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VII.
Antisemitismus.

In unserer Zeit über den Antisemitismus sprechen heißt im allgemeinen, entweder Apologie treiben oder den Antisemiten angreifen. Ich gedenke, soweit das möglich ist, beides zu vermeiden. Apologie ist eine werbende Haltung und als solche gewiß lobenswert. Aber sie wendet sich an die Vernunft oder an die Einsicht oder die Erfahrung des Anderen, und wir werden im weiteren Verlauf sehen, daß gerade das Kategorien sind, die im Kapitel „Antisemitismus“ keine Verwendung finden können. Und was den Angriff anlangt: es ist unproduktiv, jemanden deswegen anzugreifen, weil er das Produkt seiner historischen und kulturellen Entwicklung ist. Würden wir das hier tun, so würden wir ja dem Antisemitismus gegenüber dasselbe tun, was er dem Juden gegenüber tut, und das würde beiden nicht nützen.

Aber darüber hinaus verlangt die Behandlung dieses Problems noch eine besondere Reserve; ich wäre beinahe versucht, zu sagen: eine besondere Diskretion. Wir sind es zwar seit langem gewohnt, daß jeder gebetene oder ungebetene Beurteiler sich in unsere Probleme einmischt und sein Urteil abgibt. Aber das berechtigt uns noch nicht ohne weiteres zu derselben Haltung gegenüber anderen. Leider läßt es sich – wie beim Problem Antisemitismus – nicht immer ganz vermeiden, weil wir immerhin die Objekte dieses Problems sind. Das berührt aber keineswegs die Tatsache, daß wir nicht die Subjekte des Problems sind. Wir sind ja nicht Antisemiten. Andere sind es. Der Träger des Antisemitismus ist der Nicht-Jude. Der Antisemitismus ist also kein jüdisches Problem, sondern ein ausgesprochenes und typisches nichtjüdisches Problem. Es ist ein Beziehungsproblem. Es ist das Problem des Nichtjuden gegenüber anderen Völkern überhaupt, vermehrt um die besondere Klangfarbe des Objekts, eben des Juden.

Man kann, wenn man will, den historischen Ausgangspunkt des Problems in die Entstehungsstunde jenes Mythos verlegen, von dem im dritten Kapitel dieses Buches gesprochen worden ist. Aber wir wollen aus technischen Gründen den Begriff zeitlich enger verwenden, nämlich für jene Periode der europäischen Kulturgeschichte, die sich vom Ende des 18. Jh. bis in unsere Gegenwart erstreckt und deren spezielles geschichtliches Kernstück für uns die Juden-Emanzipation ist. Das empfiehlt sich schon deswegen, weil von dieser Periode an die Beziehung des Nicht-Juden zum Juden seine einfache, gerade, primitive Motivierung verliert. Sie hört auf, aus einer Quelle genährt zu werden. Sie zersplittert sich in unzählige Möglichkeiten, die aus jedem beliebigen Tatbestand gewonnen werden können. Sie wird aus einer geraden Linie zu einer Ebene mit unbegrenzten Flächen.

Wie ist ein solcher Vorgang historisch und kulturgeschichtlich zu erklären? Wir müssen zunächst zurückgreifen auf das, was im vorhergehenden Kapitel gesagt wurde: 1500 Jahre Erbschaft können nicht von heute auf morgen abgestreift oder vergessen werden und der Vorgang der Gewährung staatsbürgerlicher Rechte ist in jedem Sinne ein unzulängliches Mittel, jene Probleme zu lösen, die sich in der Beziehung zwischen zwei sehr verschiedenen Völkergruppen eingestellt haben. Es ist also ohne weiteres als wahrscheinlich anzunehmen, daß alle Probleme, die von seiten der Umwelt 1500 Jahre lang dem Juden gegenüber bestanden, in irgend einer verwandelten oder abgewandelten oder sublimierten Form weiter existent blieben.

Das ist die eine Grundlage der gegenwärtigen Beziehung. Die andere wird deutlich, wenn wir uns einmal einen historischen Prozeß betrachten, der zwar einige Jahrhunderte zurückliegt, der aber eine verblüffende Parallele zur Gegenwart darstellt. Ich meine das 15. Jh. in Spanien, und zwar vom Aspekt seiner Beziehung zum Juden aus.

Spanien ist jahrhundertelang der klassische Boden für den Austrag imperialistischer Kämpfe gewesen. Wie die Westgoten in das Land eindrangen, gingen sie, um die Eroberung zu erleichtern, einen Kompromiß mit der römischen Geistlichkeit ein: sie verzichteten auf ihre arianische Variante des Christentums und wurden Athanasianer. Dafür half ihnen die Geistlichkeit im Volke, die Westgoten als Herrscher anzuerkennen. Dagegen mußten sie dem geistlichen Arm der Kirche ihren weltlichen Arm leihen, um die einzigen Widerstrebenden im Lande, die Juden, entweder zu beseitigen oder sie mit Gewalt dem Christentum zuzuführen. Der Prozeß der Vernichtung bezw. der Zwangstaufen wurde unterbrochen durch das Eindringen des Islam, vor dem die christlichen Herrscher sich für mehrere Jahrhunderte in den Norden des Landes zurückziehen mußten. Dort erstarkten sie langsam und begannen, schrittweise nach dem Süden vorzurücken. Überall begegneten sie dort dem Juden, der in der Nachbarschaft des Islam seine bis dahin produktivste Zeit in der Verbannungsgeschichte erlebt hatte. Es ist klar, daß ihr Totalitätsanspruch sich gegen den Juden mit noch größerem Fanatismus wandte als gegen den Mauren, denn hinter ihm stand keine militärische Macht, und ihm gegenüber hatten sie schon einmal ein Fiasko erlitten, und endlich stand er auch im christlichen Weltbild schon mit genügender Deutlichkeit als der Feind der Kirche und des christlichen Glaubens gezeichnet. Also entlud sich gegen ihn, etwa von 1390 an, die ganze Wucht des Angriffs. Der Angriff stand unter einer einfachen und radikalen Parole: Taufe oder Tod.

