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VIII.
Babylonische Gefangenschaft.

Fassen wir das bisher Gesagte noch einmal kurz zusammen, um die historischen und psychologischen Hintergründe der gegenwärtigen Situation klar herauszustellen. Fast zweitausend Jahre lang hat der Jude außerhalb seines legitimen Landes unter Völkern gelebt, die ihn als Fremden betrachteten, die auf ihn das Fremdenrecht anwandten und die ihn darüber hinaus, von ihrem religiösen Weltbild aus, zum Träger von Mythen und zum Opfer der Reaktionen machten, die sich aus ihrer eigenen Mythenbildung ergaben. Der Jude hat also Geschichte leben müssen, die Andere für ihn bereiteten.

Die eigene geschichtliche Sicherheit des Juden hat durch die Überdehnung der Verbannung und die Enttäuschungen aus dem Scheitern der messianischen Hoffnungen ihre Kraft und ihren Richtungssinn verloren. Dauer, Gewöhnung und Ohnmacht brachten ihn dazu, eine für ihn bis dahin nicht existierende geschichtliche Gegenwart anzuerkennen, den realen Messianismus in die Sphäre des Wunders hinaufzuheben und damit zu verflüchtigen, und vom Schwebezustand der Verbannung zum Dauerzustand der Zerstreuung überzugehen. Damit wächst zugleich das Bedürfnis, am Leben der jeweiligen Umwelt Anteil haben zu wollen. Dieser Wille wird unterstützt durch zwei kulturgeschichtliche Abläufe: durch das Nachlassen der aktuellen religiösen Bindungen im Judentum einerseits und durch die geistige Umorientierung der abendländischen Völker um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Diese beiden Tendenzen ermöglichen eine Annäherung, die sich in der Form von Forderungen und allmählichem Gewähren abspielen und nach Ablauf von mehr als einem halben Jahrhundert zu der Situation führen, die wir als Emanzipation bezeichnet haben. Beide Parteien dieser Emanzipationskämpfe tragen selbstverständlich ihre eigenen Voraussetzungen in die Annäherung hinein. Dabei verwandelt sich die Judäophobie des abendländischen Menschen in einen aus vielen Quellen genährten Antisemitismus, der anstelle der Religion die Formung des antijüdischen Mythos auf sich nimmt und fortführt. Und der Jude macht den entscheidenden Schritt aus dem Verfall einer national und religiös gefügten Welt in eine neue babylonische Gefangenschaft, die in jedem Sinne schlechter und gefährlicher ist als die historische, da der Jude noch an den Wassern Babels saß und weinte und an Zion dachte und sich weigerte, das Lied Gottes auf fremder Erde zu singen. Im inhaltlichen Gegensatz dieser beiden Gefangenschaften liegt zugleich unsere Tragödie des Verfalls und des nationalen Niederganges.

Diese beiden Gefangenschaften sind nur insoweit einander gleich, als in beiden Fällen der Zwang der äußeren Verhältnisse den Aufenthaltsort des Juden bestimmt. Aber darüber hinaus gibt es nur Gegensätzlichkeiten, sowohl im Objektiven wie im Subjektiven, die alle zum Negativen und zum Bösen ausgeschlagen sind. In der Gefangenschaft von damals wurde der Jude durch die Hoffnung aufrecht erhalten, daß er eines Tages in das Land, das ihm unverlierbar gehört, zurückkehren würde. Und als die Zeit dafür gekommen war, hatte das Volk die freie Wahl: heimzukehren oder mit unverminderten Rechten und freier Betätigung des Eigenlebens in Babylonien zu bleiben. Heute gibt es eine solche Wahl nicht mehr. Der Jude kann nicht mehr frei bestimmen, wohin er gehen will. Seine Freizügigkeit ist fortschreitend eingeengt worden. Früher ließ sie sich noch von Fall zu Fall durch das „Sesam öffne dich“ des Geldes neu schaffen. Heute ist die Welt weggegeben. Schwerwiegende „Bedenken“ aller Art – wirtschaftliche, politische, kulturelle, technische – beschränken die für den Juden verfügbaren Lebensräume auf ein Minimum. Seine historische Heimat ist in das große politische Interessenspiel der Welt einbezogen worden. Frühere, dem Umfang nach bedeutende Räume sind ihm durch die einstweilen letzte Explosion des antijüdischen Mythos entzogen worden. Während das Flüchtlingsproblem in einem sehr bescheidenen Maße hier und da eine Interimslösung gefunden hat, ist es von allem Anfang an zugleich wieder die Quelle neuer Spannungen geworden. Es gibt schlechthin kein Land auf der Welt, in dem nicht – ob es nun Flüchtlinge aufgenommen oder abgelehnt hat – spontan die Diskussion darüber eröffnet wurde, ob die Aufnahme ratsam sei oder nicht, gut oder schlecht, zu begrüßen oder zu bekämpfen. Es kommt dabei nicht immer darauf an, ob die Argumente pro und contra sehr stichhaltig sind oder nicht. Nach dem, was im vorigen Kapitel gesagt worden ist, kommt es lediglich darauf an, was die Diskutierenden jeweils aus der Nichtaufnahme von Juden beweisen wollen und – für ihr eigenes Empfinden – auch schlüssig beweisen. Die babylonische Gefangenschaft des Juden ist dadurch verdoppelt worden. Es hat sich 1942 wiederholt, was sich 1492 abgespielt hat: daß Schiffe mit Flüchtlingen von Küste zu Küste fahren und vergeblich zu landen versuchen. Der Begriff der Heimatlosigkeit hat seine neue Aktualität bekommen.

Es wäre vielleicht genauer, zu sagen, daß die Aktualität lediglich vergröbert worden ist. Objektiv bestanden hat sie immer, aber ihre psychologische Bedeutung hat sich gewandelt. Solange der Jude noch sein geschlossenes Dasein in einer Verbannung führte, gab es eine Heimatlosigkeit im eigentlichen und im subjektiven Sinne nicht. Die Heimat war da, von wo man ausgegangen war. Es gab nur eine Ortslosigkeit, eine Unstabilität des Aufenthaltes; und wann immer der Wechsel des Ortes erzwungen wurde, gab sich der Jude die erschütternde Erklärung ab: „Um unserer Sünden willen ...“

Die Unstabilität des Ortes begann für ihn erst zur Heimatlosigkeit zu werden, als der nichtjüdische Mythos des Ahasver auf den Juden zu drücken begann und sich mit der nachlassenden nationalen Spannung addierte. Da erst wurde aus dem, was Gott jeweils legitim vollzog, etwas, das der Nebenmensch jeweils zu Unrecht verhängte. Wir haben schon gesagt, wie dieser Wille zum Festhalten an dem einmal gewonnenen Wohnort sich zu einem echten Heimatsgefühl vertiefte und dort zum Ausgang jenes zuweilen so peinlich übertriebenen Patriotismus wurde. Aber auch die gegenteilige Erscheinung mußte sich zwangsläufig einstellen: die absolute Gleichgültigkeit jedem Orte gegenüber; die ständige Bereitschaft, heute hier und morgen dort zu wohnen, unstet zu sein, ohne darin mehr zu sehen, als einen zulässigen oder lukrativen Ortswechsel; international zu werden in jenem flachen Sinne, der mit Vokabeln wie Weltbürgertum, Freizügigkeit des Individuums, internationale Kultur usw. um sich wirft, und dabei die fundamentale Wurzellosigkeit an jedem Orte der Welt nur oberflächlich verdeckt. Aber kein Baum reißt sich selber von seinen Wurzeln los. Es ist mindestens ein Wind da, der ihn entwurzelt.

