Carl Karlweis
Wiener Kinder
Carl Karlweis

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Sechstes Kapitel.

Die Schwestern.

Daß Vater Schober die Werbung des Bauführers nicht ungünstig aufnehmen würde, war wohl zu erwarten. Er betrachtete sie im Gegenteile als ein so großes, unerwartetes Glück, daß er anfänglich gar nicht recht daran glauben konnte und sich erst nach mehrfacher, dringender Wiederholung der Frage Sturms so weit zu fassen vermochte, um die Hand des jungen Mannes zu ergreifen und dabei die wenigen Worte hervorzustoßen:

»Sehr glücklich! . . . O . . o! . . Natürlich . . . sehr glücklich!«

Frau Schober zeigte sich anfänglich weit weniger erfreut. Der Herr Sturm sei ja gewiß ein recht braver und wohl auch anständiger junger Mann, meinte sie gedehnt, aber wenn man bedenke, was für vornehme und reiche Leute sich um Lori bemühen, dann –

Der Polier ließ sie nicht zu Ende sprechen. Er warf ihr einen Blick zu, der sie auf der Stelle verstummen machte, und gab nun dem Bauführer in aller Form, ja mit einer gewissen nachdrücklichen und breitspurigen Feierlichkeit sein Jawort.

165 »Das gilt auch für meine Alte, die nur manchmal so dumm daher redet!« schloß er seine Rede, und abermals streifte ein wenig freundlicher Blick seine unruhig zuckende Ehehälfte.

Die Mutter mußte sich also in das Unabänderliche fügen. Das gelang ihr übrigens rascher und leichter, als sie anfänglich gedacht hatte. Franz ist aber auch in der That ein geradezu musterhafter Bräutigam. Er überhäuft sowohl Lori als auch Frau Schober mit Geschenken und weiß Mutter und Tochter jeden Tag durch einen neuen vortrefflichen Einfall auf das angenehmste zu überraschen. Er hat nicht nur einen überaus lustigen Verlobungsabend im Wirtshause »zum grünen Hafen« veranstaltet und dabei sowohl die Nachbarinnen als auch seine Freunde in der opulentesten Weise fetiert, er führt seine Braut auch seither an alle Vergnügungsorte, die sie kennen zu lernen wünscht.

Diese Wünsche, die anfänglich nur hie und da einen Abend bei Volkssängern oder bei »Militärmusik« betreffen, erfüllt Franz so leicht und mit so sichtlichem Vergnügen, daß Lori dieselben immer häufiger ausspricht und bald auch auf Theater und Tanzabende ausdehnt. Das entzückt ihren Bräutigam nun freilich nicht mehr sonderlich, allein Lori hat ihn bei seiner ersten, zaghaft vorgebrachten Weigerung so verwundert und zugleich so kalt und fremd angeblickt, daß er es nicht über sich gewann, das ausgesprochene Nein aufrecht zu erhalten und abends richtig mit den gewünschten Theaterkarten in der Tasche heimkam. Seitdem muß er sich gehorsam all' ihren Anordnungen fügen. Wagt er noch einmal einen leisen Widerspruch, so ist es nicht mehr Erstaunen oder Betrübnis, was Lori zeigt, sondern Entrüstung; sie schmollt nicht mehr, sie erinnert ihn geradezu, daß sie um seinetwillen die verlockendsten Anträge ausgeschlagen habe und deshalb wohl 166 erwarten dürfe, er werde ihr zum mindesten das eben in Frage stehende kleine Vergnügen nicht versagen. Diese »verlockenden Anträge« bilden überhaupt die Waffe Loris, mit welcher sie die sich ab und zu noch regenden Bedenken ihres Bräutigams im Nu beseitigt. Wenn sie ihn an das Opfer mahnt, das sie ihm gebracht haben will, schweigt er zerknirscht und wagt keine weitere Erwiderung. So folgt Unterhaltung auf Unterhaltung, und Lori ist es jetzt bereits allein, welche dieselben bestimmt. Bevor Franz des Morgens nach der Baukanzlei geht, spricht er auf einige Augenblicke in der Schoberschen Wohnung vor, wo er stets schüchtern an die Kammerthüre pocht, denn Lori schläft zu so früher Stunde noch, oder ist doch eben erst erwacht. Durch den schmalen Thürspalt erhält er dann den Befehl für den Abend und dazu einen flüchtigen Kuß, der jede Absicht einer Einwendung im Keime erstickt.

Mit den abendlichen Vergnügungen, den Theaterkarten und Wirtshauszechen ist es nun aber nicht abgethan. Ein junges Mädchen kann doch nicht in Kattunkleid und Kopftuch unter die Leute gehen! Das macht Lori ihrem Bräutigam umso leichter begreiflich, als er anfänglich ja selbst gewünscht hatte, seine schöne Braut stets möglichst nett und zierlich gekleidet zu sehen. Lori erklärt ihm nun auf Grund dieser ersten Äußerung bei jeder Gelegenheit, daß sie nur seinetwillen dieses neue Kleid, diesen Hut oder jene Stiefelchen wünsche.

»Mir ist's alles eins!« meint sie achselzuckend. »Aber was sollen die Leut' denken, wenn ich mit Dir geh' und so armselig ausschau'? Der sollt' auch nicht heiraten, wenn er die Seinige jetzt schon so herumgehen laßt! werden sie sagen. Und siehst Du, Franz, solche Reden thäten mich für Dich beleidigen!«

Franz muß das einsehen, . . . . und er sieht es ein. So kommt er endlich niemals mehr mit leeren Händen heim, und 167 stets belohnt ein glückliches Lächeln, ein entzückter Aufschrei, ein kindlich frohes Händeklatschen seine Freigebigkeit. Aber auch das Äußere der Mutter darf von jenem der so reich geschmückten Tochter nicht allzuviel abstechen. Franz muß auch das begreifen lernen, – und er lernt es, denn Lori ist eine gar zu geschickte und unermüdliche Lehrmeisterin; seufzend bestreitet der junge Bauführer auch die Ausstaffierung der Mutter, welche ihn dafür »einen wirklich lieben Menschen« nennt und immer seltener von den vornehmen und reichen Leuten spricht, die sich um die Lori bemüht haben sollen.

Die Poliersgattin begleitet das junge Paar überall hin und fühlt sich dabei höchlich befriedigt. Im Theater sitzt sie so breit und bequem als möglich neben Lori, mit welcher sie während der Vorstellung ununterbrochen schwatzt. Dabei knabbert sie immerzu an den Süßigkeiten, die Franz bereit hält und von welchen sie ganz erstaunliche Mengen zu vertilgen imstande ist. Schließlich schläft sie ein, wenn die Tochter ihr nicht mehr antwortet, was häufig genug geschieht, denn Lori findet sehr viel Gefallen an den überlustigen Operetten, welche sie zumeist anhören. Sie lacht bei jeder nur halbwegs heiteren Redewendung der Schauspieler laut auf und scheint es nicht ungern zu sehen, wenn sie dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit erregt, insbesondere wenn die vornehm gekleideten jungen und alten Herrn vom Parquet den ganzen Abend hindurch recht unverschämt heraufgucken und untereinander flüsternd auf sie zeigen. Anfänglich hat Franz versucht, ihr das Unschickliche dieses lauten Lachens begreiflich zu machen, sie hat ihm aber kaum mit einem Achselzucken geantwortet und gleich darauf noch lauter gelacht. Da er es nicht wagt, ihr durch eine Wiederholung seiner Bemerkung die gute Laune zu verderben, muß er sich wohl oder übel darein fügen, alle Blicke auf sich und seine Braut 168 gerichtet zu sehen. Er lehnt sich dann so weit als möglich in den Schatten der Brüstung zurück und errötet jedesmal bis an die Haarwurzeln. Das Nachhausegehen entschädigt ihn freilich wieder. Lori legt dann unaufgefordert ihren Arm in den seinen und schmiegt sich eng an ihn. O wie berauschend sind diese flüchtigen Minuten der Heimkehr! Die Mutter nimmt allerdings seinen anderen Arm ganz tüchtig in Anspruch und hat dabei immer die Geschichte irgend einer Eroberung, die ihr ›Töchterl‹ heute wieder gemacht hat, zu erzählen, aber er beachtet nicht, was sie spricht, denn Lori trällert gewöhnlich die eben gehörten Melodieen. Sie singt herzlich falsch, aber ihr Gequieke entzückt ihn doch weit mehr, als die Theatervorstellungen selbst, welchen er nur wenig Geschmack abgewinnen kann.

Am glücklichsten fühlt er sich, wenn sie einen Abend zu Hause verbringen. Sie sitzen dann um die niedrige Lampe geschart in der Schoberschen Stube und plaudern, bis Marie das Nachtessen bringt, zu dem der Bräutigam stets das Nötige beigestellt hat. Die Mutter macht sich's auch hier so bequem als möglich und langt tüchtig zu; Franz legt seiner Braut die besten Bissen vor und sucht sie durch allerlei Späße und Schwänke, die er von seinen Freunden erhascht hat, aufzuheitern. Das gelingt ihm aber nur selten, denn – und das ist der einzige dunkle Punkt dieser sonst so traulichen Abende, – Lori ist daheim meist schlecht gelaunt, lehnt sich hartnäckig schweigend in ihren Stuhl zurück und kämpft schon nach einer Stunde mit dem Schlafe, während sie doch im Theater oder bei den Volkssängern niemals Müdigkeit zeigt. Auch Marie sitzt fast immer schweigend bei Tische und berührt das Essen kaum.