Hier setzt schon die Parallele ein. Die Umwelt will ein Problem erledigen, sie will den die Einheit ihrer Welt und ihres Weltbildes störenden Juden beseitigen. So weit es geht, will sie ihn durch Eingliederung in ihre Welt beseitigen. Soweit das nicht durchführbar ist, will sie ihn körperlich beseitigen. Wobei allerdings klarzustellen ist, daß die Drohung mit dem Tode ebenfalls die erste Lösung, die der Einordnung in die Religion und die Gesellschaft, herbeiführen will.

Die zweite Parallele findet sich im Verhalten des Juden von damals. Nur eine sehr geringe Zahl weicht vor der Drohung nicht zurück und geht den alten Weg, der aus der Geschichte des jüdischen Volkes zum ersten male überhaupt in der Welt sichtbar geworden ist: den Weg des Märtyrertums, den Weg des Todes, der besser ist als Verrat am Glauben und als ein Opfer an der Gesinnung. Diesen Weg war der Jude erstmalig in der Begegnung mit dem Hellenismus gegangen, dann in der Begegnung mit Rom, dann in vielen tausenden von Fällen in der Begegnung mit dem Christentum. In Frankreich, Deutschland, Polen: überall war er für die „Heiligung des Namens“ gestorben. Hier in Spanien tut er es nicht. Hier gibt er nach. Er nimmt die Taufe auf sich. Zwar tut er es nicht aus tiefer Überzeugung – nur für den Primitiven kann im Zwang eine überzeugende Kraft liegen –, sondern machte er in der Mehrzahl der Fälle den geheimen Vorbehalt, weiterhin an seinem alten Glauben hängen zu wollen. Aber in vielen Fällen ist der Entschluß endgültig und bedingungslos. Er will seinen Frieden mit der Welt machen. Er will die ewigen Kämpfe los sein. Er will seine Sonderstellung in der Welt abschließen und von der Last des Mythos befreit werden, den Andere um ihn weben. Er will zur christlichen Gesellschaft gehören und darin aufgehen.

Woher erklärt sich dieser Unterschied in der Reaktion auf das Schicksal? Warum werden die einen Märtyrer und die anderen Proselyten? Ist ihr Judentum so schwach geworden? Oder sind die Anderen so stark geworden? Weder das eine noch das andere. Die verschiedene Reaktion ergibt sich aus der Verschiedenartigkeit der kulturellen Bezirke. In Frankreich, Deutschland und Polen des Mittelalters gab es keine menschliche und geistige Atmosphäre, die für den Juden irgendeine Verlockung darstellte und in ihm irgendwie den Wunsch aufkommen ließ, daran teilzunehmen. Die Vorstellung der Teilnahme, selbst einer erzwungenen, löste solches Grauen aus, daß der Märtyrertod dagegen schön und erstrebenswert war. Aber im Spanien des Islam – und eine gewisse Zeit noch im Spanien des wieder vordringenden Christentums – gab es eine Atmosphäre des kulturellen Bemühens, der Wissenschaft, der Philosophie, der Kunst. Der Jude hatte Zeit und vor allem Möglichkeit gefunden, dabei seinen eigenen Problemen nachzugehen, seine klassische Sprache wieder aktiv zu machen, seine Religions-philosophischen Probleme zu erörtern, seine nationale Kultur um eine neue weltliche Basis zu erweitern. Es bestand, jedenfalls in der Nachbarschaft des Islam (solange er nicht genau so eng und orthodox wurde wie der Katholizismus) eine echte kulturelle Affinität. Solche Affinitäten geben dem Willen, an diesem und jenem bestimmten Orte zu verharren, eine besondere Hartnäckigkeit. Sie erzeugen die Bereitschaft, sich mit der Umgebung auseinander zu setzen, ihr Konzessionen zu machen, und sogar – wenn die Auseinandersetzung mit einer Bedrohung des Lebens begleitet wird – die letzte große Konzession zu machen: sich der Umwelt in ihrer ganzen gesellschaftlichen und religiösen Kultur auszuliefern und in ihr aufzugehen. Das ist – mit dem einzigen Unterschied der Zeit – die genaue Parallele zum Verhalten des Juden zur Zeit der europäischen Emanzipation.

Aber die Parallele geht noch ein Erhebliches weiter. Das Bedürfnis der spanisch-christlichen Gesellschaft, den Juden zum Verschwinden zu bringen und ihn in den Rahmen der Umwelt hineinzuzwingen, ist so vehement, daß es erlaubt ist, von einem Eingliederungs-Komplex zu sprechen. Um ihn zu befriedigen, wird jedes Mittel als erlaubt angesehen. Mit sporadischen, zum Teil recht ausgedehnten Metzeleien werden Zögernde in ihrem Entschluß bestärkt, nachzugeben. Jedes Versprechen und jede Verlockung, von weltlichen Würden bis zur ewigen Seeligkeit, werden angewandt. Aus dem grauenhaften Schicksal der 1492 aus Spanien vertriebenen Juden hebt sich ein typisches Detail für ewig unvergeßlich ab: an den Küsten des Mittelmeeres landen Schiffe mit Flüchtlingen. Ausgemergelte, halb verhungerte Kinder steigen ans Ufer, und da stehen Mönche und halten den Kindern ein Stück Brot entgegen. Sie können es bekommen und dürfen es essen, wenn sie mit den Mönchen in die Kirche gehen und dort die heilige Taufe empfangen wollen ...

Wir können heute nicht zahlenmäßig genau abschätzen, wie groß die Ernte war, die dieser Eingliederungskomplex in die Scheuern der christlichen Gesellschaft einbrachte. Gering war sie nicht, und wenn sie gering war, wurde die Zahl ausgeglichen durch die Qualität. Das heißt in diesem Falle: diejenigen, die die Taufe als endgültigen Entschluß auf sich genommen hatten, diejenigen, die dem Verlangen nach Eingliederung in die Umwelt gefolgt waren und die letzte Konzession gemacht hatten, die sie überhaupt machen konnten: die waren zugleich entschlossen, von der neuerworbenen Gleichberechtigung den weitesten und vollsten Gebrauch zu machen. Man hatte sie ja gerufen. Man hatte sie ja gezwungen, in das Haus zu kommen. Jetzt waren sie im Hause, und sie gedachten nicht, als geduldete Gäste irgendwo in einem Winkel zu hocken. Sie gedachten vielmehr, und zu vollem Recht, sich das neue Leben zu eigen zu machen und darin jeden Raum zu besetzen, der ihnen für ihr Können oder für ihre Interessen geeignet schien.

