthodoxen Juden seinen Rhythmus und seine Zäsuren. Sie stellen also auch einen wesentlichen Bestandteil der allgemeinen Atmosphäre des Elternhauses dar. Aus dieser allgemeinen Atmosphäre sind mir gewiß erste Eindrücke gekommen, die nachwirkten und nicht vergessen wurden. Aber sie sind nicht so wesentlich, daß sich der Bericht lohnt. Jedes jüdische Kind, in dessen Elternhaus jüdische Feste und Formen überhaupt noch gewahrt wurden, wird dasselbe empfunden haben.

Aber der atmosphärische Einfluß ging doch über das Formale weit hinaus. Es gab Dinge, die in die Atmosphäre des Allgemeinen, des Menschlichen gehörten, und die wie ein Geheimnis auf uns ruhten. Da war zunächst ein sonderbares Verhalten meiner Eltern, dessen Sinn ich damals nicht verstand. So oft wir über jüdische Dinge sprachen, und seien es die belanglosesten, und das christliche Hausmädchen das Zimmer betrat, legte meine Mutter sofort die Hand auf den Mund und gebot Schweigen. Es schien beinahe so, als rühre das Sprechen über jüdische Dinge an irgend welche Geheimnisse, die man vor den „Anderen“ nicht preisgibt, selbst dann nicht, wenn sie mit einem den Haushalt teilen und über alle Einzelheiten eines jüdischen Lebens ziemlich genau unterrichtet sind. Viel später erst habe ich verstehen gelernt, daß es sich hier um jenes Schamgefühl handelt, das aus der Unsicherheit und der Isolierung kommt, aus dem Fehlen eines dichten Milieus, das jüdische Dinge und Gespräche darüber zu etwas Selbstverständlichem macht.

Aber es gab tiefere Geheimnisse. Meine Mutter hatte unter anderen Geschwistern einen Bruder, von dem nur im Flüsterton gesprochen wurde. Für seine eigene Mutter (meine Großmutter) galt er nicht mehr als lebend. Er hatte sehr früh das Elternhaus verlassen und war aus dem kleinen Dorf in Westfalen in eine der Städte des Rheinlandes gegangen und war dort „Kunstmaler“ geworden. Schon dieser Bruch mit der kleinbürgerlichen Solidität stellte ihn außerhalb des Kreises seiner Familie. Aber dann unterlag er den Verführungen des Künstlerlebens. Er ging hin und heiratete eine Nichtjüdin, und damit war er für die Familie nicht mehr existent. Er hatte sein Volk verlassen. Er hatte Schande über die Familie gebracht, und darum wurde von ihm nur im Flüsterton gesprochen. Außenstehende durften nicht darum wissen. Mir war immer leicht unheimlich zumute, wenn von ihm geflüstert wurde. Der Reiz des Geheimnisvollen ließ mich später versuchen, seinen Namen (den er geändert hatte) und seinen Wohnort ausfindig zu machen. Es ist mir nie gelungen.

Jude-sein war also ein Geheimnis, und nicht-mehr-Jude-sein war erst recht ein Geheimnis. Das war keine gedankliche Schlußfolgerung, die ich etwa schon als Kind gezogen hätte. Das war eine einfache Tatsache, die mir Jahr für Jahr an einem bestimmten Ereignis bewiesen und demonstriert wurde. In der Straße, in der unser Haus stand, als ich etwa zehn Jahre alt war, wohnte ein Kaufmann, ein vierschrötiger Hüne, dessen blühend rotes Gesicht ihn aussehen ließ wie einen ostfriesischen Bauern. Sein Name hatte noch einen jüdischen Klang. Aber er war nicht mehr Jude. Er war getauft. Wir wußten nicht, warum und wie lange schon. Das ganze Jahr hindurch schenkten wir ihm keine besondere Beachtung. Aber einmal im Jahre stand er in einer Gestalt vor uns, die einfach nicht zu übersehen war. Wenn der Versöhnungstag kam, lief er den ganzen Tag lang um den Häuserblock herum, in dem die kleine, unscheinbare Synagoge stand. Er ging immer auf der anderen Seite der Straße und wandte keinen Blick zur Synagoge hin. Aber er lief da von Morgens bis Abends, eilig, hochrot im Gesicht, wie von einer bösen Unruhe getrieben. Wir Kinder standen im Eingang der Synagoge, sahen ihn scheu an, winkten uns zu und flüsterten: „Weil heute Jom Kippur ist!“ Wir wußten wahrscheinlich selbst nicht genau, was das eigentlich besagte. Aber das Geheimnis dieses Vorganges lag schwer und bedrückend auf uns, so wie das gelbe müde Licht aus den vielen Wachskerzen, die drinnen in der Synagoge langsam zuende brannten.