Die Vorliebe des Bauführers für diese Abende daheim teilt eigentlich nur Vater Schober. Das behagliche Leben, das er seit Loris Verlobung führt, sagt ihm überhaupt 169 ersichtlich zu. Er fragt nicht, wer es bezahlt, staunt nicht, wenn sich sein Tisch tagtäglich ohne sein Zuthun deckt, sondern lebt wie in einem angenehmen Traume, den nur ab und zu das unheimliche Gefühl stört, all diese Herrlichkeit könne einmal jählings zu Ende gehen. Solche Mahnungen sucht er aber durch allerlei Selbstbetrug zu ersticken. Franz hat es ja übernommen, ihm bei seinem derzeitigen Herrn, zu dessen Faktotum sich der junge Mann aufgeschwungen hat, eine Stelle zu verschaffen, das muß er nun doch abwarten! Der künftige Schwiegersohn spricht allerdings seither nicht mehr davon und Vater Schober mahnt ihn auch nicht an sein Versprechen. Aber wozu sollte er das? Was kommen muß, wird ja doch kommen, und zur Arbeit ist dann immer noch Zeit!

So überlistet der Polier die Stimme seines Gewissens. Wenn alles am Tische schweigt und selbst Franz nach wiederholten vergeblichen Versuchen, Loris Laune zu bessern, nur mit Mühe seine Verstimmung niederkämpft, dann wendet sich Vater Schober plötzlich mit besonderer Feierlichkeit dem künftigen Tochtermanne zu, räuspert sich unternehmend, als wolle er etwas Wichtiges sagen, und klopft endlich dem jungen Manne kräftig auf die Schulter, ihn dabei mit einem zufriedenen Lächeln ansehend. Franz antwortet mit einem freundlichen Nicken, aber seine Augen sind nicht mehr so hell wie früher und die leicht geröteten Lider geben ihnen obendrein einen kränklichen Ausdruck.

»Bist Du krank?« fragt der Vater einmal besorgt.

»Nein, o nein,« antwortet der Bauführer unsicher, »nur meine Augen brennen ein bißchen. Ich bin halt das viele Nachtschwärmen nicht gewöhnt.«

Das giebt Anlaß zu einer heftigen Erörterung, während welcher Franz manches scharfe Wort von Lori hören muß. Er bereut auch sofort seine unüberlegte Äußerung und 170 verspricht seiner Braut die schönsten Geschenke, – ein neues Kleid, den großen Rembrandthut, der ihr letzthin so sehr gefiel, oder wohl gar ein Schmuckstück, – aber Lori ist nicht mehr zu besänftigen. Sie rührt sich nicht, sieht nicht einmal auf. Ratlos blickt Franz um sich. Daß der Vater auf seiner Seite ist, nützt ihm wenig, denn seit Franz die Familie fast allein erhält, fühlt sich Lori als Herrin des Hauswesens und läßt dies den Vater so gut wie alle anderen fühlen. Auch bei der Mutter findet Franz in solchen schwierigen Augenblicken keine Unterstützung. Im Gegenteile, diese wirft ihm einen zürnenden, vorwurfsvollen Blick zu und murmelt etwas von den vornehmen Leuten, die sich ein Glück daraus machen würden, Lori jeden Abend auszuführen, ohne sich über Müdigkeit zu beklagen.

Nur Marie tritt für den Bauführer ein. In ihrer gewohnten, ruhigen Weise spricht sie ein Wort gegen die unausgesetzte Vergnügungsjagd.

»Es wird ja doch nicht immer so fort gehen können, und dann wird es Euch fehlen wie etwas Notwendiges!« mahnt sie.

Lori öffnet hier langsam die halbgeschlossenen Augen.

»Schau, wie gut Ihr zwei zusammenpaßt!« erwidert sie lauernd. »Der Franz hätt' die Marie nehmen sollen und nicht mich, – die möchten ja wie die Turteltauben zusammen leben! . . . Übrigens ist dazu noch immer Zeit! Du kannst ja tauschen, Franz! Ich bin gleich einverstanden.«

»Lori!«

Franz und Marie rufen es gleichzeitig, der erstere erstaunt und unwillig, die letztere heftig auffahrend . . . Loris Augen funkeln immer boshafter.

»Wie Ihr spaßig seid, alle zwei!« fährt sie langsam fort. »Der eine wird rot und die andere blaß. Seid 's 171 vielleicht schon einig? Na also, heraus mit der Sprach'! Ich glaub' immer, daß ich's überleben würde!«

Marie antwortet nicht weiter. Obgleich sie dem jungen Manne bisher so kalt und fremd als nur irgend thunlich begegnet ist und deshalb sogar von den Eltern gescholten, von der Mutter insbesonders als eine herzlose, neidische Person bezeichnet wurde, die keinem Menschen zur Freude, allen aber zur Last lebe, fühlt sie sich der Schwester gegenüber doch nicht ganz schuldfrei und wagt es nicht ihrem Blicke zu begegnen. So behauptet denn Lori das Feld, – ohne sich jedoch ihres Sieges sonderlich zu freuen. Sie klagt verdrießlich über Kopfschmerzen und Franz muß sich erheben und gehen.

Der nächste Morgen findet sie noch immer unwirsch, Franz erhält nicht einmal den gewohnten Kuß zwischen Thür und Angel. Erst am Abend, da er das versprochene Geschenk bringt, lächelt Lori wieder ein wenig. Franz vergißt darüber im Augenblick allen Verdruß, alles Unrecht, und dankt ihr für die gnädigst gewährte Versöhnung mit der zärtlichsten Aufmerksamkeit, dem unterwürfigsten Erfüllen jedes Wunsches. Lori merkt sich diesen Erfolg ihrer üblen Laune und bricht nun immer häufiger die Gelegenheit zu ähnlichen Auftritten vom Zaune.

Daß Franz seit Wochen nicht mehr so fröhlich ist wie in den ersten Tagen nach der Verlobung, daß ab und zu, wenn er sich unbeachtet glaubt, seine lächelnden Züge plötzlich erschlaffen und ein Ausdruck des tiefsten Unbehagens, der Trauer, ja der Angst über sein sonst so offenes Gesicht huscht, daß er dann wie unter einer drückenden Last zusammenknickt und mit fahler, ermüdeter Miene vor sich hinstarrt, ist weder der Braut noch ihrer Mutter aufgefallen.

Nur Marie hat sein verändertes Aussehen bemerkt. Sie beobachtet ihn seither unausgesetzt. Sie glaubt, daß Loris Benehmen an seiner Verstörtheit Schuld trage, und 172 grübelt vergebens darüber nach, wie sie hier helfend eingreifen könne.

Nach wie vor sitzt sie vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht bei ihrer Arbeit, eifrig bemüht, die laufenden Kosten der Haushaltung aus Eigenem zu bestreiten, denn jeder Kreuzer, der von Franz stammt, brennt ihr wie Feuer unter den Fingern. Daß Vater und Mutter das Beschämende seiner Unterstützungen so ganz und gar nicht zu empfinden scheinen, macht ihr seine Gaben nur noch peinlicher.

Da Lori tagsüber den verlorenen Schlaf der Nächte einholt und dann in der Kammer Ruhe haben muß, oder mit Hilfe der Mutter die neuen Kleider probiert, die sie von ihrem Verlobten erhält, und dazu die Stube benötigt, so weicht die ältere Schwester ruhig aus der Wohnung und arbeitet an der Küchenthüre unverdrossen weiter. Vater, Mutter und Lori gehen an ihr vorüber, ohne sie weiter zu beachten, auch die Nachbarinnen halten just vor der Thüre ihren täglichen Klatsch oder sprechen über Marie hinweg mit der Mutter, welche jetzt seltener auf dem Gange erscheinen kann, da sie ja weniger als sonst daheim ist und überdies auch ihren eigenen Putz für Theater und Spaziergänge in stand zu halten hat.

Die Gespräche auf dem Korridore drehen sich selbstverständlich nahezu ausschließlich um das Brautpaar, für das sich nicht nur die beiden Nachbarinnen, sondern nachgerade auch die Bewohner der nächsten Trakte und schließlich der ganze Hof auf das lebhafteste interessieren. Das Resultat der diesfälligen Erörterungen, welche zumeist in den Abenddämmerstunden am Brunnen gepflogen werden, ist eine strenge Scheidung in drei Parteien, die einander immer gespannter, ja endlich sogar geradezu feindselig gegenüber stehen. Die erste Partei, unter Führung der redegewandten Gattin des Kruzifixfabrikanten Herrn Zacharius Hutterer, ist nämlich der 173 Ansicht, daß ein Mädchen von der Anmut und Schönheit der Schober-Lori auf »wen Feineren« warten müsse und sich nicht an einen simplen Bauführer wegwerfen dürfe. Diese Gruppe nennt die junge Braut nie anders als »unsere Lori«, und den Bräutigam »diesen Dahergelaufenen«, womit sie ihren altkonservativen Standpunkt als Erbgesessene des großen Hofes besonders nachdrücklich gewahrt haben will.