So kann es nicht Wunder nehmen, daß schon nach geraumer Zeit die neuen Mitglieder der christlichen Gesellschaft überall im Leben der neuen Umgebung auftauchen. Da viele von ihnen gute geistige Voraussetzungen mitbrachten, und manche zudem noch eine solide materielle Grundlage, ist es weiterhin nicht erstaunlich, daß sie auch in den höheren gesellschaftlichen Schichten erschienen und sich mit dem Recht des neuen Mitglieds der Gesellschaft unter dem Adel und der Geistlichkeit bewegten und dort hohe Stellungen einnahmen.

Und damit beginnt das Problem von neuem auf einer verlagerten Ebene. Aber in Wahrheit ist es garkein Neubeginn, sondern lediglich eine Fortsetzung unter veränderten Bedingungen. Möglicherweise gingen die Menschen von damals zu Recht von der Hoffnung aus, daß es ihnen gelingen könnte, den Juden dadurch zum Verschwinden zu bringen, daß sie ihn in ihren eigenen Lebenskreis hineinzwangen. Aber bestimmt begingen sie einen groben psychologischen Irrtum, als sie stillschweigend an der Frage vorüber sahen, ob sie selber imstande sein würden, das Bild vom Juden zum Verschwinden zu bringen, das sie sich in tausend Jahren Spannung und Gegensätzlichkeit und Ablehnung und Wertung geschaffen hatten. Sie mögen vielleicht die uniformierende Kraft ihrer Religion richtig eingeschätzt haben. Aber die differenzierende Kraft der Erbschaft haben sie bestimmt falsch eingeschätzt. So wenig der Vorgang der Emanzipation imstande war, das Judenproblem zu bereinigen, (denn niemand wird bestreiten, daß es heute noch besteht), so wenig war der Vorgang der Taufe imstande, das Problem für beide Teile zu lösen. Der Jude, der zur Aufgabe seiner Art bereit war, mag sich in der neuen Gesellschaft wohl gefühlt haben. Die neue Gesellschaft tat es nicht, angefangen vom Adel, der es peinlich empfand, Mitglieder eines gestern noch verachteten Volkes aufnehmen zu müssen, (meist im Wege der Heirat reicher Ex-Jüdinnen), bis zu den Stadt-Körperschaften, die den niedergehaltenen Konkurenten von gestern plötzlich als legitimen Mitbewerber zu akzeptieren hatten. Der Jude war nur aus dem gestrigen Gesichtskreis verschwunden, sozusagen aus dem Hause nebenan. Im eigenen Hause war er optisch wahrnehmbar wie seit tausend Jahren. Die Freude am Sieg über den mythischen Feind wurde gedämpft durch die Tatsache, daß man jetzt mit ihm auf gleichem Fuße leben sollte.

So verschleppte sich das Problem von außen nach innen. Der Eingliederungs-Komplex war beschwichtigt, aber in den leeren Raum, den er hinterließ, nistete sich sofort sein Gegenpart ein: der Ausgliederungs-Komplex. Er stellte sich in allen gesellschaftlichen Schichten als eine ausgesprochene Abgrenzung gegenüber den neuen Christen, bezw. den Marranen, wie man sie nannte, dar. Der Wille, ihn nach Kräften wieder auszugliedern, bezw. ihn an seiner endgültigen Eingliederung zu verhindern, wird zu einer ganz bewußten Kraft. Er wurde aber noch entscheidend genährt durch eine bittere Erfahrung, die die Kirche mit denjenigen Juden machen mußte, die den Akt der Taufe mit einer reservatio mentalis auf sich genommen hatten. Hier waren keine neuen Christen geschaffen worden. Hier war ein heimliches, gefährliches Krypto-Judentum gezüchtet worden, das unterirdisch seine alte Welt weiter lebte und darin, unter tausend Verkleidungen und Gefahren, von denjenigen Juden geistig am Leben erhalten wurde, die aus irgend einem Gründe nicht der Taufe zugeführt worden waren. Es ist nicht anzunehmen, daß gerade solche Krypto-Juden, solche Marranen, sich Eingang in hohe kirchliche Stellungen gesucht haben. Aber für die Kirche war solche Unterscheidung nicht wesentlich. Sie stand der Tatsache gegenüber, daß ihr Sieg nur ein Scheinsieg war, daß ihr System der zwangsweisen Bekehrung im Prinzip versagt hatte, daß sie wieder einmal am Juden ein Fiasko erlitten hatte wie zur Zeit der Westgoten, und dieses Fiasko war noch unendlich verschärft dadurch, daß es jetzt in ihren eigenen Räumen sichtbar wurde. Eine historische Sekunde nach dem Sieg ihres Glaubens bricht sie panisch verängstigt in den Ruf aus: „Der Glaube ist in Gefahr!“

Aber als Kirche, die den Anspruch auf Katholizität erhebt, ist sie an ihre eigenen Prinzipien gebunden. Sie hat zwar, genau wie die weltliche Gesellschaft, die ja weitgehend mit ihr identisch ist, den brennenden Wunsch, die erfolgte Eingliederung durch eine radikale Ausgliederung wieder aufzuheben. Aber das würde das Eingeständnis einer Niederlage bedeuten. Sie kann nur den anderen Weg gehen: das Prinzip der Eingliederung durch einen Paroxysmus von Zwang und Gewalt, durch ein grauenhaftes System der Gerichtsbarkeit bis zum Wahnsinn zu übersteigern. Das technische Mittel, dessen sie sich dabei bedient, ist die Inquisition. Sie hat damit Tausende von Marranen vernichtet, deren Christentum ihr nicht einwandfrei schien. (Und sie hat dabei nebenher ein Vermögen verdient.) Sie hat die noch nicht getauften Juden vertrieben, damit sie nicht mehr als Stütze für das geheime Judentum ihrer Opfer dienen konnten. Sie hat über das Problem die Friedhofsruhe der Vernichtung gebreitet, erhellt vom Feuer der Holzstöße, auf denen man lebendige Menschen oder vorher im Wege der Gnade erdrosselte Menschen verbrannte.

