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IX.
Religion und Volkstum.

Um bei dem heiklen Thema Religion von allem Anfang an Mißverständnisse auszuschließen, und um andererseits das Verständnis für unsere spezielle Situation in der Welt vorzubereiten, müssen einige Voraussetzungen geklärt werden. Zunächst einmal: hier wird nicht Theologie getrieben. Hier wird von Religion als einer fundamentalen Erscheinung im seelischen und geistigen Leben eines jeden Volkes gesprochen. Darum wird hier auch alles andere beabsichtigt als eine Diskussion mit Theologen, sei es mit denen von hüben oder von drüben.

Und sodann: man kann im Bezirk des Judentums nicht so einfach von Religion sprechen, wie man es für die europäische Welt kann. Die jüdische Religion ist keine europäische Religion. Es gibt in der hebräischen Sprache noch nicht einmal ein Wort für das, was man in Europa als „Religion“, bezeichnet. Man hat sich später mit der Entwicklung der philosophischen Schulung und unter dem Einfluß der geistigen Auseinandersetzung mit der Umgebung einige Hülfsbegriffe geschaffen. Das ist alles. Aber dieser Mangel an einem eigenen Worte ist nicht zufällig. Im Judentum ist die „Religion“ imgrunde genommen nichts anderes als die Gesamtheit aller Aktionen des Einzelnen und des Volkes, die Totalität all seiner Handlungen und Reaktionen im privaten wie im öffentlichen Leben. Das Verhalten ist Religion, und sein Urgrund ist der große Gehorsam gegen Gott.

Wir haben im Laufe der Jahrhunderte diese reine Konzeption, die in der Lehre der Propheten ihren höchsten Ausdruck gefunden hat, nicht aufrecht erhalten können. Wir haben diese Art der Religion eingebettet in kultische Handlungen, in eine Summe von Zeremonien, die zum Teil religiös sublimierte Volksbräuche waren, zum Teil priesterliche Vorschriften, und zum Teil die Übernahme von kultischen Aktionen, die wir von den Kanaanäern gelernt hatten, (und die von den Propheten immer wieder als unhistorisch bestritten wurden). Als wir dann in der ersten babylonischen Gefangenschaft saßen, haben wir angefangen, diesen kultischen Bestand auszubauen, weil er die wirksamste und sichtbarste Ersatzform für das bisherige Volksleben war, für das bisherige normale Leben und Verhalten in der Gemeinschaft. Und als wir dann in die große Verbannung hinausgingen, haben wir diese Formen mit einer auf den Sinai zurückgeführten Tradition gestützt und ihnen eine sehr bedeutende Funktion zugewiesen: die Uniformität des Juden überall in der Welt herzustellen. Das Volk mußte notwendig uniform bleiben, wenn jeder Jude irgendwo in der Welt bei jeder Gelegenheit und zu jeder Zeit dasselbe tun oder sagen oder vollziehen mußte. Diese Uniformität hielt das Volk als eine Einheit am Leben.

Aber das Leben, in dem wir diese gleichen Riten vollzogen, war kein freies Leben mehr in dem Sinne, wie wir in unserem eigenen Lande ein selbständiges Volksleben geführt haben. Da war das, was wir taten, wirkliches Verhalten. Jetzt wurde es immer mehr ein Tun, das heißt: die Befolgung der 613 Vorschriften, (248 Gebote und 365 Verbote), die entweder in der Thora standen oder von der rabbinischen Tradition daraus abgeleitet wurden. Jahrhundertelang hatte sich die Entwicklung im wesentlichen auf dieser Linie bewegt: die Gebote und Verbote zu halten, und außerdem noch eine Menge örtlich verschiedener Bräuche, vermehrt um gewisse Rudimente des Aberglaubens, die man hier und dort auf dem historischen Wege aufgelesen hatte. Es trat also hier eine Verschiebung des Schwergewichts vom Verhalten auf das Tun ein. Ich will hier garnicht die Frage untersuchen, wie weit zwischen ihnen eine klare Abgrenzung überhaupt aufrecht erhalten werden kann. Entscheidend ist nur eines: je länger das Volksleben unfrei war, das heißt, je länger es rings eingeklammert war von Bedingungen, die Andere uns setzten, von einer Atmosphäre, die wir nicht selbst bestimmen konnten, desto schwächer wird auch jenes lebendige, pulsende Eigenleben, aus dem nun einmal Religion unweigerlich entspringt. Die jüdische Religion ist eine Religion des diesseitigen Lebens. Sie ist von dieser Welt. Sie will den Menschen in seinem Leben erfassen und gestalten. Sie hat demnach einen einzigen natürlichen Raum: das freie und von ihm selbst bestimmte Leben dieses Menschen, und zwar dieses Menschen zugleich als Individuum und als Bestandteil seiner eigenen nationalen Gemeinschaft. Die Grundideen des Judentums haben im höchsten Sinne des Wortes übernationale, allmenschliche Geltung. Das ist die eine Seite des Problems. Aber wer sich nicht selbst aus dem historischen Zusammenhang herausreißt, kann nicht an der Tatsache vorübersehen, daß diese Religion, um mit der biblischen Terminologie zu sprechen, „dem Volke Israel gegeben“ wurde. Von der Theorie her gesehen ist das jüdische Volk immer noch der Träger der jüdischen Religion.

Und was ist mit der Praxis? Derjenige Jude, der die Religion in ihrer heutigen Form der Befolgung von Geboten und Verboten als die wirkliche jüdische Religion bezeichnet, kann natürlich behaupten, daß zwischen Theorie und Praxis ein Unterschied nicht bestände, und daß die Art, wie er sein Judentum betätige, die einzig mögliche Art sei, wie man Judentum überhaupt betätigen könne. Ohne eine Statistik aufstellen zu wollen, bezweifle ich, ob die Mehrheit der heutigen Juden so denkt. Es gibt zunächst einmal eine nicht unbeträchtliche Zahl von Juden, die zwar noch am traditionellen Judentum hängen, aber sie erfüllen nicht mehr alle Gebote und Verbote. Es sind bei ihnen nicht mehr 613. Sie haben eine ganze Serie davon abgestrichen, weil sie mit den Anforderungen des „modernen“ Lebens, das sie führen, nicht ohne Schwierigkeiten vereinbar sind. Die Motive sind in vielen Fällen wirtschaftlich. Wie kann man z. B. am Shabbat sein Geschäft schließen, wenn der Nachbar – sei es der jüdische, sei es der nicht-jüdische – das seinige offen hält? Und wie kann man an allen denjenigen Tagen, die die strikte Tradition als Fasttage vorschreibt, fasten, wenn man gleichwohl den Pflichten seines Berufes nachgehen muß? Und es gibt weiter eine Reihe von Vorschriften, denen man – aus seiner Einstellung als moderner Mensch her – keine große Bedeutung mehr zumißt, oder die man für veraltet und nicht mehr zeitgemäß hält. So werden in diesen Kreisen die 613 Gebote und Verbote je nach den örtlichen Bedingungen und nach der individuellen Einstellung vielfach reduziert.