Noch ein anderer Fall des Austrittes aus dem Judentum ist mir in Erinnerung geblieben, aber diesesmal ohne jedes Gefühl des Geheimnisvollen, sondern im Gegenteil mit einer durchaus vergnüglichen Note. Da lebte in der Gemeinde ein kleines, schwarzes Männchen, das sich nach einem der Erzväter benannte. Er hatte eine kleine schwarze Frau und eine Serie von kleinen schwarzen Kindern in der Größenordnung von Orgelpfeifen. Dieser Erzvätermann schien ein religiöser Philosoph gewesen zu sein, einer von der primitiven Art, die sich aus Ressentiment und Mangel an Bildung eigene Gedanken machen. Eines Tages hörten wir, er sei aus dem Judentum ausgetreten und Protestant geworden, und man habe ihn dafür bezahlt. Es verging noch einige Zeit, und wir hörten, er sei der Sekte der Methodisten beigetreten, und wieder sagte das Gerücht, er habe dafür bezahlt bekommen. Aber diese Details waren für uns Kinder uninteressant, und sie sind nur zufällig im Gedächtnis geblieben. Was dagegen als Episode unvergeßlich geblieben ist, ist ein Doppeltes. Wir pflegten auf einem leeren Wagenplatz hinter unserem Hause mit den christlichen Nachbarskindern Fußball zu spielen. Für ein Spiel war ich zum Schiedsrichter bestellt. Als ich auf den Platz kam, fand ich die „Mannschaften“ in geheimer Beratung. Einer, offenbar zum Sprecher bestimmt, wandte sich an mich und fragte in drohendem Unterton, ob ich etwa die Absicht habe, mit den Erzväterkindern weiterhin zu spielen. Ich dachte garnicht darüber nach, welches Interesse meine christlichen Spielkameraden daran haben könnten. Ich lehnte das Ansinnen mit einem aus dem Hafenviertel geborgten und nicht sehr gesellschaftsfähigen Ausdruck ab. Diese Entscheidung wurde mit Genugtuung entgegen genommen, und das Spiel begann.

Wenige Tage später ging ich am Hause des Neophyten vorbei. Hinter dem Zaun standen vier seiner größeren Orgelpfeifen. Als sie mich erblickten, begannen sie im Sprechchor zu höhnen: „Judenjunge! Judenjunge!“ Ich spüre bis heute mein tiefes Erstaunen und die lange Sekunde des Nachdenkens und Nichtverstehens. Aber in der nächsten Sekunde war ich über den Zaun hinweg und es begann eine der feierlichsten Prügeleien, die ich je mitgemacht habe. Die vier Orgelpfeifen blieben fast tonlos zurück. Ich selbst kam mit einem angeschlagenen Zahn davon.

Aber die Mehrzahl der Erlebnisse kam dennoch nicht aus diesem inneren, geheimnisvollen Bezirk, sondern ganz einfach aus dem Zusammentreffen dieses unseres Alltags mit dem von Anderen; aus dem Gefühl einer Verschiedenheit, das an sich garnichts Bedrückendes enthielt, dem aber einfach nicht auszuweichen war. Dieses Gefühl beruhte auf keiner tiefen psychologischen Erkenntnis, sondern drückte sich in einem einfachen und primitiven Worte aus: „anders“. Es war kein Werturteil und keine Belastung damit verbunden. Wir waren anders und die Anderen waren anders. Das war alles.

Dieses „anders“ wurde natürlich zuerst praktisch im Verkehr mit den Kindern, die noch außer uns im Hause lebten. Daß wir bei ihren Eltern nicht essen durften, sie aber wohl bei den unsrigen, wurde von beiden ohne weiteres als Vorzug empfunden. Der eigentliche Unterschied drückte sich in den Festen und gelegentlich der Feste aus. Hier gab es verschiedene „Anders“. Aber diese Verschiedenheiten ergaben keine Bilanz, die sich zu unseren Ungunsten auswirkte. Es gab immer einen Ausgleich, und er bewegte sich zwischen zwei Festen: dem Ostern und dem Weihnachten drüben, und dem entsprechenden Peßach und Chanukkah auf unserer Seite. Diese Feste traten in Vergleichsnähe und zuweilen in Konkurenz. Weihnachten wies für die anderen einen erheblichen Vorsprung auf. Da war der Baum, der mit allem Farbigen und mit Lichtern und eßbaren Dingen geschmückt war. Wir wurden immer eingeladen, wenn er am ersten Weihnachtsabend angezündet wurde. Wir sangen auch die Lieder mit, die unsere Schulkameraden – und wir mit ihnen – in der Schule lernten. Aber mir ist vollkommen bewußt, daß wir sie nur sangen, soweit sie etwa das Lied vom Tannenbaum betrafen. Wenn andere Lieder gesungen wurden, in denen von Christus die Rede war, schwiegen wir mit aller Selbstverständlichkeit, und niemand verargte uns das. Jeder respektierte eben den Bezirk des Anderen.