In der babylonischen Gefangenschaft von damals siedelten sich die Juden in dicht geschlossenen Gemeinschaften an. Sie schufen unter sich ein getreues Abbild jener gesellschaftlichen Atmosphäre, in der sie noch gestern in der Heimat gelebt hatten. Erst von diesem gesicherten Rückhalt aus, der ihre kulturelle Assimilation unter den Völkern wirksam verhindern konnte, traten sie mit der Umwelt in vielfache Beziehungen. In der europäischen Verbannung war die dicht geschlossene Gemeinschaft eine Folge des auf sie ausgeübten Druckes, und sie diente nicht dazu, mit der Umwelt in vielfache Beziehungen zu treten, sondern sie auf ein Minimum zu reduzieren, das zudem noch mit einem bösartigen Werturteil belastet war. Als die Emanzipation die Tore dieser auf den Ort beschränkten Zwangsgemeinschaft öffnete, wurde der Wohnraum nur scheinbar freigegeben. In Wirklichkeit blieb er immer bezweifelt. Das führte dazu, daß der Jude, der schon längere Zeit in einem Lande saß, immer bereit war, seinen Lebensraum gegen denjenigen Juden zu verteidigen, der erst später kam. Denn jeder weitere Zuwachs von „Fremden“ erzeugte sofort eine Reaktion der Umgebung, deren Tendenz ganz klar auch gegen den „eingebürgerten Fremden“ gerichtet war. Er begann daher, sich gegen den Zuwanderer abzugrenzen, und zwar meistens von jenen zivilisatorischen Voraussetzungen her, die er sich selbst bei seinem Aufenthalt im jeweiligen Wohnlande erworben hatte: von der Sprache und der allgemeinen Lebensführung her und den Äußerlichkeiten von Sitten und Gebräuchen. Die Annahme dieser Formen hatte es ihm bis zu einem gewissen Grade möglich gemacht, seine optische Sichtbarkeit zu verringern und jenes unauffällige Judentum zu schaffen, das in einer Umgebung nötig war, die ihr stilles oder lautes Bedauern über die Gewährung der Emanzipation nie ganz aufgegeben hat. „Unauffällig“ sein wurde für viele Kreise eine Lebensparole in sich.

Mit dem Kommen von Zuwanderern, die sich inzwischen an ein anderes Umweltmilieu assimiliert hatten, wurde die Optik wieder verschärft. Dagegen wehrten sie sich mit einem instinktiven Selbsterhaltungstrieb. Sie neigten nicht nur dazu, die Gemeinschaft mit den neuen Zuwanderern zu leugnen, sondern auch ihre Rechte in den Gemeinden und ihren Körperschaften und Institutionen zu kürzen und zu bekämpfen. Während sie so auf der einen Seite aus der verschiedenen zivilisatorischen Stufe, die ihnen die Umwelt gewährt hatte, den Unterschied zwischen Ostjuden und Westjuden zu stehenden Begriffen machten, betonten und vertieften sie einen historischen Vorgang: das Auseinanderfallen des Judentums in regionale Gruppen mit verschiedenen Inhalten, Interessen und Lebensformen. Niemals ist das Zerbrechen eines einmal einheitlichen Volkstums krasser in die Erscheinung getreten als in dieser Nomenklatur. Das kann nur der richtig werten, der an den Kämpfen um die innere Gleichberechtigung, an dem wahrhaften Emanzipationskampf des östlichen Juden gegen den westlichen Juden in den Ländern Mitteleuropas teilgenommen hat.

Aber dabei blieb es nicht. Die stille Panik, die der in einem Lande eingesessene Jude vor seiner eigenen „Optik“ hatte, führte ihn dazu, auch im eigenen Umkreis einen scharfen Unterschied zu machen zwischen denjenigen Juden, die diese Optik vertuschten, die sich im vollsten Sinne des Wortes „unauffällig“ machten, und jenen, die nach ihrer Ansicht ein genügendes Maß von Unauffälligkeit und Unsichtbarkeit nicht aufbrachten. Es war ihnen vielleicht aus der langen Erfahrung her in Fleisch und Blut übergegangen, daß es für die Wertung von äußeren Lebensformen verschiedene Maßstäbe gibt. Wenn, – um ein primitives Beispiel zu wählen – ein Italiener oder ein Spanier gestikuliert, so ist es eben ein Italiener oder ein Spanier in der temperamentvollen Eigenart seines Ausdrucks. Wenn es aber ein Jude tut, so ist es ein peinliches Charakteristikum seines Wesens und fordert ohne weiteres zu Urteilen und Vergleichen heraus.

Nun ist ja gewiß die Annahme der äußeren Lebensformen einer Majorität durch die in ihr lebenden Minoritäten ein einfacher und natürlicher soziologischer Vorgang. Aber solche Formen sind imgrunde genommen mehr als Exerzier-Regeln des äußeren Verhaltens. Sie sind Sache der Tradition, der Erziehung, der nationalen Gewohnheit, und als solche im entscheidenden Sinne Ausdruck des jeweiligen nationalen Temperaments. Wenn eine Kompagnie Soldaten im Paradeschritt einhergeht, so kann ich mir sehr wohl vorstellen, daß ein Teil der Soldaten diesen Ritus mit fast religiöser Ernsthaftigkeit vollzieht, während ein anderer Teil, der nicht minder schneidig einhergeht, sich der immanenten Lächerlichkeit dieses Rituals klar bewußt ist. Eine Form des äußeren Verhaltens ist nur dann natürlich, wenn sie der adäquate Ausdruck der inneren Haltung ist. Sonst ist sie eine Nachahmung, die immer mit dem Gewicht der Unsicherheit, und dem Drang nach sklavischer Imitation belastet ist.