Es gibt aber auch weiter eine bedeutende Zahl – es sind viele Hunderttausende – die eine Reduktion der Zahl 613 auf beinahe Null vorgenommen haben. Fast das einzige, was sie sich bewahrt haben – und das gilt noch nicht einmal für Alle – ist eine traditionelle Anhänglichkeit an die jüdischen Feste. Hier schwingt der alte Rhythmus des jüdischen Lebens in seinen letzten, stark verminderten Schwingungen nach. Und diese Schwingung reicht oft sehr weit. Sie reicht bis zu dem Juden, der sich um die Gebote der Tradition überhaupt nicht mehr kümmert, der aber einmal im Jahre, am Versöhnungstage, verspürt, daß die Hand des alten Gottes vom Sinai nach seinem Herzen greift.

Aber die Differenzierung geht noch weiter. Selbst unter denen, die am traditionellen Judentum hängen, (wir bezeichnen sie mit dem Fachausdruck Orthodoxie) sind die Varianten zahlreich. Sie sind es besonders hier in Palästina, wo es orthodoxe Gruppen gibt, die sich derartig gegenseitig ablehnen, daß sie nicht einmal bereit sind, sich in Fragen der Erziehung der Jugend zur Beratung an einen Tisch zu setzen. Und auf der Extremseite gibt es Gruppen – auch sie finden sich hier in Palästina, und sie sind sogar sehr aktiv – die aus der Zeit ihrer europäischen Assimilation das alte Schlagwort übernommen haben, daß Religion Opium für das Volk sei, und die dementsprechend aus der Ablehnung aller religiöser Formen und aus einem fröhlich zur Schau getragenen Gottesleugnertum ein Prinzip, zumindest ein politisches Prinzip machen. Dabei ist anzumerken, daß die Mehrzahl dieser Menschen aus einem Bezirk stammt, in dem die strenge Orthodoxie absolut herrschte. Es muß sich hier also wohl um die extreme Reaktion auf eine Bindung handeln, gegen die man sich aufgelehnt hat oder die aus sich selbst zerbrochen ist.

Um den Bericht dieser religiösen Differenzierung abzuschließen, muß noch auf jene große Gruppe hingewiesen werden, denen der Zusammenhang mit der traditionellen Form und der religiöse Glaube an die verpflichtende Kraft dieser Formen verloren gegangen ist; die aber des Glaubens sind, daß ein Volk wie das unsrige ohne gebundene und verpflichtende Lebensformen nicht existieren kann. Sie vertreten folglich den Gedanken, daß neue Formen aus dem Zusammenleben der Menschen hier in Palästina wieder geschaffen werden müssen.

Das Bild, das sich nach dieser kurzen Skizzierung darstellt, zeigt klar, daß das religiöse Gebäude des Judentums als ein alle Juden umschließender Raum nicht mehr besteht. Wenn man sich nicht mit der etwas gewagten Idee begnügen will, daß die einen – diejenigen innerhalb des Hauses – noch Juden seien, während die anderen – diejenigen außerhalb des Hauses – nicht mehr Juden seien, dann muß man schon zu dem Schluß kommen, daß sich das Judentum hier in einem Prozeß der Umformung und Neugestaltung befindet, und daß es nicht mehr möglich ist, die Religion als das Kriterium des Judentums von heute zu betrachten. Wir haben es hier auf dem Gebiete der Religion mit einem Prozeß zu tun, der sich in diesem letzten Jahrhundert auch unter allen europäischen Völkern eingestellt hat: mit dem Prozeß der Säkularisation, der Verweltlichung der Religion. Wir haben diesen Prozeß mitgemacht, aus inneren wie aus äußeren Gründen, aus dem Nachlassen der eigenen inneren Spannung wie aus der Assimilation an unsere Umgebung. Es ist wahr, daß früher einmal die Wahrung der religiösen Formen wesentlich dazu beigetragen hat, das Judentum als solches am Leben zu erhalten. Heute liegen die Dinge anders. Die Wahrung der religiösen Form hält ihre jeweiligen Bekenner im allgemeinen Rahmen des Judentums. Aber das gleiche Ergebnis wird erreicht durch andere Motive und durch anderes Verhalten.

Wir haben in anderem Zusammenhange bereits die messianischen Bewegungen im Judentum erwähnt und gesagt, daß ihre erste und ursprüngliche Funktion die war, die Rückkehr des verbannten Volkes in die Heimat zu bewirken. Der Gedanke ist langsam seiner national-religiösen Wirklichkeit entkleidet worden. Er wurde ein Glaube an das Wunder. Er ist am Ende des 19. Jh. wieder aufgetaucht, aber diesesmal als ein realer und realistischer Gedanke, jedes Wunders entkleidet, beinahe nackt in seiner politischen Konzeption, und nur getragen von dem unausrottbaren Gefühl, daß die Fortexistenz dieses Volkes und seine Regeneration mit allen Mitteln gefördert werden müssen. Die Bewegung, die diesen modernen, sachlichen Messianismus trägt, heißt die zionistische Bewegung. Ihre emotionelle Kraft bezog sie aus dem Judentum des östlichen Europa, wo die alte Liebe zu Zion unter den Massen noch so als Funke bereit lag, daß er wieder angefacht werden konnte. Ihre ideologische und organisatorische Kraft bezog sie wesentlich aus den Gedanken und Aktionen eines Mannes, der ein typischer Vertreter der jüdisch-europäischen Assimilation war. Es ist ein ziemlich müßiges Beginnen, darüber zu streiten, wieweit der Zionismus europäische Gedanken des Nationalismus, des Staates, der politischen Gestaltung usw. einfach imitiert hat oder wieweit der Gedanke des Nationalismus einfach jene Teilkomponente des Judentums darstellt, die noch lebensfähig geblieben war und die wieder zu Aktionen angespornt werden konnte. Tatsache ist jedenfalls, daß sich im Gefolge dieser zionistischen Bewegung jüdische Gruppen in der Welt bildeten, die das Recht des jüdischen Volkes auf Heimkehr in die historische Heimat anmeldeten.

Der Ausdruck „jüdische Gruppen“ ist hier mit Bewußtsein gewählt, denn es handelte sich – insbesondere in den europäischen Ländern – um nicht mehr als relativ kleine und versprengte Gruppen. Die große Majorität der Juden stand diesem Gedanken – besonders in seinen Anfängen – nicht nur ablehnend gegenüber sondern in aktiver Feindschaft. Die Mehrzahl der Juden lehnte es ab, sich zu einer Bewegung zu bekennen, die eine selbstverständliche Voraussetzung hatte: die Juden sind ein Volk, und wollen wie andere Völker auch, wieder ein normales Eigenleben führen.