Die zweite Partei wird von der hilfreichen Witwe Jerschabek geführt, welche das bekannte Wappen der in Wolken thronenden Jungfrau mit dem Jesukindlein führt und schon durch ihren menschenfreundlichen Beruf ein nicht unbedeutendes Ansehen unter den Frauen des Freihauses genießt. Ihre Anhängerinnen finden im Gegenteile, daß es der Bauführer sei, welcher sich wegwerfe, wenn er das »gefallsüchtige, leichtsinnige Ding«, wie sie ihrerseits die Braut bezeichnen, zum Weibe nehme.

»Ein braver Mann, ein junger und schöner Mann, der in die besten Familien kommen könnt'!« meint Frau Jerschabek, welche selbst drei höchst heiratsfähige Töchter besitzt und deshalb in einer solchen Frage schon ein Wörtlein mitsprechen darf.

Zwischen oder vielmehr über diesen beiden Parteien steht eine dritte Gruppe, für welche Fräulein Mimi, eine Putzmacherin, die seit dreißig Jahren im Hofe wohnt, in nachdrücklicher Weise das Wort führt. Fräulein Mimi ist sehr klein, sehr rund und sehr schwarz, trägt Löckchen, die tief in die Stirne fallen, und wurde von keinem Bewohner des Freihauses jemals anders gesehen, als in einem faltigen Frisiermantel von bedenklicher Weiße, den Rock stark geschürzt und die wohlgeformten, nur ein wenig zu dicken Füße in roten Lederpantöffelchen steckend. So flattert sie mit überraschender Lebhaftigkeit durch den Hof, wobei der uneingeschnürte Busen jede Bewegung des Körpers hüpfend begleitet. Ihre 174 Gesinnungsgenossinnen in der großen Tagesfrage sind völlig vorurteilslos, sie teilen die Ansicht der ersten Partei rücksichtlich des Bräutigams und jene der zweiten in Hinblick auf die Braut, weshalb sie die ganze »Partie« überhaupt als ungehörig und vom Standpunkte der Vernunft, der Moral, wie auch der Tradition des Hofes als durchaus verwerflich bezeichnen. Seit Wochen leben diese drei Lager in erbitterter, nicht selten zu persönlichen Ausfällen führender Fehde. Sie auf Augenblicke zu versöhnen, gelingt nur den beiden Nachbarinnen Sobotka und Stölzl, welche im gegebenen Falle unbedingte Autorität genießen, da sie mit den Verlobten auf einem und demselben Gange wohnen und somit als zur Familie gehörend betrachtet werden. Diese beiden Damen sprechen denn auch stets nur im halblauten, geheimnisvollen Tone von der Feststellung des Hochzeitstages, von der Schwierigkeit, eine passende Wohnung für die jungen Leute zu finden u. s. f.

»Wir werden die Sach' nicht vor Michaeli in Ordnung bringen können!« sagen sie ernsthaft und blicken dabei überaus sorgenvoll um sich. Unter sich sprechen sie freilich ganz anders, sowohl von dem Brautpaare als auch von Frau Schober. Daß sie seit dem allerdings lustigen Verlobungsabende zu keiner der zahlreichen Unterhaltungen geladen wurden, welche Franz den Schoberischen bietet, verstimmt die Nachbarinnen aufs tiefste.

»Was hätt's den hochnasigen Leuten denn geschadet, wenn sie einmal gesagt hätten: Kommen S' heut' mit uns, Frau von Stölzl!?« meint Frau Sobotka entrüstet. »Mein Gott, es ist ja nicht wegen des Essens, aber es hätt' sich doch am End' so g'hört!«

Die resolute Witwe stimmt ihr entschieden bei, – selbstverständlich in Anwendung auf Herrn und Frau »von« Sobotka.

Nur Fräulein Kathi stellt solche Ansprüche nicht. Sie 175 kommt nach wie vor täglich zu ihrer blassen jungen Freundin herüber, setzt sich neben Marie auf die Holzbank und plaudert eins. Mit großer Gewissenhaftigkeit berichtet sie dem jungen Mädchen, was sich im Hause und bei allen Bekannten neues ereignet hat, kramt wohl auch, was sie am liebsten thut, alte Erinnerungen aus, erzählt aber dabei stets nur die lustigsten Geschichten und lacht selbst so laut und nachdrücklich, als es das »dumme Stechen« in der Brust erlauben will. Marie merkt bald, daß die Freundin sie in fröhliche Stimmung versetzen möchte, und sucht ihr diese liebevolle Bemühung nach Kräften zu erleichtern, indem sie anscheinend recht herzlich mitlacht, ob ihr auch keineswegs heiter zu Mute ist. Aber allmählich fällt ihr doch etwas Fremdes, ängstlich Hastendes in dem Gehaben der alten Freundin auf. Durch ihre Vereinsamung wie durch die stille, gleichmäßige Arbeit der Hände hat sie sich gewöhnt, sich über ihre Beobachtungen strenge Rechenschaft zu geben. So grübelt sie denn auch hier so lange nach, bis sie zu der Annahme gelangt, die alte Tänzerin habe ihre Neigung für Franz bemerkt und suche sie nun zu trösten. Und darüber weiter nachsinnend, läßt sie langsam die Arbeit sinken, lehnt den Kopf zurück und schließt die Augen, als ob sie schliefe. Liebt sie den Verlobten Loris denn wirklich? Sie sieht ihn nun täglich, und wenn sie auch selten mehr als einen flüchtigen Gruß mit ihm wechselt, so hat sie doch volle Gelegenheit ihn zu beobachten, sein ganzes Wesen zu erkennen. Er scheint ihr ein braver, redlicher und tüchtiger Mann, keiner Lüge, keines schlechten Gedankens fähig. Das ist es, was sie vor allem an ihm schätzt. Wenn er ihr auch sonst manchmal zu wenig Mann scheinen will, – hierin ist er es. Das beruhigt sie. Auch sein Herz ist warmfühlend, seine Liebe echt und tief, . . . diese Liebe, die Lori weder ahnt noch begreift und niemals, niemals ehrlich und voll erwidern wird! 176 O, welcher treuen, sorgsamen Neigung, welcher zärtlichen Hingebung wäre er wert und wie glücklich müßte er werden, wenn . . . Still doch, Du widerspenstiges Herz! . . .

Die Nachmittagssonne liegt heiß und schwer auf dem Korridore. Wie schwül es ist! Marie beugt sich tief und tiefer über ihre Arbeit. Seltsam, die Nadel geht so langsam durch das weiße Tuch und jetzt, jetzt sticht sie gar daneben. Über die ungeschickte Nadel! Es ist, als ob . . . Bst, kommt da nicht jemand über den Gang? Franz, – es ist Franz! Wie bleich seine Wangen sind! Aber seine Augen leuchten so glücklich, – – gewiß sucht er Lori. Dort, dort in der Stube ist sie. Gehen Sie nur hinein, sie putzt sich just, um mit Ihnen ins Theater zu – – – Was ist das? Sie schütteln den Kopf, Sie wollen nicht zu ihr gehen? Sie wollen mit . . . mit mir ausfahren? Ach, Sie müssen ein armes Ding, das Ihnen nie etwas zu Leide gethan hat, nicht verhöhnen! Das ist nicht schön von Ihnen, Herr Franz. Gehen Sie, ich bitte, gehen Sie zu Lori! . . . Sie bleiben? Sie geben mir die Hand und sagen so ernsthaft, daß Sie nicht spotten, daß Sie . . . mich lieben?! Mich?! – Kathi! Kathi! Er will nicht die Lori, er will mich! Aber das ist ja nicht möglich! Nein, es kann nicht sein! Die Lori zwar wird es leicht verschmerzen, nur – – mein Gott, da ist wirklich schon der Wagen. Die prächtigen Schimmel! Und die Leute, die da herumstehen und zischeln. Mehr noch, immer mehr, das ganze Freihaus will uns sehen. Franz, – ich schäm' mich. Ich bin so blaß und so armselig, Lori ist ja viel schöner, – und du nimmst mich doch?! Nicht küssen, Franz, die Lori könnt' es sehen. Und der Vater, . . . und die Mutter, sie werden sagen, ich hätt' dich ihr abspenstig gemacht! Und ich hab's nicht mit Wissen gethan, gelt nein? Ich hab' dich nie angeschaut, – – – wenn 177 ich's auch gar zu gern gethan hätt'! . . . Wie die Schimmel laufen! Wohin fahren wir? Zur Kirche? Aber ich hab' ja kein Brautkleid und keinen Kranz! Nein, nicht in die Kirche, du bereust es vielleicht doch wieder, wir wollen es lieber noch einmal recht ernsthaft überlegen. Weißt du was? Wenn's dir recht ist, fahren wir weiter, bis dorthin wo die Bäume stehen. Ich hab' das Grüne so gern und komm' doch nie ins Freie hinaus. Gieb mir deine Hand, – so! Warum soll ich sie nicht küssen? Ich bin ja so glücklich! . . . Was will der Kumpf hier? Jag ihn fort! Dort steht er und lacht. Er kommt immer näher, sag doch dem Kutscher, daß er nicht auf ihn zufahren soll, – – so sag's, ich bitte dich, Franz, um Gotteswillen, . . . wenn du mich lieb hast, sag's ihm. Da ist er schon, der schreckliche Mensch. Weg . . . weg! Jesus Maria, wie er mich anpackt und wie er lacht! Tanzen soll ich? Nein, ich will nicht tanzen, am wenigsten mit dir, du grauslicher, abscheulicher Krüppel, . . . ich will nicht! Hilft mir denn niemand?! Franz! Franz! . . .