Der Ausgleich, den wir zu geben hatten, war Chanukkah. Schon die Dauer von acht Tagen war ein offensichtlicher Vorsprung. Wir konnten uns rühmen, daß jedes unserer Kinder seinen eigenen Chanukkah-Leuchter habe, während die anderen sich mit einem gemeinsamen Weihnachtsbaum begnügen mußten. Aber ganz offenbar wurde der Vorsprung beim Peßach-Feste. Voran ging die große Aufregung, an der auch unsere christlichen Spielkameraden teilnahmen, wenn alles Geschirr des Haushaltes weggeräumt wurde. Dann wurden oben auf dem Boden die riesigen Kisten geöffnet, die das Geschirr mit dem blauen Zwiebelmuster enthielten. Für acht Tage war alles um uns herum neu. Es kam der große Augenblick, in dem sich die Nachbarn einstellten und ihren Tribut an Mazzot erhoben, die wir ihnen gegenüber bescheiden „Osterkuchen“ nannten. Aber dann ... dann kam wieder das Geheimnis.

Niemals wären wir auf die Idee gekommen, unsere Spielkameraden so an den feierlichen Zeremonien der ersten beiden Abende teilnehmen zu lassen, wie sie uns an ihrem Weihnachtsabend teilnehmen ließen. Sie hätten wohl auch nichts von den Liturgien verstanden, die von dem Auszug aus Ägypten erzählten, oder von der Bedeutung des Bechers, der für den Propheten Elijahu mit Wein gefüllt wurde, oder von dem Symbol, daß man die Türe öffnete, um Hungrige und Durstige eintreten und an der Feier teilnehmen zu lassen. Aber gerade dieser Augenblick war für mich der erregendste. Der Neunzigjährige, den ich oben erwähnt habe, hatte uns Kindern erzählt, daß die „Anderen“ uns früher beschuldigt hätten, daß wir das Blut von Nichtjuden, insbesondere von Kindern, für die Bereitung von Mazzot benutzten. Mehr als einmal seien unbekannte Gäste zur Peßach-Feier erschienen und hätten Kinderleichen in das Haus geschmuggelt, die dann kurz darauf von Häschern „entdeckt“ wurden. Hier schlich sich wieder das Gefühl des Unheimlichen heran, vermehrt um ein Gefühl des Grauens und der Feindseligkeit und Verachtung. Ich habe der offenen Türe nie ganz getraut, obgleich nie jemand erschien, der an der Feier teilnehmen wollte. Ich erinnere mich, als der Alte mir zum ersten male von der Blutgeschichte erzählte, daß ich während der Feier mit den Füßen unruhig über den Boden tastete, um festzustellen, ob nicht vielleicht doch ein totes Kind dort liege. Nicht einmal der Rosinenwein, den wir Kinder zu trinken bekamen, verscheuchte das würgende Gefühl, es könnte so sein. Es hat eine ganze Reihe von Jahren gedauert, bis ich so weit war, über diese Dinge die Achseln zucken zu können.

An den christlichen Ostern nahmen wir natürlich insofern teil, als wir mit unseren Hausgenossen Geschenke an Ostereiern austauschten. Wenn aber beide Feste zeitlich zusammenfielen, ergaben sich religiöse Konflikte, denn dann durften wir die schönen Chokolade- und Marzipan-Eier, die uns die Nachbarkinder geben wollten, nicht essen. Einmal, als die beiden Feste zusammentrafen, lauerte mir das älteste Mädchen unserer Hausleute hinter der halb offenen Türe auf, und als ich vorüberging, drückte sie mir schnell ein Marzipanei in die Hand und zog sich so geschwind zurück, daß ich ihr nichts erklären konnte. Sie hatte offenbar Mitleid mit mir und der erzwungenen Askese. Ich stand dann unten im Hauseingang, sah durch die große Fensterscheibe auf die Straße hinaus und überlegte angestrengt, was ich mit dem Ei anfangen sollte. Daß ich es nicht essen würde, war selbstverständlich. Die Frage war, wo man es verstecken konnte, bis die Peßach-Tage vorüber waren. Vor lauter Nachdenken vergaß ich die ganze Geschichte, und erst einige Tage später wurde ich daran erinnert, als mir meine Mutter ganz überraschend eine Ohrfeige versetzte, denn die eine Hosentasche des neuen Feiertagsanzuges war völlig verklebt von einem zerquetschten Marzipan-Ei.