Die Länge dieser Darstellung schien mir notwendig, um für das Problem der Gegenwart den Hintergrund einer historischen Parallele zu schaffen, und um damit zugleich aufzuzeigen, daß die Problemstellung von heute durchaus nicht einmalig ist. Sie trägt lediglich das Gewand der Bedingungen von heute.

Diese Bedingungen sind zunächst einmal fundamental dadurch gekennzeichnet, daß das religiöse Weltbild des europäischen Menschen sich auflöst. An seine Stelle tritt eine ganze Reihe von anderen Weltbildern. Nachdem die Vormachtstellung der katholischen Kirche durch die Reformationsbewegung einmal gebrochen war, verflüchtigte sich auch die universalistische Decke, die die Herrschaft der Kirche über Länder und Denkweisen gebreitet hatte. Es werden jetzt Motive sichtbar, die zwar schon lange bei der Einstellung gegen den Juden mitgewirkt hatten, die aber jetzt als selbständige Motive in die Erscheinung treten.

Da steht in erster Linie das wirtschaftliche Motiv. Zwei Faktoren hatten dem Juden im wirtschaftlichen Leben der europäischen Völker eine sichtbare Stellung gegeben. Einmal die Tatsache, daß er aus dem Osten der Welt eine entwickeltere Wirtschaftsform mitbrachte, die der primitiveren Form des Abendlandes um einen entscheidenden Schritt voraus war; und zweitens, daß Zwang und kanonisches Gesetz ihn gleichermaßen auf das Gebiet des Kreditwesens drängten. Beides wirkte sich selbstverständlich zu Ungunsten des Juden aus. Die Kaufmanns- und Handwerksgilden, die vom Juden die fortschrittlichen wirtschaftlichen Methoden zuerst lernten, waren auch die ersten, die ihn am Ende ihrer Lehrzeit auf legale Weise beseitigten, das heißt: ihn durch Sondergesetzgebung von ihrer Tätigkeit ausschlossen. Und die Kleinbürger und Bauern, die infolge der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung immer stärker auf den Kredit verwiesen wurden, verstanden ihn durchaus nicht immer produktiv zu verwerten, und sie entwickeln die einfache Technik, sich gegen den schutzlosen Träger des Kredits in spontanen Ausbrüchen zu wehren und ihn und damit ihre Schuld zu erledigen.

Diese wirtschaftliche Einstellung blieb im Zeitalter der Emanzipation im Prinzip bestehen, nur daß sie jetzt die Form des wirtschaftlichen Antisemitismus annimmt. Da das Gesetz die legale Verdrängung aus den Berufen aufgehoben hatte und die spontane Erledigung vorübergehend nicht mehr als zeitgemäß galt (inzwischen ist in den faschistischen Ländern beides redressiert worden) wurde das Problem in das Gebiet der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Antagonismen verschoben. Die Gleichberechtigung als formal-juristischer Akt bedeutete für den jeweiligen Träger der „nationalen“ Wirtschaft keine moralische Verpflichtung, den niedergehaltenen Konkurenten von gestern heute als Mitbewerber aufzunehmen. Im Gegenteil: das Eindringen in bis dahin verwehrte Berufe verschärfte die Spannung. Hinzu kam, daß die lange erzwungene wirtschaftliche Betätigung sich in einer das Normale überschreitenden einseitigen Berufswahl der Juden fortsetzte. Wäre die Emanzipation mehr als ein rein formal-juristischer Akt gewesen, hätte sie auch nur entfernt die Bereitschaft enthalten, bis dahin Fremde in das eigene Gefüge aufzunehmen, so hätte man auch diese Tatsache eben als Tatsache hinnehmen müssen. Dazu war man aber keineswegs bereit. Man hielt das wirtschaftliche Ressentiment gegen den Juden durchaus am Leben. Da dieser Wettbewerber rechtlich nicht mehr zu beseitigen war, konnte er entweder nur durch schlüssiges Verhalten zurückgedrängt werden, (stillschweigenden Boykott von Firmen, Produkten, Angestellten usw.) oder im Wege des politischen Programms wieder zu dem gestempelt werden, was er auch schon gestern war: zu einem Fremden, der von den Rechten, die man ihm eingeräumt hat, einen unzulässigen und das Gastvolk schädigenden Gebrauch macht. Der alte wirtschaftliche Antagonismus findet also seine Fortsetzung im wirtschaftlich motivierten Antisemitismus. Die Massenaffekte hören nicht auf, sondern ergießen sich nur in andere Kanäle.

Die politische Seite, die hier sichtbar wird, ist ebenfalls nur eine veränderte Form der Gruppierung. Waren die Menschen bis dahin durch ihr religiöses Weltbild als Gruppe geeinigt und dem Juden gegenübergestellt, so mußte die Gruppierung jetzt neu erfolgen und den veränderten Lebensmotiven angepaßt werden. Das war garnicht so schwer, denn aus dem Weltbild von gestern hatte man immerhin entscheidende Grundbegriffe beibehalten, nur daß sie ihres universalen Charakters entkleidet waren und jetzt auf die jeweilige nationale Einheit Anwendung fanden. Der Staat, der jetzt als eine selbständige Erscheinungsform immer sichtbarer wird, war eine gottgewollte Institution. Ebenso stand es mit seinem Herrscher, der von „Gottes Gnaden“ in den Staaten regierte. Und dieser Gott war keineswegs ein über der Welt schwebender Universalgott, geschweige denn der Jehova des alten Testaments, sondern es war der christliche Gott. Und der Staat – mochte nun die protestantische oder die katholische Richtung in ihm vorherrschend sein – war immerhin ein „christlicher“ Staat. (Grimasse der Kulturgeschichte: der theoretische Begründer dieser Idee ist der Jude Friedrich Julius Stahl). Dieser christliche Staat war nicht verpflichtet, denjenigen Bürgern, die nicht Christen waren, absolute Toleranz zu erweisen. Die Vorstellung, daß solch ein Mensch Beamter in hoher Stellung sei und damit etwa Jurisdiktion über Christen habe, oder daß er Offizier sei und Christen Kommandos gab, oder Lehrer und christliche Kinder lehrte: diese Vorstellung zerbrach den Rahmen der Emanzipation, noch ehe er sich geschlossen hatte. Die formal vollzogene Eingliederung mußte durch eine entschiedene Ausgliederung auf bestimmten Gebieten von vornherein rektifiziert werden.