Dabei muß natürlich klar sein, daß es sich bei allen diesen Erwägungen nicht um das Verhalten dieses und jenes Individuums handelt, (das ist auch bei anderen Völkern unterschiedlich genug), sondern um das generelle und durchschnittliche Verhalten der Gruppe. Nun liegt mir nichts ferner als die Bereitschaft, mich in die Nachbarschaft jener Behauptung zu begeben, die den Juden ein „charakteristisches“ Benehmen zuweist, das sich mit dem seiner jeweiligen Umwelt nicht in Übereinstimmung bringen ließe. Ein schwäbischer oder ostfriesischer Bauer ist von einem schwäbischen oder ostfriesischen Dorfjuden schwer in seinem allgemeinen Verhalten zu unterscheiden, es sei denn, man stelle bei einem längeren Gespräch die unvermeidliche Tatsache fest, daß der Jude eben doch zumindest eine andere intellektuelle Vergangenheit hat. Aber da, wo die Lebenskreise nicht – wie in Dörfern und Kleinstädten – sehr eng in einander greifen und die klimatische und atmosphärische Assimilation demnach sehr groß ist; in jenen großen Bezirken der Städte, wo sich die Kreise sehr viel weniger schneiden und vielfach überhaupt nicht mit einander in Kontakt kommen: da kommt die Lebensform des Juden über eine imitierte Form in keiner Weise hinaus. Hier besteht das Problem nur im Umfang der Imitation, aber nicht in der Aufrichtung oder auch nur Beibehaltung eigener, mit Inhalt versehener und originaler Lebensformen.

Denn der Jude, der in den Prozeß der Emanzipation hineinging, hatte jedenfalls in Westeuropa nur noch traditionelle religiöse Formen. Irgend welche eigenen und selbständigen, auf einem Volksleben beruhenden Lebensformen besaß er nicht mehr. Das Ghetto hatte aus der erzwungenen Nähe der Menschen zu einander sehr subtile Rechtsbegriffe geschaffen, mit denen jeder im Besitz seines Hauses, seines Stockwerks, seiner Wohnhöhle geschützt war. Aber die Lebensform selbst mußte naturgemäß unter dem leiden, worunter imgrunde jede Form auf die Dauer zerbricht: an der erzwungenen Aufhebung jeder räumlichen Distanz. Menschen, die zu dicht neben einander wohnen müssen, verlieren jenes soziale Augenmaß, das für ein Zusammenleben eine unerläßliche Voraussetzung ist. Sie sind immer bereit, die private Sphäre des Nebenmenschen anzutasten oder nicht zu respektieren. Das ursprüngliche Gefühl der schützenden Nähe degeneriert bei ihnen allzu leicht zu einem Gefühl der Distanzlosigkeit. Diese Distanzlosigkeit wird auch nicht dadurch korrigiert, daß ein anderes Vorbild sich ihnen aufzwingt, oder daß das Leben in Gemeinschaft mit anderen Lebensformen in ihnen das Bedürfnis zur Nachahmung weckt. Denn in fast hundert Prozent aller Fälle existiert eine solche Gemeinschaft mit anderen Lebensformen überhaupt nicht. Eine Einfügung des Juden in die „Gesellschaft“ der abendländischen Länder hat nie stattgefunden. Hier und da haben sie sich an den Rändern gestreift. In einer Reihe von individuellen Fällen ist es zu oberflächlichen Berührungen gekommen. Im übrigen ist diejenige Abgrenzung, die in jeder Volksgemeinschaft an sich schon besteht, ( Lord X wird sich nicht ohne zwingenden Grund mit dem Grubenarbeiter Y an einen Tisch setzen), in ihrer Gesamtheit und Totalität in die Beziehung zum Juden hineingenommen worden, (Lord X und der Grubenarbeiter Y werden sich nicht ohne zwingenden Grund mit dem Juden Z an einen Tisch setzen). Ein irgendwie gearteter Ausgleich der gesellschaftlichen Formen findet also überhaupt nicht statt.

Das wäre an sich nur ein subjektives Unglück, nämlich für diejenigen Juden, die insgeheim oder offen darunter leiden, daß man sie in gewissen gesellschaftlichen Kreisen nicht akzeptiert. Vielleicht würden diese „Unglücklichen“ ein wenig in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung durch Andere befriedigt werden, wenn es unter den Juden irgend etwas gäbe, das in seiner Struktur und in seinem Inhalt dem gleich käme, was man bei normalen Völkern „Gesellschaft“ und „gesellschaftliches Leben“ nennt. Das gibt es höchstens bei jüdischen Gruppen, die sehr lange an einem Orte sitzen und dabei von ihrer Umgebung scharf geschieden sind, wie z. B. bei den Juden des Yemen. Aber der Jude der abendländischen Länder lebt in einem latenten Zustand der Gesellschaftslosigkeit. Ich habe überall in Europa jüdische Häuser gefunden, in denen es menschlich und geistig und atmosphärisch überaus angenehm zu verweilen war. Aber es gibt keine Addition dieser Häuser und dieser Atmosphären, und das so gerühmte jüdische Familienleben, (das mitten in einem tiefen Verfall begriffen ist), ist kein Ersatz für die Tatsache, daß es eine „jüdische Gesellschaft“ mit eigenem Charakter, eigenen Ausdrucksformen und eigener Atmosphäre nicht mehr gibt. Es gab bis vor kurzem im Osten Europas unter den jetzt vernichteten Massen der Juden noch so etwas wie ein mit eigenen Lebensformen versehenes Volksleben. Auch das scheint jetzt vorbei zu sein. Man lebt eben nicht ungestraft 2000 Jahre unter anormalen „gesellschaftlichen“ Bedingungen. Nach dem Tempo zu urteilen, in dem sich hier in Palästina die ersten schwachen Anfänge einer gesellschaftlichen Gestaltung vollziehen, wird es selbst hier, wo wir nach niemandem mehr zu schielen haben, noch ein Jahrhundert dauern, ehe wir diese Last der babylonischen Vergangenheit abgestreift haben.

Dieser Mangel an einer eigenen Lebensform, von der aus man anderen gelassen und ruhig begegnen kann, führt überall da zu einer gesellschaftlichen Unsicherheit, wo der einzelne Jude oder die jüdische Gruppe ihre Abhängigkeit von der Umwelt durch keine Angehörigkeit zu seinem eigenen Volkstum neutralisieren kann. Denn daß eine Abhängigkeit besteht, ist selbstverständlich. Aber die gegenwärtige Abhängigkeit ist katastrophal. In der ersten babylonischen Gefangenschaft standen wir in einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit. In der heutigen babylonischen Gefangenschaft sind unsere gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen absolut verfließend. Das führt zu einer schweren inneren Problematik, je nachdem die formal-rechtliche oder die äußerlich-gesellschaftliche oder die innerlich-kulturelle Seite infrage kommt.