Da schlägt eine schrille Weiberstimme an ihr Ohr:

»Und ich sag' Ihnen, so was muß ein schlechtes End' nehmen!«

Marie spürt einen heftigen Schmerz im Kopfe und erwacht. »Dem Himmel sei Dank, alles war nur ein Traum!« murmelt sie, schwer aufatmend. Sie sitzt noch an der Thüre, vor ihr liegt der Stickrahmen auf dem roten Ziegelpflaster der Küche und draußen auf dem Gange hält Frau Stölzl ihren Mittagsplausch mit der Amtsdienersgattin. Sie haben das Mädchen hinter der Küchenthüre nicht bemerkt. Dieses trocknet sich den Angstschweiß von der Stirne und greift nach der Arbeit. Da setzen die beiden Weiber ihr eben begonnenes Gespräch fort und Marie muß wohl oder übel hören, was 178 sie sprechen. Die ausgestreckte Hand erfaßt den Stickrahmen nicht, regungslos verharrt das Mädchen in seiner vorgebeugten Stellung und starrt mit einer Miene, in der sich Angst, Entrüstung und Entsetzen spiegeln, dumpf vor sich hin.

Frau Sobotka hat der resoluten Witwe geantwortet.

»Schad' um den Sturm, er war früher ein so braver, ordentlicher Mensch, aber so wie er's jetzt treibt, kann er's nicht mehr lang aushalten! Wo nimmt er denn das viele Geld her, das ihn die ganze Schoberische Wirtschaft kostet?«

»Wo er's her nimmt?« fällt Frau Stölzl mit scharfer Betonung ein. »Mein Gott, er hat das ganze Geld vom Bau in der Hand, weil sein Baumeister fortg'reist ist! Das hat er letzthin selbst der Frau Schober erzählt und die hat es mir g'sagt. Er braucht ja nur hinein zu greifen in das schwere Geldsackl, und fangt einer nur erst einmal an, dann ist er ja doch schon dem Teufel verschrieben!«

Frau Sobotka schnalzt verständnisinnig mit der Zunge. »O weh, o weh!« meint sie gedehnt. »Fremdes Geld hat er in Verwahrung? Ach, dann begreif' ich alles. Mein Mann hat erst gestern gesagt, bei dem Sturm, hat er gesagt, muß irgend etwas nicht in Ordnung sein!«

»Er schaut ja aber auch aus wie's böse Gewissen und schleicht herum wie einer, den was Schweres drückt!« fährt die resolute Witwe triumphierend fort. »Ist Ihnen denn das nicht aufgefallen?«

»Natürlich, – ganz blaß schaut er aus! Ich hab's der Frau Schober erst unlängst g'sagt, aber sie hat g'meint, er vertragt das lange Ausbleiben nicht, weil er nicht mehr einschlafen kann, wenn er so spät nach Haus kommt.«

Frau Stölzl lacht kurz auf.

»Eine schöne Ausred'!« meint sie mit vernichtendem Hohne. »Er wird schon wissen, warum er nicht einschlafen kann!«

179 Hier stürmt ihr Sprößling, der kleine Pepi, die Treppe herauf und erklärt energisch, daß er hungrig sei. Die Witwe muß mit ihm in ihre Wohnung treten und das Gespräch mit der Nachbarin abbrechen.

Marie blickt noch lange unverwandt vor sich hin ins Leere. Anfänglich vermag sie das Gehörte gar nicht zu fassen. Mechanisch hebt sie den Stickrahmen auf, säubert ihn von dem roten Staube, der daran haftet, und versucht weiter zu arbeiten. Aber die Stiche und Fäden verschwimmen ihr vor den Augen. – – –

Wenn Franz sich wirklich so weit vergessen hätte! – Aber das ist ja nicht möglich! Es ist recht schlecht von ihr, solchen Gedanken auch nur Raum zu geben. Gewiß . . . gewiß! Und doch, – ein Fingerzeig ist es immerhin, eine Warnung, die beherzigt sein will. Wenn die Nachbarinnen so sprechen, so wird wohl bald der ganze Hof ähnliches zischeln, – wie leicht züngelt dann solch ein Gerücht bis nach dem Bauplatze, der Brotherr erfährt es, und – – –

Dem muß vorgebeugt werden. Franz muß sich wieder einschränken, Lori und die Mutter müssen es aufgeben, durch ihr Prunken mit seinen Geschenken, wie durch die allabendliche Jagd nach Unterhaltungen den Neid und damit die Böswilligkeit der Nachbarsleute zu wecken. Aber wie sie bestimmen, ihre seitherige Lebensweise, die nur allzusehr ihren Neigungen entspricht, ernstlich zu ändern?

Während Marie noch vergeblich sinnt, wie sie Mutter und Schwester von der Notwendigkeit des ihnen zugemuteten Opfers recht eindringlich überzeugen soll, kommen beide just laut zankend die Treppe herauf. Sie sind nach dem Essen ausgegangen und wollten erst gegen Abend heimkommen, allein Frau Schober klagte schon nach einer Stunde über Fußschmerzen und drängte zu Heimkehr. Lori geriet darüber in 180 die zornigste Erregung. Sie rächte sich durch allerlei Ausfälle, welche sie im allgemeinen gegen alte und schwächliche Leute führte, »die halt nicht ausgehen sollen, wenn sie so schlechte Füß' haben!«

Frau Schober antwortete gereizt, ein Wort gab das andere, und da beide den Korridor betreten, lodert der Streit bereits in hellen Flammen. Die Mutter hinkt, ohne Marie zu bemerken, grollend und pustend an ihr vorbei in die Stube. Lori will ihr folgen, da hält Marie sie in der Küche zurück.

»Einen Augenblick nur, Lori, ich hab' was Wichtiges mit Dir zu reden!«

Lori blickt sie überrascht vom Kopf bis zu den Füßen an und meint dann wegwerfend:

»Du hast mir was zu sagen? Da bin ich meiner Seel' neugierig!« Da Marie verlegen nach einer Einleitung sucht, fügt die jüngere Schwester ungeduldig hinzu:

»Mach aber schnell, ich hab' nicht viel Zeit! Wenn der Franz kommt, muß ich fertig sein, – wir fahren heut' nach Hernals zu den Volkssängern!«

»Grad' darüber muß ich Dir was sagen!« hebt Marie zögernd an. »Bleib heut' abend lieber zu Haus, Lori!«

»Ach? Sonst nichts?!« Lori lacht höhnisch auf. »Warum denn, Schwesterl? Vielleicht damit Du wieder einmal mit dem Franz beisammen sein kannst? Geh, wie Du schlau bist!«

Marie will heftig antworten, bezwingt sich aber und fährt mit dringender Bitte fort:

»Die Leut' reden so viel! Sie sagen –«

»Die Leut' können sagen was sie wollen!« erklärt Lori verächtlich. »Die reden mir lang gut!«

»Sie sagen aber, der Franz könnt' das auf die Dauer nicht bestreiten, und – –«

»Nun? Und? –«

181 »Und –« Mariens Stimme sinkt zu einem kaum hörbaren Flüstern herab. »Und es könnt' noch ein rechtes Unglück geben, wenn ihr's so weiter treibt, denn er traut sich nicht Nein zu sagen, wenn Du was verlangst, woher soll er aber immerzu das Geld nehmen? Sein Lohn ist nicht so groß!«

Lori sieht die Schwester durchdringend an. »Das also sagen die Leut'?« fragt sie noch einmal langsam und mit scharfer Betonung.

Marie nickt traurig und will weiter sprechen. Allein Lori geht hastig zur Stubenthüre, die sie weit aufstößt.

»Mutter!« ruft sie schneidig. »Frau Mutter! Kommen S' einen Augenblick heraus!«

Frau Schober erscheint halb entkleidet auf der Schwelle.

»Was ist denn schon wieder?« greint sie.