Inkonsequent wie diese Idee war, hätte man ihr gleichwohl eine innere Berechtigung nicht absprechen können, wenn es sich dabei lediglich um eine reinliche, durch den natürlichen Takt gebotene Abgrenzung verschiedener religiöser Räume gehandelt hätte. Aber das war keineswegs der Fall. Zwei Tatbestände der abendländischen Welt sprechen deutlich dagegen. Diese Welt war keineswegs imstande, die religiöse Verschiedenheit zweier Bezirke gelassen als eine Tatsache hinzunehmen, die nun einmal besteht. Derselbe geistige Bezirk, der die Suprematie des katholischen Weltbildes erschüttert hatte, der Protestantismus, übernimmt die uralte Erbschaft der Abgrenzung und Abwertung des Juden. In dem Maße, in dem die evangelische Theologie sich einer freieren Forschung in den Grundlagen der Religion zuwendet, in dem gleichen Maße mußte eigentlich unverkennbar werden, in welch hohem Grade ihre Religion der des Judentums an Grundelementen verschuldet war. Sie ist – bis auf wenige Ausnahmen in der Gegenwart, besonders in England – im Prinzip den umgekehrten Weg gegangen. Sie hat den Nachweis versucht, die Minderwertigkeit des jüdischen Gottesbegriffes und die Verwerflichkeit der jüdischen Glaubenslehren darzustellen. Ohne die Wirkung dieser Bemühungen überschätzen zu wollen, muß doch darauf hingewiesen werden, daß sie ihren Zweck der wertmäßigen Abgrenzung und der erneuten Differenzierung und der – wenn auch sublimierten – Diffamierung nicht verfehlt hat. Da, wo dieses Bemühen am stärksten war, in Deutschland, ist eine Konsequenz gezogen worden, die die evangelischen Theologen sich wohl nicht haben träumen lassen. Da die Verankerung des Christentums in Grundelementen des Judentums sich auf die Dauer doch nicht leugnen ließ, da also die prinzipielle Abwertung der jüdischen Religion durch die Religionswissenschaftler mit gewissen Schwierigkeiten verknüpft war, zog man es vor, tabula rasa zu machen und lieber das ganze Christentum über Bord zu werfen, als sich mit einer Religion zu identifizieren, in der so viel Geist vom Geiste der „Fremden“ enthalten war.

Gemäß dem geistigen Habitus dieser Neuzeit blieb das Bemühen nach erneuter Abgrenzung und Wertung und Differenzierung nicht auf den Kreis der Theologie beschränkt, sondern schaffte sich überhaupt im Gebiete der „Wissenschaft“ ein breites Feld und eine sehr zweischneidige Waffe. Wenn wir hier den Begriff Wissenschaft verwenden, müssen wir allerdings zugleich den echten Begriff der Wissenschaft um Verzeihung bitten, daß wir sein sachliches, sein exaktes, sein verantwortungsbewußtes Denken in eine Namensgleichheit bringen mit jener Mischform aus Intellekt, Ressentiment und Pseudo-Religion, die sich in ihrer Tendenz gegen den Juden und alles, was mit ihm zusammenhängt, mit dem geborgten Ehrentitel der Wissenschaft schmückt. Ein Musterbeispiel solcher Technik ist H. St. Chamberlain’s „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, eine Art Laien-Bibel der deutschen Halb-Intelligenz.

Diese Pseudo-Wissenschaft hat sich einen Ausgangspunkt gesucht, den man bei einiger Toleranz als sachlich bezeichnen kann, nämlich die Entdeckung, daß es eine Reihe von Sprachen mit im wesentlichen gleichen oder ähnlichen Sprachwurzeln gibt, die man – reichlich willkürlich – als indo-arisch oder indo-germanisch benannte. Die Vorstellung, wie Sprachen wandern oder untergehen, (man vergleiche die Westgoten, die ihre Sprache verloren, als sie in Spanien saßen) hat sie nicht sonderlich beschwert. Sie waren daher durch nichts daran gehindert, aus dieser Sprachverwandtschaft bindende Schlüsse auf einheitliche kulturelle Träger dieser Sprache zu ziehen. Von da aus wurde dieser Träger der Kultur auch zu einer antropologischen Einheit zusammengefaßt, die aufgrund ganz bestimmter körperlicher Merkmale eine einheitliche, und zwar auf besonders hohem Niveau stehende Rasse bezeichnet. Was sich dieser Schlußfolgerung kulturgeschichtlich nicht fügen wollte, wurde mit einer Deutung versehen, die es fügsam machte.

