Carl Karlweis
Wiener Kinder
Carl Karlweis

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Vierzehntes Kapitel.

Das Ende vom Lied.

Ein heller Sonntag im Mai. Auf dem Trottoir der Ringstraße wogt schon in den ersten Nachmittagsstunden eine lebhafte, geputzte Menge auf und nieder. Ein hochgewachsener junger Mann, dessen breitkrämpiger Filz aus dem Gewühle weithin sichtbar hervorragt, bahnt sich mit rücksichtslosem Gebrauche seines Ellbogens einen Weg durch die Massen, wobei er jedoch die Getroffenen jedesmal mit lächelnder Höflichkeit um Entschuldigung bittet. An seinen rechten Arm schmiegt sich ein blaßes blondes Weibchen, das immer wieder besorgt um sich blickt und dem Langen ängstlich zuflüstert: »So hab doch nur ein bißl Geduld! Es geht ja auch ohne Drängen und Puffen!«

Der krausköpfige Träger des breiten Filzhutes beugt sich dann leicht herab, lacht gutmütig und antwortet mit jenem schimmernden Blicke, der nur aus den Augen der Glücklichen strahlt:

»Nein, mein Schatz, sie sollen Dir Platz machen, alle . . . alle! – Entschuldigen schon!«

Damit folgt ein neuerlicher Ausfall mit dem linken Ellbogen, der wieder für einige Schritte Raum schafft.

Es ist Riedl, der mit seiner jungen Frau dem Prater zuwandert. Ihnen folgt auf dem Fuße ein zweites Paar, 393 das wunderlich genug zusammengestellt ist: Vater Schober geht mit Tini, der einstigen Freundin Loris.

Am Abende vor ihrer Hochzeit war Marie plötzlich bei Tini erschienen, die der unerwartete Besuch nicht wenig überraschte, denn sie hatte mit Marie kaum ab und zu einen flüchtigen Gruß gewechselt, und seit Loris Flucht selbst dies vermieden. Die kleine Näherin merkte übrigens dem bleichen Mädchen an, daß auch diesem der Weg zu ihr nicht leicht geworden war. Mit niedergeschlagenen Augen und nur mühsam Worte findend, erklärte ihr Marie die Ursache ihres Besuches.

Tini sollte einen Brief, den die Sprecherin zögernd hervorzog, der Mutter zukommen lassen.

»Ich . . . ich heirat'!« fügte sie stockend hinzu, »und da möcht' ich doch, daß die Mutter und Lori wenigstens in die Kirche kämen! Vielleicht findet sich dann . . .«

Hier unterbrach sie sich hastig und fuhr schwer atmend fort: »Aber das steht alles in dem Brief da!«

Tini vermochte ihren Wunsch nicht zu erfüllen.

»Ich weiß seit einem halben Jahr selbst nicht mehr, wo die Lori hingekommen ist!« versicherte sie eifrig. »Damals ist sie plötzlich ausgezogen und niemand im Haus hat g'wußt wohin. Nicht einmal die Hausmeisterin, die doch mit Ihrer Mutter so gut war! Seitdem hab' ich kein Sterbenswörtl mehr von ihr g'hört!«

So mußte Mariens Brief unbestellt bleiben. Noch versuchte das junge Mädchen selbst sein Glück, indem es sich, von Tini begleitet, nach der Schwindgasse begab, um dort bei Frau Bogner Erkundigungen einzuziehen. Die sonst so mitteilsame Hüterin des Hauses vermochte ihr jedoch nicht viel mehr zu sagen, als die Näherin bereits erfahren hatte.

»Sie soll zum Theater gegangen sein!« erklärte sie unter geheimnisvollem Augenzwinkern. »Aber sie ist nur eine kleine 394 Spielerin g'worden, der es freilich trotzdem sehr gut gehn kann. Wo sie jetzt wohnt, weiß ich nicht – vielleicht gar nicht mehr in Wien, die Theaterleut' fliegen ja in der ganzen Welt herum!«

Marie entzog sich endlich dem Geschwätze des zungenfertigen Weibes und kehrte niedergeschlagen heim. Die kleine Näherin, die neben ihr einher trippelte, suchte so gut sie es eben vermochte die junge Braut aufzurichten. Marie wehrte ihr zwar mit einem müden Kopfschütteln, aber die herzliche Teilnahme der Kleinen that ihr doch wohl, und zu Hause angelangt, ließ sie sich nicht ungern bestimmen, noch ein wenig in Tinis Dachkammer zu verweilen und das freundliche Geplauder des guten alten Mädchens anzuhören. War doch Tini die einzige, in deren Gegenwart Marie ohne Scheu wagen durfte, von Mutter und Schwester zu sprechen. Auch seither hat sich dies kaum geändert, denn selbst Riedl, sonst so gutmütig und jedem ihrer Wünsche mit fröhlichem Eifer willfahrend, antwortet ihr nur widerstrebend und sichtlich verstimmt, wenn sie von den Ihren zu reden anhebt. Gegen die Freundschaft mit der harmlosen alten Näherin hat dagegen weder er noch der Vater etwas einzuwenden.