Das formale Recht der Länder, in denen die Emanzipation gewährt wurde, (in den Konstitutionen der betreffenden Länder verankert und damit Bestandteil ihrer eigenen Ordnung geworden), stellt den Juden im Prinzip auf den gleichen rechtlichen Status wie alle anderen Staatsbürger. Er ist von keinen Pflichten befreit und ihm sind keine Rechte verwehrt. Das ist die Theorie. Die Praxis sieht sehr unterschiedlich aus, je nach dem Temperament der einzelnen Länder und je nach der Gestaltung, die der antijüdische Mythos bei ihnen erfahren hat. Gewisse Rechte sind anscheinend dazu da, nicht in Anspruch genommen zu werden. Je höher eine Stellung in der allgemeinen Organisation des Staatswesens ist – im Heere, in der Justiz, in der Verwaltung, in der Regierung – desto heftiger wendet sich das Ressentiment dagegen, daß ein Jude sie besetzt. Dabei ist die Groteske die, daß solches Ressentiment genau so oft vom Juden kommt wie von dem jeweiligen Staate, der einen seiner Juden – wahrscheinlich aus wohlbegründeten Erwägungen – in diese Stellung beruft. Wenn ein Jude im Staate A Minister wird, so ist zunächst eines gewiß: irgend ein Sektor des betreffenden Staates hat dagegen ein starkes, wenn auch nicht immer geäußertes Ressentiment. Und unter den Juden selbst herrschen auch geteilte Gefühle. Er ist zwar im Prinzip bereit, sich über diese Ehre und Anerkennung zu freuen. Er ist aber auch genau so bereit, in das Gegenteil überzugehen. Es braucht nur im Staate B sich eine Stimme hören zu lassen, die die Ernennung des betreffenden Ministers im Staate A etwa als Beweis für das Vordringen des Juden oder seines weltweiten Einflusses oder sonst etwas darstellt, und sofort befällt den Juden die große Unsicherheit, die Panik vor seiner eigenen Optik. Und er gibt den Rat, zwar auf keines der Rechte zu verzichten, aber sie da nicht auszunutzen, wo einer der ihrigen an zu „hervorragender“ Stelle sichtbar werde. Wobei die peinliche Frage, was schon hervorragend ist und was noch nicht, die allgemeine Unsicherheit noch erhöht und sie mit einer seltsamen Inkonsequenz beschwert.

Was die gesellschaftliche Seite angeht: es bedürfte meines Erachtens nur eines geringen historischen Trainings und ein wenig vergleichender Kulturgeschichte, um für jeden Juden, der sich nicht absichtlich blind stellt, eine Tatsache sichtbar zu machen: daß die Emanzipation keine gesellschaftliche Rezeption mit sich gebracht hat. Ich zweifle durchaus nicht an dem guten menschlichen Willen oder der zuweilen religiös betonten Bereitschaft von Nichtjuden, sich mit dem Juden auf der Basis des freundschaftlichen oder interessierten Verkehrs zu treffen. Ich bestreite auch nicht die Möglichkeit vieler Einzelfälle, in denen das Nur-Menschliche eine Ebene der gegenseitigen Gleichberechtigung herstellt. Aber die Erfahrung der letzten hundert Jahre widerlegt mit absoluter Schlüssigkeit die Vorstellung, daß sich die abendländischen Völker in ihrer Eigenschaft als Völker, als Nationen, als gebundene Gruppen jemals von dem tausendjährigen Fremdheitsgefühl gegenüber dem Juden befreien könnten. Sie konnten es so wenig, wie sie unter einander haben verhindern können, ihre Fremdheitsgefühle – mit den nötigen Ideologien versehen – zum triebhaften Untergrund all ihrer barbarischen Kriege zu machen. Die Erde ist noch kein Paradies und wird es vor ihrem Untergange auch nicht werden.

Läßt sich so bei einiger Erkenntnis und einigem Selbstbewußtsein das Problem der mangelnden gesellschaftlichen Rezeption ad acta legen, werden die Beziehungen doch schwieriger und weniger einfach zu erledigen bei der Frage der kulturellen Beziehung. Hier ist die Kompliziertheit auf beide Seiten verteilt, wenn auch ungleichmäßig. Die abendländische Welt hatte für die Emanzipation des Juden eine conditio sine qua non gestellt, die an sich ganz überflüssig war, da sie auch von selber eingetreten wäre: die zivilisatorische und kulturelle Angleichung des Juden an die Umgebung. Nun, die Dinge der Zivilisation – so unterschiedlich sie auch in den einzelnen Ländern sind – liegen so sehr auf der Oberfläche und sind zumeist mit den Annehmlichkeiten des Lebens so weitgehend identisch, daß es eine Kleinigkeit ist, sie zu übernehmen und sich zu eigen zu machen. Dennoch bleibt auch hier eine immanente Schwierigkeit bestehen. Es gibt auch unter normalen Völkern kein einheitliches zivilisatorisches Niveau. Niemand erwartet, daß die Reinmachefrau A sich auf demselben zivilisatorischen Standard bewege wie die Bankiersgattin B. Man ist logisch genug, hier zu differenzieren. Aber dem Juden gegenüber wird nicht differenziert, sondern generalisiert. Man ist nicht mehr logisch, sondern mit unausrottbarem Ressentiment behaftet. Wenn der kleine Ladenbesitzer Jaakob nicht dasselbe zivilisatorische Niveau aufweist wie der Webereibesitzer William, (dessen Waare er verkauft), so beweist das, daß Jaakob zu einem Volke mit niederem zivilisatorischen Standard gehört und nicht, daß er nur ein kleiner Ladenbesitzer ist. Gegenbeweise gibt es hier – wie bei allen gleichartigen Einstellungen – nicht. Und die Sache würde nicht mehr als ein Achselzucken verdienen, wenn sie nicht ein Glied in der Kette des antijüdischen Mythos darstellte, jenes Mythos, um dessen willen Millionen Juden vernichtet wurden und vernichtet werden.