Vor diesem Gedanken schreckte die Majorität des Judentums zurück. Zu einem Teil waren sie von der lebendigen Einheit ihres Volkes derartig weit abgelöst, daß sie wirklich keine nationale Bindung mehr empfanden. Sie hatten sie längst eingetauscht gegen eine neue nationale Bindung: an ihre jeweiligen Wohnländer. Da lebten sie, mit ihrem religiösen Bekenntnis zum Judentum und – wie wir soeben gesehen haben – genau so oft ohne jedes religiöse Bekenntnis überhaupt, und dort wollten sie leben bleiben. Der Hinweis darauf, daß dieses Leben unter anderen Völkern durchaus kein unbestrittener Zustand sei, und daß der nie ausgestorbene antijüdische Mythos, vermehrt um den modernen Antisemitismus, immer noch gegen sie und ihre Existenz unter den Völkern gerichtet sei und jeden Tag irgendwo wieder ausbrechen könne – diesen Hinweis lehnten sie als unbeachtlich ab. Sie konnten zwar die Tatsache des Antisemitismus nicht leugnen, aber sie hatten dazu ihre eigene Einstellung. Zum Teil erkannten sie ihn richtig als einen Dauerzustand, aber sie wählten ihm gegenüber den Weg, den das Schilfrohr gegenüber dem Sturme wählt: sich jeweils nachgibig ducken, um sich dann in alter Kraft wieder aufzurichten. Zum Teil wählten sie auch eine andere Haltung: sie versuchten, den Antisemitismus zu bekämpfen. Sie waren durch keine historische und keine psychologische Einsicht daran gehindert, zu glauben, daß man aus der Seele eines anderen etwas ausrotten könne, was er garnicht will, daß es ausgerottet werde, das ihm im Gegenteil einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Affekte liefert. Sie erledigten diesen Tatbestand dadurch, daß sie aus eigener Machtvollkommenheit eine Unterscheidung machten zwischen denjenigen Menschen eines Volkes, von denen sie wußten oder annahmen, daß sie Antisemiten waren, und denjenigen, die es ihrem Wissen oder ihrer Vermutung nach nicht waren. Diese Letzteren erklärten sie als die echten und wahren Vertreter des Volkes, die Ersteren hingegen als unechte Vertreter. Daß solche Unterscheidung aus eigener Machtvollkommenheit, das heißt hier: aus echter Bereitschaft zur Selbsttäuschung, zuweilen lebensgefährlich sein kann, haben die Vorgänge der letzten Jahre bewiesen.

Dann gab es noch eine weitere Gruppe, die in wundervoller, blinder Gäubigkeit ihr Vertrauen zu der sogenannten Menscheit auf die höchste, nicht mehr mit Menschenaugen zu erblickende Höhe hinaufhoben und vom Ende der Zeiten sprachen, in denen auch der böse Antisemitismus einmal zuende gehen und alle, alle Menschen als Brüder liebend vereint sein würden.

Aber fast bei allen gleichmäßig wirkte ein besonderes Argument mit: „Was wird die Welt dazu sagen? Wird sie nicht sagen: ‚Ihr wollt eine Nation sein? Dann müssen wir (Gott sei gelobt!) die Emanzipation rückgängig machen. Dann (Gott sei gedankt!) gehört ihr nicht mehr zu uns. Dann müßt ihr dahin gehen, wo ihr eine Nation sein könnt.‘“ Die logische Fortsetzung dieser Antwort hörten sie nicht mehr, nicht einmal mit dem inneren Ohr. Und sie lautet: „Aber wenn ihr keine Nation sein wollt, wird es selbstverständlich immer noch zweifelhaft bleiben, ob ihr nun gerade zu unserer Nation gerechnet werden könnt. Und wenn ihr andererseits in das Land gehen wollt, in das wir dringend wünschen, daß ihr dahin geht, so ist damit natürlich noch lange nicht gesagt, daß wir das zulassen werden ...“ So oder so: das Argument war stark. Es machte weite Kreise des Judentums zu Feinden des Zionismus.

Und das Ergebnis war, daß der Zionismus im Judentum der Welt nicht in einem Maße Fuß gefaßt hat, daß er die nationale Komponente der jüdischen Existenz entscheidend hätte beeinflussen können. Zu der Aufspaltung unseres religiösen Bezirks kommt also die Aufspaltung unseres nationalen Bezirks hinzu. Und die Aufspaltung geht so weit, daß nicht einmal dieses Land, Palästina, eine Einheit des nationalen Bekennens aufweist. Würde es sich dabei nur um eine Verschiedenheit der nationalen Motive handeln, so könnte man sagen: diese verschiedenen Motive machen eben unsere Nation aus. Aber es ist so, daß die politische Situation Europas nicht wenige Juden in dieses Land gebracht hat, die hier nichts suchen als eine zeitliche Unterkunft, und die auf Weiterwanderung oder Rückwanderung ungeduldig warten. Denn diese Vertreibung aus ihren Wohnsitzen von gestern wird von Hunderttausenden von Juden genau so empfunden, wie ihre Urväter von einst ihre Vertreibung aus dem Heiligen Lande empfanden. Ihre Urväter mußten das Gelobte Land verlassen. Sie mußten es auch. Ihre Urväter verzehrten sich in der Sehnsucht nach Kanaan. Sie tun es auch. Ihre Urväter warteten auf den Messias. Sie warten auf das Ende des Krieges und den Sieg der Alliierten und die Friedenskonferenz. Ihre Urväter waren bereit, ihr Leben von gestern wieder aufzunehmen und es fortzusetzen und Gott dafür zu danken. Sie sind zu gleichem bereit. Sie warten in Changhai und Buenos Aires und Bogota. Ja, sie warten sogar in Jerusalem. Sie sind im grauenhaftesten Sinne des Wortes so heimatlos auf der Welt, daß sie bereit sind, selbst in das Land der Mörder zurückzugehen, wo man die ihrigen wie Tiere totgeschlagen hat.

Ich beneide aus tiefstem Herzen jedes Volk, dem diese Monstrosität der geschichtlichen Entartung erspart geblieben ist. Wir haben sie als Bestandteil unseres problematischen Aufenthaltes in den Ländern der Welt zu tragen und zu ertragen. Sie unterstreicht nur noch, daß selbst die Katastrophe dieser Gegenwart nichts bei uns gestaltet und geändert hat. Unser Verfall geht weiter, während die Umweltbeziehung im besten Falle konstant bleibt. Denn wir sind heute im Prinzip genau so ausgesondert geblieben, wie wir es in den Anfängen unseres Aufenthalts in der Welt waren. Wir sind genau so optisch geblieben, wie uns die Einstellung der Welt durch jahrhundertelanges Bemühen optisch gemacht hat. Der antijüdische Mythos ist am Leben geblieben wie je, und hat nur eine Vielfältigkeit von Formen angenommen. Diese Vielfältigkeit reicht vom nackten Mord über Entrechtung und Vertreibung und Raub bis zu dem mehr oder minder sublimierten Antisemitismus der demokratischen Länder.