So ist Tini allmählich ein gerne gesehener Gast in dem stillen, traulichen Heim geworden, in welchem Mariens stillgeschäftige Hand emsig für das Behagen des Gatten und des Vaters sorgt. Die kleine Näherin ist von diesem Verkehre nicht wenig entzückt. Wenn sie ihre Freundin, »die Frau Konzertmeisterin« besucht, legt sie denn auch stets ihre besten Kleider an. Heute hat sie sich aber ganz besonders prächtig herausgeputzt. Sie trägt einen zwar etwas altmodischen, aber dafür mit zwei breiten, grellroten Bändern geschmückten Strohhut, unter dessen mächtigen Rändern der kleine Kopf und das schmale Gesichtchen fast vollständig verschwinden; ferner ein 395 helles großgeblümtes Waschkleid mit Puffärmeln und einen verblichenen Shawl, den sie kokett um Schultern und Arme drapiert hat.

So trippelt sie vergnügt und höchlich aufgeregt neben dem Polier einher, zu dem sie ab und zu schüchtern fragend emporsieht, wobei sie den Kopf weit zurückbiegen muß, um unter dem Hute hervorgucken zu können. Ihre stille Hoffnung, Vater Schober werde ihr seinen Arm reichen, erfüllt sich vorerst nicht. Der unartige Mann bemerkt ihre schmachtenden Blicke gar nicht, und so muß sie denn »einschichtig« neben ihm hergehen.

In dem Gewühle der Ringstraße ist es freilich ohnedies kaum möglich eine kurze Bemerkung zu wechseln; von der Wollzeile ab hört jedoch das Gedränge endlich auf, und die kleine Gesellschaft vermag sich nun leichter zu bewegen. In den Alleen, die an dem Exerzierplatze vor der Franz-Josefskaserne entlang bis zur Aspernbrücke führen, geht es sogar ziemlich still zu, nur über die breite Fahrstraße rasseln Equipagen, Mietwagen, Omnibusse und die schwerfälligen Wagen der Pferdebahn mit ihrem eintönigen Geklingel in bunter Reihe dem Donaukanale zu, dessen schmutzig gelbe Wogen ab und zu die großen Schaufelräder eines Dampfschiffes oder die hurtig wirbelnde Schraube eines kleinen Propellers durchfurchen. In der Praterstraße wächst die von allen Seiten zuströmende und sich allsamt in einer einzigen Richtung bewegende Menge wieder gewaltig an. Riedl vermag nur Schritt um Schritt vorwärts zu kommen und muß ab und zu, wenn die folgenden Reihen besonders ungestüm nachdrängen, seinen Arm schützend um Marie legen, damit sie nicht allzu arg ins Gedränge gerate. Doch fällt dabei weder von seiner Seite noch von jener der langsam weiter schiebenden oder vielmehr selbst geschobenen Umgebung ein ernstes Wort der Ungeduld, der üblen Laune.

396 »Nun, was ist denn da vorn? Schlafen die Herrschaften vielleicht gar ein?« ruft bei einer Stauung, die länger als sonst währt, eine Stimme aus den rückwärtigen Gruppen. Und schlagfertig wendet sich ein behäbiger alter Herr zurück, der zwischen zwei üppigen älteren Damen eingekeilt steht und der drückenden Hitze wegen den grauen Filzhut an der Spitze seines Stockes trägt:

»Ruhig dahinten! Sie kommen noch zeitlich genug zu Ihrem Rausch!«

Man lacht und wartet geduldig weiter. So fliegen lustige Rede und Gegenrede den ganzen Weg entlang über die Köpfe der Menge hinweg. Endlich ist der Prater erreicht.