Die Dinge liegen – auch ohne diese letzte Konsequenz – noch komplizierter bei der Frage der kulturellen Angleichung. Bis auf die osteuropäischen Länder, in denen eine große Anzahl der Juden die jiddische Sprache als ihre Umgangssprache und sogar als ihre Literatursprache beibehalten haben, haben alle Juden der Welt die Sprache ihres Wohnlandes angenommen. Die Art und die Tiefe, in der sie es getan haben, sprechen für einen entschlossenen Willen zur kulturellen Assimilation. Sie sind zum Teil zu hervorrragenden Vertretern ihrer jeweiligen Umweltsprache geworden und haben darüber hinaus produktive Bedeutung erlangt. (Die deutsche „Germanistik“ zum Beispiel hatte unter Juden sehr beachtliche Vertreter!) Auf der anderen Seite haben die gleichen Gründe, die wir oben für die „Internationalität“ des Juden verantwortlich machten, einen Typus erzeugt, der mit levantinischer Behendigkeit und Teilnahmslosigkeit jede Sprache spricht, die für seinen jeweiligen Aufenthalt und sein jeweiliges Fortkommen gerade nötig ist. Selbst bis nach Palästina, wo die eigene hebräische Sprache wieder sehr hörbar zu atmen beginnt, ist dieser kulturlose Sprachlevantinismus gedrungen und hat sich nie unangenehmer breit gemacht als in dieser Zeit des Krieges und der dadurch bedingten geschäftlichen Konjunktur.

Aber schließlich befinden sich nicht alle Juden dauernd auf internationaler Wanderschaft, sondern die überwältigende Mehrheit dieses Volkes – oft zum lebhaften Bedauern der Anderen – haftet zähe an dem Boden, den sie einer unwilligen Welt abgerungen haben. Und sie haftet noch weit zäher an der Kultur, von der man ihr sagte, daß sie sie annehmen müsse, wenn anders sie nicht im Ghetto und in der Rechtlosigkeit verbleiben wollen. Man hätte diese Bedingung garnicht erst zu stellen brauchen. Sie wurde automatisch und zwangsläufig erfüllt in dem Augenblick, in dem das Nachlassen der internen Bindungen überhaupt den Weg für die Beschäftigung mit weltlichen Dingen der Kultur freigab und die Beschränkungen der äußeren Freiheit wegfielen. Es ist hier durchaus nicht meine Absicht, herauszuheben oder auch nur andeuten zu wollen, daß der Jude am Kulturleben seiner Länder einen schöpferischen Anteil genommen hat; denn wir haben erlebt und wir erleben immer wieder, daß seine Teilnahme an der Kultur Anderer nicht unbezweifelt ist und mehr als einmal als illegitim abgelehnt wurde. Was sich im Deutschland dieser Gegenwart zugetragen hat, ist ja nur der negative Extremfall dessen, was sich überall erkennen läßt: daß nämlich die Kultur wieder ein selbständiger Faktor für die Erzeugung von Ressentiment wird. Und Ressentiment schafft sich seine Bedürfnisse selber und ad hoc. Es kann dem Juden vorwerfen, daß er sich der nationalen Kultur nicht genug ausliefere, und es kann ihm vorwerfen, er dränge sich darin vor und beziehe geistige Positionen, die ihm nicht zukämen. Der Ausgliederungs-Komplex ist auf dem Gebiete der Kultur nicht geringer als auf anderen Gebieten. Wir wollen nicht mit ihm rechten, denn wir haben es hier ja nicht so sehr mit ihm als mit dem Juden und seinem kulturellen Willen zu tun.

An diesem seinem kulturellen Willen ist nicht zu zweifeln. Er hat überall eine wahre Leidenschaft für die Kultur seiner Umwelt entwickelt. Ob er sich seines geistigen Ursprungs noch bewußt blieb oder ihn tief in seiner Seele verdrängte: er hat sich mit einer Ausschließlichkeit ausgeliefert und hingegeben, die ihn für die Gemeinschaft seines Ursprungs in sehr vielen Fällen zu einem Verlustposten machte. Wenn er an die Kultur seiner Umwelt heranging, dann war das für ihn eben seine Kultur, in der er sich betätigte; es war sein seelisches Element, und sein Sprechen darin war an sein Volk gerichtet, das er bereichern wollte, das heißt: das jeweilige Volk, unter dem er lebte. Wenn er Stimmen der Anderen hörte, die das nicht zugeben wollten, sah er darin nur Neid und Scheelsucht. Er war unbeirrbar in seinem Willen, mit seinen produktiven Fähigkeiten dem Wohnlande und nur ihm zu dienen. Wir haben bereits von seiner Bereitschaft gesprochen, alle seine Leistungen als nationale Leistungen seiner Umwelt gelten zu lassen und sie von einer Addition mit den kulturellen Möglichkeiten seines Ursprungsvolkes möglichst fernzuhalten. Aber wir haben noch nicht von der seelischen Rückwirkung gesprochen, die diese Teilnahme als Jude an der Kultur der Welt für ihn mit sich brachte.

Um diese seelische Rückwirkung zu verstehen, müssen wir ebenfalls auf die Geschichte zurückgreifen, um von ihr aus eine Parallele zu gewinnen, und zwar auf den Ausgangspunkt jener spanischen Periode, von der bereits gesprochen wurde. Und an diesem Ausgang wieder interessiert uns ein spezieller Ausschnitt: die innere Situation desjenigen Juden, der mit dem großen geistigen und seelischen Vorbehalt dem Märtyrertum ausgewichen und die Taufe auf sich genommen hat. Man stelle sich einmal den durchschnittlichen Typus eines solchen Marranen des 15. Jh. vor. Er selber, der bislang im Rahmen eines traditionellen Judentums gelebt hat, wird für sich selber kaum die Dinge vergessen, die er einmal gelernt hat. Sie sind in ihm verankert. Aber an der lebendigen Betätigung ist er verhindert. Die Ausübung alles dessen, was Form des Lebens und Ritual der Religion ist, ist unter dem Druck der neuen christlichen Atmosphäre entweder unmöglich oder mit Lebensgefahr verbunden. Die Kinder dieses Mannes werden die Formen und Feste, die doch eine typische Zäsur des jüdischen Lebens darstellen, kaum noch lernen. Wenn sie sie kennen lernen, müssen sie heimlich geübt werden und sind mit Gefahr und Angst belastet. Man mag diesen Kindern auch noch dieses und jenes an jüdischem Wissen heimlich beibringen; aber ihre eigentliche geistige Erziehung erhalten sie von jetzt an aus der Umwelt, aus ihren Kirchen, die sie besuchen müssen, damit ihre Gläubigkeit nicht bezweifelt wird, und aus ihren Schulen, die sie erst recht besuchen müssen, um nicht den Argwohn einer heimlichen jüdischen Erziehung auf sich zu laden. Und dieser Prozeß bleibt nicht auf eine Generation beschränkt. Er setzt sich in die Geschlechter fort. Und er vertieft sich dadurch, daß eines Tages in diesem Lande keine ungetauften Juden mehr vorhanden sind, die ihnen durch heimliche Belehrung das jüdische Wissen und das jüdische Bewußtsein aufrecht erhalten können.