»Wissen Sie, was für G'schichten die Marie erzählt?« Und Lori wiederholt mit einigen übertreibenden Zusätzen die Worte der Schwester. »Hören S' den Vogel pfeifen?« schließt sie boshaft auflachend. »Sie möcht' halt lieber selbst ausg'führt werden, die gute Marie, – nicht wahr?«

Frau Schober glüht vor Entrüstung. Daß Marie diese Bemerkungen selbst erfunden hat, steht ihr sofort unzweifelhaft fest.

»O Du boshafte, neidige Kreatur!« schnaubt sie nach einigem schwerfälligen Pusten. »Also weil Du gar nicht mehr weißt, wie Du Deiner Schwester das bißl Vergnügen verderben kannst, willst Du's auf diese Art versuchen? Die Leut' reden so, sagst Du? Ja, wer sind denn die Leut', die so was sagen, wer denn – he?!«

Marie erzählt das Gespräch der beiden Nachbarinnen. Nur den letzten Teil verschweigt sie. Es widerstrebt ihr, die häßliche Verleumdung Lori gegenüber zu wiederholen.

182 Die Mutter humpelt trotz ihrer höchst mangelhaften Bekleidung sofort auf den Korridor hinaus.

»Ah, da will ich doch gleich selber hören, ob das wahr ist, oder erlogen!« keucht sie zornsprühend.

Allein Lori hält sie zurück.

»Lassen Sie, Frau Mutter!« meint sie ruhig. »Wenn's auch wahr ist, was die Marie da sagt, so mach' ich den Weibern noch lang nicht die Freud', daß ich auch nur so viel darnach frag', was sie klatschen!« Sie schwippt mit den Fingern und zieht die Mutter, die immer noch scheltend davon eilen will, mit Gewalt in die Stube zurück. »Und heut' fahren wir erst recht nach Hernals!« erklärt sie, indem sie die Schwester herausfordernd anblickt. »Und ich nehm' meinen neuen Federhut, den mir der Franz vorgestern gebracht hat . . . und wenn die guten Freund' alle platzen vor Neid, so ist mir's am liebsten. Kommen S', Frau Mutter!«

In der Stube wendet sie sich noch einmal zurück: »Willst vielleicht mitfahren, Marie? . . . Wenn Du schön bitt'st, erlaub' ich's vielleicht, damit Du auch einmal mit ihm beisammen bist! . . .« Damit fliegt die Thüre schallend ins Schloß.

Marie bleibt wie betäubt zurück. Daß es Mühe kosten würde, ihrer ernsten Mahnung bei Mutter und Schwester Gehör zu verschaffen, hatte sie wohl geahnt, aber auf diese Auslegung war sie nicht gefaßt. Was nun? Hier ist jedes weitere Wort vergeblich, ja könnte die Dinge nur verschlimmern, das fühlt sie wohl. Lori würde ihren Verlobten schon aus Trotz zur tollsten Verschwendung bestimmen, – und er? Er hat nicht die Kraft, ihr etwas zu versagen. Ein leichtes Schmollen, ein finsterer Blick Loris, und er befolgt blindlings, was sie befiehlt, würde sich vielleicht wirklich so weit vergessen, fremdes, anvertrautes Gut anzugreifen . . .! Über die giftige Verleumdung! Marie mag sich sträuben, so heftig 183 sie will, immer wieder kehren ihre Gedanken zu jenem häßlichen: »Er schaut aus wie das böse Gewissen!« zurück.

Sie muß Klarheit haben. Aber wo sie finden?! . . . Immer bestimmter wächst aus ihrem bangen Grübeln die Überzeugung heraus, daß hier nur einer antworten, nur einer die volle Wahrheit geben kann: Franz selbst. Ihn muß sie fragen, ihn muß sie aber auch warnen, – und das auf der Stelle. Denn jeder versäumte Tag kann das drohende Unheil näher bringen.

Sie schleppt sich über den Korridor. Vielleicht ist er schon heimgekommen! denkt sie und steht schwankend vor der Wohnung der Tänzerin. Noch kämpft sie mit sich selbst, da öffnet sich die Thüre und Fräulein Kathi erscheint auf der Schwelle.

»Ist der . . ., ist der Herr Sturm zu Hause?« fragt Marie stockend.

Die Tänzerin blickt sie verwundert an und antwortet dann langsam:

»Nein, er ist noch nicht heimgekommen. Aber er muß bald hier sein, es ist seine Stund'.«

»Dann komm' ich später wieder!«

Und das Mädchen will eilends Kehrt machen. Aber Fräulein Kathi hält sie fest.

»Sie wollen zu ihm gehen, – Sie?« meint sie mit seltsamer Betonung. »Da muß freilich was ganz Besonderes vorgegangen sein. Oder nicht?«

Marie wendet das Gesicht ab und murmelt ein kaum verständliches: »Was soll denn geschehen sein?«

Die alte Tänzerin trippelt vor der Thüre unruhig auf und nieder. Sie will wiederholt sprechen, gestikuliert aber nur eifrig mit den Händen. Endlich kann sie sich nicht mehr beherrschen. Knapp an das junge Mädchen herantretend, fragt sie leise:

184 »Er hat doch nicht seinen Posten verloren?«

Marie erschrickt.

»Seinen Posten? Warum sollt' er den verlieren? Wissen Sie etwas?«

Fräulein Kathi schüttelt den Kopf und streichelt beruhigend die bleichen Wangen des Mädchens.

»Wer wird denn gleich so außer sich sein! Es war ja nur so ein Einfall von mir, weil mir der gute Sturm in der letzten Zeit ein bißl . . . sonderbar vorgekommen ist. In der Nacht schreit er manchmal so laut auf, daß ich's bis in meine Kammer hör', und der kleine dicke Lehrer, der das zweite Zimmer hat, meint ebenfalls, es muß ihm irgend was eine schwere Sorg' machen. Es können übrigens auch böse Träum' sein. Bst, da kommt er just, ich kenn' seinen Tritt!«

Da ist er wirklich. Er kommt hastig, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herauf, blickt am Eingange des Korridors verstört um sich und eilt dann seiner Wohnungsthüre zu. Da er Fräulein Kathi und Marie dort erblickt, scheint er zu erschrecken, faßt sich aber rasch und grüßt mit einem erzwungenen Lächeln.

»Guten Abend, Fräulein Kathi, wie geht's? Noch immer der schlimme Husten? Grüß Gott, Marie, . . . was macht die Lori?«

Dann nickt er zerstreut und verschwindet, ohne eine Antwort abzuwarten, in der Thüre.

Die alte Tänzerin und Marie sehen einander an.

»Was hab' ich g'sagt?« flüstert Fräulein Kathi endlich besorgt.

Marie antwortet nicht. Heute ist er ihr noch bleicher und veränderter als bisher erschienen. Schoß er nicht wie ein Verfolgter die Treppe herauf? Und der scheue Blick, den er über den Korridor warf! Wie das böse Gewissen! hallt es ihr in den Ohren. Wie das böse Gewissen! . . .

185 »Gehen Sie hinein?« fragt die Tänzerin, immer noch flüsternd.

»Ja!« antwortet Marie laut und fest. Ihr ist, als habe sie sich nun verpflichtet und könne nicht mehr zurück. Sie drückt die Hand der alten Freundin, die ihr ermutigend zunickt, und tritt entschlossen ein.

Die Tänzerin sieht ihr lange nach.

»Ein Engel!« flüstert sie vor sich hin. »Das pure Goldherz!«

Dann holt sie sich einen Stuhl und einen Strickstrumpf aus ihrer Kammer und setzt sich, Wache haltend, vor die Thüre. Nach einer Weile erscheint Frau Stölzl mit ihrem hoffnungsvollen Sprößlinge, der ein mächtiges Butterbrot wacker mit den Zähnen bearbeitet, und während er die Treppe hinabspringt, sein Fettmäulchen wiederholt an den Ärmeln seiner Jacke trocknet. Auch Frau Sobotka betritt den Gang. Sie ist mit einer langgestielten Pfanne bewaffnet und schüttelt ununterbrochen den Inhalt des rußigen Geschirres, dem eine dicke Rauchsäule entsteigt, welche Korridor und Stiegenhaus mit dem durchdringenden, brenzligen Geruche von röstenden Kaffeebohnen erfüllt. Die beiden Nachbarinnen setzen alsbald das vorhin unterbrochene Gespräch auf das eifrigste fort. Frau Sobotka wirft die Frage auf, wohin die Schoberischen heute wohl gehen dürften?

Die resolute Witwe will eben mit einer vernichtenden Bemerkung antworten, da guckt Lori auf den Korridor heraus.

Sie hat ihr bestes Kleid angezogen, allen Schmuck, den sie besitzt, so auffallend als nur irgend möglich angebracht und den neuen Federhut aufgesetzt. Trotz der Überladung sieht sie noch hübsch genug aus, denn bei aller Vorliebe für grelle Farben verleugnet sie doch nicht das Talent der Wienerin, sich vorteilhaft zu kleiden. Freilich ist Loris Geschmack ziemlich derb, ihre Kleidung erinnert immer ein wenig an die 186 Besucherinnen öffentlicher Tanzlokale und übelbeleumundeter Kaffeehäuser. Auch ihre Bewegungen stimmen damit überein. Das leise, früher unbewußte Wiegen in den Hüften wird jetzt mit Absicht übertrieben, die Ellbogen in steifen Winkeln gehalten und der grellfärbige Sonnenschirm, dessen Griff fünf abscheuliche Mopsköpfe bilden, wie ein Kind im Arm getragen. Dazu schlenkern die kurzen, unten enge gebundenen Röcke bei jedem Schritte und lassen die glänzenden Lackstiefelchen mit ihren dünnen, hohen Haken und ab und zu auch die feinen, an der Seite durchbrochenen Seidenstrümpfe sehen.