Hier gilt es nun vor allem in der Haupt-Allee einen günstigen Platz hart am Rain der Fahrstraße zu erobern, um die in langen, schier endlosen Reihen vom Rennplatze zurückkehrenden Wagen bewundern oder bekritteln zu können. Vater Schober und das junge Ehepaar zeigen zwar wenig Lust, sich neuerdings in das Gewühl zu wagen, allein Tini bestimmt sie doch dazu. Ein Sonntag im Prater ohne dieses herkömmliche Vergnügen scheint der kleinen Näherin ein geradezu verunglücktes Unternehmen, so schließen sie sich denn allsamt einer Gruppe an, welche in der Nähe des ersten Kaffeehauses zwischen zwei mächtigen Kastanienbäumen Aufstellung genommen hat. Hier geht es bereits recht lebhaft her. Treffende Bemerkungen, von den Umstehenden meist mit lautem Lachen beantwortet, empfangen jeden vorüber rollenden Wagen. Dazwischen kreischt hie und da eine helle Weiberstimme:

»Aber drängen S' doch nicht so! Es geht ja nicht weiter!« oder der naive Stoßseufzer:

»Warum alle Leut' just in den Prater gehn müssen?! Es giebt ja andere schöne Plätz' genug!«

Marie steht, von Riedl treulich beschützt, in der vordersten 397 Reihe; neben ihr Tini, welcher ein schmucker Unteroffizier galant seinen Platz abgetreten hat. Die Näherin strahlt vor Vergnügen, flüstert ihrer ernsten Freundin ab und zu mit geheimnisvoller Miene irgend eine gleichgültige Bemerkung zu, kichert dann ohne jeden erklärlichen Anlaß und blickt dabei verstohlen auf den freundlichen Krieger. Ein hübscher Mann! denkt sie halblaut und seufzt. Vater Schober hält sich im Hintergrund. Er hat einen Bekannten gefunden, mit dem er bedächtig plaudert.

Plötzlich erbleicht Marie, faßt Tini an der Hand und deutet mit einem beredten Blicke auf einen eleganten Kutschierwagen, der von zwei prächtigen Falben gezogen, die freie Mitte der Fahrbahn durchsaust. Eine junge in auffallende Farben gekleidete Dame lenkt das feurige Gespann. Ihr hübsches Gesicht ist geschminkt, ihr Haar nach der neuesten Mode hellgelb ›entfärbt‹ und ihre Blicke gleiten herausfordernd über die Wagenreihen hin. Aller Augen wenden sich ihr zu. In den Equipagen wispert man, die Damen wenden sich halb ärgerlich, halb neugierig an ihre männlichen Begleiter und diese zucken die Achseln oder drehen mit unternehmendem Lächeln die Schnurrbärte. Einige Reiter nicken der Vorübersausenden nachlässig zu, ein junges Bürschchen, mit ängstlicher Sorgfalt nach dem letzten Modejournale gekleidet, grüßt sogar recht vertraut und blickt dann stolz um sich: »Habt Ihr wohl gesehen? Ich kenne sie!«

Neben der kutschierenden Schönen sitzt mit breitspuriger Würde eine beleibte Frau, welche sich jedoch auf dem engen Kutschbocke nicht ganz behaglich zu fühlen scheint. Von Zeit zu Zeit fährt sie mit den plumpen, in helle Handschuhe gezwängten Händen nach den hochgestemmten Füßen, als ob diese sie schmerzten . . .

Marie sieht dem vorüberjagenden Gefährte mit starren Blicken nach, bis es in der langen Wagenreihe verschwindet.

398 »Haben S' die zwei g'sehn?« flüstert sie der Näherin atemlos zu. »Lori und die Mutter!«

Tini nickt.

»Großartig!« erwidert sie staunend, und ihre Augen leuchten in ehrlicher Bewunderung.

Marie läßt heftig ihren Arm los und drückt sich fester an ihren Gatten.

»Komm weg!« sagt sie bittend.

»Warum denn?« fragt dieser verwundert.

»Ich bin müd' und der Kopf thut mir weh. Komm!«

Besorgt führt sie der Gatte zum Vater zurück. Auch Tini muß zu ihrem Leidwesen von dem glänzenden Bilde und dem liebenswürdigen Unteroffiziere Abschied nehmen. Doch wird sie hiefür reichlich entschädigt. Denn nun geht es unter Riedls Führung quer über eine Wiese nach dem weit lustigeren »Wurstelprater«. Noch eine Weile verfolgt sie das Summen und Surren der auf und nieder wogenden Menge längs der Fahrbahn; das Rollen der Räder, die Rufe der Kutscher klingen zu ihnen herüber, ab und zu auch noch ein lauter Pfiff oder das Bellen eines Hundes, dann umfängt sie ein neues, bunteres und noch lärmenderes Treiben mitten im Strome einer lustigen Menge, die hier lachend und schwatzend von Bude zu Bude drängt.