Man muß sich wohl hüten, solche Gedankenabläufe, selbst wenn sie durch die einfachsten Fakten hundertfach widerlegt werden können, einfach als Fälschung zu bezeichnen. Das sind sie nur im objektiven Sinne. Im subjektiven Sinne sind sie es nicht, denn sie gehorchen lediglich den Anforderungen eines seelischen Bedürfnisses, das dieses Denken und diese Schlußfolgerungen lenkt und kontrolliert. In diesem Falle ist das Bedürfnis von einfachstem psychologischem Format. Für den mittelalterlichen Menschen war die Welt mit allem auf ihr und in ihr und über ihr eine einzige große Tatsache des Glaubens gewesen. Sie war nicht zu bezweifeln, weil sie in allen ihren Erscheinungen von den Dogmen und den Lehren des Glaubens nicht nur bestimmt, sondern auch erklärt wurde. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, warum sie auf die Dauer von diesen Dogmen und Lehren nicht mehr gebunden werden konnte. Tatsache ist jedenfalls, daß der abendländische Mensch zunächst bei aller Anerkennung der überkommenen Dogmen zum rationalen Denken übergeht, und daß er von hier aus das Schwergewicht seiner Weltbetrachtung immer mehr in die isolierte Persönlichkeit und ihre individuellen Erfahrungen und Erkenntnisse verlegt. Damit erwächst automatisch das Bedürfnis, die Bindungen, die ihn gestern noch gehalten haben, die ihm gestern noch seinen festen und gesicherten Platz in einer gottgewollten und gottgefügten Welt zugewiesen haben, durch neue Bindungen zu ersetzen, die ihm, dem Individuum, dem freien, selbständig denkenden Einzelnen, einen genau so gesicherten Platz in der Welt und im neuen Welbild anwiesen.

Das kann immer nur geschehen, indem das Schwergewicht der Wertung von außen nach innen verlegt wird. Wir sehen einen ähnlichen Vorgang in der griechischen Kulturwelt. Jahrhundertelang hatte der Grieche versucht, seine Dämonenfurcht und seine religiöse Unruhe dadurch zu beschwichtigen, daß er sich eine Götterwelt nach seinen eigenen Maßen aufbaute, daß er sie auf den Olymp hinauftrug, daß er alle empfundenen und erdichteten und geborgten Gottheiten dort zu einem Pantheon vereinte, von dem er hoffte, Geborgenheit und das Gefühl der Sicherheit und einen Sinn für sein Leben als Gegenleistung zu empfangen. Als er zu der Erkenntnis kam, daß er von diesen Göttern, die Geist von seinem Geiste waren, nichts zu erwarten habe; als er sich von seinen Göttern verlassen fühlte, brach seine religiöse Welt zusammen. Er mußte sich eine andere Zuflucht suchen, denn ohne eine Zuflucht kann der Mensch nicht leben. Er fand sie in zwei Extremen: in Mysterien und im Individualismus; im Geheimnis der Selbstidentifizierung mit einer Gottheit oder einer Naturkraft, (nebenbei gesagt unter Vernachlässigung aller ethischen Elemente) und in der Hinaushebung der isolierten Persönlichkeit über den kosmischen Verband, in dem er selbst unweigerlich steht. Es war der Versuch des Wassertropfens, die Gesetze der Welle zu bestimmen, von der er ein winziger Bestandteil ist.

Der Weg des abendländischen Menschen liegt ganz auf der gleichen Linie. Er mußte sich selber neu begründen. Aber diese Begründung mußte genau so absolut sein wie die, die sein religiöses Weltbild von gestern ihm gegeben hatte. Er ging ganz logisch dazu über, seiner Existenzform von heute dasselbe absolute Schwergewicht zu geben, das in der gestrigen Form lag. Aber die gestrige Form war vom Medium des Glaubens her universal gewesen. Die heutige Form entsprach der Isolierung des Einzelmenschen, das heißt: sie bestand in der partikularistischen Aufteilung der Menschheit in Nationen. Der Begriff Menschheit, den die jüdische Prophetie noch ganz real gedacht hatte, wurde ein Abstraktum. Die Wirklichkeit wurde von der Nation beherrscht. Der Einzelne war Bestandteil dieser Nation, mit ihr identisch sowohl in der Existenz wie im Wert. Die Nation als solche wird also eine mit einem Wertgefühl ausgestattete Existenzform des europäischen Menschen. Die äußerliche, organisatorische Form, der Staat, konnte dabei nicht minderen Wertes bleiben. Er mußte natürlich den gleichen Weg gehen. So wurden beide zwangsläufig absolut, beide zwangsläufig Selbstzweck, und damit beide zugleich die wertbetonte Sphäre, mit der das neue Individuum, die Nation, sich von dem anderen Individuum, der anderen Nation, abgrenzte.

Es ist durchaus charakteristisch, daß alle Nationen der neuen Zeit in steigendem Maße dazu übergegangen sind, nicht nur ihre Existenz, sondern auch die innere Bedeutsamkeit ihrer Existenz mit einem Motiv zu versehen. Jede Nation hatte plötzlich in der Welt ihre eigene und ganz spezielle Mission zu erfüllen. Über Nacht wurden sie alle Erben des alten jüdischen Gedankens von der Ausgewähltheit, nur daß sie in tragisch-grotesker Entstellung dieses Erwähltheitsgedankens seine unerläßliche, seine organische Gegenkomponente übersahen: die ungeheure moralische Verantwortung, die daraus erwächst; das absolute und bedingungslose Einstehen für jedes Verfehlen und Verschulden. Das übernahmen sie nicht. Dafür waren sie zu selbstgerecht, das heißt: im tiefsten Grunde zu unreligiös.

Die Selbstmotivierung der abendländischen Völker geschah in verschiedenen Graden und auf verschiedenen Stufen. Aber in einer Beziehung reagierten sie alle gleich: in der Abgrenzung zwischen Majorität und Minorität. Das war für sie kein neues Problem. Sie kannten es mindestens von der Zeit her, da der Jude sich als eine deutlich wahrnehmbare Minorität unter ihnen aufhielt. Auf primitiver Stufe der Gemeinschaftsbildung erfüllt dieses Nebeneinander von Majorität und Minorität zugleich eine jener Funktionen, die immer noch zu wenig erforscht sind: die kollektive Reaktion einer großen gegen eine kleine Masse, eines kompakten Körpers gegen einen schwachen. Diese Reaktion der größeren Masse auf die geringere ist immer mit einem besonderen Kraftgefühl verbunden, mit einem Zuwachs an Sicherheitsempfinden, mit einem wärmenden, behaglichen Plus an Überlegenheit. Dieses Plus-Gefühl kann – je nach der seelischen und geistigen Struktur der Mehrheit – nach beiden Seiten ausschlagen. Es kann zu einer freundlichen, gelassenen Duldung der Minorität führen; es kann genau so gut zu einer selbstüberheblichen, mit Ressentiment überladenen feindseligen Abgrenzung gegen die Minorität werden. Die abendländischen Völker sind im Prinzip den zweiten Weg gegangen, wenn sie ihn auch vielfach variiert haben.