Diese Dinge, die so aussehen, als seien sie nur kleine Formdinge unseres Alltags, hatten aber doch die Möglichkeit, sehr schwer und gewichtig zu werden. Und einmal ist das Problem, das dahinter verborgen liegt, sehr stark und einprägsam und unvergeßbar an mich herangebracht worden. Ich weiß nicht, wie alt ich damals war. Bestimmt ging ich noch nicht zur Schule. Unserem Hause gegenüber war eine Metzgerei. Wenn wir auf der Straße spielten, stand ich zuweilen davor und sah mir die Auslagen an. Es gab dort merkwürdige Dinge zu sehen, die uns natürlich verboten waren. Darunter war eine Wurst, die im Anschnitt schwarz mit großen weißen Flecken war. Man sagte mir, das sei eine besonders böse Wurst, denn sie sei aus Blut gemacht, und davon durfte man schon garnicht essen. Den Grund sagte man mir nicht. Ich hörte nur von irgendwo, daß man als Jude kein Blut essen darf. Den Ursprung dieses Verbotes, den alten mystischen Glauben, daß das Blut der Sitz der Seele sei, wußte ich bestimmt noch nicht.

Hinter dem Hause des Metzgers war ein Hof, von hohen Mauern eingeschlossen. Ich habe an diesen Hof nur eine einmalige Erinnerung, aber es ist ganz klar, daß ich damals mit der Örtlichkeit und den Kindern, die dort spielten, sehr vertraut gewesen sein muß, denn sonst wären die Vorgänge, die ich in jeder Einzelheit erinnere, unverständlich. Ich glaube sogar, daß ich alle übrigen Erinnerungen an diesen Ort und an diese Kinder zugunsten dieses einen einprägsamen Bildes unbewußt verdrängt habe.

Der Vorgang ist folgender: ich spiele eines Tages mit anderen Kindern im Hofe hinter diesem Hause. Da kommt aus der Durchfahrt der Metzger und bringt das Pferd in den Stall. Es war ein schlanker, hochbeiniger Apfelschimmel. Nach einiger Zeit erscheint der Metzger wieder im Durchgang und hält in der Hand große, schwere Scheiben Wurst. Er gibt jedem Kinde eine, auch mir. Ich nehme die Wurst sehr zögernd. Warum ich nicht sagte, daß ich sie nicht essen darf, weiß ich nicht. Jedenfalls warte ich nur auf den Augenblick, daß der Metzger wieder gehen sollte. Daß ich davon nicht essen würde, war vollkommen selbstverständlich. Sobald er fort ist, biete ich die Wurst der Reihe nach den anderen Kindern an. Aber sie wollen nicht nehmen. Sie haben selber genug.

Das macht mich sehr verlegen. Ich stehe mit der Wurst in der Hand da und weiß mir keinen Rat. Da kommt eine Erleuchtung über mich. Am Ende des Hofes ist der Pferdestall. Ich gehe hinein. Es sind drei Boxen darin. In der mittleren steht der Apfelschimmel. Er dreht mir die Kruppe zu. Ich zwänge mich an der Seite durch, um an die Krippe zu gelangen. Dann recke ich mich auf, werfe die Wurst in die Krippe und sage zu dem Pferde: „Friß!“

In der Sekunde sehe ich den Metzger. Er steht in der zweiten Box, direkt neben dem Kopf des Pferdes. In meiner Vorstellung ist er ungeheuer groß. Er lächelt; aber es ist ein Lächeln, das ich als durchaus unangenehm empfinde und das mich von vornherein in eine Trotzhaltung hinein zwingt. Er fragt mich: „Warum tust du das?“ Ich glaube, daß ich bis auf den heutigen Tag fühlen kann, wie ich rot werde. Irgend etwas übergießt mich mit einer Welle von Widerstand und Verlegenheit. Ich sage: „Weil es doch nicht kosher ist!“ Dann drehe ich ihm den Rücken und gehe hinaus. Ich habe den Hof nie wieder betreten und nie wieder mit den Kindern von drüben gespielt.

Ein Kind erlebt viel tiefer als der Erwachsene. Es erlebt so tief, daß es sich daraus seelische Richtlinien für den Rest seines Lebens holt. Aber es analysiert seine Erlebnisse nicht. Das kann nachträglich der Erwachsene versuchen. In diesem Falle wird es wohl so gewesen sein, daß ich auf die kaum verhohlene Überlegenheit des „Anderen“ und seinen lächelnden Hohn mit einem Gefühl des Beschämtseins und der Abwehr und Ablehnung zugleich geantwortet habe. Das mag der Beginn der klaren Grenzziehung zwischen mir und den „Anderen“ gewesen sein.