Über diesen Antisemitismus der demokratischen Länder möchte ich ein besonderes Wort sagen. Nach der ganzen bisherigen Darstellung wird klar sein, daß ich nicht im Entferntesten die Absicht habe, diesen Antisemitismus anzugreifen; daß ich durchaus bereit bin, die historische Bedingtheit dieser Haß-Einstellung anzuerkennen. Er ist ein naturgeschichtlicher Aspekt der Spezies europäischer Mensch. Ich bin nicht berechtigt, von dieser Spezies Dinge zu verlangen, die außerhalb ihrer Natur liegen. Ich bin aber auch nicht bereit, Einzelerscheinungen zu überschätzen und aus ihnen allgemeine Schlüsse zu ziehen. Wenn heute die demokratischen Länder den Juden im Rahmen ihres totalen Krieges zu allen Leistungen heranziehen, die der Krieg mit sich bringt, und wenn der Jude an allem teilnimmt, woran er teilzunehmen hat, so ist das von beiden Seiten nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit, die sich aus dem staatsrechtlichen Status des Juden und aus der Konstitution der einzelnen Nationen ergibt. Hier und da wird sogar vonseiten des Juden ein besonderer Enthusiasmus hinzukommen, weil ihm Gelegenheit geboten wird, seine Zugehörigkeit zu den Nationen seiner Wohnländer zu beweisen. Und hier und da wird sogar von Freunden der Juden (Wehe, daß wir so gehaßt sind, daß wir unsere Freunde auf Listen publizieren müssen!) eine besondere Anerkennung dieser Bereitschaft und Leistung zum Ausdruck gebracht werden. Ich will ferner keineswegs die Tatsache verkleinern, daß aus manchen Quartieren der Geistlichkeit und aus den Lagern mancher christlicher Gruppen Stimmen zugunsten der Juden und der Ruf nach ihrer gerechten Behandlung hörbar werden. Ich will weiter ausdrücklich anerkennen, daß manche demokratischen Länder durch Aufnahme von Flüchtlingen einen gewissen Beitrag zum Problem der Humanität geleistet haben; und es ist überflüssig, Rechnungen anzustellen, welche Vorteile sie von der Aufnahme begabter Flüchtlinge gehabt haben, denn es ist ihr gutes Recht, die Vorteile wahrzunehmen. Ich will alle diese Dinge um so mehr anerkennen, als ich sie durchaus nicht für selbstverständlich halte. Sie sind, wenn man das Verhalten in der Vergangenheit überblickt, besondere Leistungen, die man als solche notieren und dankbar anerkennen muß.

Wir stehen mitten in einem gewaltigen historischen Prozeß, in dem die Geister in Wallung sind und in dem sich die politischen Parolen in Formulierungen bewegen, von denen heute noch nicht abzusehen ist, wie sie sich einmal endgültig gestalten werden. Das kommt ganz darauf an, ob dieser Krieg eine echte, tiefe seelische Erschütterung mit sich gebracht hat, eine wirkliche fundamentale seelische Umstellung, oder nur eine erhebliche Störung des Gleichgewichts, die möglichst schnell wieder beseitigt werden muß. Es ist schon einmal in der Geschichte der Völker vorgekommen, daß sie in besonderen Spannungszuständen Ideen gedacht haben, die sie realisieren wollten und doch nicht realisieren konnten. Die französische Revolution dachte in Begriffen der Freiheit Gleichheit, Brüderlichkeit, und landete im napoleonischen Imperialismus. Auch das 19. Jahrhundert begann mit Begriffen der Vernunft und Humanität zu denken und landete im Despotismus und Absolutismus. Auch das 20. Jahrhundert begann in Kategorien des Weltfriedens zu denken und landete in einem dreißigjährigen Kriege. Es gibt immer Interessen in der Welt, die stärker sind als menschliche Ideen, und es gibt immer Urtriebe unter den Völkern und Gemeinschaften, die das Fundament des Vernünftigen und Humanen immer wieder erschüttern. Man soll daher die Völker nicht so sehr darnach werten, was sie in dieser oder jener Situation erklären und als ihren Willen ausgeben, sondern nach den Möglichkeiten, die in ihnen verborgen liegen; nach denjenigen Möglichkeiten, die immer wieder durchbrechen, oder – wenn sie am offenen Durchbruch verhindert sind – sich in irgend einem Winkel einen Ausdruck erzwingen.

So mag man volles Vertrauen zu der Ehrlichkeit der Erklärungen haben, die die demokratischen Länder aller Welt heute abgeben, und man wird doch nicht eine Sekunde vergessen dürfen, was sie gestern und vorgestern dachten und taten oder zu tun unterließen. Sie sind alle nicht so stark wie ihre Deklarationen. Sie sind immer nur so stark wie die in ihnen verborgenen Möglichkeiten. Und niemand muß das mehr im Auge behalten als der Jude, jedenfalls der Jude, der nicht bereit ist, Geschichtsabläufe zu bagatellisieren oder gar als überholt und erledigt zu verdrängen. Mögen die spontanen Erklärungen und Aktionen auch vielleicht in vielen Einzelfällen dem einzelnen Juden oder kleinen Gruppen von Juden zugute kommen und ihnen im Augenblick wirklich nützen: nichts ist damit ausgesagt über die Dauer dieses Nutzens, über die Dauer dieses Zustandes, und nichts ist damit ausgesagt für die Wirkung auf das jüdische Volk als solches, für die Rückwirkung auf die Situation der Judenheit in der Welt. Wir haben – soweit für uns das Judentum noch eine bewußte und existente Wirklichkeit ist – zu viel an geschichtlichen Erfahrungen gesammelt, um nicht in unserem blinden Vertrauen tiefgehend erschüttert zu sein. Wir sind gezwungen, mit Möglichkeiten zu rechnen, die sich eines Tages offenbaren können. Es besteht für die demokratischen Länder ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, daß sie nie über jene Möglichkeiten verfügen werden, über die das ehemalige Kulturvolk der Deutschen oder ein kulturloses Volk wie die Rumänen verfügen. Aber die die Verschiedenheit des menschlich-zivilisatorischen Niveaus, die ich hiermit anerkenne, verlangt auch eine andere Wertung dessen, was in diesen Bezirken geschieht. Ein Totschlag, vollzogen auf dem Niveau eines rumänischen Bauern, entspricht in seinem moralischen Gewicht einer Verleumdung, vollzogen auf dem Niveau eines gebildeten Europäers. Ein offener, nackter Plan zur Ausrottung der jüdischen Gemeinschaft, konzipiert im Gebiete einer totalitären Denkform, würde vollkommen mit einem Plan korrespondieren, der in demokratischen Gehirnen gebildet wird und etwa zum Ziele hat, die territoriale und nationale Sammlung der Juden irgendwo in der Welt mit politischen Mitteln zu verhindern. Kulturelle und zivilisatorische Höhe bringt gewisse geistige Verpflichtungen mit sich. Der etwas strapazierte Begriff des noblesse oblige wäre hier anwendbar.