Der Maßstab für diese Variationen lag in der Sicherheit oder Unsicherheit ihres Selbstgefühls. Da, wo das Selbstgefühl auf sehr breiten Beinen steht – wie in England – nimmt die Abgrenzung im allgemeinen ruhige, sozusagen gesellschaftsfähige Formen an. Da, wo das Selbstgefühl auf schwachen Füßen steht und daher ständig überkompensiert werden muß – wie in Deutschland – ist dem Ausschlag zum Negativen hin keine Grenze gesetzt.

Aber dieses Problem Majorität-Minorität stellt nur eine der Ebenen dar, auf der die abendländische Welt ihre Beziehungen zu Anderen – und speziell zum Juden – ordnet. Die andere Ebene findet sich in der Tatsache, daß in der Selbstwertung, die die isolierten Nationen sich geben, unweigerlich wieder der totalitäre Anspruch auftaucht, jener uralte Imperialismus, von dem wir schon gesprochen haben. Ob es sich um die Idee des Bolschewismus, des Nationalsozialismus, des Fascismus, der Demokratie handelt: immer wird in Weltbegriffen gedacht. Ob hinter diesem Denken in Weltbegriffen der Wille nach ideologischer Durchdringung oder nach Gewaltausübung oder nach geschäftlichem Monopol steht, ist im Prinzip gleich. Es ist ein vielfach schillernder Totalitätsanspruch, der sich sozusagen eine dreidimensionale Sicherheit schafft. Nach außen hin trägt er seinen Anspruch in Form von Wirtschaftspolitik und Kriegen. Im Überirdischen nimmt er – und zwar jedes Volk für sich getrennt – den an sich gemeinsamen Gott als Schutzpatron für seine kriegerischen Ambitionen in Anspruch und borgt sich zu diesem Zwecke den alten hebräischen Gott der Heerscharen aus, (wobei ihn die Verwechslung zwischen irdischen Bataillonen und Divisionen mit himmlischen Heerscharen nicht weiter beunruhigt). Und nach innen hin konsolidiert er sich durch eine verschärfte Abgrenzung gegen den Fremden und das Fremde, gegen das also, was seiner Natur nach oder seinem Wesen nach angeblich nicht Träger des jeweiligen Missionsgedankens sein kann.

Die Reaktion des totalitären, des imperialistischen Anspruchs ist heute nicht anders, als sie vor zweitausend Jahren und im Verlauf dieser zweitausend Jahre war: sie wendet sich gegen den „Anderen“ mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Ja noch mehr: die Existenz des „Anderen“ ist eine günstige Voraussetzung für den Vergleich, der selbstverständlich immer zugunsten des Vergleichenden ausfällt. Es gibt eben Völker, die ohne Vergleichsobjekte nicht existieren können. Sie haben keinen absoluten Maßstab in sich selber, der ihnen einen gelassenen und sicheren Weg vorschreibt. Vielleicht haben die abendländischen Völker ihn in Wirklichkeit nie gehabt, weil es ihnen nie völlig gelungen ist, eine Religion zu rezipieren, die sie nicht selbst in ihrem eigenen Lebensraum erzeugt haben. Aber wenn sie sie einmal gehabt haben, so haben sie sie verloren und aufgegeben zugunsten eines materialistisch unterbauten Weltbildes, das nur den Anspruch kennt, aber nicht die Verpflichtung; ein Weltbild, in dem die Parole der Selbständigkeit, des Eigenwertes, der Interessen, der „Freiheit“ die allein produktive Parole der Einordnung, der Gesinnung, der Bindung verdrängt hat. Vielleicht – es ist eine sehr vage Hoffnung – steht die abendländische Menschheit erst jetzt, als Folge des gegenwärtigen Krieges, an der äußersten Schwelle der Erkenntnis, daß es vielleicht doch unzulänglich ist, die Existenz von Gemeinschaften ewig auf dem egoistischen Anspruch aufzubauen; daß vielleicht doch eine zwingende Notwendigkeit besteht, das Nebeneinander von Völkern und Gemeinschaften auf eine höhere Ebene der Verantwortung zu heben. Aber, wie gesagt: die Hoffnung ist noch sehr vage, und vielleicht muß die Menschheit erst in den allertiefsten Abgrund der Not und Verzweiflung hinunter steigen, ehe der Wille zur Höhe für sie zu einem wirklichen Erlebnis wird.

Einstweilen sieht es nicht so aus, und einstweilen stehen wir, als Juden, noch einer Welt gegenüber, die auf verlagerter Ebene ihre tausendjährige Beziehung zu uns fortsetzt. Die Basis dieser Beziehung ist imgrunde genommen noch viel breiter als diejenige, die aus dem religiösen Weltbild kam. Bei dem Respekt, den der abendländische Mensch vor allem hat, was sich – zu Recht oder nicht – als Wissenschaft bezeichnet, kommt der Ausbeutung des Begriffes „Rasse“ eine mindestens so große Bedeutung zu wie dem Begriff „Glaube“. Über Religion läßt sich streiten, aber wenn die „Wissenschaft“ feststellt, daß es verschiedene Menschenrassen gibt, und daß unter ihnen der Jude die tiefste kulturelle sittliche Stufe einnimmt, so liegt darin viel überzeugende Kraft. Das ist um so mehr der Fall, als es sich hier ja garnicht um Wissenschaft handelt, die am sachlichen und objektiven Ergebnis interessiert ist, sondern um eine Pseudowissenschaft, hinter der triebhafte Kräfte stehen; um eine Beweisführung, die ein seelisches Bedürfnis zu befriedigen hat. Welcher Art dieses Bedürfnis ist, wird klar, wenn wir uns einmal die verschiedene Art betrachten, in der Völker auf ihre nationalen Schicksale reagieren.