Lori geht langsam den Korridor auf und nieder und läßt sich wie ein Pfau bewundern.

Frau Stölzl thut denn auch höchlich begeistert.

»Nein, diese Pracht!« ruft sie, entzückt in die Hände schlagend. Und Frau Sobotka befühlt mit Kennermiene den Stoff des Kleides.

»Alles echt! Das muß ein schönes Geld gekostet haben!«

»Das macht ja nichts! Der Herr Sturm kann's gewiß thun!« bemerkt die resolute Witwe mit einem Seitenblick auf die Amtsdienersgattin.

»Natürlich!« fällt diese rasch ein. »Er wird schon wissen, wo er's hernimmt.«

»Am End' geht das Sie ja auch gar nichts an!« wendet sich Frau Stölzl neuerdings an das junge Mädchen. »Sie haben jetzt einmal die schönen Sachen, – wie's nachher auch ausfallt!«

»Darf man fragen, wo heut' wieder hingegangen wird?« fragt Frau Sobotka lauernd. »Wahrscheinlich in ein Theater?«

Lori fühlt die heimlichen Stiche in all' diesen Fragen und erheuchelten Bewunderungsausbrüchen ganz gut, aber sie thut doch, als merke sie nichts, und erwidert mit ebenso erlogener Nachlässigkeit:

187 »Nein, heut' hab' ich keine Lust ins Theater zu gehen. Wir werden nach Hernals zu den Volkssängern fahren. Es ist dort sehr lustig.«

Abermals wechseln die Nachbarinnen einen verständnisvollen Blick. Jetzt gesellt sich auch Frau Schober zu ihrer Tochter. Sie sieht wunderlich genug aus in dem buntfärbigen Kleide, das plump an ihr hängt und ihre breite, unförmliche Gestalt noch derber erscheinen läßt. Dabei bewegt sie sich nur schwerfällig von der Stelle, denn die »dummen Ausgehschuh'«, in welche ihre mächtigen Füße gezwängt sind, »drücken halt gar so viel!«

Die Nachbarinnen begrüßen auch ihren Putz mit anscheinender Bewunderung, unter welcher die spitzen Bemerkungen wie Schlangen unter Rosen lauern. Allein Frau Schober ist heute ungnädig gelaunt. Sie antwortet gereizt, und nur das entschiedene Dazwischentreten der Tochter verhindert das Entbrennen eines heftigen Zwistes. Lori weiß eine bessere Entgegnung.

»Zeigen S' den böswilligen Weibern doch nicht, daß Sie sich ärgern!« raunt sie der Mutter zu und wendet sich dann an die beiden Frauen.

»Es ist wirklich recht schad', daß Sie niemals zu den Volkssängern gehen können!« sagt sie im Tone aufrichtigsten Mitleids. »Die schönsten Leut' kommen hin! Und die Lieder, die man dort hört, die sind rein zum Totlachen! Da ist zum Beispiel ein Couplet: ›Der Franz und die Marie!‹ Das ist aber schon köstlich. Erinnern Sie sich, Frau Mutter, wie lustig wir dabei waren?«

Ja wohl, die Mutter erinnert sich. Freilich vermag sie sich nicht so gut zu beherrschen wie ihre Tochter. Ein Rest von Groll lauert noch immer in ihren Augen und zuckt um ihre Lippen.

188 Lori hat inzwischen schon das »gar so köstliche« Lied angestimmt.

»Der Franz und die Marie
Gehn unterm Parapluie . . .«

singt sie in der gedehnten, aufdringlichen Weise, die sie den Bänkelsängern treffend abgelauscht hat.

»Ja richtig,« unterbricht sie sich plötzlich, »wo steckt denn heut' der Franz? Ich muß doch nachsehen, wie spät es ist!«

Nun zieht sie eine kleine goldene Uhr hervor, blickt aber nicht sofort auf das Zifferblatt, sondern beobachtet zuerst die überraschten, langen Gesichter der Nachbarinnen. Mit dem hervorgebrachten Eindrucke zufrieden, läßt sie das Ührchen an der Kette ein wenig pendeln und beginnt wieder ihr Lied, von dem sie offenbar nur die beiden ersten Zeilen im Gedächtnisse behalten hat:

»Der Franz und die Marie
Gehn – – –«

»Wo steckt denn unsere Marie?« fragt Frau Schober dazwischen. »Dort liegt ihre Arbeit und sie ist nicht da. Gewiß klatscht sie wieder weiß Gott wo herum!«

Die Tänzerin rückt auf ihrem Stuhle unruhig hin und her.

»Ich hab' die Marie seit heute früh nicht mehr gesehen!« bemerkt Frau Stölzl wichtig. »Da hat sie mit dem Herrn Riedl gesprochen . . . Vielleicht haben sie sich irgendwo zusammenbestellt?«

»Mit wem?« fährt die Mutter auf. »Mit dem Hungerleider? Na, den möcht' ich ihr austreiben!«

Nun vermag Fräulein Kathi nicht mehr an sich zu halten. Sie läßt ihren Strumpf sinken und sagt heftig.

»Das ist eine boshafte Verleumdung. Ich weiß, wo die Marie ist und –«

O weh, da hat sie sich verplaudert! Frau Schober will 189 denn auch sofort wissen, wo Marie sich befindet. Aber Lori hält sie zurück.

»Lassen Sie doch, Frau Mutter!« sagt sie mit einem geringschätzigen Achselzucken.

Frau Schober muß sich fügen. Sie tritt nur heftig den Kopf schüttelnd in die Nische des Korridorfensters und späht in den Hof hinab.

»Wenn ich sie erwisch' –!« murrt sie dabei halblaut.

»Es ist aber wirklich schon spät!« erklärt inzwischen Lori ungeduldig, beguckt nochmals die Uhr und steckt sie ärgerlich zurück. »Sagen S', Fräulein Kathi, ist der Franz denn wirklich noch nicht nach Hause gekommen?«

Die Tänzerin ist bei dieser direkten Frage so heftig zusammengefahren, daß Lori unwillkürlich innehält und sie verwundert anblickt.

»Da ist was los!« murmelt sie und, einer plötzlichen Eingebung folgend, tritt sie hart an Kathi heran. »Der Franz ist zu Hause, – ich könnt' ein Jurament drauf ablegen. Warum verleugnen Sie ihn?«

»Weil . . . weil . . .« stottert die Tänzerin, welche in ihrer Verwirrung vergeblich eine Antwort sucht. Im selben Augenblicke wird ihr jedoch klar, daß sie damit erst recht seine Anwesenheit verraten hat, und das raubt ihr vollends die Fassung. Sie fühlt nur noch dunkel, daß sie um jeden Preis ein Eintreten Loris verhindern müsse, welche Mariens Beisammensein mit Franz gewiß übel deuten würde, und so stellt sie sich instinktiv vor die Thüre, mit beiden Händen die Klinke umklammernd.

Lori hat ihr verdächtiges Gebahren mit steigender Verwunderung beobachtet.

»Was soll denn das alles heißen?« fragt sie mißtrauisch. »Wenn er zu Haus ist, so ist das doch kein Geheimnis und –«

190 Frau Schober, welche mittlerweile ununterbrochen nach Marie und Riedl ausgeblickt hat, tritt jetzt ermüdet vom Fenster zurück.

»Im Hof ist die Marie nicht!« sagt sie etwas beruhigt, sieht aber gleichzeitig erstaunt die alte Tänzerin wie zur Verteidigung bereit vor ihrer Thüre stehen. »Was giebt's denn da?« fragt auch sie verwundert.

Sie erhält keine Antwort, denn Lori ist bei Nennung ihrer Schwester plötzlich erblaßt und hat Kathis Arm gepackt.

»Die Marie ist bei ihm drin im Zimmer!« zischt sie. »Sagen S' Nein, wenn S' können! Nun, warum antworten S' denn nicht und schauen mich an wie ein Gespenst? Sie sollen da Wach' halten vor der Thür', nicht wahr? Hören Sie's, Mutter? Der Franz und die Marie sind da drin beisammen! – Weg da, Fräul'n Kathi! Weg von der Thür'! Ich will hinein, – ich will!«

Vergebens sträubt sich die Tänzerin mit allen Kräften, vergebens sucht sie in atemlos hervorgesprudelten Worten Lori zu besänftigen, ihr zu erklären – –, Lori hört nicht auf sie.