Auf dieser hier angedeuteten Ebene sind die demokratischen Länder nicht arm an Möglichkeiten. Sie haben eine Fülle interessanter Beispiele aus der Literatur und aus der Haltung einer sehr einflußreichen Intelligenzschicht aufzuweisen, die den unerledigten Hintergrund eines antijüdischen Gefühls aufhellen. Aus der Mappe, in der ich solche historischen Belege sammle, seien zwei ganz beliebige Beispiele herausgenommen. Da ist zunächst Herr G. B. Shaw. Ich will ihn gewiß nicht ernster nehmen, als er sich selbst bei manchen Gelegenheiten wünscht genommen zu werden. Aber da hinter all seiner gespielten Unernsthaftigkeit doch der Wille spürbar ist, grabernst genommen zu werden, mag er mit einem Briefe zitiert werden, den er am 24. Oktober 1932 an die Redaktion einer jüdischen Zeitung in Bukarest geschrieben hat: “The Jews are the most warlike and intolerant race known to history, and are proud of it. The Jew must either forget that he is a Jew and be content to be a human being, or the Gentiles will be forced in self-defence to exterminate him.”

Hier gibt uns Herr G. B. Shaw in dankenswerter Weise in einer Nußschale den Beleg für das, was wir bisher gesagt haben, und eine schlechthin vollkommene Illustration nicht nur einer antijüdischen Einstellung, sondern auch eines wohl ausgebildeten und ziemlich populären antijüdischen Mythos. Er eröffnet sein Urteil mit einem historischen Resümee, demgegenüber man sich zu der Frage bewogen fühlen könnte: „Wer hat Ihnen das eigentlich erzählt?“ Aber wir wissen ja, daß es unzulässig ist, Affekten gegenüber nach Beweisen durch Tatsachen zu fragen. Solche Affekte haben ihre feststehenden Formeln und brauchen keine objektiven Wahrheiten. Sie können implizit unterstellen, daß nicht die Römer, sondern wir die Welt bekämpft haben, und daß Julius Caesar schon gewisse verdächtige Sympathien für die Juden hatte, als er die britischen Inseln besetzte; und daß nicht die Spanier, sondern wir eine Armada ausgerüstet haben, und daß nicht gewisse imperialistische Völker, sondern wir uns zu Zwecken der kolonialen Ausbeute fremde Länder angeeignet haben. Und dann kann man getrost zu einer kulturhistorischen Folgerung übergehen: das intoleranteste Volk der Welt! Darum haben wir alle europäischen Völker nach einander aus ihren Wohnsitzen vertrieben, darum haben wir sie unter das Sonderrecht der Fremden gestellt, darum haben wir sie mit Zwang und Gewalttat zu unserem Glauben bekehren wollen, darum haben wir ihre Bibel verbrannt, ihr Leben auf ein Minimum reduziert, ihre geistigen Leistungen entwertet und sie folglich – in schlichter, kindlicher Logik – außerhalb der Kategorie der „human beings“ gestellt.

Die Aufforderung des Herrn G. B. Shaw, zu vergessen, daß wir Juden sind, kommt gewiß aus dem Herzen eines gutwilligen Europäers, der mit diesem Rat etwas Gutes für die Welt bezweckt. Leider ist der gute Rat an Verhinderte und an Unwürdige verschwendet. Was die Verhinderten anlangt: es gibt zweifellos Juden, die bereit wären, dem weisen Rat zu folgen und alles zu vergessen, was überhaupt mit ihrem Judentum zu tun hat. Sie sind subjektiv bereit, sich auszulöschen, sich total zu assimilieren. Aber sie können mit dieser Bereitschaft nichts anfangen. Es gibt keine objektive Bereitschaft auf der Gegenseite, die Assimilation zu akzeptieren. Denen auf der Gegenseite, die diese Bereitschaft von sich behaupten – Herrn G. B. Shaw eingeschlossen – versage ich ohne weiteres den Glauben. Sie sagen nicht die Wahrheit. Sie sind – zumindest unbewußt – geistig unehrlich. Sie stehen mit einem vorweggenommenen und festgefügten Urteil mitten in einem soliden antijüdischen Komplex. Sie setzen mit anderen Vokabeln die Ideologie der Emanzipationszeit fort. Sie wollen den Juden zum Verschwinden bringen, indem sie ihn im formlosen Meer der human beings ertrinken lassen. Auf eine historische Formel gebracht, lautet der Tatbestand: früher war die Assimilation des Juden unmöglich, weil er nicht wollte. Heute ist sie selbst bei den Willigen unmöglich, weil die anderen nicht wollen. Das Problem ist fixiert.

Aber hinzu kommen die vielen Unwürdigen, die den Rat nicht annehmen wollen. Das liegt nicht am Begriff „human being“. Der ist ihnen nicht fremd. Der war diesem Volke bereits sehr vertraut und war der Grundpfeiler ihrer ethischen Lehre, als die europäischen Völker noch jenseits der Schwelle der Kultur überhaupt standen. Aber sie wollen nicht, weil ihnen dieses Angebot nicht solide genug erscheint. Wir werden in der Schlußbetrachtung im Einzelnen davon sprechen, was diese unwilligen Juden sich als Leistung ihres Judentums noch erwarten. Unterstellen wir hier erst einmal, daß sie überhaupt den Willen haben, zum Problem der Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens noch einen Beitrag zu leisten. Dann erscheint der Begriff „human being“ in dem Zusammenhang, wie er in dem Zitat verwandt worden ist, als absolut unzulänglich und innerlich verfälscht. Ich spreche hier garnicht von der simplen Arroganz, mit der Jude-sein und human being von einander abgegrenzt werden. Diese Arroganz ist, wie wir gesehen haben, hereditär und damit konstitutionell. Ich spreche lediglich von der Bereitschaft der „human beings“ auf der Gegenseite, uns die Austilgung anzudrohen, wenn wir uns nicht selber austilgen.