Eine andere Episode der „Abgrenzung“ hat mehr tragikomischen Charakter. Nachbarskinder überreden mich an einem Winterabend, mit ihnen in die „Sonntagsschule“ zu gehen, wo der Pfarrer etwas über Weihnachten erzählen würde. Da ich den Pfarrer gut kannte, ließ ich mich überreden und ging mit. Ich setzte mich auf die hinterste Bank, etwas verlegen, aber sehr aufmerksam. Der Pfarrer sah mich und nickte mir aufmunternd zu. Dort bin ich zum ersten male einer – wie ich glaube – ziemlich kompletten Weihnachtsgeschichte begegnet. Am Schluß der Erzählung verteilte der Pfarrer große Papiertüten an alle Kinder. Er drückte auch mir eine in die Hand. Die Kinder stürmten mit ihrer Beute nach Hause. Ich ging langsam hinterdrein. Ich untersuchte den Inhalt der Tüte, und sie enthielt durchaus essenswerte Dinge. Aber ich konnte mich lange nicht dazu entschließen, davon zu essen; nicht weil irgend ein Speiseverbot dem entgegenstand, sondern weil ich ganz deutlich das Gefühl hatte: „Du glaubst doch das alles nicht, was der Pfarrer erzählt hat. Wie kannst du da die Sachen essen?“ Ich erinnere den Ausgang dieser Gewissenszweifel nicht. Aber ich nehme an, daß ich später doch alles aufgegessen habe.

Aber mit zunehmenden Jahren wurde die Erlebniskette deutlicher und bewußter. Sie nahm härtere Formen an. Im Hause meiner Eltern wurde ein Witzblatt gehalten, eines, das dem damaligen Humor der Jahrhundertwende entsprach. Ich habe es immer gewissenhaft gelesen, und selbst mit den obligaten Witzen und witzig sein sollenden Zeichnungen über Juden habe ich mich abgefunden, und zwar mit jenem Achselzucken, das ich dem neunzigjährigen „Großvater“ abgeguckt hatte. Aber eines Tages stieß ich auf eine Serie von Zeichnungen, die mir bis heute – nachdem mehr als vierzig Jahre vergangen sind – in jedem Zuge deutlich erinnerlich sind. Das erste Bild zeigt den Turm einer Ritterburg. Auf der Turmzinne steht der Ritter, natürlich mit Panzer und Helm, und schaut in die Weite. Sein Ausdruck ist deutlich schmachtend und verlangend, denn ganz im Hintergrunde ist ein zweiter Burgturm sichtbar, und darauf, in schwachen Umrissen, die Gestalt einer Frau. Das zweite Bild ist wie das erste, nur daß jetzt neben dem Ritter ein Jude steht, gekennzeichnet durch gewaltige Nase und langen Bart, und mit einem Verkaufskasten vor der Brust. Er bietet dem Ritter triumphierend ein Fernglas zum Kauf an. Das nächste Bild zeigt den Ritter, wie er begierig durch das Fernglas schaut, und daneben, in einem Kreise, den fernen Turm, der jetzt ganz nahe herangerückt ist. Auch die Frau auf dem Turm ist jetzt deutlich zu erkennen. Sie ist eine spindeldürre, süßlich lächelnde und maßlos häßliche alte Jungfrau. Das letzte Bild zeigt den enttäuschten Ritter, wie er den Juden samt seinem Bauchladen über die Turmzinne hinweg in den Abgrund wirft.

Meine Reaktion war damals von einer ungewöhnlichen Spontanität und Heftigkeit. Zum ersten male in meinem Leben wurde mir der Begriff einer brutalen und bodenlosen Ungerechtigkeit plastisch nahe gebracht. Es war eine Ungerechtigkeit, die mich persönlich betraf, denn sie galt einem Manne, mit dem ich mich ohne weiteres identifizierte: einem Juden mit langer Nase und Bart und Bauchladen. Mußte diese armselige Gestalt in den Abgrund geworfen werden, nur weil ein verliebter Raubritter enttäuscht war? Und nicht nur das: diese Bilderserie diente nach dem Orte, an dem sie erschien, doch offenbar dem Zweck, Menschen zum Lachen zu bringen. Es lag also wahrscheinlich Humor in der Geschichte. Aber der Humor reichte für meine beschränkte Erkenntnis nur bis zum vorletzten Bilde, in dem der verliebte Ritter das Objekt seiner Liebe deutlich erkennt. Aber für den Zeichner, und für den Leser, an den er sich wandte, lag der Humor offenbar erst am Schluß: daß der Jude mit einem Schwung in den Abgrund geworfen wird. Erst sehr viel später habe ich diese Bilderserie in ihrer ganzen psychologischen Tiefe verstehen gelernt und bin ihr – außerhalb des Witzblattes, auf den ernsten Seiten der Geschichtswerke – unendlich oft begegnet: in der Bereitschaft der „Anderen“, ihre Enttäuschungen und Affekte mit aller Selbstverständlichkeit am Juden abzureagieren; und zugleich in dem merkwürdigen Versagen ihres Gefühls für Gerechtigkeit in dem Augenblick, in dem das Objekt ein Jude ist. Ich glaube, daß ich auf dieses kleine Erlebnis meine spätere Erkenntnis zurückführen kann, daß der Jude vom Nichtjuden eine objektive Behandlung nicht ohne weiteres zu erwarten habe.