Marie geht schweigend neben ihrem Gatten einher, der vergeblich nach der Ursache ihrer Verstimmung forscht.

»Du bist doch nicht ernstlich krank?« fragt er immer wieder ängstlich . . »Dann wollen wir doch lieber gleich nach Hause gehn.«

Nein, sie ist nicht krank. Er möge nur beruhigt sein. Später wolle sie auch wieder nach der Hauptallee zurückkehren. Nur jetzt nicht, – das Stehen habe sie ermüdet.

Riedl muß sich endlich zufrieden geben. Bald lenkt auch 399 das farbenreiche Bild des Praterlebens seine Aufmerksamkeit ein wenig ab. Zu beiden Seiten des breiten Weges, den die kleine Gesellschaft jetzt verfolgt, verkünden Ausrufer, aus Leibeskräften brüllend und wohl auch eine mächtige türkische Trommel oder eine schrill klingende Trompete bearbeitend, die merkwürdigen Überraschungen, welche die »geehrten Herrschaften« hinter den verschossenen roten Vorhängen, die den Eingang ihrer Hütten verhüllen, in verblüffender Fülle erwarten; ungezählte Drehorgeln quieken gleichzeitig ungezählte Walzer, Märsche und Opernarien; bunte Fahnen wehen im Winde, grell bekleckste Darstellungen gräßlicher Mordthaten und schaudererregender Naturspiele winken von hohen, schwankenden Wänden herab, ab und zu auch das Konterfei einer Riesendame oder einer Seejungfrau, die just einen unglücklichen Schiffer samt seinem Kahne verschlingt; fremdartig gefiederte Vögel flattern um hohe Stangen, wohldressierte Pudel und boshaft die Zähne fletschende Affen zeigen ihre possierlichen Sprünge; Mohren und wilde Rothäute blicken würdevoll schweigend mit gekreuzten nackten Armen in die sie umwogende Menge; dazwischen dringt aus zahllosen Bierwirtschaften die Musik kleiner Orchester in abgerissenen, unzusammenhängenden Tönen betäubend durcheinander, hier ein verstimmtes Klavier von einer jammernden Flöte begleitet, dort ein Streichquartett mit Pauke und Waldhorn, hier das Cymbal der Zigeuner, dort der grunzende Brummbaß böhmischer Musikanten, das Tamtam der Neger und die Zither der spitzhütigen Tiroler . . .

Und über all' dem lärmenden Gewühle, dem Knarren der Schaukeln, dem Hämmern des altehrwürdigen ›Wurstels‹, der in seiner kleinen Hütte unermüdlich und unter dem johlenden Beifalle seiner grausamen kleinen Zuhörerschaft das »Haserl« erschlägt; über dem Jauchzen der Kinder, dem Kreischen der Weiber, dem unaufhörlichen Geknatter an den Schießständen, 400 über der ganzen vieltausendköpfigen Menschenmenge liegt eine dichte Wolke von aufgewirbeltem Staub und Atem beklemmendem Dunst, ein schwerer Nebelschleier, den selbst die hellen Sonnenstrahlen nur matt und gebrochen zu durchdringen vermögen.

Die kleine Näherin hat sich an die Seite Riedls geschmuggelt, der gleich ihr die abscheuliche Lust mit ganz besonderem Behagen einsaugt. Gehört sie doch zu einem richtigen Sonntagsvergnügen im Prater, just so wie die im Gedränge unvermeidlichen Püffe und Fußtritte, welche beide lachend hinnehmen und wacker vergelten. Insbesondere Tini zittert vor Vergnügen. Ihre geröteten Augen blicken immerzu unruhig in die Runde, als fürchte sie, irgend ein Schaustück könne ihren bewundernden Blicken entschlüpfen. Dabei hält sie den Mund staunend geöffnet und kneipt ihren Begleiter bei jeder neuen Merkwürdigkeit entzückt in den Arm.