Diese Drohung kann theoretisch auf zwei Voraussetzungen beruhen. Sie kann darauf beruhen, daß diese human beings sich dieses Begriffes aus den Grundlehren des Judentums bemächtigt haben und ihn jetzt gegenüber dem inzwischen inhuman gewordenen Volke als moralischen Anspruch geltend machen. Das mag eine subjektiv mögliche Einstellung sein. Objektiv scheint sie durch das, was diese human beings im Augenblick tun, keineswegs gerechtfertigt. Oder die Drohung kann auf etwas anderem beruhen: auf der tief innerlich empfundenen Notwendigkeit, die Welt der human beings vor dem Generalangriff der unhuman beings zu schützen, und zwar, wie es Herr Shaw so schön und schlicht ausdrückt: in self-defence ... und hier stehen wir wieder mitten in dem alten, wohlgefügten Mythos der Urzeiten. Wieder fühlt sich eine ungeheuer große Majorität berufen, sich gegen eine winzige Minorität zur Wehr zu setzen. Wieder sucht der Heide, statt in sich selbst, an den Horizonten, wo die böse Kraft liegt, die ihn in seiner Existenz als human being gefährdet. Wieder trägt eine im tiefsten Grunde unsichere Welt verdächtige Motive in andere hinein. Wieder wird der Schreckensruf erhoben: die human beings sind in Gefahr! Wieder wird in gerechter Selbstverteidigung ein Kreuzzug angedroht. Wieder bricht hier die vererbte panische Heidenangst durch, vermehrt um das schlechte Gewissen, das immer im Untergrunde mitschwingt, wenn man Historie gar zu sehr vergewaltigt und seinen Anteil daran allzu kühn leugnet.

Das Eingehen auf diese Dinge rechtfertigt sich aus der Tatsache, daß das oben genannte Zitat für hundert andere steht, die hier nicht gebracht werden, daß es also ein typisches Beispiel ist. Und so wollen wir uns bei dem zweiten Beispiel gleichfalls auf eines beschränken, dem der gleiche typische Wert zukommt. Das ist ein aktuelles Buch von Douglas Reed: All Our To-Morrows. Hier spricht ein begabter und intelligenter Journalist und ein glühender Patriot über seine Hoffnungen und Erwartungen und Ängste für die zukünftige Gestaltung seines Volkes, des Weltfriedens, der großen Gerechtigkeit auf Erden und der idealen Demokratie in seiner Heimat. Er lebt mit vielen Hoffnungen und mit zwei ausgesprochenen Angstphantomen, zu deren Bekämpfung er immer wieder und in endlosen Wiederholungen aufruft: der Tory-Regierung und den Juden. Aber während er sich bei der Beurteilung der Torys noch um eine gewisse Objektivität bemüht, begnügt er sich dem Juden gegenüber mit dem fadenscheinigsten Schein der Objektivität. Hier verläßt ihn seine Exaktheit in der Feststellung von Fakten ganz spontan. Hier wird ein seriöser Mann in seinem Haß albern und läppisch. Aber sein Hass ist vollkommen uninteressant und geht in der Massenhaftigkeit gleicher Beispiele unter. Interessant ist das Aufhören jeder Hemmung, sobald der Begriff Jude auftaucht, und das Vorbringen von pigeon-hole-Urteilen, die auf Vorrat dazuliegen scheinen. Interessant ist sein Wille zum quod erat demonstrandum. Und hier bricht sich der Mythos wieder hemmungslos Bahn. In das Heim des einfachen, friedlichen, harmlosen, garnicht argwöhnischen Kompatrioten hat sich mit tausend Listen und Tücken ein „Fremder“ eingeschlichen. Er mag zahlenmäßig vielleicht nur ein pro Mil betragen, aber er gehört jenem gefährlichen, mächtigen, die ganze Erde unterwühlenden Volke an, das man auf der einen Seite von Land zu Land jagt, und das sich dabei merkwürdigerweise doch zugleich diese Länder erobert. Wieder bricht hier die panische Heidenangst durch, und er beschwört seine Kompatrioten daß sie sich von diesem Fremden nicht die Frucht ihrer Arbeit, ihrer Mühe, ihrer Teilnahme am Kriege entreißen lassen sollen! Er muntert sie auf, die Sache selber in die Hand zu nehmen, denn seine eigene legitime Regierung, die Torys, tun nichts gegen diese Gefahr. Er ist geschickt genug, die beiden Angstphantome so oft und so bezeichnend in eine gegenseitige Beleuchtung zu stellen, daß auch der schlichteste Leser nicht den Wink verfehlen kann: „Selbst bis in unsere Regierung erstreckt sich ihr Einfluß! Sie sind nicht mehr ante portas! Sie sind schon diesseits der Mauern!“ Also rechtfertigt sich wieder der Aufruf zur self-defence. Wieder der vertraute alte Ruf, der zuletzt in einer verwandten germanischen Sprache hörbar wurde.

Der Leser möge mir verzeihen, daß ich dieses zeitlose Problem mit Gestalten belaste, von denen morgen niemand etwas mehr wissen wird. Aber ich möchte noch einmal klar stellen: es handelt sich hier weder um eine Auseinandersetzung mit Herrn Shaw noch mit Herrn Reed, (der vielleicht nicht zufällig ein Bewunderer des Herrn Shaw ist), sondern um die Beibringung typischer Beispiele und Belege für eine geistige Haltung, die eben ihrer „geistigen“ Haltung wegen und wegen der kostbaren Güter, die sie verteidigen will, auch eine ständige geistige Beeinflussung ausübt, und zwar genau in der Richtung, wie wir sie oben angegeben haben. Grundhaltungen des antijüdischen Gefühls erfahren somit aus diesen Quellen neue Belebung, und sie sorgen dafür, daß das Problem unvergessen und der Mythos dauernd aktuell bleiben.

Daß wir uns bisher mit dieser Seite des Problems so intensiv beschäftigt haben, soll durchaus nicht das Zugeständnis bedeuten, daß es sich hier um unser Problem handle. Nein, es ist ganz entschieden ein Problem des Nichtjuden. Es ist sein Antisemitismus, nicht der unsere; es ist seine Mythenbildung, nicht die unsere, und sein Fremdheitsgefühl, und nicht das unsere. Aber es ist immerhin die Welt, die uns umgibt und in der wir leben, und wir sind die Objekte dieses Problems, und an uns wirkt es sich aus. Unser Interesse ist daher von ständiger Aktualität, und es konzentriert sich auf die Frage, (die so viele Juden überhaupt unwillig sind zu stellen): wie weit unsere Kräfte reichen, unter diesen Bedingungen zu existieren; wie weit wir von ihnen zum aktiven Widerstand angeregt oder zum schlaffen Nachgeben deprimiert werden; wieweit sie uns dazu dienen können, Konsequenzen zu ziehen und uns wieder um eine eigene Gestaltung zu bemühen, oder die Deformierung weiter geschehen zu lassen.

Dabei besteht die große Schwierigkeit eben darin, daß wir – als Volk, als Nation, als eine Gemeinschaft – in einen Zustand der Deformierung geraten sind. Wir sind das vorläufige Resultat von fast zweitausend Jahren Existenz unter nicht normalen Bedingungen. Wir wollen die wesentlichen Züge dieser Deformation jetzt einmal zusammenfassen.