»Weg, sag' ich!« schreit das junge Mädchen noch einmal, drängt die Zitternde mit einem einzigen Ruck zur Seite, reißt die Thüre auf und stürmt hinein. Die Mutter, welche den Zusammenhang des Vorfalles noch nicht recht erfaßt hat, folgt ihr mit der unklaren Empfindung, daß nun etwas Ungeheuerliches geschehen werde. Auch die beiden Nachbarinnen drängen nach. Sie haben nur noch Zeit einander bedeutungsvoll zuzunicken: »So mußte es kommen, wir haben es ja vorher gesagt!«

Die alte Tänzerin bleibt zurück, denn sie vermag sich nicht mehr von dem Stuhle zu erheben, auf den Lori sie geschleudert hat. Der Kopf sinkt auf die Brust und die Arme baumeln schlaff herab, ein heftiger Hustenanfall hat ihr vollends alle Kraft geraubt.


191 Marie hat, die schmale Küche durchschreitend, an die bezeichnete Thüre gepocht, ohne jedoch Antwort zu erhalten. Sie versucht es noch einmal mit nicht besserem Erfolge und öffnet endlich leise die Thüre. Franz sitzt, ihr den Rücken zukehrend, vor einem Tische und kramt in einem Wust von Papieren, die vor ihm ausgebreitet liegen. Jetzt hält er inne und stützt den Kopf in die Hände. Marie sieht, wie seine Finger in den Haaren wühlen, und hört ihn wiederholt schwer aufstöhnen. Sie drückt die Thüre ins Schloß, und da er noch immer nicht aufblickt, räuspert sie sich ein wenig, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber erschrocken drückt sie sich an die Wand, denn Franz springt jählings vom Stuhle auf, bedeckt die Papiere auf dem Tische mit beiden Händen und starrt sie mit entsetzten Blicken an.

»Wer ist? Was wollen Sie?!«

»Ich bin's . . . ich, die Marie!« antwortet das Mädchen beklommen.

Der junge Bauführer braucht eine geraume Weile, ehe er sich vollständig faßt. »Sie sind's?« sagt er dann tonlos. Er versucht zu lachen. »Es ist zu dumm, . . . aber ich erschrecke jetzt so leicht . . .! Das ist doch gar zu lächerlich, nicht wahr?!«

Marie sieht ihn traurig an.

»Sie müssen krank sein, Herr Franz!« sagt sie teilnahmsvoll.

»Krank, – ich? O nein! . . . Nur ein wenig aufgeregt. Auf dem Bauplatz ist jetzt so viel zu thun . . . und alle Abend die Unterhaltungen, das Trinken und Rauchen, . . . ich bin's eben noch nicht gewöhnt. Aber das ist nur hie und da, . . . in ein paar Minuten bin ich wieder frisch und munter wie ein Wiesel!« Wieder versucht er zu lachen, allein Marie schüttelt leise den Kopf.

192 »Ich hätt' Ihnen was zu sagen!« beginnt sie zögernd.

Franz rafft die Papiere zusammen. »Mir was zu sagen, . . . so!« antwortet er zerstreut. »O bitte, reden Sie nur, Fräulein Marie, ich höre schon zu. Ich will nur die Sachen da in Ordnung bringen . . . Aber wollen Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen? Sie stehen dort an der Thüre, wie . . .«

»Ich dank' schön!« unterbricht ihn das junge Mädchen. »Ich red' so leichter!«

»Ist's denn gar so was Furchtbares, was Sie mir zu sagen haben?« scherzt er, immer noch die Papiere ordnend.

»Ja!«

Wie seltsam sie das betont. Unwillkürlich wendet er sich zurück und sieht ihr in die Augen. Sie atmet schwer und tritt einen Schritt näher. Franz betrachtet sie immer erstaunter.

»Was haben Sie, Fräulein Marie?« fragt er unsicher. »Es ist doch nichts Schlimmes passiert?«

»Nein, – hoffentlich noch nicht. Aber es kann geschehen, wenn – –« sie unterbricht sich und fährt leise fort: »Die Leut' reden darüber, daß Sie der Lori so viele Geschenke machen und jeden Abend mit ihr zu einer anderen Unterhaltung gehen. Das kostet Geld, viel Geld, meinen die Leut', und es könnt' –«

Franz hat mit vorgebeugtem Kopfe ihren Worten gelauscht und tappt jetzt unwillkürlich nach seinen Papieren.

»Und es könnt' –?« wiederholt er mit erkünsteltem Gleichmute.

– »Es könnt' zuletzt doch nicht langen, was Sie verdienen!« vollendet Marie resolut. »Sie verzeihen schon, daß ich Ihnen alles wieder erzähl', aber ich mein', es kann Ihnen doch nicht ganz gleichgültig sein, was die Leut' über die Lori und Sie selbst sagen; und wenn 193 man dem Gered' ein End' machen kann, so soll man's thun!«

Sie hat sich allmählich in eine leidliche Sicherheit gesprochen und fügt nun dringend hinzu:

»Ändern Sie das Leben, das in der jetzigen Art ja doch nicht mehr lang fortgehen kann! Ändern Sie's, weil's jetzt noch Zeit ist.«

Franz blickt zu Boden.

»Weil's noch Zeit ist!« wiederholt er tonlos und stößt die Papiere auf dem Tische heftig von sich.

Marie sieht jetzt, daß auch Geld darunter ist, – große Banknoten, so viel sie zu erkennen vermag. Sie erbleicht bis in die Lippen und fährt zitternd fort:

»Die Leut' sagen auch, daß Ihnen das ganze Geld vom Bau anvertraut ist, und daß dabei eine große . . . Versuchung wär' . . .«

Ehe sie zu Ende sprechen kann, springt Franz mit einem wütenden Satze auf sie los und faßt sie heftig am Arme.

»Wer sagt das? Wer kann mir beweisen . . .?«

Marie blickt ihn entsetzt an.

»Franz!« schreit sie auf. »Jesus Maria . . . die Leut' sagen die Wahrheit!«

Sie schlägt die Hände vors Gesicht und vermag nicht weiter zu sprechen. Nach einer Weile erst läßt sie die Arme sinken und blickt auf Franz, der in sich zusammen gesunken am Tische lehnt und schweigend zu Boden starrt. Sein Gesicht ist erdfahl und seine Lippen zucken.

»Franz!« wiederholt sie bebend. Da richtet er sich mühsam auf und will etwas erwidern. Aber es schnürt ihm die Kehle zu, er ringt keuchend nach Atem und ficht wie ein Ertrinkender mit den Armen um sich. Plötzlich schwankt er und würde zu Boden sinken, wenn ihn Marie nicht stützte 194 und mit aller Kraft aufrecht hielte. So lehnt er gebrochen an ihrer Schulter, das Gesicht in die verschlungenen Hände vergraben, und schluchzt.

Marie spricht ihm leise zu. Was sie sagt, geht freilich nicht über die Alltagsphrasen hinaus, mit welchen der Gesunde immer und immer wieder den Kranken zu trösten, der Ruhige den Verzweifelten aufzurichten versucht: »Noch ist ja nichts verloren! . . . Alles kann wieder gut werden! . . . Nur nicht den Mut sinken lassen! . . .« Aber der sanfte, milde Klang ihrer Stimme giebt den leeren Worten einen Inhalt von ganz besonderer Heilkraft; er besänftigt allmählich den Stöhnenden, sein Schluchzen wird leiser, das krampfhafte Zucken erstirbt.

Marie fühlt, daß er leichter atmet, und beugt sich über ihn. Tiefes Mitleid für den Beklagenswerten erfaßt sie. Er hat ja aus allzugroßer Liebe gefehlt, und dafür hat ein Frauenherz keine Verdammung. Kein anderes Gefühl regt sich in ihrer Brust; die thörichten Hoffnungen, die bangen Wünsche schweigen . . .

Im Zimmer wird es völlig still. Da dringt vom Korridor die helle Stimme Loris herein. Scharf und übermütig klingt es in die Stube:

»Der Franz und die Marie –«

Franz fährt zusammen und richtet sich auf. Marie nickt traurig. Der Gesang bricht ab, um nach einer Weile von neuem anzuheben und abermals zu verstummen. Plötzlich wird ein Summen und Surren wie von streitenden Stimmen vernehmlich, ein Lärmen, das mit eins lauter wird, weil es in die bislang geschlossene Küche dringt; Schritte nahen, – und im nächsten Augenblick springt die Stubenthüre polternd auf, als würde sie erbrochen.

195 »Da, . . . da schauen S' her, Frau Mutter!« kreischt Lori auf der Schwelle. »Da stehen sie beisammen!«

Marie wendet den Kopf zurück und sieht die Schwester mit funkelnden Augen und ausgestrecktem Arme in der Thüröffnung stehen. Hinter ihr, im Dunkel der Küche, tauchen die Köpfe der Mutter und der nachdrängenden Nachbarinnen auf.

Aller Blicke haften auf Marie. Diese steht eine Weile unbeweglich, denn sie erwartet, daß Franz sprechen werde. Er hat sich auch ein wenig aufgerichtet, wendet sich aber jetzt verzweifelnd ab und schüttelt nur schweigend den Kopf. So spricht Marie. Sie geht den Eintretenden einen Schritt entgegen.