Und so ergibt es sich, daß diese marranischen Juden auf ein immer primitiveres, immer ungreifbareres und gestaltloseres Judentum zurückgeworfen werden. Ihr Judentum zieht sich aus seiner Realität zurück in die Halbwirklichkeit einer romantischen Erinnerung, in eine Gefühlswelt, die sich an nichts als undeutliche und ungestaltete Erinnerungen anklammert. Und über diese seelische Tiefenschicht breitet sich unweigerlich eine immer schwerer werdende Schicht von Material, das aus dem erzwungenen Leben mit der Außenwelt kommt. Vorstellungen und Begriffe, die sie im Rahmen ihres Judentums nie gekannt haben, werden ihnen vertraut, gehen in ihr Denken ein, werden Bestandteil ihres Alltags, ihrer Sprache und ihres Erlebens. Über ihr verdämmertes seelisches Weltbild lagert sich ein anderes, intellektuelles, das aus der Teilnahme an der Welt stammt. Geistige und religiöse Vorstellungen und Begriffe bestimmen ihre bewußte Welt, während ihre unbewußte Welt in ganz anderen Sphären träumt. Das Bewußtsein, das Wesen, die Seele dieser Menschen werden gespalten. Sie verlieren ihre Einheit und Einheitlichkeit. Das ist es, was das Wesen jedes Marranentums ausmacht: mit einem gespaltenen Bewußtsein in der Welt stehen; zwei verschiedene Welten in sich bergen; und in keiner ganz zu Hause zu sein.

Das ist – mit dem zeitlichen Unterschied und den Lebensbedingungen einer anderen Epoche – genau der gleiche Tatbestand, den wir heute wieder finden, wenn der Jude unter den abendländischen Völkern sich der Kultur seiner Umwelt verschreibt und ausliefert. Seine Beziehung zur Welt ist nicht selbstverständlich. Er ist gezwungen, sie vor den Anderen ausdrücklich zu motivieren und zu fixieren. Das ist an sich schon ein anormaler Zustand. Aber darüber hinaus kommt ihm die Doppelgleisigkeit in den Weg, mit der er unvermeidlich leben muß, ob er selber es will oder ob die Anderen ihn jeweils daran erinnern. In vielen Fällen ist ein solcher Jude sich seines Urgrundes noch bewußt. Aber das mindeste, was er dann tut, ist, sich selber und den Anderen zu beweisen, daß er trotz dieses Urgrundes durchaus imstande sei, am geistigen, gesellschaftlichen, politischen und bürgerlichen Leben seiner Umwelt teilzunehmen. Zuweilen bestreitet er, daß er anders sei als die Anderen. Zuweilen gibt er es zu, aber er sagt, dieses Anderssein sei unschädlich und müsse das Zusammenleben und Zusammenwirken nicht berühren. So oder so muß er die Existenz und das Wesen seines Urgrundes vor der Welt motivieren und rechtfertigen. Er trägt sein Judentum nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit, sondern als etwas zu Beweisendes. Und diesen Beweis bringt er in mancherlei Formen. Und auf dem Wege solcher Beweise wird das, was einmal Gesamtbesitz der Gemeinschaft war: das Judentum selber, zu einer privaten Angelegenheit des Beweisenden. Er legt es sich zurecht, wie er es für seine Zwecke braucht. Er vermindert es oder interpretiert es oder verschiebt es auf das Geleise der Unschädlichkeit oder der Zweckmäßigkeit. Und eben so oft leidet er darunter. Aber er leidet darunter nicht in seiner Eigenschaft als Jude, sondern in der Eigenschaft eines, der daran gehindert ist, zugleich auch Nicht-Jude zu sein.

Das ist die moderne Variante des alten Marranentums, die Doppelschichtigkeit der Persönlichkeit, die Bewußtseinsspaltung, die zu einem besonderen Schicksal führt. Es ist die psychologische Situation des jüdischen Menschen, der am Leben der europäischen Völker teilhaben wollte. Auch er hat in einer Situation gelebt, in der sein Judentum wenig mehr war als ein vom Gefühl getragener Erinnerungsbestand. Es mag sein, daß sein allgemeines jüdisches Wissen größer war als das des Marranen von ehemals. Aber dafür war er fast noch ausschließlicher als der Marrane in das geistige Gefüge der Welt und seiner jeweiligen Umwelt hineingegangen. Er hat nicht nur ihre äußeren Formen akzeptiert, sondern auch ihre Denkrichtung. Und er hat aus diesem gleichen Denken her, das er in sein Herz und seine Seele aufgenommen hat, immer wieder jene Antwort hören müssen, die ihn ablehnt und ihn in seinem kulturellen Bemühen zu Tode verurteilt. Denn dieses Denken, das Denken Europas, ist trotz seines religiösen Bestandes das Erbe der antiken griechischen und römischen Welt geblieben. Wo immer es ausbricht, enthüllt es im Grunde seiner Seele ein tiefes Heidentum, das die religiösen Impulse durch Zivilisation und Vernunftmaximen ersetzt. Und solange diese Europäer die Welt durch Vernunft retten wollen, wird die Unvernunft, die aus den ungebändigten Instinkten kommt, immer stärker sein. Und sie werden das Böse tun, das sie nicht tun wollen. Und das Gute, das sie tun wollen, werden sie nicht tun. Und das erste Opfer, das hier fällt, ist immer noch der Jude gewesen.