»Dort schaun S' hin! Nein, die schönen Affen! Und dort der Mohr, wie schwarz er ist! Und dort der kleine Bucklige, wie spassig er springt! Und dort die Frau ohne Kopf, – ist sie wirklich lebendig?«

So geht es fort, und Riedl wird nicht müde zustimmend zu nicken und alle die Kinderfragen zu beantworten. Dabei suchen seine Augen aber immer wieder sein junges Weibchen, das sein Vergnügen nicht stören will und seinen fragenden Blick mit einem erzwungenen Lächeln beantwortet. Einem Ausrufer, der die »hochgeehrten Herren und Damen« zur Ablegung von ganz besonders »unterhaltlichen« Kraftproben einladet, vermag Riedl nicht zu widerstehen. Er versucht es mit einer kleinen Schlagprobe. Sogleich umringt eine Schar Neugieriger die Bude und die kleine Gesellschaft. Auch Vater Schober läßt sich über Ersuchen seines Schwiegersohnes herbei, das Probegewicht durch einen tüchtigen Faustschlag in die 401 Höhe zu schnellen. Lauter Beifall lohnt seinen kräftigen Hieb, und der alte Polier zieht sich halb verschämt, halb geschmeichelt zurück.

»Ja, zu meiner Zeit war ich keiner von den Schwachen!« meint er schmunzelnd und folgt von nun ab weit vergnügter dem unermüdlichen Führer. Endlich aber erklärt er doch, einer Erfrischung dringend bedürftig zu sein und bleibt bei der nächsten Bierwirtschaft stehen. Da sich auch Marie nach ein wenig Ruhe und Erholung sehnt, so stimmt Riedl eifrig bei und die Gesellschaft läßt sich an einem der ungedeckten Tische im Wirtshause zum »durstigen Wiener« nieder. Speisen und Getränke müssen sich die Gäste hier selbst herbeitragen, denn die wenigen schmutzigen und schweißtriefenden Kellner, die zwischen den dichtbesetzten Tischreihen hin und wieder eilen, schreien zwar allerlei Redensarten, wie: »Sofort!« »Im Augenblick!« »Bier?« »Ja – kommt schon!« in den allgemeinen Lärm, lassen es zumeist aber in richtiger Erkenntnis ihres Unvermögens der erdrückenden Mehrzahl gegenüber bei diesen beruhigenden Versicherungen bewenden.

Riedl entwickelt denn auch unter Lachen und gutmütigem Spotte die eifrigste Thätigkeit, um die Seinen und sich mit Labetrunk und Imbiß zu versorgen. Vater Schober, Fräulein Tini und Marie sind indessen vollauf beschäftigt, den überaus hartnäckigen und zudringlichen Hausierern zu wehren, welche die Neuangekommenen unaufhörlich umlagern.

An solchem fahrenden Volke ist hier kein Mangel. Allen voran drängen sich die »Italiener« herzu, welche Käse und Salami feilbieten; ihnen folgen kleine Jungen mit mächtigen Brotkörben, Gottscheber mit Orangen und bedenklichem Zuckerwerk aller Art, Händler mit Seife, Kämmen, Geldtaschen, Kravatten, Brillen, Taschentüchern, Stöcken, Pfeifen, Federmessern und der Himmel weiß womit noch sonst; Bettler, 402 blind, lahm, taubstumm, mit und ohne Drehorgeln; Akrobaten, die ein zerrissenes Teppich-Ende auf dem Grasboden ausbreiten und darauf ihre primitiven Kunststücke zum besten geben; auch eine Blumenverkäuferin im enganliegenden, an den Nähten schon merklich abgeschabten schwarzen Kaschmirkleide wandelt still zwischen den Tischen umher, mit müder Geberde ihre kleinen Sträußchen anbietend, freilich ohne hier in der abgelegenen Bierwirtschaft auch nur einen einzigen Käufer zu finden. Tini faßt das Mädchen scharf ins Auge und sieht es mit wachsender Erregung näher kommen. Sie rückt dicht an Marie heran und flüstert dieser ins Ohr:

»Das ist die Fanny!«

Marie blickt zerstreut auf.

»Welche Fanny?« fragt sie gleichgültig.

»Aber, – die Fanny!« wiederholt Tini verwundert. »Erinnern Sie sich denn nicht mehr? Die mit der Lori –«

Marie zuckt zusammen.

»Wo . . . wo ist sie?«

»Dort!«

Im selben Augenblicke wendet sich das Blumenmädchen langsam dem Ausgange zu.

Vater Schober ist aufmerksam geworden.

»Was ist denn? Hast Du einen Bekannten g'sehn?« fragt er aufblickend.