Wir sind als Volk aufgeteilt worden über die verschiedensten geographischen Räume. Die Verschiedenheit der Räume hat jene natürlichen Auswirkungen gehabt, die sich eben einstellen, wenn Menschen lange Zeit in einem Lande mit seinem besonderen Klima und seinen besonderen Lebensbedingungen wohnen: sie haben den jüdischen Menschen auch äußerlich, physiognomisch der Umwelt weitgehend angeglichen. Wer zum Beispiel aus Palästina, dem heutigen Sammelbecken von Juden aus aller Herren Länder, einen einheitlichen jüdischen Typus herauslesen will, verspricht mehr, als er halten kann. Er wird nicht einmal imstande sein, aus Sitten und Lebensformen etwas Gemeinsames herzuleiten, weil es davon jene Vielfältigkeit gibt, die dem jeweiligen geographischen Herkommen entspricht. Man kann beinahe die Formel aufstellen, daß der Verlust des jüdischen Typus im direkten Verhältnis zur Intensität der Assimilation an die einzelnen Wohnländer steht. Dieser Verlust geht so weit, daß zuweilen der Eindruck rassenmäßiger Verschiedenheit erzielt wird. Er ist dort am stärksten, wo die bewußte oder unbewußte Nachahmung des Schönheitsideals der Umgebung sich bis in das physiognomische hinein ausprägt. Daß wir darüber hinaus die 2000 Jahre Fremde nicht ohne rassenmäßige Beimischungen überstanden haben, ist selbstverständlich.

Wir sind darüber hinaus aber auch ein Volk mit weitgehender geographischer Unstabilität geworden. Wenn man die früheren Jahrhunderte mit ihren regelmäßigen Massen- und Zwangsaustreibungen außer Acht läßt, bleiben für das ganze letzte und das gegenwärtige Jahrhundert immer noch wesentliche Räume übrig, aus denen der Jude auswandern mußte, sei es infolge wirtschaftlichen Druckes, Sondergesetzgebung, Pogrome oder Massenverfolgungen. Diese Unstabilität hat weitgehende wirtschaftliche und psychologische Folgen, die beinahe untrennbar mit einander verbunden sind.

Auswanderung ist in fast allen Fällen mit der Notwendigkeit belastet, die wirtschaftliche Existenz neu aufzubauen. Ob es dem Auswandernden möglich ist, seinen gestrigen Beruf fortzusetzen, oder ob er irgend eine Chance ausnutzen muß, die sich ihm bietet, ist dafür gleichgültig. Im einen wie im anderen Falle muß er in ein neues Wirtschaftsgefüge eindringen. Dabei mag er zuweilen wesentliche Lücken mit einem wertvollen Beitrag ausfüllen. Immer aber zwingt ihn seine Situation zu einer besonderen Zielstrebigkeit und Emsigkeit. Er kann, da er im allgemeinen nicht als Rentner kommt, nicht gelassen abwarten, bis er in den Wirtschaftsprozeß aufgenommen wird. Er muß darum kämpfen. Er ist bereit, seinen Lebensstandard deswegen zu vermindern. Er ist gezwungen, besonders hart, zuweilen rücksichtslos im Konkurenzkampf zu sein und sich einen Fußhalt zu schaffen, den andere schon besitzen. In Zeiten allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwunges mag sein Erscheinen in dem neuen Wirtschaftskreise übersehen oder gar als fördernd empfunden werden. Aber bei dem geringsten wirtschaftlichen Rückschlag wenden sich die Menschen des neuen Wirtschaftskreises mit ihrem ererbten und also legitimen Anspruch auf Existenz sofort gegen den Einwanderer, dessen Anspruch sie als illegitim bezeichnen. Aber schon in stabilen Wirtschaften, deren Tempo ruhig und gelassen ist, wird die Zielstrebigkeit und Behendigkeit des Einwanderers mindestens als unangenehm und störend empfunden und – wenn nicht mit mehr – so doch mit einem starken Ressentiment beantwortet.

In früheren Jahrhunderten lenkte der Jude seine Zwangswanderungen mit Vorliebe nach Wirtschaftsbezirken, die noch in einem primitiven Zustand der Entwicklung waren und die folglich noch eine Auswahl der Betätigungen boten. Solche Räume gibt es heute praktisch nicht mehr. Noch der primitivste wirtschaftliche Raum ist überlagert mit den wirtschaftlichen Interessen und Tätigkeiten der industriell hoch entwickelten Länder. Früher konnte der Jude noch im besten Sinne des Wortes kolonisatorische Aufgaben erfüllen. Heute kann er es nicht mehr. Wenn er wandert, gerät er unweigerlich in hoch entwickelte Gebiete. In solchen Gebieten sind die einzelnen Wirtschaftskategorien weitgehend mit einheimischen Kräften saturiert, und zwar sowohl die oberen wie die unteren Stufen. Es gibt kein eigentliches Vakuum. Die Versuchung ist also sehr groß, sich in den schmalen Räumen zwischen den verschiedenen Kategorien festzusetzen, das heißt: die sogenannten Zwischenberufe zu ergreifen.

Ein Zwischenberuf ist an sich nichts Entehrendes. Komplizierte Wirtschaften erzeugen ihn sogar absichtlich, um sich von der Belastung mit gewissen Nebenarbeiten zu befreien. Aber wir nehmen auch hier eine Sonderstellung ein. Zum Juden hin gesehen dient diese Besetzung der Zwischenberufe immer wieder als Beleg für die vorweggenommene Behauptung von der wirtschaftlichen Unproduktivität des Juden und von seinem parasitären Dasein. Und vom Juden aus gesehen, das heißt, wie wir es hier immer meinen: von ihm als Volk aus gesehen, wird die Bildung einer Berufstradition und eine Stabilität der wirtschaftlichen Betätigung immer wieder unterbrochen und verhindert. Prinzipiell bleibt die Bereitschaft zum wirtschaftlichen Fluktuieren bestehen, sowohl in dem Beruf, den der Einwanderer selber ausübt, als auch in dem, den er seine Kinder ergreifen läßt. Das mag für seine persönliche materielle Situation durchaus lukrativ sein. Die Gesamtheit bleibt wirtschaftlich unstabil. Sie bleibt darüber hinaus anormal geschichtet. Würde man alle Juden der Welt heute in ein geschlossenes Territorium zusammenbringen und sie dort sich selber überlassen, so würden sie zwar sofort imstande sein, eine Universität zu gründen, aber es würde unweigerlich eine Hungersnot ausbrechen, weil keine genügende Zahl von Menschen vorhanden wäre, die Nahrung erzeugen könnten. (Notabene ein Fall, der auch für England eintreten würde, wenn man es von seinem Handel abschneiden würde.)