Wenn der unbefangene Leser der Meinung sein sollte, daß es sich bei dieser Reaktion um eine Übersteigerung handle, um eine Reizbarkeit, die irgendwie objektiv nicht gerechtfertigt sei, so muß er sich eines vor Augen halten: die Bedeutung solcher kleinen Erlebnisse steigert sich durch das ständige Auftauchen ähnlicher Vorgänge zu einer besonderen Gewichtigkeit. Immer wieder geschehen Dinge, die in dieselbe Kerbe hineinschlagen, und eines Tages ist die Kerbe so tief, daß sie nicht mehr beseitigt werden kann. Es waren besonders zwei Vorgänge, die mich Jahre hindurch beschäftigt haben, und deren Eindruck sehr viel tiefer gewesen sein muß, als das Bewußtsein von damals es erfassen konnte. Aber da die Bilder heute noch in so scharfen Umrissen vor meinen Augen stehen, kann der Eindruck auf das kindliche Gemüt nicht geringer gewesen sein.

Da war zunächst einmal der Dreyfus-Prozeß. Ich bezweifle, ob viele Europäer, die mit mir gleichaltrig sind, diesen Prozeß überhaupt noch erinnern, und wenn sie es tun, ob sie ihm besondere Wichtigkeit beimessen. Wenn sie mit der politischen Geschichte Frankreichs vertraut sind, werden sie vielleicht wissen, daß um die Jahrhundertwende dort ein besonders scharfer Kampf zwischen den „Linken“ und den „Rechten“ tobte, und daß die Reaktionäre zu jedem Mittel griffen, das ihnen recht war, um sich an der Macht zu erhalten. Für den Juden ist dieser Kampf insofern interessant, als die Rechten, in diesem Falle vertreten durch die Militärklique, sich in der Gestalt des jüdischen Hauptmanns Dreyfus einen Sündenbock schufen, der aufgrund gefälschter Urkunden und in einem mehr als zweifelhaften Justizverfahren wegen Spionage zugunsten Deutschlands zur Degradation und zur lebenslänglichen Verbannung auf die Teufelsinsel (an der Küste von französisch Guyana) verurteilt wurde. Meine Erinnerung an die Vorgänge setzt mit dem zweiten Stadium dieses Prozesses – 1897 – ein, als der Versuch der Wiederaufnahme des Verfahrens gemacht wurde. Ich erinnere nicht, daß ich damals schon Zeitungen gelesen habe. Aber lange Zeit hindurch kam mehrmals in der Woche ein Holländer zu uns, der meinen Eltern aus seinen Zeitungen Berichte über den Prozeß vorlas. Ich höre ihn noch mit seiner rauhen Stimme sagen: „Eure Zeitungen schweigen, obgleich sie die Wahrheit sagen könnten. Aber sie wollen nicht. Was sollen sie eines Juden wegen die Wahrheit sagen?“ Dann las er Berichte, wie Dreyfus in seiner engen Zelle auf der Teufelsinsel auf und ab ging, Bilder, die sich unvergeßlich einprägten. Er las vom Oberst Picquart, der die Wahrheit ermitteln wollte und dafür verhaftet und aus dem Heere ausgestoßen wurde. Er las von Zola, der sein berühmtes „J’accuse!“ schrieb, dafür zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde und nach England floh. Er las von der systematischen Hetze, die gegen die Juden veranstaltet wurde, mit der Plünderung jüdischer Läden in Marseille und Bordeaux und einem regelrechten Pogrom in Algier, (1898). Er las vor, wie der Oberleutnant Henry die Urheberschaft eines gefälschten Briefes zugeben mußte und am Tage nach seiner Verhaftung Selbstmord beging. Und wie Esterhazy, ein Offizier des Generalstabes, nach London floh, wo er seinen Anteil an weiteren Fälschungen im Dreyfus-Prozeß zugab. Dann kam der spannende Moment, wo die Behörden einer Wiederaufnahme des Prozesses nicht mehr ausweichen konnten, und angesichts der Wahrheit ... Dreyfus noch einmal verurteilten, ihn allerdings dann „begnadigten“, (1899). Und dann, nach weiteren Jahren, (1906), wurde der Prozeß endlich durch die Rehabilitation Dreyfus’ beendigt.

Daß hier das Gefühl verletzter Gerechtigkeit sich aufbäumen mußte und Erfahrung an Erfahrung reihte, ist wohl natürlich. Es war ein tiefer Hieb in die Kerbe, die besagte: dem Juden gegenüber findet der Begriff Gerechtigkeit nicht ohne weiteres Anwendung.