Marie erschrickt und schüttelt nur stumm den Kopf. Inzwischen hat Fanny Zeit gewonnen, die Tischreihen zu verlassen und in der auf- und niederwogenden Menge zu verschwinden.

Sie kreuzt die nächste Wiese und nähert sich den vornehmeren Kaffeehäusern. Dort darf sie aber nicht eintreten, weil sie die Platzmiete nicht bezahlen kann, welche in jenen Lokalen gefordert wird. Unter dem Schutze einer einzeln aufragenden Linde bleibt sie endlich stehen und lehnt ihren 403 Kopf müde an den mächtigen Stamm des Baumes. Sie weiß nicht wohin sie sich nun wenden soll. Noch ist ihr Korb gefüllt und ihre kleine Geldtasche leer, aber schon wollen die Kniee fast versagen. Und obendrein hungert und dürstet sie. Es war den ganzen Tag über so heiß und seit gestern nacht hat sie nichts mehr genossen . . .

Nach jenem Abende, an welchem der Deutschmeister den jungen Bauführer in Loris Schlafzimmer überfiel, hat er sich einige Tage bei ihr versteckt gehalten, bald darauf aber ein neues »Malheur« gehabt, das für ihn übler endete. Es brachte ihn auf ein halbes Jahr ins Gefängnis. Nun ist er wieder frei und Fanny hat aufs neue für seinen Unterhalt zu sorgen. Vor seiner Untreue hat sie jetzt weniger zu bangen als vor seiner – Faust. Er mißhandelt sie, wenn sie zu wenig Geld nach Hause bringt. Nach Hause! Als ob der dumpfige, feuchtkalte Kellerraum, den sie gemeinsam mit einem anderen Paare ähnlichen Schlages bewohnen, diesen Namen verdiente! Heute hofft Ferdinand auf eine beträchtliche Einnahme, wie er ihr drohend gesagt hat, als sie mit ihren erbettelten Blumen ausging. Sie drückt die Hand vor die Augen und zuckt zusammen, als sause seine unbarmherzige Faust bereits auf sie nieder. – – Nein, sie will nicht mehr heimkehren, sie will dem grausamen Manne entfliehen und ihn nie wieder sehen . . . Nie wieder? Sie fühlt es im nächsten Augenblicke selbst, daß ihr dazu bereits die Kraft fehlt. Sie wird zu ihm zurückkehren, wird sich mißhandeln lassen Tag um Tag, bis sie einmal auf ihrem Wege zum Gärtner von der Brücke gleitet oder sonst irgendwie am Wege stirbt oder verdirbt.


Vater Schober drängt zum Aufbruch, ehe der Abend völlig hereinbricht. So kehrt die kleine Gesellschaft langsam zur Hauptallee zurück. Auf dem Wege dorthin umsurrt sie 404 nach wie vor das Lachen und Schwatzen der Menge, die sich schwerfällig zwischen den Buden dahin schiebt; wie früher zittert hundertfältige Musik im ohrenzerreißenden Gewirre durch die Luft, die Ausrufer schreien, wenn auch schon ein wenig heiser, doch unermüdlich weiter, Trompeten schmettern, Schüsse knallen, Trommeln wirbeln, hie und da steigen, bald vereinzelt, bald in mächtigen Garben, kleine rote Ballons auf, deren Emporfliegen ein tausendstimmiges Ah! der Bewunderung begleitet; immer dichter breitet sich die sonnenerhellte gelbliche Staubwolke über Bäume und Hütten, Menschen und Tiere aus, immer drückender brütet die Schwüle des heißen Spätnachmittages über Wiesen und Wege . . .