Es gibt Völker, die bei allem, was ihnen geschieht, zunächst einmal den Blick nach innen wenden und sich fragen, ob nicht für das jeweilige Geschehen ein Grund in ihnen selbst zu finden sei. So reagieren alle Völker, deren gesellschaftliche Grundlage sehr stabil ist, sei es, daß diese Grundlage auf Urbegriffen des menschlichen Zusammenlebens beruht – wie in China, wo der Begriff „Familie“ das Zusammenleben für Jahrtausende getragen hat – sei es, daß diese Grundlage auf Urprinzipien des Glaubens beruht – wie im Judentum, wo der Begriff Ethik dieselbe Funktion erfüllt hat. Da der Jude als erster die Idee begriffen hat, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei, hat er die Ursache seines Geschehens zunächst einmal in sich selber, in seinem eigenen und fehlerhaften Verhalten gesucht. Die Prophetie hat diesem Gedanken seine äußerste Sublimierung gegeben. Der Jude hat noch in seiner Degeneration von heute diese Tendenz beibehalten und betätigt sie nicht selten in einer an das Lächerliche streifenden Form der Objektivität, in einem gewissen selbstmörderischen Versuch, immer den Anderen in seinen Motiven und Handlungen verstehen zu wollen.

Es gibt andererseits Völker, die in ihrer Wertung des nationalen Geschehens den entgegengesetzten Weg gehen. Sie kommen garnicht auf den Gedanken, ihre Selbstwertung dadurch anzutasten, daß sie eine Schuld bei sich selber suchen. Dafür fehlt ihnen vollkommen das Gegengewicht: das Gefühl der Verantwortlichkeit. Wenn ihnen etwas zustößt, beginnen sie sofort, die Horizonte abzusuchen und nach dem Gegner, dem Feind, der bösen Kraft, dem Dämon zu suchen, der ihnen dieses Schicksal bereitet hat. Hier wird eine typische Haltung des Heidentums sichtbar, eine Variante der alten, nie überwundenen Dämonenfurcht, deren Gegenkomponente die religiöse Unsicherheit ist. Das typische Beispiel für solches Verhalten ist Deutschland. Im Prinzip aber gehören alle abendländischen Völker insofern in diese Kategorie, als sie alle die Tendenz haben, am Aufbau eines neuen Mythos tätig zu sein, der diese Verlagerung der Verantwortung in eine Sphäre außerhalb ihrer selbst ermöglicht. Dieser neue Mythos ist der von der geheimen Weltherrschaft der Juden.

Daß die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ eine plumpe und dumme Fälschung sind, jedem erkennbar, der überhaupt erkennen will, – das ist nicht wichtig. Es sind schon bedeutendere Dokumente in der Geschichte gefälscht worden und haben mit Erfolg zur Begründung von Rechten und Ansprüchen gedient. Und es ist auch nicht wichtig, daß in keiner historischen Situation des Judentums jemals irgend eine Form der Einheit bestanden hat, die über das Gefühl einer nationalen Zusammengehörigkeit hinausging. Alles das läßt sich leugnen, genau so wie sich leugnen läßt, daß die Juden niemals irgendwo außerhalb ihres eigenen Landes eine auch nur politische Einheit erstrebt hätten. Darum ist es auch ganz uninteressant und überflüssig, hier mit Gegenbeweisen antreten zu wollen, weil es sich hier garnicht um reale Tatbestände handelt, sondern um irreale: um die künstliche und mechanische Addition isolierter Tatbestände, verbunden mit einer von vornherein feststehenden Bereitschaft, eine vorweggenommene Endbehauptung zu beweisen. Wir haben es hier mit nichts anderem zu tun als der getreuen Repetition der alten Mythenbildung der Umwelt gegen den überall verstreut auftauchenden und überall optisch wahrnehmbar gebliebenen Juden. Der Mythos ist eine Form des Glaubens und bedarf als solcher nicht des Beweises durch Tatsachen. Er stirbt deswegen auch nicht am Widerspruch zwischen Tatsache und Behauptung. Wer von der kapitalistischen Weltherrschaft des Juden redet, ist durch nichts daran gehindert, im Anschluß daran von einer bolschewistischen Weltherrschaft des Juden zu sprechen. Wer von der Assimilationssucht des Juden an die Völker seiner Umgebung spricht, darf getrost im nächsten Satz von der aktiven Feindschaft des Juden gegen alle Nichtjuden sprechen. Hier hilft nicht einmal der Hinweis darauf, daß diese Weltherrschaftsidee mit besonderer Vehemenz überall von denjenigen vertreten wird, deren ganzes Sinnen und Trachten – sei es mit militärischen, wirtschaftlichen oder politischen Mitteln – auf eben solche Weltherrschaft gerichtet ist. Mythos bleibt Mythos, und als solcher eine Tatsache, mit der wir uns abzufinden haben.

Den Ausbruch dieses Mythos in die Wirklichkeit haben wir in unserer Gegenwart erlebt. Nicht alle Völker haben sich darauf beschränkt, lediglich gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen daraus zu ziehen. Sie haben zum Teil daraus ein Prinzip für ihr eigenes Leben und Verhalten gemacht, eine Frage der Weltanschauung, die sie bereit sind, mit ihrem Leben und ihrem Blute zu vertreten. Sie haben aus dem Mythos der Überwertigkeit und aus seinen psychologischen Gründen die ganze Welt in Aufruhr gebracht. Sie haben es zuwege gebracht, in der Kulturgeschichte eine Höhe der Barbarei zu erklimmen, die es bislang noch nicht gegeben hat. Wir bezahlen im Augenblick für die Existenz dieses Mythos einen Preis, dessen genaue Höhe sich erst nach dem Kriege wird feststellen lassen. Dabei wissen wir, daß mit dieser Zahlung des Preises an sich noch garnichts erreicht ist. Das Problem wird weiter bestehen bleiben, das heißt: die Spannungs-Differenz, die sich aus der Situation des Juden in der Welt und aus der Reaktion der Welt ergibt.

Nachdem der Hintergrund, der Mythos, feststeht, wollen wir jetzt das Spiel auf der Bühne, die Begegnung zwischen dem Juden und dem bewußten oder unbewußten Träger des Antisemitismus näher in Augenschein nehmen. –


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