»Lori, – ich muß mit Dir reden, aber mit Dir allein!«

Lori wirft den Kopf zurück und will jede Unterredung kurz zurückweisen. Aber sie ändert doch ihren Entschluß. Es schmeichelt ihrer Eitelkeit, die Schwester einmal von ihrem guten Willen abhängig zu sehen. Einen Augenblick bedenkt sie sich, dann drängt sie in der That die Mutter wie die Nachbarinnen über die Schwelle zurück.

»Ich will hören, was die beiden vorbringen können!« sagt sie mit großartiger Miene und schließt die Thüre. Nun kreuzt sie die Arme, zieht die Augenbrauen hoch und steht da wie ein Richter, der sich herablassen will, die Verteidigung eines Angeklagten zu hören, dessen Schuld ja doch bereits unwiderlegbar erwiesen ist.

»Also, – jetzt red!«

Die ersten Worte Mariens nehmen ihr noch wenig von ihrer vermeinten Überlegenheit. Darum sollte es sich handeln? Sie hat irgend eine recht durchsichtige Beschönigung des heimlichen Beisammenseins der beiden erwartet und war gefaßt, dieselbe mit vernichtendem Hohne zu zerreißen, Franz vor Marie und diese vor dem treulosen Verlobten zu demütigen, – nun hört sie von einer »dummen Geldg'schicht'« 196 und ist eigentlich enttäuscht. Sie will auch nicht sofort glauben, daß nichts anderes vorliege, da hebt Marie aber nach einer kurzen Pause und bangem Zögern davon zu sprechen an, daß Franz bereits fremdes Geld angegriffen habe.

Lori erschrickt und starrt sie mit offenem Munde an. Die Brauen sinken langsam wieder herab und die herausfordernd gekreuzten Arme lösen sich.

»Aber . . . das ist ja gar nicht möglich!« stottert sie endlich. Franz nickt nur zerknirscht und Marie fährt mit zitternder Stimme fort:

»Es ist doch so! Franz hat sich an dem fremden Geld vergriffen und es bleibt ihm jetzt nichts übrig, als alles aufzubieten, um den Schaden wieder gut zu machen, eh' es zu spät ist. Wir müssen ihm dabei helfen, und alles hergeben, was wir haben, denn für uns hat er sich ja so weit vergessen, – – das heißt, eigentlich für Dich! Du mußt jetzt trachten, daß keine offene Schande daraus wird, die käm' ja auf Dich gerad' so wie auf ihn!«

Lori blickt noch immer betäubt vor sich hin. Nach einem kurzen Schweigen wendet sich Marie der Thüre zu und sagt laut:

»Ich laß' Euch jetzt allein, – – Ihr werdet Euch aussprechen wollen, . . . ich glaub', es ist ohnehin zum erstenmal in Euerem Leben!«

Der Schwester aber raunt sie hastig zu:

»Sag ihm ein paar gute Wort', Lori! Er hat das Unrecht doch nur für Dich gethan, weil er zu sehr verliebt ist in Dich! Das mußt Du nie vergessen!«

Dann drückt sie plötzlich ihr Taschentuch vor die Augen und huscht aus dem Zimmer.

Lori steht lange wie angewurzelt auf ihrem Platze und rührt sich nicht. Was sie soeben gehört hat, ist ihr noch 197 immer unfaßbar, sie begreift noch gar nicht recht wie nahe es sie selbst betrifft. Nach und nach erst dämmert ihr das Verständnis des wahren Sachverhaltes auf . . . Der Mann dort am Fenster hat fremdes Geld angegriffen, – – also gestohlen! Auf einen Diebstahl folgen aber Verhaftung, Gerichtsverhandlung, – das Zuchthaus. Am Ende wird sie selbst auch zur Polizei gebracht, denn für sie hat er ja ge – –

Pfui über das abscheuliche Wort! . . . Aber hat sie ihn denn jemals dazu verleitet? Hat sie geahnt, daß er nicht aus Eigenem bestritt, was er ihr bot? Was besitzt er denn überhaupt, wenn sein Einkommen schon jetzt nicht mehr ausreicht? Und welcher Zukunft geht sie an der Seite dieses Mannes entgegen? Fanny hat es ihr also doch ganz richtig vorausgesagt, daß sie ein elendes Leben der Arbeit und Sorge führen und dann so frühzeitig alt und runzlig sein werde wie alle anderen Weiber im Freihause. Entsetzlicher Gedanke! Lori schüttelt sich vor Angst und Ekel.

. . . Was die Leute dazu sagen werden, wenn sie zu Gericht muß! Und die Nachbarinnen! Wie sie schadenfroh lachen und sie mit Spottreden überschütten werden! Nein, das sollen sie nicht! Sie will alles thun, was Franz fordert, nur die Schande vor den Leuten vermag sie nicht zu ertragen. Das will sie ihrem Verlobten sagen. Schon öffnet sie den Mund, um den Bauführer, der noch immer schweigend und abgewendet am Fenster steht, mit einem herzlichen Worte anzusprechen, da schießt es ihr durch den Kopf: Wie aber kann sie helfen? Was wird von ihr gefordert werden? – Daß sie fortan auf jedes Vergnügen, jede frohe Stunde verzichte, Abend für Abend daheim sitze und überdies vielleicht auch noch vom frühen Morgen bis in die späte Nacht arbeite, wie Marie? Ja, – das wird es wohl sein. Aber das will sie keineswegs thun, denn . . . denn die Nachbarinnen 198 werden darum doch nicht minder frohlocken und sie nicht weniger hänseln: »Was ist's? Fahren S' heute nicht ins Theater, Fräul'n Lori? Wo haben S' denn jetzt Ihre schönen Kleider, die Uhr, den Schmuck und den prächtigen Federhut?« Und auf solche Fragen soll sie beschämt schweigen müssen? O, das wäre ja ebenso schlimm als die Schande, – fast noch schlimmer. Also hier wie dort dasselbe Ende, und nirgends Hilfe, nirgends ein rettender Ausweg!

Doch, es giebt einen. Die letzte Unterredung mit Fanny kommt ihr in den Sinn. Was hat ihr die Freundin doch alles versprochen! Ein immerzu lustiges, sonniges Leben, und Geschenke, und einen eigenen Wagen, – kurz alle die Herrlichkeiten die sie schon so oft seufzend bewundert hat, wenn irgend eine Theaterprinzessin oder sonst eine gefeierte Schöne auf der Straße an ihr vorübersauste. Und wem hat sie diese glänzenden Hoffnungen geopfert? Dem Manne dort, der sie nun so weit gebracht hat, daß sie vor dem ganzen Korridore wird die Augen niederschlagen müssen! . . . Wie gebrochen er am Fenster lehnt, so recht armselig und hilflos . . .!

Nein, sie spricht ihn nicht an, sie bringt das erste Wort nicht über die Lippen. Die Schande, . . . die Schande vor den Leuten! . . .

Sie weicht erst langsam, dann immer rascher und hastiger bis an die Thüre zurück, – ein Druck auf die Klinke, – ein leises Knarren der Angeln, – – Gott sei Dank, sie ist erlöst!

Vorsichtig huscht sie durch die Küche. Die beiden Nachbarinnen stehen in der Nische des letzten Korridorfensters und sprechen eifrig. Wie sie schadenfroh lachen und einander zuwinken! Lori ballt die kleine Hand zur Faust, preßt die Zähne zusammen und gleitet verstohlen die Treppe hinab. Im Hofe atmet sie die kühle Abendluft in tiefen Zügen.

199 Ah, nun ist sie frei! Nun mögen die bösen Weiber da oben verhöhnen, wen sie wollen.

Sie eilt zu Tini.

»Wollen S' mir einen großen Gefallen erweisen?« fragt sie atemlos.

»Aber natürlich! Wie Sie nur so fragen können!«

»So begleiten S' mich!«

Tini wirft nur ein Tuch um und ist bereit.

Sie eilen über den Hof und verlassen das Freihaus. Auf der Straße fragt die kleine Näherin, schon ein wenig keuchend:

»Wohin laufen wir denn eigentlich?«

»Zum ›Osterlamm‹!« erwidert Lori, so rasch ausschreitend, als es ihr eng gebundenes Kleid gestattet. »Ich such' dort eine Freundin auf.«

»Doch nicht – die Fanny?«

»Ja, g'rad dieselbe!«

»Sie wollen also doch –?« Tini wagt es nicht den Satz zu vollenden.

Lori bleibt jählings stehen und ergreift die Hand der kleinen Näherin.

»Sie sagen keinem Menschen, wohin Sie mit mir gegangen sind!« fordert sie mit fast drohender Feierlichkeit. »Schwören Sie mir das?«

»Oh gewiß, aber –«

»Sagen S': Meiner Seel' und Gott!«

Tini will sich weigern, muß aber doch schwören.

»Meiner Seel' und Gott!« wiederholt sie nachgiebig.

»So – ich dank' Ihnen!«

Und weiter geht es durch das Gewühl der Straßen, dem ›Osterlamm‹ zu. 200

 


 


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