Aber auch die andere Kerbe wurde vertieft, jene, die besagte: es ist gut und nützlich und üblich, interne Spannungen im Leben eines Volkes gegen den Juden abzulenken. Das war nicht nur im republikanischen Frankreich der Fall, sondern auch im zaristischen Russland. Die Vorgänge in Frankreich, dem Kulturlande, kamen an mich heran durch Zeitungsberichte, diejenigen in Russland durch Zeugen der Vorgänge, nämlich der Pogrome. Meine Geburtsstadt war ein wesentlicher Hafen für Auswanderung. In den großen Hallen der Schiffsgesellschaft drängten sich immer wieder die Wellen der flüchtenden und vertriebenen Juden aus dem Osten Europas. Namen tauchten auf, die nicht wieder vergessen wurden: Kishinew, Homel, Shitomir, Bialystock. Und das bedeutete: erschlagene und verstümmelte und verwundete Juden, geschändete Frauen, zerstörte Häuser und geplünderte Läden, die „Schwarze Hundert“, die aufhetzt und provoziert, die Polizei, die gelassen zuschaut und nur dann energisch einschreitet, wenn die jüdische Selbstwehr sich zu regen beginnt. Und das alles waren unmittelbare Berichte, von Waisen, die nach Amerika zu Verwandten geschickt wurden, von Erwachsenen, die immer noch nachdenklich dreinschauten, wenn sie erzählten, weil die Dinge eigentlich nicht glaubhaft waren. Denn seit wann erschlägt man Menschen, die nichts Böses getan haben?

Ich war in jenen Jahren, da Welle auf Welle der Pogromflüchtlinge erschien, schon alt genug, um nachdenken zu können. Es war die Zeit von meinem 13. bis zu meinem 17. Lebensjahr. Ich vermag die Erfahrungen von damals völlig getrennt zu halten von den Ereignissen späterer Zeit, zum Beispiel den Metzeleien von 1917 und 1918 in der Ukraine. Da sah ich die Dinge schon historisch. Aber damals führten sie mich zu einer Krise des Glaubens. Was hatten diese Menschen getan, daß man sie wie Hunde totschlug? Waren sie so schlecht gewesen? War es ihnen von Gott als Strafe verhängt? Und wenn es so war: wußte er wirklich kein anderes Werkzeug als einen verhetzten, ungebildeten, unmenschlichen Pöbel? Waren etwa jene so viel besser als wir, daß sie Richter spielen durften? Oder ... oder gab es ein Böses in der Welt, das eben stärker war als das Nicht-Böse, und ist es nicht Gottes Angelegenheit, in diesem Zweikampf Partei zu ergreifen? Aber – so folgerte ich – wenn ER nicht Partei ergreift, so mußt du selber Partei ergreifen. Von da an habe ich – bei aller Kritik nach innen – nach außen, den „Anderen“ gegenüber, ohne jede Bedingung und ohne jedes Bedenken die Partei des Juden ergriffen, denn an ihm sündigte die Welt mit der schwersten Sünde, die es für mein Gefühl gibt: mit der Sünde gegen die Gerechtigkeit.

Es mag dem Leser aufgefallen sein, daß ich bisher jenen Begriff nicht verwandt habe, den er wahrscheinlich in diesem Zusammenhang erwartet: den Begriff Antisemitismus. Das mag daran liegen, daß ich ihm als einem Schlagwort, als einem terminus technicus, wahrscheinlich erst viel später begegnet bin, als durch die anderen Erlebnisse meine Einstellung zu den Menschen der Umwelt schon eine gewisse Formung und Festigung erfahren hatte. Jedenfalls ist mir irgend eine erstmalige Begegnung mit einem ausgesprochenen Begriff des Antisemitismus nicht in Erinnerung. Also muß sie mich nicht sehr beeindruckt haben. Das sagt natürlich nicht, daß ich keine Zusammenstöße gehabt hätte, deren Ursache wohl eindeutig auf einer antijüdischen Einstellung Anderer beruhte. Der Ort, an dem solche Dinge vorkamen, war natürlich die Schule. Aber ich kann nicht sagen, daß das besonders einprägsame Erlebnisse waren oder daß ich unter diesen Zusammenstößen gelitten hätte. Es gab so wenig jüdische Kinder, die die Mittelschule besuchten, daß ich unweigerlich während meiner ganzen Schulzeit der einzige Jude in der Klasse war. Und nur in den unteren Klassen kam es gelegentlich zu Zusammenstößen. Da ich weder ein schlechter noch ein schwächlicher Schüler war, wurden diese Zusammenstöße in denkbar primitiver Form erledigt. Es kam jeweils zu mehr oder minder intensiven Prügeleien, und damit war die Sache erledigt. Die einzige negative Folge, die ich erinnere, war neben einigen Beulen und Narben eine schlechte Note im Betragen, ein Umstand, der mich nur zweimal im Jahre störte, wenn ich meinem Vater das Zeugnis zur Unterschrift vorlegen mußte.