Damit ist das Bild unserer historischen Vergangenheit vollkommen in sein Gegenteil verkehrt. Wir waren früher Beduinen. Dann sind wir zum Ackerbau übergegangen, und wir haben uns die intensivste Form gewählt, die es gibt: die des Kleinbauern, der seine Berge terrassiert, um jede Handbreit Boden auszunutzen. Der Begriff „Händler“ war uns innerlich so fremd, daß wir eine Bezeichnung aus der Nachbarschaft dafür wählten: K’naani. Inzwischen haben die Jahrhunderte der geographischen und wirtschaftlichen Unstabilität ihren Dienst getan. Das historische Unterbewußtsein des Juden hat ihn bei jeder neuen Wanderung – mit gewissen Ausnahmen in Osteuropa und Argentinien – vom Boden ferngehalten, denn Boden ist die schlechteste Voraussetzung für eine Existenz, deren zeitliche Dauer von anderen abhängt. (Wir werden in der Schlußbetrachtung davon sprechen, wie wir dabei sind, diesen Prozeß zu redressieren).

Wenn ein ganzes Volk über lange Zeiten hin auf eine solche schwankende Basis der Existenz gestellt wird, tritt eine Verschiebung in der normalen Wertung der Lebensgüter ein. Immer wieder wird dieses Volk durch die Erfahrung belehrt, daß materieller, liquider Besitz eine relative Lebenssicherheit bedeutet. Die materielle Seite der Existenz erfährt also automatisch ihre Überbetonung. Diese Überbetonung führt zu einer merkwürdigen Wahnvorstellung: von der Kontinuität des wirtschaftlichen Aufstiegs. Sie ist unterbaut mit einem Instinkt der Fürsorge für die Nachkommenschaft, ausgedrückt in dem Wunsch, daß der Sohn es einmal besser haben soll als der Vater. Er soll auf einer sozial höheren Stufe leben, wo ihm in der Umwelt mehr Achtung gebührt und mehr Anerkennung gezollt wird. Aber da enthüllt sich alsbald die ganze Naivität der Wertung und zugleich das alte Erbe einer geistigen Vergangenheit. Der Hausierer, der sich zu einem Kleinkaufmann heraufgearbeitet hat, läßt seinen Sohn nicht Großkaufmann werden, sondern er läßt ihn ... studieren, einen „geistigen“ Beruf ergreifen. So wie früher im Osten Europas der Jude, der auch nur über einige Mittel verfügte, sich einen Schwiegersohn suchte, der nichts zu besitzen brauchte, sofern er nur – im Sinne der Orthodoxie – ein Gelehrter, ein Rabbi, ein großer Talmudweiser war. Der soziologische Aufstieg beruht bei diesem merkwürdigen Volke auf wirtschaftlichem Gedeihen, und meint im Effekt irgend eine Existenz, die man mit geistigen Mitteln bestreiten kann. Und so liegen sehr oft solidester Materialismus und romantische Geistigkeit hart neben einander.

Man rechnet uns beides als Charakteristiken an. Man sollte es eigentlich nicht tun, denn imgrunde genommen nützt uns beides nichts: weder die materielle noch die geistige Begabung. Der einzige Vorteil, den wir daraus haben, besteht vielleicht darin, daß in Zeiten der Not und Verfolgungen diejenigen Juden, die noch materielle Güter besitzen, immer zu Opfern und zur Hülfe bereit sind. Was uns auf der einen Seite gestohlen wird, wird von ihnen in einem gewissen Umfange wieder ausgeglichen. Aber zu einem Teil finanzieren sie auch jenes Unternehmen, in welchem wir versuchen, wieder zu einer Normalität des Volkslebens zurückzukehren: den Aufbau Palästinas. Aber hier, wo die Grenze der Philantropie und des Mitleidens überschritten wird, wo es darauf ankommt, die Situation unseres Volkes in der Welt zu erkennen und daraus produktive Folgerungen zu ziehen: da gibt es weder eine Addition unserer materiellen noch unserer geistigen Kräfte. Hier sind auf der Ebene der Praxis die Resultate abzulesen, von denen wir im Anfang dieses Kapitels sprachen: der Zerfall unserer Einheit und Einheitlichkeit in die Grundgedanken, die das Leben eines Volkes unterbauen: in seiner religiösen und seiner nationalen Struktur. Darum sind wir auch gespalten in der Bereitschaft, dem Aufbau in Palästina materiell zu helfen. Einige bringen Opfer, viele verweigern sie, weil sie die Idee nicht billigen. Sie sind mit dem geschichtlichen Vorgang, der sich hier vollzieht, nicht einverstanden. In den letzten Jahren ist die Zahl der Verweigerer zwar geringer geworden; aber nicht, weil sie die Idee anerkennen, sondern weil sie in dem Aufbau Palästinas eine der philantropischen Möglichkeiten für die Unterstützung verarmter und verfolgter Juden und für die Lösung des peinlichen Flüchtlingsproblems sehen. Aber selbst unter denen, die den Aufbau unterstützen, weil sie an die Idee glauben, gibt es eine sehr breite Schicht die sich mit dem Glauben an die Idee und mit dem materiellen Opfer dafür begnügen. Sie machen keinerlei Versuch, dieses Aufbauwerk, das sie durch ihren Beitrag ermöglichen, in irgend einer Weise geistig zu beeinflussen, in irgend einem Maße zu seiner ideologischen Gestaltung beizutragen. Sie warten auf die Propagandaredner und Geldsammler, die aus dem „Heiligen Lande“ kommen und ihnen von den großen Wundern des Aufbaus erzählen, ohne die schweren Kämpfe mit mehr als einer heroisch-verlegenen Geste zu streifen. In der Mehrzahl der Fälle verstehen sie nicht einmal die Sprache, die alte hebräische Sprache, die hier wieder zum Leben erwacht.

Also man beneide uns weder um unsere materielle noch um unsere geistige Begabung. Als Volk dient uns beides nicht, denn wir haben keine einheitlichen Prinzipien der Formung mehr. Wir haben zu den gewaltigen Vergangenheits-Belastungen, von denen bisher gesprochen wurde, noch allzuviel an Gegenwarts-Belastungen hinzubekommen. Die Belastungen von früher haben es zuwege gebracht, daß wir uns in Abhängigkeit begeben haben von der Geschichte und dem jeweiligen geschichtlichen Schicksal der Umwelt. Und die Belastung von heute vermehrt jene Unsicherheit des Lebens, die uns an zweitausend Jahre auf unserem Wege durch die Welt begleitet hat. Darum sollte man auch aufhören, uns im Urteil der Anderen irgend einen bestimmten Charakter zuzuweisen. An Einzelcharakteren mag man bei uns so viele finden wie bei anderen Völkern. Einen Gesamtcharakter haben wir nicht mehr, weil wir keine Gesamtheit mehr sind. Wir sind gerade in den Anfängen des Versuches, sie wieder herzustellen. Wir wollen zum Abschluß davon sprechen. –


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