Wenn schon dem Juden, der sich seines Untergrundes bewußt geblieben ist, dieses Schicksal nicht erspart bleibt, wie sollte es an dem vorübergehen, der diesen Untergrund aus seinem Bewußtsein nach Kräften ausgeschaltet hat? Es gibt einen Typus, der sich der Aufmerksamkeit der Völker besonders erfreut und der deswegen besonders stark mit Scheinwerfern beleuchtet wird: der Vorkämpfer und Interpret der sogenannten sozialen Revolution; der ehemalige Jude, der seine ganze geistige und seelische Existenz der Lehre des Judenhassers und Halbjuden Karl Marx verschrieben hat; der Sozialist, Kommunist, Bolschewik, der in seinem Haß gegen das Kapital genau so ein Repräsentant des „internationalen Judentums“ ist, wie sein striktes Gegenteil in seinem Haß gegen den Sozialisten, Kommunisten, Bolschewiken ebenfalls ein Repräsentant des Internationalen Judentums ist. Wenn man sich nicht der Irrenhausidee verschreibt, der Jude sei unter allen Umständen entschlossen, die ganze Welt (einschließlich sich selber) zu vernichten, ganz gleich, mit welchen Mitteln und mit welchen Systemen, dann muß man auf den argwöhnischen Gedanken kommen, daß möglicherweise an dieser gefälligen Definition etwas nicht in Ordnung ist. Ich lehne es nach wie vor ab, Don Quixote gegen Mythen des Europäers zu spielen. Aber der Ursprung dieses genannten Typus liegt zu nahe, um übersehen zu werden. Es ist der alte, unausrottbare Drang des jüdischen Menschen nach der Gerechtigkeit in der Welt. (Möge es selbst Europa nicht gelingen, ihn auszurotten!) Es ist die uralte jüdische Erbschaft, die größte geistige und moralische Erbschaft, die es überhaupt auf der Welt gibt. Sie ist hier von ihrem Ursprung losgelöst, aus ihrem uralten idealistischen Weltbild herausgenommen worden und – in das Gewebe einer täglich sich selbst widerlegenden materialistischen Weltauffassung verwirkt – über die ganze Welt geworfen. Man mag der politischen und wirtschaftlichen Wirksamkeit dieser neuen Weltordner noch so reserviert gegenüber stehen, man mag ihr materialistisches Weltbild noch so heftig ablehnen, man mag ihnen noch so sehr vorwerfen, daß sie nur eine Gewalt gegen die andere stellen, (ich persönlich tue alles drei), aber in ihrem Ausgangspunkt in ihrer Grundhaltung des Willens zur Gerechtigkeit für alle sind sie weit wertvoller als alle ihre Gegner zusammen genommen.

Aber wir müssen hier noch einer weiteren psychologischen Spur nachgehen, einer weiteren Deformierung, die dem Juden aus seinem unerledigten Zusammenleben mit der Welt geschehen ist. Was hat es mit jenem „internationalen“ Juden auf sich, der sich aus dem Verband seines Volkes loslöst und als seinen Lebensraum die „Welt“ oder die „Kultur“ oder die „soziale Gerechtigkeit“ oder das „Proletariat aller Länder“ bezeichnet? In der Mehrzahl der Fälle wird er sagen, daß er die engen nationalen Grenzen des Judentums und alle nationalen Grenzen überhaupt gesprengt habe; daß für ihn keine Nationen mehr existierten; daß es höhere und weitere Begriffe als die der Nation gäbe.

Was die letztere Behauptung angeht, hat er zweifellos Recht. Was die anderen Behauptungen angeht, wird man nicht ohne weiteres berechtigt sein, die subjektive Wahrheit seiner Behauptung zu bezweifeln. Aber in der Mehrzahl der Fälle liegt die Wahrheit, liegt der psychologische Untergrund auf einer ganz anderen Ebene.

Es gibt natürlich unter allen Völkern Menschen, die sich in ihrer geistigen oder seelischen Haltung als übernational bezeichnen, entweder weil es in der Linie ihres Berufes liegt – wie bei Geistlichen – oder weil sie einem Ideal dienen, das in ihrer Konzeption allen Nationen gemeinsam ist: der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft. Aber alle diese Menschen wurzeln doch tief in dem Volkstum, aus dem sie hervorgegangen sind. Von dort haben sie die Kraft geschöpft, mit der sie wirken. Zuweilen haben sie sie nach den Maßen ihrer geistigen Gewalt sublimiert, sodaß sie – wie Toscanini oder Thomas Mann – von dem zeitlich geistigen Habitus ihres Ursprungsvolkes sehr verschieden erscheinen. Aber in keinem Falle haben sie es nötig, sich ausdrücklich von ihrem Volke loszusagen, sich ausdrücklich abzulösen und es für den weiteren Weg ihres Lebens ausdrücklich als quantité négligeable zu betrachten, geschweige denn es zu bekämpfen oder zu verachten. Das wäre überflüssig und anormal zugleich.

Beim Juden liegt es anders, und zwar nicht, weil es so in unserem Charakter läge, (wie oft wird uns mit gewohnter Logik neben der Internationalität zugleich das Gegenteil des nationalen Chauvinismus vorgeworfen! ), sondern weil die Anormalität unserer Situation in der Welt nicht ohne psychologische Wirkungen bleiben kann. Es ist nicht jedem gegeben, sich mit der Tatsache abzufinden, daß wir seit zweitausend Jahren immer von irgend jemandem und von irgendwo und mit irgendwelchen Motiven beobachtet und beurteilt und gewertet werden. Ich gebe zu: die Majorität der Juden hat sich derartig daran gewöhnt, daß sie es schon nicht mehr zur Kenntnis nimmt; so wie man sich daran gewöhnt, in einem Hause zu wohnen, neben dem Eisenbahnen einherfahren. Man gewöhnt sich an das Donnern. Man fühlt sich nur unangenehm gestört, wenn irgend ein fahrplanmäßiger Zug eines Tages nicht zur gewohnten Zeit über die Schienen donnert. Aber es gibt eine Minderheit, die sich nicht gewöhnt. Ihre Nerven sind schon zu sehr belastet. Sie werden gereizt, wenn der Zug donnert, und erst recht, wenn er nicht donnert.

Unter dieser Minderheit gibt es Abstufungen verschiedener Grade und verschiedener seelischer Belastung. Da ist zunächst jener Jude, der seiner Umwelt gegenüber sein Judentum nach Kräften vertuschen möchte, weil er sich seines Judentums schämt, und doch nicht den Mut hat, es offiziell zu verlassen. (Er ist übrigens die Gegenkomponente jenes Juden, der von Zeit zu Zeit stolz erklärt, daß er ein Jude sei, und der beim besten Willen nicht das geringste aufzuweisen hat, was man als jüdischen Wert bezeichnen und worauf er stolz sein könnte; es sei denn die Tatsache, daß er noch nicht zu einem anderen Glauben übergetreten ist). Dieser verschämte Jude ist auch ein psychologisches Ergebnis des Lebens in der Fremde; des Gefühls, eigentlich nirgends zuhause zu sein. In den Räumen seines Judentums fühlt er sich nicht mehr heimisch, weil er dort nichts mehr wirklich erlebt; und aus den Räumen der Umwelt fürchtet er verjagt oder garnicht erst darin aufgenommen zu werden, wenn er als Jude erkennbar wird. Darum schielt er innerlich. Er ist unsicher und nervös und jeder Äußerung gegenüber, die möglicherweise jüdische Dinge berühren könnte, von einer besonderen Reizbarkeit. Er hat dauernd mit einem Minderwertigkeitsgefühl zu kämpfen, das er selten besiegt, das er zuweilen mit materiellen Erfolgen überdeckt, und das er nicht selten in jener Art übersteigert, in der Minderwertigkeitskomplexe nun einmal übersteigert zu werden pflegen: durch ein übertriebenes Selbstbewußtsein mit allen gesellschaftlichen, geistigen und psychologischen Folgen, die es in sich birgt. Es ist nicht Zufall, daß sich bei den Juden der europäischen Länder eine vermehrte Disposition zu seelischen Erkrankungen, zu Neurosen und Psychosen eingestellt hat. Wie oft werden ihre ökonomische, ihre gesellschaftliche, ihre geistige Existenz von jenen unsicheren und unberechenbaren Zufälligkeiten in Abhängigkeit gebracht, die sich indirekt aus ihrem Judesein und direkt aus der Reaktion der Umwelt auf dieses Judesein ergeben! Wer das Maß der Abhängigkeit von solcher Umwelt nicht dadurch neutralisieren kann, daß er es als Tatsache in seine jüdische Existenz von vornherein einbezieht, oder wer es nicht dadurch kompensieren kann, daß er in der Zugehörigkeit zum Judentum genügenden seelischen Rückhalt findet: der kann den psychologischen Belastungen solcher Unsicherheiten und solcher Spannungen nicht immer ausweichen.