Erst später, als ich die Universität besuchte, wurde das Problem „Antisemitismus“ aktuell. Ich trat vom ersten Tage an einer zionistischen Studenten-Verbindung bei, denn zwischen Schule und Universität hatte sich etwas ereignet, was meine Richtung entscheidend beeinflußte: ich hatte an einem zionistischen Kongreß teilgenommen. Das war ein sehr starkes Erlebnis. Es war, als weiche die ganze Welt mit all ihren kleinen Spannungen und Zusammenstößen zurück, und es blieb nur der Raum übrig, in dem Menschen meines Volkes aus aller Welt sich zu einem Bekenntnis und zu einer Willensbildung zusammenfanden. Ich war ungeheuer stolz auf diese Menschen, insbesondere auf die Jugend mit ihren zahlreichen hochgewachsenen, sportlichen Gestalten. Ein Nichtjude wird ein solches Gefühl nur nachempfinden können, wenn er etwa lange Zeit in eine Fremde verschlagen war und dann eines Tages mit Menschen seiner eigenen Gemeinschaft zusammentrifft.

Von da an war mein Platz ganz naturgemäß in den Kreisen der Zionisten, (mein Vater misbilligte es schweigend), und so wurde ich auch ein „zionistischer“ Student. Der äußere Rahmen dieses Lebens war wesentlich aufgebaut auf der Tatsache des Antisemitismus. Ohne fortgesetzte Raufereien mit antisemitischen Studenten war nicht auszukommen. Während wir eifrig jüdische Dinge lernten und viel diskutierten und ideologische Kämpfe mit nicht-zionistischen Studenten ausfochten, fochten wir zugleich mehr oder minder blutige Duelle mit den Antisemiten aus. Aber diese Art des Umgangs mit den „Anderen“ schien uns etwas, das eben durch die äußeren Verhältnisse geboten war, und es hatte für uns keinerlei Nachwirkung des Ressentiments. Ich erinnere jedenfalls, daß ich später, als ich eine zeitlang den Anwaltsberuf ausübte, in meiner Kanzlei einen juristischen Hülfsarbeiter einstellte, dem ich Jahre zuvor auf einer Mensur ziemlich übel mitgespielt hatte. Der Antisemitismus des deutschen Akademikers war einerseits ein Argument für die Begründung unseres Zionismus, und darüber hinaus kaum mehr als eine politische Tatsache. Daraus ergaben sich eben politische Kämpfe. Ich glaube, es war im Jahre 1911, als eine große Studentenversammlung in München den Antrag stellte, für jüdische Ausländer eine Prozentnorm einzuführen. Für uns war der Kampf dagegen so etwas wie ein politischer Sport, und daß ich bei dieser Gelegenheit unsanft von der Rednertribüne entfernt wurde, war einer der Unfälle, die man in Kauf nehmen mußte.

Dieses Jugendspiel hörte auf, ein Spiel zu sein, als ich zum ersten male, zu Beginn des Jahres 1913, nach Palästina ging. Es läßt sich in diesem engen Rahmen nicht beschreiben, was alles da auf mich eindrang, welche Unsumme von kleinen Wirklichkeiten, traumhaften Vorstellungen, historischen Erinnerungen, gefühlsmäßigen Verbindungen sich zusammenfanden, um ein Entscheidendes zu bewirken: die innere Ablösung von der Welt Europas; die Schaffung einer gelassenen Distanz zwischen jener Welt von gestern und der von morgen; die Überzeugung, daß unserem Volke noch einmal die Möglichkeit gegeben sei, Träger seines eigenen, von ihm selbst bestimmten Schicksals zu sein.

Ich will mich mit dieser Aufzählung der Ereignisse begnügen, weil es sich hier nur um eine bestimmte Aufgabe handelt: dem Nichtjuden an einem individuellen Fall zu zeigen, wie das Leben eines Juden schon in seiner Kindheit und in seiner Jugend unweigerlich ganz anders verläuft als das eines Nichtjuden; daß vor ihm Gelände der Erlebnisse ausgebreitet liegen, die sein ausschließliches Eigentum sind; daß ihn Dinge formen und beeindrucken, die für alle anderen Menschen nicht existieren. Wir sind schon deswegen anders, weil wir in der Kindheit anderes erleben und weil dieses Erleben seine speziellen Inhalte hat.

Noch ein anderes wird, wie ich hoffe, dem Leser klar geworden sein: die individuellen Voraussetzungen, von denen aus ich unsere Beziehung zu den „Anderen“ betrachte. Ich wage nicht, zu behaupten, daß es mir immer gelungen sei, das Ressentiment ganz auszuschalten. Aber ich habe mich immer bemüht, objektiv zu sein und aus einer klaren Grenzziehung zwischen hüben und drüben zu produktiven Forderungen für mein eigenes Volk zu kommen. –


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