Marie kann ein leichtes Schaudern nicht unterdrücken, da sie endlich die Allee erreicht haben und an der Stelle vorüberkommen, an welcher sie Lori und die Mutter erblickt hat. Hier beginnt es bereits zu dunkeln, das Gewühl hat abgenommen, nicht aber die fröhliche Laune der nun heimwärts strömenden Menschen. In langen Ketten ziehen sie, Männlein und Weiblein traulich gepaart, unter den Bäumen hin, deren Schatten die letzten Sonnenstrahlen nicht mehr zu durchdringen vermögen. Draußen auf der freien Wiese schimmert noch der helle Tag, im Halbdunkel der Allee dagegen hebt ein Wispern und Flüstern, ein Lachen und lustiges Kreischen an, zwischendurch ertönt irgend ein Lied, das eine Schar junger Bursche mit hellen Stimmen singt, oder ein Betrunkener sucht sich einen eben gehörten Marsch vergeblich in Erinnerung zu bringen. Mütter rufen laut nach ihren Kindern, die sie, allzu eifrig mit der Nachbarin oder auch mit einem neuen Bekannten vom Biertische schwatzend, im Dunkel verloren haben; Soldaten, die vor dem Zapfenstreiche heimkehren müssen, sputen sich und klirren mit Sporen und Säbel im taktmäßigen 405 Geschwindschritte; gutmütige Väter haben ihr Jüngstes, das sich müde gelaufen hat, auf den Rücken genommen und stöhnen nun unter der ungewohnten Last, die vielleicht auch ein Gläschen über den Durst noch erhöht. während die Ehefrau die übrigen nicht minder müden und schläfrigen Sprößlinge nachschleppt und dabei eifrig zürnt und schmält. Ab und zu wandelt auch ein Pärchen vorbei, das sich unbekümmert um die lachende und schwatzende, zürnende und torkelnde Menge fest umschlungen hält und traulich flüstert, – einsam und weltfern durch seine Liebe . . .

Der laue Abendwind, der leise durch die Allee streicht, umschmeichelt auch Mariens Stirne. Sie lehnt sieh fester an ihren Gatten, der sie zärtlich an sich drückt.

»Bist Du mir bös?« flüstert sie mit weicher, versagender Stimme. »Oh, wenn Du wüßtest was es war, das mich heut' so unglücklich g'macht hat!«

Er schüttelt den Kopf. »Wenn's Dein Herz leichter macht, so sag mir's. Sonst nicht!« antwortet er zärtlich.

Vater Schober hat der kleinen Näherin mit etwas steifer, veralteter Galanterie den Arm geboten, an welchen sie sich nun glückstrahlend klammert.

Der Polier kramt allerlei Geschichten aus seiner Jugendzeit aus, welche Tini mit andächtiger Aufmerksamkeit anhört.

»Es war eine schöne Zeit!« seufzt der Alte. »Heutzutag' begreift man das gar nicht mehr. Weiß man denn jetzt überhaupt noch, was jung sein heißt? Nein, – o nein! Zu meiner Zeit, da war noch ein Leben, eine Lustigkeit in den Leuten! . . .«

Und er summt ein Lied, das er in seinen Jugendtagen sang:

»Was wir vor zwanzig Jahr'n
Für zwei Hallodri war'n . . .«

Auf der breiten Fahrstraße neben der Allee rollt noch immer Wagen um Wagen der Stadt zu. Marie blickt gespannt zurück, so oft ein rascheres Traben hinter ihr hörbar wird.

406 Jetzt rasselt ein leichter Wagen heran, in welchem ein vornehm gekleideter Mann nachlässig zurückgelehnt liegt. Er spricht lachend mit einer jungen Dame, die nebenher ein Falbengespann lenkt, das dem anderen Gefährte vorzueilen trachtet. Marie drückt sich zitternd an Riedl. Das ist derselbe Kutschierwagen, das sind dieselben feurigen Pferde, die – – – Wie flott die kleinen Hände der Schönen die Peitsche handhaben!

»Ich komm Ihnen vor, Herr Graf! Meine Falben sind halt famose Tierl'n!« ruft sie triumphierend und holt zu einem neuen Schlage aus. Die Rosse bäumen und greifen schnaubend aus.

Jetzt kommt der Wagen an Marie vorbei, auf deren bleiche Züge die nahe Straßenlaterne ihr volles Licht wirft. Die beleibte Frau auf dem Kutschbocke hat müde und ersichtlich mit dem Schlafe kämpfend um sich geblickt. Da gewahrt sie Marie und faßt ihre junge Gefährtin am Arme.

»Dort schau hin, Lori, dort steht die Marie!« flüstert sie erregt.