Aber es gibt Fälle, in denen dennoch ein Ausweichen stattfindet, ein radikales Ausbrechen aus Bindungen, die überlastet worden sind. Es gibt Fälle, in denen die seelische Widerstandskraft des Juden zerbricht. Er verliert die Bereitschaft, immer das Ziel von Spannungen, Belastungen und Wertungen zu sein. Er vermag nicht einzusehen, warum gerade er mit solchen Belastungen durch das Leben laufen soll. Er ist es bis zum Überdruß satt, ein Schicksal zu tragen, das er – als Individuum, als einzelner Mensch – sich nicht ausgesucht hat, und das ihn nicht erhebt, sondern zu Boden drückt. Es mag sein, daß er sogar einmal um seine innere Existenz als Jude gekämpft hat. Dann ist er daran müde geworden. Er hat den großen Wellen gegenüber, die täglich über seinem Kopfe zusammenschlagen, die Hände sinken lassen. Er ist von der schmalen Landzunge, auf der er noch stand, abgesprungen und hat sich den Wellen anvertraut. Es mag aber auch sein, daß er nie um sein Judesein gekämpft hat, daß aus diesem Bezirk nichts mehr auf ihn eindrang, was ihn zu einem wirklichen Erleben zwang. Dann begreift er um so weniger die Notwendigkeit, sich von der Welt als Jude angreifen zu lassen. Dann ist er um so mehr bereit, den Standort zu verlassen, auf den sich die Blicke der Welt richten. So oder so lehnt er es ab, ewiges Schicksal auf sich zu laden. Er geht aus dem Judentum heraus und sucht sich seinen Platz irgendwo in der Welt, irgendwo in einem anderen Volke, oder irgendwo über den Völkern.

Aber die Spur geht noch weiter. Nicht immer bedeutet dieses Weggehen aus dem Bezirk des Judentums lediglich eine reinliche Scheidung zwischen zwei Bezirken. Es gibt Fälle – und sie sind garnicht selten – in denen der Bezirk von gestern nicht einfach ausgelöscht werden kann. Das Geschehen, das ihn dort überfallen hat, geht mit ihm in den anderen, in den neuen Bezirk seines Lebens hinein. Er überträgt alles das, was er geduldet hat, auf den Bezirk, in dem und um dessen willen er es geduldet hat. Er gibt den Haß der Welt zurück auf den Bezirk, in dem er diesen Haß trug. Er haßt in dem Bezirk von gestern dasjenige was man in ihm haßte, als er noch drüben stand. Er braucht diesen Haß gegen das Gestern aus seelischen Gründen: um vor sich selber motivieren zu können, daß er zu vollem Recht einen hassenswerten Bezirk verlassen habe. Aus dieser Haltung kommen die großen Judenhasser, die einmal Juden waren oder denen die Umwelt ihre jüdische Abkunft nicht vergessen hat. Und sie sind besonders große Hasser da, wo der Angriff auf ihr Judentum aus jenem Bezirk kam, der immer der größte Angreifer war: der Bezirk des Glaubens, und wo sie dem Angriff dieses Glaubens nachgegeben haben und Renegaten wurden. Um diesen jüdischen Renegaten zu bezeichnen, sei mir erlaubt, mich selber zu zitieren, (aus: The Messiah of Ismir): In jedem Renegaten liegt ein unerledigter Rest von Beziehungen zu dem alten Glauben, ein unerledigtes und unerlöstes Stück Liebe zu einem Ursprung, der nicht zuende gelebt ist, weil er sich versagt oder weil man sich ihm versagt hat. Aus solchen Rudimenten des Verstoßenseins kommt die Haltung des stillen Hasses. Ein Renegat ist nur fortgegangen von seinem Gotte. Nie ist er endgültig entlassen. Aus dem Gedanken an solche schicksalhafte Bindung zuckt ihm ständig die Hand, um zu einem Schlage auszuholen: Haltung der Notwehr.

So ist also in dieser babylonischen Gefangenschaft von heute alles in das genaue Gegenteil verkehrt, was jene historische Gefangenschaft aufwies. Statt geschlossener Wohnprovinzen haben wir weit zerstreute und vielfach sich verschiebende und bestrittene und entzogene Wohnbezirke. Statt der gesellschaftlichen und kulturellen Einheit haben wir die Auflösung eigener gesellschaftlicher Formen und die kulturelle Assimilation aller Grade. Statt des geschlossenen Volkstums haben wir eine Reihe regionaler Judentümer mit verschiedenen Denkinhalten und Interessen. Statt des sicheren Bewußtseins, daß wir unser eigenes Volkstum aufrecht erhalten und fortsetzen und in Bereitschaft halten müssen für die Stunde der Rückkehr, haben wir die Unsicherheit der Haltung gegenüber der Umwelt erworben. Statt der Berufung, die wir einmal in uns fühlten, spüren wir den Mythos, den Andere für uns gedacht haben. Es gibt kein Volk auf der Welt, das so schwer belastet wäre, wie das unsrige. Wenn es nicht hundert Gründe gäbe, sich mit der Totalität seiner Existenz als Jude zu bekennen, so wären das Maß dieser Belastung und der Wille zu gerechtem Ausgleich Grund genug, sich zu ihm zu bekennen.

Der wohlwollende Leser mag sagen – vielleicht mit einem tröstlichen Unterton – daß wir ja immerhin noch die Religion hätten; und einige Aufgeklärte mögen sagen, daß wir ja auch den Zionismus mit seinem nationalen Aufbau hätten. Da wir nun schon einmal dabei sind, vor der Welt auszusprechen, was wir eigentlich sind und wer wir eigentlich sind, so muß über beides noch gesprochen werden. Wir wollen das gesondert im folgenden Kapitel tun. –


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