Lori blickt nach der angedeuteten Richtung. Da taucht hinter der Schwester der graue Kopf des Vaters auf. Wie er sie anstarrt! Sie wendet sich hastig ab, die hochgehobenen Arme sinken schlaff herab und die Zügel entgleiten ihren Händen. Im nächsten Augenblicke hat sie sich zwar gefaßt und greift blind tastend nach den entsunkenen Zügeln. Aber schon ist es zu spät. Mit einem wilden Satze haben die gereizten Tiere die Fahrbahn gekreuzt und stürmen nun geradeaus weiter. Ein gellender Angstruf Mariens durchzittert die abendliche Stille. Halb aufgerichtet auf ihrem erhöhten Sitze streckt Lori die Hände Hilfe flehend aus, indes die Mutter an ihrer Seite sich kreischend an das Schutzleder des Kutschbockes klammert und der kleine Groom, der rückwärts auf einem baumelnden Sitze mit vorschriftsmäßig verschränkten Armen saß, von dem jähen Ruck herabgeschleudert, mit blutendem Kopfe auf der 407 Straße liegen bleibt. Weiter und weiter rasen die Pferde, von den allseitig ertönenden Angstrufen nur noch mehr scheu gemacht. Jetzt geht es dem Straßengraben zu, – ein heftiger Stoß, ein schriller Aufschrei, dem ein Knarren und Zersplittern folgt, – und die Menge bricht von beiden Seiten in die Fahrbahn ein, der Unglücksstätte zustürzend.

Da Marie erschöpft, atemlos, mit aufgelösten Haaren dort anlangt, umdrängt bereits ein dichter Menschenknäuel den zerschellten Wagen und seine verunglückten Insassen.

»Mutter! Lori!« schreit Marie und stürzt sich, mit den Armen wild um sich schlagend, in das Gedränge der Neugierigen. Diese weichen instinktiv zurück und bilden schweigend eine Gasse bis zu der Stelle, an welcher Lori auf dem weichen, lohebedeckten Boden der Reitbahn hingestreckt liegt, den Kopf gegen den umgestürzten Wagen gelehnt. Ihre Augen sind geschlossen und die Wangen unter der Schminke erblaßt. An der linken Schläfe kleben ein paar Tropfen schwarzen Blutes, sonst ist an dem jungen, selbst in dieser Erstarrung noch verlockend schönen Weibe keine Verletzung zu erblicken. Neben ihr kauert die Mutter, betastet sie immerzu, zerrt in fiebernder Hast an den Armen der Tochter, welche nach jeder Bewegung wieder schwer herabsinken, und schüttelt dabei ohne Unterlaß den groben Kopf, auf dem der kostbare Hut zerknüllt und beschmutzt sitzt. Das schwere, grellfärbige Seidenkleid hängt schlaff und in Fetzen gerissen von ihr herab. Eben ist ein Arzt herangetreten und hat sich zu Lori niedergebeugt. Er legt die Hand an ihr Herz und ringsum folgt tiefe Stille.

Nach einer Pause erhebt er sich.

»Tot!« sagt er achselzuckend.

Mit einem zitternden Aufschrei sinkt Marie ins Knie und wirft sich über die Schwester hin, sie mit beiden Armen umklammernd.

408 »Lori! . . . Es ist ja nicht möglich! . . . Du kannst nicht tot sein! Du lebst, . . . Du mußt leben! – – Lori! So hör mich doch!«

Die Menge steht schweigend im Kreise. Nach und nach verschwindet Hut um Hut von den Köpfen, als streife der Flügelschlag des Todesengels sie herab.

Auf Riedls Arm gestützt, keucht jetzt der Vater heran. Bei seinem Anblicke richtet sich die Mutter, den Blick starr auf ihn gerichtet, langsam auf. Dabei murmelt sie tonlos: »Tot! . . Lori – – tot!« und nickt immerfort wie trunken.

Nun will sie auf den Gatten zuwanken. Ein Schritt, – ein zweiter, – – dann knickt sie plötzlich zusammen und stürzt lautlos neben ihre Tochter hin.


Nebenan auf der Straße rollen nach wie vor die Wagen; die Kutscher rufen, die Peitschen knallen und die Pferde schnauben. Aus der dunklen Allee jenseits der Fahrbahn dringt wie früher ein Wispern und Flüstern, ein gedämpftes Lachen, ab und zu auch der abgerissene Ton eines lustigen Gassenhauers herüber, – – – fröhliche Heimkehr nach fröhlichem Feste.

Und über all dem Leben und Weben wölbt sich die dichte Blätterkrone der hohen Kastanien, in deren Wipfel es leise rauscht und sich regt, als raunten die alten Bäume einander zu:

Seht doch, es sind noch immer dieselben Menschenkinder, die da unten leiden und jubeln, grollen und küssen, . . dieselben unruhigen Geschöpfchen mit ihrem wunderlichen Jagen nach Genuß ohne Glück, nach Lohn ohne Mühe. Wie vor hundert Jahren sind sie noch heute, und werden es wohl auch in alle Zukunft bleiben: Kinder, große Kinder!

 


 


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